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Der Tod meiner Schwester

Der Mord an ihrer Schwester vor über vierzig Jahren verfolgt die erfolgreiche Schriftstellerin Julienne Bauer immer noch. In einer warmen Sommernacht ertrank Isabelle im Meer vor dem Sommerhaus der Familie. An ihre eigene Rolle in jener Nacht kann sich Julie jedoch nicht mehr erinnern. Nun taucht nach so langer Zeit ein neuer Beweis dafür auf, dass damals der falsche Mann für den Mord verurteilt wurde - und Julie muss sich ihren eigenen Ängsten und Schuldgefühlen stellen, um gemeinsam mit ihrem Kindheitsfreund Ethan herauszufinden, was damals wirklich geschah. Dabei entdecken sie Familiengeheimnisse, die besser im Verborgenen geblieben wären, aber auch Gefühle füreinander, die im Licht der Wahrheit endlich aufblühen können


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955761530
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diane Chamberlain

Der Tod meiner Schwester

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Bay at Midnight

Copyright © 2005 by Diane Chamberlain

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Übersetzt von Judith Heisig

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN ebook 978-3-95576-153-0

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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1. KAPITEL

Julie

Alle Kinder machen Fehler. Die meisten vergessen wir rasch, doch einige sind von zu großer Tragweite und zu verheerend, um sie je aus der Erinnerung zu streichen. Der Fehler, den ich mit zwölf machte, verfolgte mich noch mit dreiundfünfzig. Die meiste Zeit dachte ich nicht daran, doch an manchen Tagen geschah etwas, das mir alles urplötzlich wieder ins Gedächtnis rief und mich mit der Schuld jener Zwölfjährigen erfüllte, die es besser hätte wissen müssen. Dann wünschte ich mir verzweifelt, jenen Sommer 1962 noch einmal durchleben zu können. Der Montag, an dem Abby Chapman Worley vor meiner Tür stand, gehörte zu diesen Tagen.

Ich arbeitete fleißig an The Broad Street Murders, dem dreiunddreißigsten Roman meiner Granny-Fran-Serie. Hätte ich den Erfolg der Serie geahnt, hätte ich Fran Gallagher von vornherein jünger angelegt. Im ersten Buch war sie bereits siebzig. Und nun, dreizehn Jahre später, war sie dreiundachtzig und noch immer gut in Form, doch ich fragte mich, wie lange ich sie noch auf Mörderjagd schicken konnte.

Im Haus war es wunderbar ruhig. Meine Tochter Shannon, die am Samstag zuvor ihren Abschluss an der Westfield High School gefeiert hatte, gab in einem Musikgeschäft unten in der Stadt Cello-Unterricht. Die Juni-Luft draußen war klar und windstill, und da mein Haus in New Jersey an einer Straßenkurve lag, genoss ich von meinem sonnendurchfluteten Zimmer aus einen großartigen Blick auf die Nachbarschaft mit ihren leuchtend grünen Rasenflächen und den gepflegten Gärten. Ich schrieb einen oder zwei Sätze, starrte dann aus dem Fenster und erfreute mich an der Aussicht, während ich darüber nachdachte, was als Nächstes in meiner Geschichte passieren sollte.

Ich hatte das dritte Kapitel beendet und fing gerade das vierte an, als es an der Haustür klingelte. Ich lehnte mich zurück und überlegte, ob ich öffnen sollte oder nicht. Vermutlich war es nur ein Freund von Shannon, doch was, wenn ein Kurier vor der Tür stand, der einen Vertrag oder etwas anderes brachte, wofür er meine Unterschrift benötigte?

Ich spähte aus dem Vorderfenster. Kein Lieferwagen in Sicht. Ein weißer VW Beetle – ein Cabrio mit heruntergelassenem Dach – parkte allerdings vor meinem Haus. Da meine Konzentration nun sowieso unterbrochen war, konnte ich genauso gut nachsehen, wer da war.

Ich ging durch das Wohnzimmer, öffnete die Haustür, und meine Laune sank. Die schlanke junge Frau, die vor meiner Tür stand, war zu alt, um eine Freundin von Shannon zu sein, und ich befürchtete, dass es sich um einen meiner Fans handeln könnte. Obwohl ich meine Identität zu verbergen suchte, hatten mich einige meiner beharrlichsten Leserinnen im Lauf der Jahre ausfindig gemacht. Ich schätzte sie sehr und war dankbar für ihre Treue zu meinen Büchern, doch ich legte auch Wert auf meine Ungestörtheit, vor allem, wenn ich arbeitete.

“Ja?”, sagte ich mit einem Lächeln.

Das sonnengebleichte blonde Haar der Frau war kurz geschnitten, sodass es kaum ihre Ohren berührte, und sie trug eine sehr dunkle Sonnenbrille, die ihre Augen nicht erkennen ließ. Eine Aura von Perfektion umgab sie. Ihre Shorts mit dem Gürtel waren blitzsauber und hatten eine Bügelfalte, das malvenfarbene T-Shirt hatte sie ordentlich hineingesteckt. Über ihrer Schulter trug sie eine marineblaue kleine Handtasche.

“Mrs. Bauer?”, fragte sie und bestätigte damit meinen Verdacht. Julianne Bauer, mein Mädchenname, war zugleich mein Pseudonym. Freunde und Nachbarn kannten mich als Julie Sellers.

“Ja?”, fragte ich.

“Es tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche.” Sie steckte die Hände in die Taschen. “Mein Name ist Abby Worley. Sie und mein Vater – Ethan Chapman – waren als Kinder befreundet.”

Unwillkürlich schlug ich die Hand vor den Mund. Ich hatte Ethans Namen seit jenem Sommer 1962 nicht mehr gehört, doch auch einundvierzig Jahre später brauchte ich nur eine Sekunde, um ihn zuzuordnen. Vor meinem geistigen Auge war ich wieder in Bay Head Shores, wo der Bungalow meiner Eltern neben dem der Chapmans stand und wo die alles verändernden Geschehnisse jenes Sommers all die guten Sommer der vergangenen Jahre auslöschen sollten.

“Sie erinnern sich an ihn?”, fragte Abby Worley.

“Ja, natürlich”, erwiderte ich. Ich sah Ethan bei unserer letzten Begegnung vor mir – ein dürrer, bebrillter Zwölfjähriger mit Sommersprossen, ein zerbrechlich wirkender Junge mit rotem Haar und weißen Beinen. Ich sah ihn, wie er einen riesigen Kugelfisch aus dem Kanal hinter unserem Haus an Land zog und dann den weißen Bauch des Fisches rieb, damit er sich aufblies. Ich sah ihn, wie er mit aus Laken genähten Flügeln von der Spundwand sprang, als er zu fliegen versuchte. Wir waren einmal Freunde gewesen, doch 1962 nicht mehr. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich ihn verprügelt.

“Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich hier einfach so auftauche”, sagte sie noch einmal. “Dad erzählte mir mal, dass Sie in Westfield leben, und so fragte ich ein wenig herum. Im Bagel-Shop. Bei dem Verkäufer in der Videothek. Ihre Nachbarn sind nicht gerade gut darin, Ihre Privatsphäre zu schützen. Und hier geht es um eine Angelegenheit, über die ich nicht in einem Brief schreiben oder am Telefon sprechen wollte.”

“Was für eine Angelegenheit?”, fragte ich. Ihr ernster Ton überzeugte mich, dass dies mehr war als der Besuch eines Fans.

Sie blickte zu den geflochtenen Schaukelstühlen auf meiner breiten Veranda.

“Könnten wir uns setzen?”, bat sie.

“Natürlich”, sagte ich, öffnete die Fliegengittertür und führte sie zu den Stühlen. “Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?”

“Nein, vielen Dank”, entgegnete sie, während sie sich in einem der Stühle niederließ. “Es muss hübsch sein, so eine Veranda zu haben.”

Ich nickte. “Wenn die Moskitozeit gekommen ist, nutzen wir sie kaum, doch im Moment ist es wirklich schön.” Ich musterte sie und suchte nach einer Ähnlichkeit mit Ethan in ihrem Gesicht. Sie hatte hohe Wangenknochen und sah mit ihrer tiefen Bräune umwerfend aus, wie ungesund diese auch sein mochte. Vielleicht war die Farbe nicht echt. Sie wirkte wie eine Frau, die sich sehr gut pflegte. Es fiel mir schwer, mir Ethan als ihren Vater vorzustellen. Er war nicht hässlich gewesen, aber doch ein linkischer Eigenbrötler.

“Also”, begann ich. “Worum handelt es sich, dass Sie darüber nicht am Telefon sprechen wollen?”

Jetzt, da wir im Schatten saßen, nahm sie ihre Sonnenbrille ab und zeigte ihre blauen Augen. “Können Sie sich an meinen Onkel Ned erinnern?”, fragte sie.

Ethans Bruder war mir sogar noch besser im Gedächtnis geblieben als Ethan selbst. Ich hatte eine Schwäche für ihn gehabt, auch wenn er sechs Jahre älter war als ich und damit unerreichbar. Doch am Ende jenes Sommers hatte ich ihn verabscheut.

Ich nickte. “Sicher”, antwortete ich.

“Nun, er ist vor ein paar Wochen gestorben.”

“Tut mir sehr leid, das zu hören”, erwiderte ich automatisch. “Er muss –” Ich rechnete im Kopf kurz nach. “Er muss ungefähr neunundfünfzig gewesen sein?”

“Er starb in der Nacht vor seinem neunundfünfzigsten Geburtstag”, sagte Abby.

“War er krank?”

“Er hatte eine Leberzirrhose”, sagte Abby sachlich. “Er trank zu viel. Mein Vater sagte … dass er mit dem Trinken angefangen hätte, nachdem in dem einen Sommer Ihre … Sie wissen schon.” Zum ersten Mal wirkte sie etwas unsicher. “Nachdem Ihre Schwester gestorben war”, sagte sie. “Er wurde richtiggehend depressiv. Ich kenne ihn nur als einen sehr traurigen Mann.”

“Das tut mir leid”, wiederholte ich. Ich konnte mir den gut aussehenden und athletisch gebauten Ned Chapman nicht als niedergeschlagenen neunundfünfzigjährigen Mann vorstellen. Andererseits hatte uns jener Sommer alle verändert.

“Dad weiß nicht, dass ich hier bin”, gestand Abby. “Und er würde es nicht gutheißen, doch ich musste einfach kommen.”

Ich beugte mich vor und wünschte mir, dass sie zum Punkt käme. “Warum sind Sie hier, Abby?”, wollte ich wissen.

Sie nickte, als ob sie sich bereit machte, etwas lange Einstudiertes vorzutragen. “Dad und ich räumten Onkel Neds Stadthaus aus”, begann sie. “Ich durchstöberte seine Küche und fand in einer der Schubladen einen Umschlag, der an das Point Pleasant Police Department adressiert war. Dad hat ihn geöffnet und …” Sie griff in ihre Umhängetasche und reichte mir ein Blatt Papier. “Das hier ist eine Kopie.”

Ich blickte auf den kurzen, maschinengeschriebenen Brief, der auf zwei Monate früher datiert war.

An alle, die es angeht:

Ich habe Informationen zu einem Mord, der 1962 in Ihrem Zuständigkeitsbereich begangen wurde. Für das Verbrechen hat die falsche Person gebüßt. Ich bin todkrank und möchte die Dinge richtigstellen. Sie können mich unter der oben genannten Telefonnummer erreichen.

Mit freundlichen Grüßen Ned Chapman

“Mein Gott.” Ich lehnte mich in dem Schaukelstuhl zurück und schloss die Augen. Ich dachte, mein Kopf würde explodieren, als mir die Bedeutung der Worte klar wurde. “Er hatte vor, ein Geständnis abzulegen”, sagte ich.

“Das wissen wir nicht”, entgegnete Abby rasch. “Ich meine, Dad ist ganz sicher, dass Onkel Ned es nicht getan hat. Hundertprozentig sicher. Doch er hat mir vor langer Zeit von Ihnen erzählt. Meine Mom und ich haben all Ihre Bücher gelesen, und deswegen hat er mir alles von Ihnen erzählt. Er sagte, dass Sie damals Onkel Ned verdächtigten, obwohl niemand anderes das tat. Ich dachte, Sie hätten ein Recht darauf, von dem Brief zu erfahren. Ich sagte Dad, wir sollten ihn zur Polizei bringen. Schließlich klingt es danach, als ob der Typ, der ins Gefängnis musste, es vielleicht nicht getan hat.”

“Auf jeden Fall!”, stimmte ich ihr zu und hielt den Brief hoch. “Die Polizei muss das hier sehen.”

Abby biss sich auf die Lippe. “Das Problem besteht darin, dass Dad das nicht möchte. Er sagt, dass der Mann, der verurteilt wurde, im Gefängnis starb, sodass es jetzt keine Rolle mehr spielen würde.”

Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Ich wusste, dass George Lewis fünf Jahre nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen Mordes an meiner Schwester an einer Lungenentzündung gestorben war. Ich hatte immer geglaubt, dass er zu Unrecht im Gefängnis saß. Wie grausam und ungerecht.

“Zumindest sollte sein Name reingewaschen werden”, sagte ich.

“Das denke ich ebenfalls”, stimmte Abby zu. “Doch Dad befürchtet, dass die Polizei Onkel Ned vorschnell zum Täter stempelt, ebenso wie Sie es tun. Mein Onkel war ziemlich verkorkst, doch er hätte niemals jemanden verletzen können.”

Ich holte ein Taschentuch hervor und nahm die Brille ab, um mir die Tränen abzuwischen. “Vielleicht hat er jemanden verletzt”, entgegnete ich freundlich, während ich die Brille wieder aufsetzte. “Und vielleicht machte ihn das so unglücklich.”

Abby schüttelte den Kopf. “Ich weiß, dass es so aussieht, doch laut Dad hatte Ned ein wasserdichtes Alibi. Er war zu Hause, als Ihre Schwes…, also als es geschah.”

“Das klingt danach, als wolle Ihr Vater seinen Bruder um jeden Preis schützen”, bemerkte ich und versuchte dabei nicht die Bitterkeit durchklingen zu lassen, die ich empfand. “Wenn Ihr Vater dieses Schreiben nicht bei der Polizei abliefert, werde ich es tun.” Das sollte nicht nach einer Drohung klingen, doch vermutlich tat es das.

“Ich verstehe”, sagte Abby. “Und ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Polizei davon erfahren sollte. Doch Dad …” Sie schüttelte den Kopf. “Könnten Sie vielleicht mit ihm sprechen?”, bat sie.

Ich dachte daran, wie wenig erfreut Ethan wohl über dieses Gespräch wäre. “Es klingt nicht so, als würde er darüber sprechen wollen”, entgegnete ich. “Und Sie sagten, dass er wahrscheinlich wütend wäre, dass Sie hier sind.”

“Nicht wütend”, erwiderte Abby. “Er wird nie richtig wütend. Er würde sich nur … aufregen. Ich werde ihm sagen, dass ich hier war. Doch wenn Sie ihn anrufen, können Sie ihn vielleicht überzeugen. Sie haben das größte persönliche Interesse in dieser Angelegenheit.”

Sie konnte nicht wissen, wie allein der Gedanke an jenen Sommer 1962 meine Handflächen feucht werden ließ und mir ein flaues Gefühl verursachte. Ich dachte an die Schwester von George Lewis, Wanda, und das persönliche Interesse, das sie in dieser Angelegenheit hatte. Und ich dachte an seine Cousine Salena, die Frau, die ihn aufgezogen hatte. Nichts konnte meine Schwester wieder ihrer Familie zurückbringen oder George Lewis der seinen, doch zumindest verdienten wir es alle, die Wahrheit zu erfahren. “Geben Sie mir seine Nummer”, sagte ich.

Sie nahm die Kopie des Briefes, schrieb Ethans Nummer darauf und gab ihn mir zurück. Dann setzte sie ihre Sonnenbrille auf und erhob sich.

“Vielen Dank”, verabschiedete sie sich, während sie den Stift wieder in ihre winzige Handtasche steckte. Sie sah mich an. “Ich hoffe … nun, um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich hoffe. Vermutlich habe ich die Hoffnung, dass die Wahrheit schließlich ans Licht kommt.”

“Das hoffe ich ebenfalls, Abby”, sagte ich.

Ich beobachtete sie, als sie den Weg zur Straße entlangging und in das weiße Beetle-Cabrio stieg. Sie winkte, als sie losfuhr, und ich blickte ihr nach, bis sie um die Ecke bog und entschwand.

Lange saß ich unbewegt da, den Brief mit seinen schrecklichen Implikationen im Schoß. KAPITEL vier war vergessen. Mein Körper fühlte sich schwer wie Blei an, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Egal wer sich als Mörder meiner Schwester herausstellen sollte, die Verantwortung für ihren Tod würde doch immer bei mir liegen.

2. KAPITEL

Julie

Eine halbe Stunde später saß ich noch immer mit dem Brief in meinem Schoß auf der Veranda, als ich zu meiner Überraschung Shannon auf unser Haus zukommen sah. Sie war relativ weit weg, doch ich hätte sie auf jede Entfernung erkannt. Sie war ein Meter fünfundsiebzig groß und hatte langes, kräftiges, fast schwarzes Haar. Schon vom Tag ihrer Geburt an hatte sie einfach außergewöhnlich ausgesehen.

Ich machte mir Sorgen um sie. Als Glen und ich ihr erlaubten, die dritte Klasse zu überspringen, hatte ich noch nicht daran gedacht, wie ich mich fühlen würde, wenn meine siebzehn Jahre alte Tochter aufs College ging und eine Welt außerhalb meines Einflussbereiches betrat. Ich hatte zumindest gerne die Illusion einer Kontrolle über das, was mit den Menschen, die ich liebte, geschah. Glen sagte, dass ich aus genau diesem Grund Romane schrieb. Das gäbe mir die totale Kontrolle über jeden einzelnen Charakter und jedes einzelne Ereignis. Vermutlich hatte er recht.

Doch da war mehr, was mir Sorgen bereitete. Während ihres letzten Jahres an der Highschool hatte sich Shannon verändert. Sie hatte niemals Komplexe wegen ihrer Größe gehabt; ihre Haltung war fast schon königlich, und die Art, wie sie ihr Haar mit einer Kopfbewegung über die Schulter warf, zeugte von Stolz und Selbstvertrauen. Doch in jüngster Zeit schien sie sich in ihrer Haut nicht recht wohlzufühlen. Ich war sicher, dass sie zugenommen hatte. Einige Abende zuvor hatte ich sie in ihrem Zimmer überrascht, als sie aus einer Schüssel rohen Kuchenteig aß! Ich erklärte ihr, dass sie sich von den rohen Eiern darin Salmonellen holen konnte, doch ich hätte sie am liebsten gefragt, ob ihr eigentlich klar war, wie viele Kalorien sie da zu sich nahm.

Manchmal erwischte ich sie dabei, wie sie mit ihren mandelförmigen Augen ins Leere starrte, und mit ihren Freundinnen ging sie kaum noch aus. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag hatte sie den einen oder anderen Freund gehabt, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich in den letzten sechs Monaten mit jemandem getroffen hatte. Ihre neue Häuslichkeit machte es mir leichter, ein Auge auf sie zu haben, dennoch bereitete mir diese plötzliche Verwandlung Sorgen.

“Ich möchte mein letztes Schuljahr einfach mit einem Ausrufezeichen beenden”, antwortete sie, als ich sie auf ihr verändertes Verhalten ansprach. “Ich will keine Versagerin sein.”

Ich wusste, dass Glen mit ihr darüber gesprochen hatte, wie wichtig es trotz ihrer frühen Zulassung fürs Oberlin Musikkonservatorium sei, auch im letzten Schuljahr ihre Noten zu halten. Kein Problem. Sie beendete die Highschool als Jahrgangssprecherin mit einem fast optimalen Notendurchschnitt, doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Ich fragte mich, ob sie Angst davor hatte, ihr Zuhause zu verlassen. Oder vielleicht zeigte sie eine verspätete Reaktion auf unsere Scheidung. Die lag fast zwei Jahre zurück, und ich hatte bislang den Eindruck gehabt, sie hätte sie gut verkraftet, auch wenn sie mich dafür verantwortlich zu machen schien. Doch vielleicht betrog ich mich ja selbst.

Als sie sich auf dem Gehweg näherte, erspähte sie mich.

“Hallo!” Sie winkte. Sie trug heute einen weiß-grün bedruckten Rock von der Art, wie meine Schwester Lucy sie gerne trug – lang und weit –, und er stand ihr sehr gut. Auch das gehörte zu den Veränderungen: Shannon schien ihre Hüfthosen gegen einen weiblicheren Stil eingetauscht zu haben.

“Was machst du denn zu Hause?”, rief ich von meinem Schaukelstuhl aus.

“Ich habe noch Zeit bis zur nächsten Stunde”, sagte sie. “Ich wollte eine Pause machen.”

Wir wohnten in der Nähe des Zentrums von Westfield in einer Gegend mit vielen Häusern, die aus der Jahrhundertwende stammten. Der Weg zum und vom Musikladen war kurz, ebenso wie der zur Kindertagesstätte, wo sie zwei Nachmittage die Woche aushalf und sich um die Kleinkinder kümmerte.

Mit einer Dose Vanilla Coke in der Hand kam sie die Verandatreppe hoch.

“Der Haarschnitt ist toll”, sagte sie, als sie sich in den Schaukelstuhl setzte, den Abby Worley erst vor Kurzem freigemacht hatte.

In Vorbereitung eines Fototermins für ein Porträt in meinem nächsten Buch hatte ich mein Haar einige Tage zuvor auf Kinnlänge stutzen lassen. Meine Friseurin hatte den kastanienbraunen Ton, den ich seit zehn Jahren trug, mit einigen hellen Strähnen aufgelockert, und Shannon machte immer eine Bemerkung dazu, wenn sie mich sah. Sogar meine Mutter hatte die Veränderung bemerkt und gesagt, dass Schnitt und Farbe “frech” aussähen. Ich ahnte, dass sie das als Kompliment meinte.

Shannon beugte sich vor, um mich genauer zu mustern, wobei ihr Haar wie ein dicker schwarzer Vorhang ihr Gesicht umrahmte. “Ich glaube, du brauchst jetzt eine neue Brille”, sagte sie.

Ich berührte kurz das randlose Glas. “Wirklich?”, fragte ich. Ich hielt meine Brille für modern, doch hinkte ich dem Trend drei oder vier Jahre hinterher.

“Du solltest dir eines dieser coolen Plastikgestelle besorgen”, schlug sie vor. “Vielleicht in einem Bronzeton.”

“Ich glaube nicht, dass ich bereit bin für so viel Coolness.” Ich staunte selbst über meine Fähigkeit, ein so banales Gespräch zu führen, während ich noch immer aufgewühlt war von Abbys Besuch.

Shannon nahm einen langen Schluck von ihrer Coke. “Ehrlich gesagt, Mom”, begann sie, “bin ich nach Hause gekommen, weil ich mit dir über etwas reden muss.” Sie blickte mich an. “Ich fürchte allerdings, dass du sauer sein wirst.”

“Schieß los”, erwiderte ich, damit sie mit der Sache rausrückte, bevor meine allzu lebhafte Fantasie schreckliche Szenarien entwarf.

Sie biss sich auf die untere Lippe. Ihre Grübchen kamen zum Vorschein, wenn sie das tat. “Ich habe mich entschieden, den Sommer über bei Dad zu wohnen.” Shannon blickte mich an und wartete auf meine Reaktion. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und sah starr auf die Hundehütte im Vorgarten unseres Nachbarn.

Das ist keine große Sache, redete ich mir ein. Glen wohnte nur ein paar Kilometer entfernt, und vermutlich war es für beide gut, ein bisschen Zeit miteinander zu verbringen, bevor sie aufs College ging. Warum also stiegen mir zum zweiten Mal am heutigen Tag die Tränen in die Augen? Dies ist der letzte Sommer, den ich mit dir habe, wollte ich sagen, doch ich behielt die Fassung.

“Warum, Liebling?”, fragte ich.

“Ich … ich weiß nicht. Ich bin seit der Scheidung bei dir, und ich weiß, dass Dad es gerne sähe, wenn … du weißt … wenn ich den Sommer bei ihm bliebe. Ich versuche, zu allen fair zu sein”, fügte sie hinzu, auch wenn ich das sofort durchschaute. Shannon war ein gutes Kind, doch so edel war sie nicht, dass sie ihre Bedürfnisse den Wünschen anderer unterordnete.

“Was ist der wahre Grund?”, hakte ich nach. “Hat er versucht, dich zum Umzug zu überreden?”

“Nein.” Sie schüttelte müde den Kopf. “Nichts davon.”

“Er arbeitet viel.”

Sie lachte unwillkürlich auf, bevor sie es unterdrücken konnte. “Jetzt hast du’s”, sagte sie. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, wobei mein Blick auf ihr italienisches Bettelarmband mit den vielen Anhängern fiel. Sie alle hatten Bezug zur Musik.

“Habe ich was?”, fragte ich.

“Mom, ich werde in drei Monaten achtzehn”, erwiderte sie in einem Ton, der um Verständnis warb. “Du behandelst mich noch immer wie zehn. Ich muss dich von jedem meiner Schritte unterrichten. Dad dagegen behandelt mich wie eine Erwachsene.”

Das war es also. “Na ja”, meinte ich. “Da du nun kurz vorm College stehst, können wir die Regeln vielleicht ein bisschen ändern.”

“Du müsstest deine Regeln komplett umwerfen, damit sie erträglich wären”, erklärte sie. “Du lässt mir keinen Raum zu atmen.”

“Ach, Shannon, komm”, lenkte ich ein. Das Argument war nicht neu. Sie behauptete, ich würde sie ersticken und ihr keine Freiheit gönnen. Ich war überfürsorglich – so viel musste ich zugeben –, doch ich führte mich nicht wie ihre Gefängniswärterin auf. “Du hast seit Monaten noch nicht einmal gefragt, ob du etwas unternehmen darfst, wie kannst du da sagen, dass ich dir keinen Raum zum Atmen lasse?”

Sie verdrehte die Augen. “Es hat keinen Sinn, dich zu fragen, ob ich etwas unternehmen kann, weil du sowieso Nein sagst”, gab sie zurück.

“Shannon. Das ist nicht wahr, und das weißt du auch.”

“Wenn du auf Lesereise gehst, bringst du mich noch immer bei Erikas Familie unter, obwohl wir seit mindestens fünf Jahren nicht mehr befreundet sind. Und das nur, weil ihre Eltern noch strenger sind als du und du genau weißt, dass sie mir nichts durchgehen lassen. Ich hasse das.”

“Du hast niemals darum gebeten, bei jemand anders zu bleiben”, verteidigte ich mich.

“Und du rufst mich ständig auf dem Handy an, um mich zu kontrollieren”, fuhr sie fort. “Weißt du eigentlich –”

“Nicht um dich zu kontrollieren”, unterbrach ich sie. “Ich rufe dich an, weil ich mir Gedanken um dich mache. Und ich rufe dich nicht ständig an.” Unsere immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen nahmen oft diese Richtung. Sie begannen mit einem bestimmten Punkt und schweiften dann immer mehr ab, bis sich mir der Kopf drehte. “Worum geht es hier wirklich?”, wollte ich wissen.

Sie stöhnte gereizt auf, als ob ich sowieso zu begriffsstutzig sei, um das zu verstehen. “Nichts”, sagte sie. “Es ist nur so, dass ich bald auf mich selbst gestellt sein werde und das allmählich üben sollte. Deshalb halte ich es für besser, wenn ich den Sommer über bei Dad wohne.”

“Du wirst bei Dad nicht auf dich selbst gestellt sein”, konterte ich, obwohl mir klar war, dass Glen alles tun würde, um seinem Kind zu gefallen. Jedem möglichen Konflikt zwischen Shannon und ihm würde er mit seiner üblichen Passivität begegnen. Von Beginn an hatte ich bei unserer Tochter die Erziehung – und damit die Rolle des strengen Elternteils – übernehmen müssen.

Ich dachte an Shannons Abschlussfeier. Glen, seine Schwester und sein Neffe hatten ein paar Reihen hinter Mom, Lucy und mir gesessen, und ich hatte das Gefühl, dass alle drei mich anstarrten. Ich wollte nach der Zeremonie zu Glen gehen, ihn umarmen und mit Blick auf Shannon sagen: Sieh nur, was wir beide geschaffen haben! Doch da war noch immer eine Mauer zwischen uns, die vermutlich ich aufgebaut hatte. Ich war noch immer zornig wegen dem, was er mir und unserer Ehe angetan hatte. Shannon wusste nichts davon, und das sollte so bleiben. Ich wollte ihr Bild von ihrem Vater nicht beschädigen.

“Ich weiß, dass ich dort nicht wirklich auf mich allein gestellt sein werde”, gab sie zu. “Darum geht es auch gar nicht. Ich werde es einfach tun, Mom, okay? Ich meine, ich brauche ja wohl nicht wirklich deine Erlaubnis, oder? Um bei Dad zu bleiben?”

Ich konnte nicht klar denken. “Können wir später darüber sprechen?”, bat ich sie. Ich blickte auf den Brief in meinem Schoß und bemerkte, dass ich ihn immer kleiner und kleiner gefaltet hatte, sodass er genau in meine Hand passte.

“Was ist das?” Shannon deutete auf das Papierbündel.

Ich faltete es auseinander und konnte es noch immer kaum glauben, dass Abby Worley tatsächlich da gewesen war. “Ich hatte Besuch”, sagte ich.

“Wen?”

“Die Tochter von Ethan Chapman. Als ich klein war, wohnte er neben dem Sommerbungalow meiner Familie. Er war so alt wie ich. Sein älterer Bruder Ned starb kürzlich, und Ethans Tochter – sie heißt Abby – fand diesen Brief in seinem Nachlass. Er war an die Polizei adressiert.”

Ich reichte ihr den Brief und beobachtete, wie sich bei der Lektüre Sorgenfalten auf ihrer Stirn zeigten.

“Oh, Mom”, sagte sie voller Mitgefühl. “Als ob du das hier wirklich brauchen würdest.”

“Ich weiß.” Ich flüsterte fast.

“Ned war Isabels Freund, nicht wahr?” Isabels Name kam ihr leichter über die Lippen als irgendjemand anderem in der Familie. Vielleicht, weil sie sie nicht gekannt hatte. Für Shannon war Isabel die Tante, die lange vor ihrer Geburt gestorben war. Diejenige, von der wir nur selten sprachen, obwohl Shannon ihr von Jahr zu Jahr ähnlicher sah. Das dicke dunkle Haar und die dichten schwarzen Wimpern, die mandelförmigen Augen und tiefen Grübchen. Shannon war jetzt siebzehn, genauso alt wie Isabel, als sie starb. Shannon wusste von den Ereignissen in jenem Sommer, als ich zwölf war, und sie begriff, dass ich sie aufgrund dieser Ereignisse so sehr unter Kontrolle hielt. Sie durfte sich niemals so frei bewegen, wie Isabel das damals getan hatte. Shannon wusste das alles, doch es hielt sie nicht davon ab, sich meinen Bemühungen um ihre Sicherheit zu widersetzen.

“Ja”, bestätigte ich. “Isabels Freund.”

“Deine Hände zittern.”

Ich blickte hinunter auf meine Hände. Sie hatte recht.

“Was sollst du damit machen?” Sie gab mir den Brief zurück.

“Ich werde Ethan bitten, ihn der Polizei zu übergeben. Und wenn er es nicht tut, werde ich das übernehmen.”

Sie seufzte nachdenklich auf. “Vermutlich musst du das”, sagte sie. “Hast du mit Lucy darüber gesprochen?”

“Noch nicht”, erwiderte ich. Ich hatte meine Schwester gerade anrufen wollen, als Shannon gekommen war. Ich musste mit jemandem sprechen, der meine Gefühle verstand.

Shannon erhob sich. “Nun”, sagte sie etwas unbehaglich, “ich muss zurück zum Laden. Ich wollte dir nur sagen … du weißt schon, dass ich zu Dad ziehe. Tut mir leid wegen des blöden Zeitpunkts und dass daraus so eine große Sache wurde wie dieser Streit.”

Ich nickte. “Wann wirst du gehen?”

“In ein paar Tagen. Ist das okay?” Sie wollte unbedingt meinen Segen.

“Okay.” Was sonst konnte ich schon sagen?

Sie reichte mir die leere Coke-Dose. “Könntest du die bitte in den Recycling-Müll geben?”, bat sie.

Ich nahm die Dose und hielt sie zusammen mit dem Brief in meinem Schoß. “Viel Spaß bei der Arbeit”, wünschte ich.

“Danke.” Sie sprang die Verandastufen mit einer Leichtfüßigkeit hinab, wie man sie nur von Jugendlichen kennt.

“Shannon?”, rief ich, als sie den Weg zur Straße hinunterging.

“Was?” Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.

“Wenn du mit Nana sprichst, erzähl ihr bitte nichts von dem hier.” Nach einem ungeschriebenen Gesetz in unserer Familie durfte niemand mit meiner Mutter über den Sommer 1962 reden.

“Werde ich nicht”, versprach sie und winkte zum Abschied.

Ich stand mit dem Brief und der Dose in meinen Händen auf und ging ins Haus, um meine Schwester anzurufen.

3. KAPITEL

Lucy

Gerade als ich auf dem McDonald’s-Parkplatz in Garwood aus dem Wagen stieg, klingelte mein Handy. Auf dem Display sah ich, dass es Julie war, und ging ran. Kaum hatte ich ein “Hallo, Schwesterherz” über die Lippen gebracht, erzählte sie mir auch schon von dem Gespräch, das sie mit Ethan Chapmans Tochter geführt hatte. Ich lehnte mich an den Wagen, während ich ihr zuhörte, und versuchte erfolglos, ein zusammenhängendes Bild von Ethan und Ned heraufzubeschwören. An Ned hatte ich kaum eine Erinnerung, und Ethan war zwölf und irgendwie verschwommen. Der Grund, warum seine Tochter vor Julies Tür aufgetaucht war, gefiel mir kein bisschen.

“Weißt du was, Julie?”, sagte ich, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte.

“Was?”

“Ich gebe zu, dass diese ganze Sache beunruhigend ist”, sagte ich. “Doch ich finde, Ethan Chapmans Tochter sollte das Geheimnis allein lösen und dich aus der Sache heraushalten. Du kannst das wirklich nicht gebrauchen.”

“Das sagte Shannon auch.”

“Ich habe eben eine sehr kluge Nichte”, bemerkte ich grinsend.

Julie schwieg.

“Was denkst du?” Ich holte die Sonnenbrille aus meiner Schultertasche und setzte sie auf. Wer wusste schon, wie lange ich noch hier draußen stand und mit ihr sprach? Ich konnte während des Gesprächs nicht ins McDonald’s gehen: Meine Mutter arbeitete dort.

“Wenn George Lewis es nicht getan hat”, sagte Julie, “kann ich mich nicht einfach zurücklehnen und die Welt glauben lassen, dass er es getan hat.”

“Doch, das kannst du”, erwiderte ich, obwohl mein Gerechtigkeitssinn womöglich noch stärker war als Julies. “Lass doch Ethans Tochter den Brief zur Polizei bringen. Wenn sie das tut, sehe ich keinen Grund, warum du überhaupt mit hineingezogen werden solltest.” Ich war selbst überrascht, wie viel Zorn in mir aufwallte. Meine kreative, sensible Schwester hatte sowieso schon Schwierigkeiten, Shannon – Isabels Ebenbild – aus ihrer Obhut zu geben und aufs College gehen zu lassen. Ich wollte nicht, dass ihr Stress noch verstärkt wurde, und war ärgerlich auf Abby Chapman, dass sie sie in etwas hineinzog, das sie eigentlich nichts anging.

“Das ist der Punkt”, sagte Julie. “Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas unternimmt ohne seine Zustimmung. Ich muss mit ihm sprechen. Ich sitze in der Klemme.”

Ich wusste, dass sie ihren Entschluss bereits gefasst hatte. “Okay”, gab ich nach. “Wenn du es tun musst, dann tu’s.”

Ein paar Kinder liefen an mir vorbei, und ihr lautes Gelächter klang mir im Ohr.

“Wo bist du?”, fragte Julie.

“Ich bin auf dem Parkplatz vom McDonald’s.”

“Erzähl Mom nichts von der Sache.”

“Glaubst du, ich bin verrückt?” Die Warnung wäre nicht nötig gewesen.

“Und ich habe heute noch weitere gute Neuigkeiten erhalten.” Julies Stimme troff fast vor Sarkasmus.

“Und zwar?”, fragte ich.

“Shannon möchte den Sommer über zu Glen ziehen.”

“Oh”, sagte ich. Shannon hatte mit mir über diese Möglichkeit gesprochen. Sie kam mit ihren Angelegenheiten immer zu mir, bevor sie sie Julie unterbreitete. Sie erzählte mir Sachen, die sie keinem anderen Erwachsenen gegenüber erwähnen würde. Ich war diejenige, die ihr die Pille besorgt hatte, als sie fünfzehn war. Julie würde mich umbringen, wenn sie davon erfuhr. In diesem Jahr, in dem Shannon so alt war wie Isabel zum Zeitpunkt ihres Todes, schien Julie beinahe zu zerbrechen und hielt ihre Tochter nur umso fester, obwohl sie sie eigentlich loslassen sollte. Aus diesem Grund sagte ich Shannon, dass es zwar hart für ihre Mutter sein würde, wenn sie den Sommer über bei Glen wohnte, ich das aber für eine gute Idee hielt. Es konnte Julie dabei helfen, sie gehen zu lassen.

Meine geringe Überraschung über Julies Neuigkeit machte sie argwöhnisch.

“Wusstest du davon?”

“Sie erzählte mir, dass sie darüber nachdenkt”, gab ich zu.

Es gab eine kurze Pause in der Leitung. “Ich wünschte, du hättest es mir gesagt”, sagte sie.

“Sie hatte sich noch nicht entschieden, und ich fand, dass sie es dir sagen sollte.” Ich fühlte mich schuldig. “Es könnte für euch beide gut sein, Julie.”

Zwei Mittdreißiger gingen auf dem Parkplatz an mir vorbei, ohne mich überhaupt nur eines Blickes zu würdigen. Ich wurde bald fünfzig – jenes Alter, in dem Frauen unsichtbar werden. Ein Phänomen, das mich eher faszinierte als peinigte. Es schien über Nacht geschehen zu sein. Obwohl ich mein silber gesträhntes Haar vor vier oder fünf Jahren genauso getragen hatte wie jetzt – zu einem französischen Zopf geflochten und mit einem dichten Pony über der Stirn –, hatten sich damals noch einige Männer nach mir umgedreht. Meine Haut war fast genauso glatt und klar wie damals, und ich trug noch die gleiche Art von Kleidung, meistens lange Knitterröcke mit ärmellosen Strickoberteilen. Dennoch schienen Männer, egal ob in meinem Alter oder jünger, heute direkt durch mich hindurchzusehen. Vielleicht verströmte ich den Geruch des Verfalls. Es war mir egal. Ich machte eine lange, vielleicht nie endende Dating-Pause.

“Sie wirkt so … distanziert irgendwie”, klang Julie in meinem Ohr, sodass ich meine Aufmerksamkeit wieder auf unser Gespräch lenkte. “Sie verändert sich. Ist dir das aufgefallen? Ich glaube, sie hat zugenommen, und sie geht nicht mehr aus. Ich mache mir Sorgen um sie.”

Julie hatte recht. Shannon schien sich in letzter Zeit mehr zurückzuziehen, verhielt sich in unseren Gesprächen reservierter und rief nicht mehr so häufig an. Ihre körperliche Veränderung hatte ich erst am Sonnabend bemerkt, als ich sie über die Bühne gehen sah, um ihr Diplom in Empfang zu nehmen. Da war eine gewisse Schwere an ihr gewesen, mehr in ihrer Stimmung als an ihrem Körper, doch ich spielte es herunter, um Julie ihre Ängste zu nehmen. “Sie hat gerade einen Wachstumsschub”, behauptete ich. “Und was ihr soziales Leben angeht, hast du dich immer beklagt, wenn sie ausgegangen ist. Du solltest vorsichtiger sein mit deinen Wünschen.”

Julie seufzte. “Ich weiß.”

Wir beendeten unser Gespräch, und ich ließ das Handy wieder in meine Schultertasche gleiten, als ich den Parkplatz überquerte und das Restaurant betrat. Es war voll mit Kindern von der Garwood-Sommerschule, deren Schüler sich sehr von denen unterschieden, die ich an der Plainfield High School unterrichtete. Die Garwood-Schüler waren meistens Weiße und stammten aus der Mittelklasse, wohingegen die Schüler an der Plainfield unterschiedlichster Herkunft und ökonomisch benachteiligt waren. Ich lehrte dort Englisch als Fremdsprache, weil ich die Gesellschaft all dieser Kinder genoss, die trotz verschiedener Hautfarben und Sprachen der dringende Wunsch einte, dazuzugehören.

Ich erblickte meine Mutter am anderen Ende des Restaurants. In ihrer rot-weißen Uniform und mit einigen Tabletts in der Hand stand sie an einem Tisch, wo sie mit einer jungen Frau und deren zwei Kindern sprach. Viele meiner Freunde in meinem Alter mussten ihre Eltern in Pflegeheimen besuchen. Ich fand es großartig, dass ich meine Mutter bei McDonald’s besuchen konnte. Mom war die Empfangskraft, die immer für jeden ein Lächeln hatte, die die Kinder in der Spielzone beaufsichtigte und die den Laden mit genauso viel Sorgfalt aufräumte wie zu Hause. Sie wirkte auf mich kleiner als noch vor einem Monat. Ich dachte immer als eine große Person an sie, doch entweder schrumpfte sie allmählich, oder ich hatte mir ihre Größe nur eingebildet. Ihr Haar war weiß und sah toll aus. Sie ließ es jede Woche frisieren, und es wirkte immer weich und natürlich. Das schneeweiße Haar bildete einen verblüffenden Gegensatz zu ihrem karamellfarbenen Teint, den sie ihrer italienischen Mutter verdankte. Die Leute glaubten immer, dass sie gerade von einer Kreuzfahrt in die Karibik zurückgekehrt sein müsse. Isabel war ihr am ähnlichsten gewesen, doch ich hatte ihre perfekte Nase und die vollen Lippen geerbt, und Julie hatte ihre großen dunklen Augen. Wir hatten beide ziemlich viel Glück, überhaupt etwas von der Schönheit unserer Mutter geerbt zu haben.

Ich trat zu ihr.

“Hallo, Mom”, begrüßte ich sie.

Wie erwartet, schien sie erfreut, mich zu sehen. Sie schlang einen Arm um meine Taille.

“Dies ist die Tochter, von der ich erzählte”, sagte sie zu der jungen Frau. “Die mit dem Boheme-Leben.”

Ich lachte, und die Frau lächelte verwirrt. Ich war sicher, dass sie mit ihren zwanzig und ein paar Jahren keine Ahnung hatte, was Boheme bedeutete, doch sie lächelte trotzdem.

“Ihre Mutter sagte, dass Sie gerade aus Nepal zurückgekommen sind”, sagte die Frau und bot ihrem Sohn dabei eine Pommes an.

“Stimmt”, bestätigte ich. “Es war eine fantastische Reise. Waren Sie jemals dort?”

“Oh nein.” Die Frau nickte in Richtung ihrer Kinder. “Ich war seit drei Jahren nirgendwo mehr, aus naheliegenden Gründen.”

Auch ich war seit drei Jahren nicht mehr in Nepal gewesen, doch meine Mutter genoss es, mit dieser Reise Leute zu beeindrucken. Für sie klang es einfach exotisch. Ich hätte sie gern dorthin mitgenommen, doch obwohl sie für ihre einundachtzig Jahre erstaunlich gesund war, hatte ich Angst, dass die Höhe und das viele Wandern sie umbringen würden.

“Hast du eine Minute Zeit?”, fragte ich sie.

“Natürlich!” Sie entschuldigte sich bei der jungen Frau, sah dann aber einen Tisch mit nicht abgeräumten Tabletts. “Such dir schon mal einen Platz, ich komme gleich”, sagte sie.

Ich kaufte einen Eistee und setzte mich an einen Ecktisch. Mom fand noch mehr, was zu tun war, und sprach mit einer ihrer viel, viel jüngeren Kolleginnen, einem hispanischen Mädchen mit einem zarten Tattoo auf dem Handgelenk, das in mir immer den Wunsch weckte, mir auch eines machen zu lassen. Ich hatte mir tatsächlich mal einen Schmetterling auf die Hüfte tätowieren lassen – ein dummer Fehler, den ich in meinen Zwanzigern beging, als ich noch nicht begriff, welchen Einfluss die Schwerkraft später auf diesen Teil meines Körpers haben sollte. Aus diesem Grund hatte ich versucht, Shannon das Tattoo eines Cellos auf ihrem Rücken auszureden, doch sie hatte darauf bestanden, und ich musste zugeben, dass es sehr hübsch aussah, wenn sie ihre hüfttiefen Hosen trug. Das Tattoo war so kunstvoll gestochen, dass selbst Julie sich nur zehn Sekunden lang aufregte, wenn sie es zu Gesicht bekam.

Während ich auf Mom wartete, dachte ich an Julies Anruf. Ich konnte nicht glauben, dass sie nach all dieser Zeit wieder mit Isabels Tod konfrontiert wurde. Ich erinnerte mich an so wenig aus jenem Sommer, dass die Geschehnisse mich niemals so schmerzten wie meine Schwester. Ich war erst acht Jahre alt gewesen, und die Erinnerung an unser Leben in Bay Head Shores umfasste nur winzige Ausschnitte, ähnlich den kurzen Videoaufnahmen, die man mit einer Digitalkamera machen konnte. Während ich an meinem Tee nippte, kam mir das Bild in den Sinn, wie Julie einen riesigen Aal gefangen hatte. Es war nicht ungewöhnlich, im Kanal hinter unserem Bungalow Aale zu fangen, doch dieser war ganz besonders groß gewesen.

“Und sie hat ihn ganz allein an Land gezogen”, prahlte mein Großvater. Julie war seine Partnerin beim Angeln. Die beiden verbrachten Stunde um Stunde in unserem sandigen Garten, wo sie auf den blauen Holzstühlen saßen, ihre Angelstöcke festhielten und sich unterhielten, auch wenn ich keine Ahnung hatte, worüber eigentlich. Ich saß normalerweise zusammengekuschelt mit einem Buch irgendwo in der Sicherheit des Hauses.

Die meisten Menschen warfen die Aale vermutlich wieder zurück ins Wasser, doch meine Mutter und meine Großmutter hielten sie für eine Delikatesse. Mom kam aus dem Haus, und gemeinsam töteten sie und Julie den Aal. Ich erinnere mich nicht daran, wie sie es taten – gnädigerweise ist dieser Teil meiner Erinnerung verschüttet. Danach häuteten sie den Aal. Barfuß standen sie auf der schmalen Plattform am Fuße unseres Docks, Julie in einem roten Badeanzug und meine Mutter in einem Hauskleid mit einer Schürze darüber. Mom hielt den Kopf des Aals mit einem Putzlumpen umfasst, während Julie ihm die Haut abzog, wie man einen Strumpf von einem Bein zieht. Ich sah von meinem Platz hinter dem Lattenzaun aus zu. Ich hatte Angst, in den Kanal zu fallen, und achtete daher darauf, dass sich immer der Zaun zwischen mir und dem Wasser befand.

Ich erinnere mich schwach, dass Grandpop und Grandma an der anderen Seite des Docks standen und ebenfalls zusahen. Es wurde viel gelacht und durcheinandergeredet, was Ethan Chapman wohl neugierig machte, denn er kam von nebenan herüber.

“Stark”, sagte er, als er sich in den Sand neben der Plattform kniete, auf der Julie und meine Mutter ihr unappetitliches Werk vollendeten. “Das ist der größte Aal, den ich je gesehen habe.” Ethan war sehr dünn, den dicksten Teil seiner Beine bildeten tatsächlich seine Knie. Seine Haut war über und über bedeckt mit Sommersprossen, und sein Haar wirkte mal braun, mal rot, je nachdem wie das Licht darauf fiel. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern.

“Warum kommst du heute Abend nicht vorbei und isst ein Stück mit?”, lud meine Mutter ihn ein. Dann warf sie lachend den Kopf zurück, als Ethan eine Grimasse schnitt. Sie wusste, dass außer meiner Großmutter und ihr niemand den gekochten Aal anrühren würde.

“Ich will das Ding nicht essen”, entgegnete Ethan. “Aber kann ich die Haut haben?”

Julie hatte sie gerade ins Wasser werfen wollen. Sie sah zu ihm hoch, wobei das Weiße in ihren Augen in starkem Kontrast zu ihrer dunklen Sommerbräune stand.

“Wofür?”, fragte sie.

“Sie ist schön”, erwiderte er und zeigte auf die Haut. “Sieh nur, wie sie innen schimmert. In allen Farben.”

Wir starrten auf die abgezogene Aalhaut. Ich verstand, was er meinte. Die Haut hatte einen perlmuttartigen Schimmer.

“Sie gehört dir.” Julie warf ihm die Haut zu.

Ethan streckte einen seiner Streichholzarme aus und fing das glitschige Ding auf. “Und kann ich die Eingeweide haben, wenn ihr ihn ausnehmt?”, fragte er.

Ich sah, wie Julie angewidert die Nase kraus zog. “Du bist ekelhaft”, sagte sie.

“Julie”, wies meine Mutter sie zurecht. Dann blickte sie zu Ethan hinauf. “Natürlich kannst du sie haben, Ethan”, lenkte sie ein. “Was willst du denn damit?”

“Sie untersuchen”, antwortete Ethan, und ich verstand, warum Julie in diesem Sommer nicht mehr mit ihm befreundet war.

Als meine Mutter den gehäuteten, ausgenommenen und geköpften Aal in die heiße Pfanne warf, zuckte er noch immer. Das bescherte mir mehrere Nächte hintereinander schreckliche Albträume. Ich war damals ein besonders ängstliches Kind. Erst nachdem Isabel im August starb, verschwanden meine Ängste allmählich. Es schien unlogisch. Eigentlich hätte ich noch ängstlicher werden müssen, weil meine Welt erschüttert worden war. Doch es war, als ob das Allerschlimmste geschehen war und ich dennoch überlebt hatte, sodass ich von nun an nichts mehr fürchten musste.

Endlich kam Mom zu meinem Ecktisch und setzte sich mir gegenüber.

“Puhh!” Sie lächelte. “Ganz schön viel los heute.”

“All die Kinder von der Sommerschule”, erwiderte ich.

Mom war nicht wirklich bei mir. Unruhig schossen ihre Augen durch das kleine Restaurant, immer auf der Suche nach Kunden, die sie kannte, oder Tischen, die abgeräumt werden mussten. Sie arbeitete dort seit fünf Jahren, und es war ihr zweites Zuhause.

“Dieses Mädchen”, bemerkte sie mit einem Nicken in Richtung der jungen Frau, der sie mich vorgestellt hatte. “Sie ist wieder schwanger. Kannst du dir das vorstellen? Sie wird drei kleine Kinder unter vier Jahren haben.” Sie schnalzte mit der Zunge. “Die Leute treffen Entscheidungen …”, wunderte sie sich.

“Nun, es ist ihre Entscheidung”, erwiderte ich.

“Ich bin sicher, dass ihr Mann ebenfalls dazu beigetragen hat”, sagte meine Mutter. Sie holte ein Taschentuch heraus und wischte über einen Fleck auf dem Tisch. “Ich wünschte, du würdest Sonntag mit mir zur Kirche gehen”, wechselte sie das Thema. “Es ist ein besonderer Anlass.”

“Was ist denn Besonderes?” Ich versuchte, mich an die heiligen Sonntage zu erinnern, doch da war nur Leere.

“Pater Terrell hat Geburtstag.”

“Ah”, sagte ich. Das war nicht besonders genug, um mich in eine katholische Kirche zu bringen. Im Laufe meines Erwachsenenlebens hatte ich so ziemlich jede Religion ausprobiert, und man konnte mich heute wohl am ehesten als buddhistische Quäkerin beschreiben. Ich strebte nach Frieden, innerem und äußerem. Ich sah zu, wie meine Mutter das Taschentuch sorgfältig zusammenfaltete und wieder in die Tasche zurücksteckte. Sie war so süß. Und sie ging so auf in ihrer Arbeit. Wie konnte ich ihr da widerstehen?

“Ich werde mitgehen”, willigte ich ein.

“Oh, das ist wunderbar, Lucy!”, freute sie sich.

Trotz meiner Lebensentscheidungen verstand ich mich gut mit meiner Mutter. Ich war niemals verheiratet gewesen, sondern hatte mit drei verschiedenen Männern zusammengelebt, jeweils acht Jahre lang. Acht Jahre schien aus irgendeinem Grund das Limit zu sein.

Julies Verhältnis zu meiner Mutter war dagegen immer etwas angespannt gewesen, obwohl meine Schwester versuchte, alles richtig zu machen. Sie war in der katholischen Kirche geblieben, hatte geheiratet und ein wunderschönes Enkelkind zur Welt gebracht, dazu kam ihre erfolgreiche Karriere. Sie war vorsichtig und zuverlässig, die praktisch denkende Tochter, die Mom zu ihren Arztterminen begleitete und ihr bei all dem Papierkram half. Dennoch gab es eine nicht zu leugnende Unbehaglichkeit zwischen meiner Mutter und Julie, die vermutlich nie verschwinden würde. Julie glaubte, dass Mom sie noch immer für Isabels Tod verantwortlich machte. Ich glaubte nicht eine Minute daran, doch man konnte es nicht mit letzter Sicherheit wissen, weil meine Mutter nicht der Typ war, der über seine Gefühle sprach. Das Thema Isabel war sowieso tabu. Sogar mir wäre es unangenehm gewesen, es in ihrer Anwesenheit anzusprechen. Unter Verschluss gehaltene Gefühle konnten jedoch viel zerstörerischer sein als jene Emotionen, die man offenbarte. Das wusste ich, und zudem war ich eine unerschrockene Frau. Dennoch hätte ich nie die richtigen Worte gefunden, um mit meiner Mutter über Isabel zu sprechen.

“Hör mal”, sagte meine Mutter. “Ich denke, wir sollten eine große Party geben, bevor Shannon aufs College geht. An ihrem Geburtstag am zehnten September wird sie fort sein, insofern könnte es eine Kombination aus Geburtstags- und Abschiedsparty sein.”

“Das ist erst in ein paar Monaten, Mom”, wendete ich ein.

“Aber du weißt doch, wie die Zeit vergeht. Wenn wir nicht jetzt mit der Planung anfangen, wird vielleicht nie was draus.”

“In Ordnung.” Manchmal war es besser, den Ideen meiner Mutter zu folgen, als sie aufzuhalten. “An was denkst du?”

“Wir könnten hier feiern.”

“Bei McDonald’s?” Ich versuchte, nicht allzu entgeistert zu klingen. “Shannon ist fast achtzehn. Ich glaube nicht, dass sie sich ihre Party hier wünscht.”

“Okay, okay.” Meine Mutter wedelte meine Antwort fort, als hätte sie sie kommen sehen. “Wie wäre es dann mit zu Hause?” Sie meinte ihr Haus, das Haus, in dem Julie und ich aufgewachsen waren.

“Gute Idee”, pflichtete ich ihr bei.

Sie erzählte von ihren Plänen für die Party – wen wir einladen sollten, ein Motto für die Dekoration, was es zu essen geben sollte –, und ich dachte wieder zurück an den Aal.

“Erinnerst du dich noch, als Julie den riesigen Aal fing?”, fragte ich plötzlich.

Meine Mutter wirkte verwirrt, weil meine Frage so völlig aus dem Nichts kam. “Wovon sprichst du?”, fragte sie. “Welcher Aal? Wann?”

Ich begriff, dass ich einen Fehler gemacht hatte, das Thema anzuschneiden, denn ich war sicher, dass die Geschichte mit dem Aal 1962 gewesen war.

“Als … Als wir Kinder waren”, antwortete ich ausweichend. “Sie fing ihn im Kanal. Als du ihn in die Pfanne legtest, zuckte er noch.”

“Oh, das tun sie immer”, behauptete meine Mutter.

“Wieso?”, fragte ich.

“Hat irgendwas mit einem autonomen Nervensystem zu tun”, erwiderte sie. “Aber sie waren so tot, wie man nur tot sein kann. Was um Himmels willen hat dich daran denken lassen?”

Ich zuckte die Achseln. “Ich weiß nicht”, log ich. “Es kam mir einfach so in den Sinn.”

Meine Mutter blickte träumerisch ins Leere. “Was ich genau jetzt für einen Aal geben würde!”

Ich lehnte mich zurück, nippte an meinem Tee und war unverhältnismäßig zufrieden mit dem Gespräch: Ich hatte etwas von dem Bungalow zur Sprache gebracht – und überlebt.

4. KAPITEL

Julie

1962

Bis zum Tod meiner Schwester in dem Sommer, als ich zwölf Jahre alt war, verbrachte ich eine geradezu idyllische Kindheit. Das Schuljahr über wohnten wir in Westfield, einer Stadt, die alles bot, was ich mir wünschen konnte, und eine gute Busverbindung nach New York hatte, wo meine Eltern mit meinen Schwestern und mir öfter in den Zoo, ins Historische Museum oder zu einer Broadway-Aufführung gingen. Meine Eltern waren gebildet, gut erzogen und liebevoll, und meine viel zu nachsichtigen Großeltern mütterlicherseits, Grandma und Grandpop Foley, wohnten nebenan. Ihr Haus stand uns ebenso offen wie unser eigenes.

Ich war ein fantasievolles Kind – zu fantasievoll, wie einige meiner Lehrer fanden – und dachte mir für mich und meine Freunde gerne Abenteuer aus. Ich erfand Geschichten über merkwürdige Ereignisse in der Nachbarschaft: Die alte Dame an der Ecke war eine Zauberin, ich hatte einen Freund in einer anderen Stadt, man hatte mich als Säugling verlassen vor der Tür meiner Eltern gefunden. Den Kindern in meiner Klasse erzählte ich, dass man im Mindowaskin Park in der Nähe unserer Häuser Wölfe gesichtet hätte. Ich schrieb gerne kleine Stücke, um sie in unserer Garage aufzuführen, und Gedichte, die ich meinen Klassenkameraden vortrug.

Meine Mutter war bei meinen Freunden beliebt, weil sie unsere Anstrengungen sehr ernst nahm. Sie malte Bühnenbilder und nähte Vorhänge für die improvisierte Bühne, auf der wir die Stücke aufführten, und sie ließ mich mit meinen Lügengeschichten gewähren, solange ich den Nachbarkindern nicht allzu viel Angst einflößte.

Mein Vater war Arzt und hatte viele Termine, doch er nahm sich Zeit für meine Schwestern und mich. Obwohl er wegen einer Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg hinkte, ging er dennoch mit uns Rodeln, Eislaufen oder Bowlen. Meine Welt war sicher, schön und geborgen.

Die Dinge begannen schwieriger zu werden, als Isabel fünfzehn wurde. Sie wollte mit ihren Freunden zusammen sein statt mit der Familie, und sie wollte zu Partys gehen, die meine Eltern nicht billigten. Sie verhielt sich gemein mir gegenüber und behandelte mich plötzlich wie eine Bürde. Sie wollte mich nicht länger um sich haben und sprach kaum mit mir, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen war. Im Rückblick gesehen war ihre Rebellion ziemlich zahm. Während mein Vater noch immer zu glauben schien, dass seine älteste Tochter über Wasser laufen konnte, bekam meine Mutter die volle Wucht ihres feindseligen Verhaltens ab. Das Schlimmste war, dass meine Eltern in dem Sommer, in dem Isabel siebzehn war, begonnen hatten, sich darüber zu streiten, wie man am besten mit ihr umging. Niemals zuvor hatte ich böse Worte zwischen ihnen gehört, und ihr Zwist beunruhigte mich.

Während des gesamten Schuljahrs sehnte ich mich nach dem Sommerbungalow meiner Großeltern unten am Ufer des Kanals von Point Pleasant. Er gehörte zu der kleinen Strandgemeinde Bay Head Shores, das nur eine Autostunde von Westfield entfernt lag und doch wie in einer anderen Welt schien. 1962 kamen wir wenige Tage nach Schulende beim Bungalow an. Wir fuhren zusammen mit unseren Großeltern, die unser Boot im Schlepptau ihres schwarzen Studebaker transportierten. Lucy, meine Mutter und ich folgten im Chrysler, und Dad und Isabel bildeten in dem knallgelben Lark Cabrio die Nachhut. Alle taten so, als ob Isabel mit Dad fuhr, um in dem offenen Wagen schon mal braun zu werden, doch ich wusste, dass sie und meine Mutter sich mal wieder in den Haaren lagen und dass es für alle Beteiligten friedlicher war, wenn sie bei Dad mitfuhr.

Lucy, die damals acht Jahre alt war, liebte Bücher ebenso sehr wie ich, doch sie konnte im Auto nicht lesen, ohne dass ihr schlecht wurde. Ihr Hang zur Reisekrankheit machte es außerdem erforderlich, dass sie im Chrysler vorne neben Mom saß, was mir nur zugutekam. Ich lümmelte zwischen Koffern und Kissen auf dem Rücksitz und las das Nancy-Drew-Abenteuer Das Geheimnis der Red Gate Farm, das ich schon einmal gelesen hatte. Ich kannte alle Nancy-Drew-Romane und arbeitete mich systematisch noch einmal durch alle hindurch. Ich tat immer gern so, als sei ich selbst Nancy Drew, die Detektivin. Einige Monate zuvor hatte ich angefangen, alle Dinge zu sammeln, die ich im Garten oder in der Nachbarschaft so fand. Ich hatte einen Handschuh im Rinnstein gefunden, eine Geldklammer auf dem Gehweg und – zum Entsetzen meiner Mutter – einen Büstenhalter, den ich im Wäldchen hinter dem Haus einer Freundin entdeckt hatte. All diese Gegenstände sammelte ich unter meinem Bett für den Fall, dass sich in der Nachbarschaft etwas Mysteriöses ereignen und eines meiner Fundstücke sich als wertvolles Beweisstück entpuppen sollte. Das Gleiche wollte ich auch in unserem Sommerbungalow tun.

Das kleine blaugraue, mit schwarzen Fensterläden versehene Holzhaus war einer von zwei Bungalows am Ende einer kurzen, nicht gepflasterten Sackgasse. Meine Schwestern und ich hatten unsere Schuhe schon ausgezogen, bevor wir überhaupt aus dem Wagen stiegen. Grandpop schloss die Vordertür auf, wobei er extra umständlich mit dem Schlüssel herumfummelte und über unsere Ungeduld kicherte. Der muffige Geruch eines Hauses, das zehn Monate lang unbewohnt war, umhüllte uns, als wir in den Flur traten. Lucy und ich rannten von einem Zimmer ins nächste, um uns davon zu überzeugen, dass noch alles genau so war, wie wir es letztes Jahr verlassen hatten.

Die beiden Schlafzimmer unten wurden von den Erwachsenen benutzt, während wir drei Mädchen auf dem Dachboden schliefen. Izzy und ich liebten den Dachboden, doch Lucy, die offenbar sämtliche Angst-Gene der Familie abbekommen hatte, fürchtete ihn. Als Lucy klein gewesen war, hatten sie und Mom einen Autounfall gehabt, und man hatte meiner Mutter das schreiende Kind aus dem Arm gerissen und in die Notaufnahme gebracht, wo ihre gebrochenen Rippen und ein gebrochenes Bein versorgt wurden. Seit diesem Tag schien sie vor allem Angst zu haben. Den Dachboden konnte man nur über eine wackelige ausklappbare Treppe betreten, und Lucy befürchtete immer, dass diese Treppe irgendwie einrasten könnte, während sie sich oben befand, und sie gefangen wäre. Der Dachboden an sich war eine Quelle endloser Faszination für mich. Er schien unendlich groß. Die Holzschrägen bildeten praktisch den Bauch des Daches, und es standen genug Betten darin, dass acht Menschen hier oben schlafen konnten. Die Betten waren durch Vorhänge voneinander getrennt, die an gespannten Wäscheleinen hingen, sodass jeder ein bisschen Privatsphäre hatte, wenn er das wollte. Tagsüber zogen wir die Vorhänge allerdings meistens zurück, damit eine kleine Brise durch den Raum mit den kleinen Fenstern zog. Die Hitze auf dem Dachboden konnte erstickend sein.

Jedermanns Lieblingsplatz am Bungalow – und überhaupt der Grund für seine Existenz – war der Kanal, der hinter dem Haus entlangfloss. Unser Garten bestand aus einem großen Rechteck voller Sand, das wir mit der Chapman-Familie von nebenan teilten und das zwischen ihrem und unserem Dock lag. Unser Boot war nur ein kleiner Flitzer, ein winziges, offenes Boot mit Außenbordmotor, doch die Chapmans hatten einen richtigen Boston Whaler, der schnell genug war, um zwei Wasserskiläufer gleichzeitig zu ziehen.

Jeder, der die Inland-Route von der Barnegat Bay zum Manasquan River nahm, musste unseren Kanal passieren, und einige Boote gehörten Prominenten. Mein Vater erzählte jedem, dass Richard Nixon ihm einmal zugewinkt habe, als das Boot des damaligen Vizepräsidenten an unserem Haus vorbeifuhr. An den Wochenenden füllte sich der Kanal mit Booten und Schiffen aller Größen und Arten und war schwer zu befahren. Unter der kleinen Lovelandtown Bridge, die man von unserem Haus aus gut sehen konnte, schlug das Wasser Wellen wie das Meer bei Sturm, und es kam durchaus mal zu Unfällen. Wir schauten alle gern zu, wenn die Boote an den belebten Wochenendnachmittagen verzweifelt versuchten, den Stützpfeilern der Brücke auszuweichen.

Als wir in jenem Sommer beim Bungalow ankamen, ging mein Vater allerdings nicht in den Garten, um Boote zu beobachten, und er kletterte auch nicht die Leiter am Dock hinunter, um einen Zeh ins Wasser zu tauchen, wie meine Mutter und ich es taten. Stattdessen schritt er sofort zum Telefon. Er hatte dafür gesorgt, dass es bereits wieder angeschlossen war, weil er sich auf einem Rachefeldzug befand. Er war entrüstet über das kürzliche Verbot von Gebeten in der Schule, das der Oberste Gerichtshof erlassen hatte, und wollte jeden Katholiken, den er kannte, anrufen, um einen Protest gegen das Gesetz zu organisieren. Mein Vater war ein Träger des Purple Heart, des Kriegsversehrtenabzeichens. Er saß im Gemeinderat der Stadt und war ein hoch angesehenes Mitglied unserer Kirche, da er regelmäßig eine Kolumne für eine katholische Zeitschrift schrieb. Zu jung, um mir eine eigene Meinung zu bilden, und geprägt von den Werten meiner Eltern, war ich ebenso entrüstet über die neue Regelung wie er. Ich konnte mir nicht vorstellen, den Schulunterricht morgens ohne das übliche Gebet zu beginnen. Also ließen wir meinem Vater die nötige Zeit, damit er sich im Wohnzimmer neben dem Wandtelefon mit seinem Schreibblock niederlassen und seine Anrufe erledigen konnte, bei denen er seine Stimme manchmal vor Zorn erhob.

Die vier Chapmans waren bei unserer Ankunft gerade alle im Garten. Meine Mutter und meine Schwestern liefen hinüber, um sie zu begrüßen, doch ich ging außerhalb des Maschendrahtzauns zur Spundwand, wo ich mich hinsetzte. In meinem Schoß hatte ich ein Buch, und meine Füße baumelten nur wenige Zentimeter über dem Wasser. Obwohl ich nicht in seine Richtung sah, ahnte ich, dass Ethan mich beobachtete. Ich konnte mir vorstellen, wie er auf einem der Stühle saß, seine Beine hin und her schwingen ließ und wie seine Flipflops von seinen Füßen baumelten. Ethan und ich waren einmal dicke Ferienfreunde gewesen. Wir fuhren mit dem Rad zu dem kleinen Strand von Bay Head Shores, angelten zusammen und kletterten auf Bäume. Wir hatten sogar jeweils bei dem anderen übernachtet. Wir waren am gleichen Tag geboren – am 10. März 1950 – und dachten, das würde ein lebenslanges Band zwischen uns knüpfen. Doch im letzten Sommer waren wir uns fremd geworden, wie es zwischen Jungen und Mädchen oft vorkommt, wenn sie älter werden. Unser Auseinanderdriften schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, als ob man uns beiden zur gleichen Zeit nahegelegt hätte, einander zu meiden. In meinen Augen war er einfach merkwürdig geworden. Er hatte eine große Faszination für Meerestiere entwickelt und untersuchte alles, was er finden konnte – Krabben, Kugelfische, Aale, Seesterne und auch winzige Garnelen, die sich dicht unter der Wasseroberfläche an die Spundwand klammerten. Ich war froh, dass meine Mutter mich nicht zwang, hinüberzugehen und ihn zu begrüßen.

Das Abendessen – Großmutters Spaghetti mit Hackbällchen in Tomatensauce – nahmen wir auf der mit Fliegengitter geschützten Veranda ein wie immer. Der riesige Tisch, der dort an einer Seite stand, war das Zentrum sämtlichen Treibens im Haus – dort wurde gegessen, Karten gespielt und gepuzzelt. Nach dem Essen halfen meine Schwestern und ich Mom beim Abwaschen. Ich war glücklich, weil zwei lange Monate voller Freiheit vor mir lagen. Lucy allerdings fühlte sich nicht frei, sondern hatte Angst.

“Du gehst doch heute Abend mit mir nach oben ins Bett, Julie, oder?”, fragte sie, als sie das Besteck abtrocknete. Ich musste zusammen mit ihr ins Bett gehen, damit sie auf dem Dachboden nicht allein war. Der Zeitpunkt war ein Kompromiss zwischen ihrer frühen Bettgehzeit und meiner späteren.

Ich blickte zu meiner Mutter. “Ich möchte diesen Sommer länger aufbleiben, Mom”, bettelte ich. “Ich bin jetzt zwölf.”

“Du gehst zur gleichen Zeit wie Lucy”, erwiderte meine Mutter. Dann zog sie mich zur Seite und flüsterte mir ins Ohr: “Geh mit ihr hoch und warte, bis sie einschläft. Dann kannst du wieder runterkommen.”

“Lucy muss erwachsen werden”, mischte sich Isabel ein, die einen Teller abtrocknete. “Sie wird ihre Ängste niemals überwinden, wenn ihr sie verhätschelt.”

“Hilfreicher als deine Kritik”, gab meine Mutter zu bedenken, “wäre das Angebot, ab und zu mit Lucy hochzugehen, damit Julie das nicht immer machen muss.”

“Gerne”, schnappte Isabel. “Dann erzähle ich ihr Gespenstergeschichten.”

Mom wischte gerade die Arbeitsfläche und hielt inne, um Isabel anzusehen. “Wann bist du nur so gemein geworden?”, fragte sie und wandte sich ab. Ich bemerkte den Ausdruck von Reue in Isabels Gesicht, den sie rasch mit einem Grinsen überdeckte. Meine Schwester war nicht so hart, wie sie vorgab.

Ich begriff allmählich, dass Isabel sehr schön war – und dass sie das wusste. Sie konnte jeden, allen voran unseren Vater, um den Finger wickeln, indem sie einen Schmollmund zog oder Tränen in ihren Augen schimmern ließ. Ihre dunklen Augen waren wunderschön, die Wimpern so lang und dicht, dass sie fast unecht wirkten. Über ihr Haar beklagte sie sich ständig. Es sei zu wellig. Zu dick. Zu dunkel. Doch diese Klagen waren reine Koketterie; sie wusste, dass sie von jedem anderen Mädchen in ihrer Klasse um ihr Haar beneidet wurde. Sie hatte große Brüste und eine schmale Taille. Die Jungs starrten sie an, wenn wir die Straße entlanggingen, und die Mädchen hatten Angst, dass ihre Freunde sie mit Isabel vergleichen könnten und sie dabei schlecht abschnitten. Es war einfach nicht zu leugnen, dass sie die Schönheit in der Familie abbekommen hatte. Lucy und ich hatten zwar auch dunkles Haar, doch ich musste meines auf Wickler drehen, damit es wellig fiel, und Lucys kurzem Haar hatte Mom eine Dauerwelle verpasst, sodass sie wie ein Pudel aussah.

Es war sehr still geworden in der Küche. Ich füllte die übrig gebliebene Tomatensauce in eine Tupperdose und machte mit dem Deckel Rülpsgeräusche, was Lucy zum Kichern brachte.

Isabel nahm das Sieb von dem Abtropfständer und trocknete es ab. “Ned hat mich heute Abend zu einer Party eingeladen”, sagte sie. “Ich kann doch gehen, nicht wahr?”

Meine Mutter bearbeitete erneut die Arbeitsfläche mit dem Schwamm. “Nicht heute Abend”, widersprach sie. “Du musst noch auspacken –”

“Ich habe bereits ausgepackt und auch Julie und Lucy beim Auspacken geholfen”, erklärte Izzy. “Und die Betten oben sind gemacht, und ich habe den Boden gewischt, und außerdem die Toilette, das Waschbecken und alles geputzt.”

Ehrlich gesagt, war ich nicht sicher, ob das alles der Wahrheit entsprach. Ich wusste, dass ich meine Sachen allein ausgepackt hatte, doch ich hielt den Mund.

“Und hier sind wir doch praktisch fertig, oder?”, fügte Isabel hinzu.

“Ja, das sind wir.” Meine Mutter spülte den Schwamm aus. “Aber ich möchte nicht, dass du schon am ersten Abend weg bist.”

Isabel warf ihr Geschirrtuch auf den Tisch. “Das ergibt absolut keinen Sinn.”

Meine Mutter sah auf, während sie den Schwamm mit beiden Händen ausdrückte. “Ich sagte: Nein!”

Isabel verdrehte die Augen und nahm wieder das Geschirrtuch. Ich hörte sie wütend schnaufen, während sie eine der Kasserolen abtrocknete. Doch sie sagte nichts mehr, ebenso meine Mutter. Eine Spannung lag in der Luft, die auch mich still werden ließ. Ich wusste nicht, welche Verhaltensregeln galten, wenn das Eis plötzlich so dünn geworden war.

Später wischten meine Mutter und ich die tiefen Schubladen unten in den Küchenschränken aus. Lucy stand daneben und fegte uralte Brotkrümel aus dem Toaster. Sie hatte sich geweigert, bei den Schubladen zu helfen, nachdem wir in der einen Mäusekot und in der anderen eine Spinne gefunden hatten. Daddy kam herein und goss sich von der Flasche im Kühlschrank ein Ginger Ale ein. Er trug seine übliche Sommeruniform: ausgebeulte Shorts, die seine blassen, vernarbten Beine preisgaben, und eines seiner kurzärmeligen karierten Hemden.

“Charles.” Meine Mutter sah auf. “Suchst du bitte Isabel und sagst ihr, sie möchte den Flurschrank aufräumen und auswischen?”

“Sie ist ausgegangen”, sagte er. Er holte den Eiswürfelbehälter aus dem Kühlschrank und ließ zwei Eiswürfel in sein Glas fallen.

Meine Mutter straffte die Schultern. “Wohin?”

“Zu einer Party mit Ned Chapman.”

Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüften. “Ich habe ihr verboten, dorthin zu gehen”, schimpfte sie.

Mein Vater riss überrascht die Augen auf, die die gleiche hellbraune Farbe hatten wie sein Haar. “Sie hat mir nicht gesagt, dass sie dich gefragt hat”, erklärte er.

Ich sah, wie sich am Hals meiner Mutter ein roter Fleck bildete. “Ich werde ihr für den Rest der Woche Hausarrest geben”, drohte sie an.

“Das ist ein bisschen streng, Maria, findest du nicht?” Mein Vater schwenkte die Eiswürfel in seinem Glas hin und her. “Es ist ihre erste Nacht hier unten, und sie kennt Ned schon ihr ganzes Leben lang. Sein Vater mag einer der größten Dummköpfe auf Erden sein, doch das kannst du nicht Ned ankreiden. Es schadet doch niemandem, wenn sie mit ihm zu einer Party geht.”

“Ja, sie kennt ihn schon ihr ganzes Leben, doch sie ist siebzehn in diesem Sommer”, antwortete sie, als ob das alles erklärte. “Und es ist ihr erster Abend hier. Ich finde, sie hätte dableiben sollen. Uns beim Putzen helfen. Sich akklimatisieren.”

Daddy lachte. “Akklimatisieren?”, fragte er. Ich war nicht sicher, was das Wort bedeutete, und mir fiel ein, dass ich mein Wörterbuch in Westfield vergessen hatte. Ich mochte es nicht, wenn meine Eltern stritten, und vergrub meinen Kopf daher ganz tief in der Schublade, wo ich mit einem kleinen Besen Mäusekot auf eine Kehrschaufel fegte. Ich blickte kurz zu Lucy, die sich offenbar genauso unbehaglich fühlte wie ich. Konzentriert nahm sie sich jede einzelne Spalte des Toasters vor.

Daddy schlang einen Arm um meine Mutter und küsste sie auf die Wange. “Wir haben sie gut erzogen”, versuchte er sie zu beschwichtigen. “Sie trägt einen vernünftigen Kopf auf ihren Schultern.”

Meine Mutter wirkte verletzt. “Wie kannst du das sagen, wo sie dich gerade angelogen –”

“Sie hat mich nicht angelogen”, korrigierte Daddy, der sich von ihr löste und in Richtung Flur ging. “Sie hat nur eine Kleinigkeit ausgelassen.”

“Sie hat dich um ihren kleinen Finger gewickelt”, gab meine Mutter zurück.

“Es wird ihr nichts passieren”, sagte Daddy. Er ging hinaus und wandte sich zur Haustür. Ich wusste, dass er heute Abend mit Grandpop in der Garage arbeitete, um das Angelzubehör einsatzbereit zu machen und den Deckchairs einen frischen blauen Anstrich zu verpassen.

Meine Mutter machte sich mit Nachdruck wieder ans Putzen, und ich bemerkte ihren zusammengekniffenen Mund. Ich wusste, dass Isabel meine Eltern oft belog. Wenn wir samstagabends zur Beichte gingen, war ich immer erstaunt, wie kurz ihre Beichte war. Ich wusste, dass sie in dieser kurzen Zeit niemals alle Lügen aufzählen konnte. Ich lernte von ihr. Statt jede einzelne Sache zu erwähnen, die ich falsch gemacht hatte, präsentierte ich dem Pater jetzt eine verkürzte Version. “Ich habe fünfmal gelogen”, sagte ich beispielsweise. Ich lehnte es allerdings ab, vortäuschen als lügen zu zählen. Wenn ich das tat, würde ich die ganze Nacht im Beichtstuhl sitzen. “Einmal habe ich meiner Mutter nicht gehorcht”, fuhr ich dann fort, “und zweimal war ich gemein zu meiner kleinen Schwester.” Es war einfacher, auf diese Art zu beichten, statt meine Sünden in allen Einzelheiten zu schildern, und dem Pater schien es egal zu sein.

Ich legte meiner Mutter den Arm um die Taille und fühlte mich sehr erwachsen. “Sie wird okay sein, Mom”, tröstete ich sie.

Meine Mutter antwortete nicht. Ihre Augen waren feucht, als ob sie gleich weinen würde. Ihre Tränen verwirrten mich. Ich dachte, sie wollte vielleicht allein sein, und bot daher an, dass ich den Flurschrank auswischte. Ich nahm Lucy an die Hand und zog sie mit mir aus der Küche.

Um neun Uhr kletterte ich an jenem Abend die knarrenden Stufen zum Dachboden hoch, Lucy folgte mir. Selbst ich klammerte mich ans Geländer. Die ausklappbare Treppe schien von Jahr zu Jahr wackliger zu werden, und wenn ich auch nur ein bisschen ängstlich veranlagt gewesen wäre, hätte ich mich vermutlich auch davor gefürchtet. In den letzten Jahren hatten Lucy und ich in dem Doppelbett geschlafen, das der Treppe am nächsten stand. Doch dieses Jahr wünschte ich mir mehr Privatsphäre. Ich wollte die Leselampe so lange anlassen, wie es mir gefiel, und in der Abgeschiedenheit meiner durch Vorhänge abgetrennten Kabine ohne Lucys unablässiges Geschnatter vor mich hin träumen. Aus diesem Grund hatten wir unsere Betten in verschiedenen Ecken des Raumes gewählt, während Isabel sich das Doppelbett hinter dem Schornstein ausgesucht hatte. Lucy war einverstanden gewesen mit der Neuaufteilung, doch jetzt, da sie auf dem aufgeheizten Dachboden unter ihr Laken kroch, schien sie nicht mehr so glücklich.

“Lass den Vorhang offen, damit ich dich sehen kann”, bettelte sie. Sie lag auf der Seite, mit dem Gesicht zu meinem Bett, und hatte sich die Decke bis zu den Schultern hochgezogen.

“Ich werde das Licht anlassen, damit ich lesen kann”, erklärte ich, während ich das Kissen aufschüttelte und die Decke aufschlug. “Das würde dich nur wach halten.” Ich wollte, dass sie so schnell wie möglich einschlief, damit ich hinuntergehen und mit meiner Mutter und Großmutter Canasta spielen konnte. Während der Schulzeit beschäftigte ich mich abends mit meinen Hausaufgaben und dem Fernseher – mit der Andy Griffith Show oder Ed Sullivan. Doch im Sommer hatten wir abends Zeit für Kartenspiele und Puzzles.

“Bitte”, jammerte sie.

“Du kannst meinen Schatten sehen”, sagte ich und war froh, dass ich das Bett gewählt hatte, das dem Vorhang am nächsten war. “Sieh nur.” Ich ging zu dem kleinen Tischchen, das zwischen den beiden Betten in meiner Nische stand, und machte das Licht an. Dann zog ich den Vorhang zu. Er hing direkt neben meinem Bett, und als ich noch angezogen ins Bett geklettert war, wusste ich, wie ich für Lucy aussehen würde. Ich hatte jahrelang die Silhouetten meiner Schwester, meiner Cousinen, meiner Tanten und Onkel durch diese Vorhänge gesehen. “Siehst du”, sagte ich. “Du siehst mich doch, oder?”

“Okay”, willigte Lucy mit unsicherer Stimme ein.

Ich hörte, wie sie es sich im Bett bequem machte, und sah sie vor meinem geistigen Auge, wie sie mit weit geöffneten Augen auf der Seite lag und meinen Schatten beobachtete, während ich mich in Nancy Drew versenkte.

Ich las ein Kapitel und den Anfang eines weiteren. Dann zog ich eine Ecke des Vorhangs neben meinem Kopf zurück. Lucy hatte die Augen geschlossen und nuckelte am Daumen wie eine Dreijährige. Ihren schäbigen alten Teddybären hielt sie fest im Arm. Lautlos schlüpfte ich aus dem Bett. Ich zog die Decke vom anderen Bett, stopfte sie unter meine und platzierte das aufgeschlagene Buch hochkant neben dem Kissen. Dann ging ich zur Mitte des Dachbodens, um zu sehen, wie die Schatten aus Lucys Perspektive aussahen, falls sie aufwachen sollte. Ziemlich überzeugend.

Es war unmöglich, die Treppe ohne Knarren hinabzusteigen, doch ich gab mein Bestes.

Meine Mutter lächelte mich an, als ich auf die Veranda kam. Sie hatte irgendwie innerlich Frieden damit geschlossen, dass Izzy auf einer Party war, und ihr Lächeln erleichterte mich.

“Schläft sie?” Sie saß meiner Großmutter an dem großen Tisch gegenüber, rauchte eine Zigarette und legte eine Doppel-Patience auf der geblümten Plastiktischdecke aus. Beide Frauen trugen Hauskleider aus Baumwolle, meine Mutter eines mit blassgelben Streifen und meine Großmutter mit hellblauen.

Ich nickte und ließ mich in einen der Schaukelstühle fallen. Wie der Tisch waren auch alle Stühle auf der langen Veranda rot angestrichen. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit war die Farbe immer ein wenig klebrig und so dick, dass man mit dem Fingernagel eine Kerbe hinterlassen konnte. Außerdem stand am anderen Ende der Veranda ein Bett für diejenigen, die beim Einschlafen das Plätschern des Wassers und das Zirpen der Grillen hören wollten.

“Wenn wir hier fertig sind, kannst du uns beim Canasta Gesellschaft leisten”, sagte Grandma und nahm einen Schluck von ihrem löslichen Kaffee. Als sie ihre Beine unter dem Tisch übereinanderschlug, sah ich, dass sie ihre Strümpfe bis unter die Knie hinuntergerollt hatte. Sie sprach perfekt Englisch, doch ihr italienischer Akzent war auch sechzig Jahre nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten noch immer ausgeprägt. Ich liebte die Melodie in ihrer Stimme. Erst mit zehn wurde mir klar, dass nicht jeder eine Grandma hatte, die so singend sprach und bei der jedes Wort mit einem Vokal zu enden schien.

Ich schaukelte eine Weile hin und her, der Zementboden unter meinen Füßen fühlte sich glatt und kühl an. Ich sah das Licht eines Boots, das den Kanal in Richtung Bay entlangschipperte. Das sanfte, stetige Summen seines Motors bildete den Hintergrund zum Klatschen der Karten auf dem Tisch. Ich konnte es kaum erwarten, bis Grandpop morgen unser eigenes Boot zu Wasser ließ. In den letzten zwei Sommern hatte ich es schon allein gesteuert, wenn auch immer mit einem Erwachsenen oder mit Isabel an Bord. Daddy hatte mir versprochen, dass ich diesen Sommer mit dem Boot allein hinausdürfe, wenn ich eine Schwimmweste trug und an unserem Ende des Kanals blieb, also zwischen unserem Haus und der Stelle, wo er in die Bay mündete. Das war zwar keine große Strecke, doch ich war trotzdem aufgeregt in Erwartung von so viel Freiheit.

Irgendjemand war im Garten der Chapmans. Es war zu dunkel, um zu erkennen, wer, doch die Person angelte. Ich konnte die brennenden Enden von zwei Räucherspiralen gegen Moskitos ausmachen, und im schwachen Mondlicht leuchtete das weiße Hemd des Anglers. Ich vermutete, dass es Ethan war, der dort saß und versuchte etwas zu fangen, das er aufschneiden konnte. Ich beobachtete, wie sich das Hemd bewegte, als er die Angel nach hinten schwang und dann mit dem unverkennbaren Sirren der Rute durch die Luft zog. Unwillkürlich bewegte ich meine Finger, als ob ich selbst eine Angel halten würde.

“Bist du bereit, es gegen uns beim Canasta aufzunehmen?”, fragte mich meine Großmutter.

Ich ging hinüber zum Tisch und setzte mich, während sie austeilte. Meine Mutter drückte ihre Zigarette in dem Muschelaschenbecher aus und zog gerade eine weitere aus der Packung, als ein furchtbarer Schrei die Stille zerschnitt. Bevor ich überhaupt kapierte, dass er vom Dachboden kam, war sie schon aufgesprungen. Weitere Schreie folgten – Lucy nahm sich kaum die Zeit zum Atmen. Ich folgte meiner Mutter nach oben.

“Baby!” Meine Mutter machte das Deckenlicht an und lief zu Lucys Bett. Lucy hatte sich an das eiserne Kopfteil des Bettes gekauert und presste ihren Teddy fest an sich. Ihr pudelähnliches Haar klebte ihr an einer Seite flach am Kopf. Unsere Mutter setzte sich zu ihr. “Was ist los?”

“Dort!” Lucy deutete auf eine Stelle an der Decke, etwa in der Mitte des Daches.

Ich ging zu der Stelle hinüber und sah hinauf. “Wo?”, fragte ich.

“Dort”, sagte Lucy wieder hilflos. Ich blickte genauer hin und sah einen alten Lumpen, der zwischen der Decke und dem komplizierten Wirrwarr von Schnüren für die Vorhänge geklemmt war. Seit ich mich erinnern konnte, steckte er da schon. Vermutlich hatte jemand ein Leck stopfen wollen, bevor das Dach neu gedeckt wurde.

“Es ist nur ein Lumpen”, sagte ich. Lucy war wirklich noch ein Baby.

“Er sah aus wie ein Kopf”, jammerte Lucy. “Ich dachte, es sei ein Kopf, und dann sah ich zu dir hinüber und merkte, dass du nicht da warst und ich ganz allein hier oben bin!” Sie klang beleidigt. Ich blickte zu dem Vorhang vor meiner Nische. Das aufgebauschte Bettzeug war in sich zusammengefallen. Ganz offensichtlich war ich nicht mehr da.

Meine Mutter stand auf, löschte das Licht, und zu dritt betrachteten wir den Lumpen.

“Seht ihr?”, sagte Lucy.

“Es sieht aus wie ein Lumpen”, gab ich zurück.

Mom setzte sich wieder zu ihr. “Du hättest nur das Licht anmachen müssen, um zu sehen, dass es nur ein Lumpen war”, sagte sie. “Es ist nicht fair, dass Julie immer mit dir hier oben bleiben muss, Lucy. Du bist jetzt acht Jahre alt. Du musst lernen, dass es hier oben nichts gibt, vor dem du dich fürchten musst. Du weißt, dass du uns unten findest, wenn du etwas brauchst. Jetzt leg dich hin.” Sie griff nach der Decke und zog sie ihrer jüngsten Tochter bis zur Schulter.

“Können wir das Licht anlassen?”

“So wirst du niemals einschlafen.”

“Doch, werde ich”, behauptete sie, während ihr Blick wieder zu dem Lumpen schoss.

“In Ordnung.” Seufzend erhob sich meine Mutter, strich ihr Kleid glatt und warf mir einen verschwörerischen Blick voller Verzweiflung zu, bei dem ich mir sehr erwachsen und unerschrocken vorkam. Am Lichtschalter an der Wand schaltete sie wieder die einzelne Glühbirne an, die von der Decke hing. “Gute Nacht, Liebes.”

“Nacht, Lucy”, sagte ich und folgte meiner Mutter nach unten.

Am nächsten Morgen weckte mich das Krähen eines Hahnes um halb sechs Uhr. Ich lag im Bett und lächelte vor mich hin. Die rosige Morgensonne schien durch das Fenster in meine mit Vorhängen abgetrennte Nische, und wieder ergriff mich das Gefühl von sommerlicher Freiheit.

Ich krabbelte in das Bett neben mir, um von dort aus dem Fenster sehen zu können. Ich wusste, wo der Hahn lebte. Ich hatte ihn und sein frühmorgendliches Weckkrähen völlig vergessen. Jenseits des Kanals, schräg gegenüber von unserem Bungalow, stand eine kleine Bretterbude, die im Laufe der Jahre fast schwarz geworden war. Das Dach war teilweise eingesackt, und im Garten standen das Gras und die Rohrkolben schulterhoch. Es war das einzige Haus, wenn man es überhaupt so nennen konnte, auf der anderen Seite des Kanals, und ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals eine Menschenseele dort gesehen zu haben, auch wenn dort jemand wohnen musste, der den Hahn fütterte. Nahe dem Haus befand sich ein kleines Dock. Ich konnte mit dem kleinen Flitzer hinüberzischen, das Boot festmachen und mich durch das hohe Unkraut zum Haus schleichen. Innerlich setzte ich den Punkt “Erforschung der Bretterbude” auf meinen Tagesplan.

Ich kletterte aus dem Bett und war sicher, dass noch niemand auf sein würde. Die Vorhänge um Isabels Doppelbett waren zugezogen. Ich hatte keine Ahnung, wann sie in der letzten Nacht zurückgekommen war, und fragte mich, auf welche Strafe sich meine Eltern geeinigt hatten. Ich hoffte, dass sie streng sein würden. Ich konnte es nicht leiden, dass Isabel log und damit durchkam.

Ich zog einen meiner Badeanzüge an, schlüpfte in die Caprihose und ging dann über das Linoleum. Wir waren noch keine vierundzwanzig Stunden an der Küste, und gleich würde ich den körnigen Sand unter meinen nackten Füßen spüren. Auf Zehenspitzen schlich ich an Lucys Bett vorbei. Ihre Vorhänge waren nicht zugezogen, und ich wollte sie nicht wecken. Ich hatte die Treppe fast erreicht, als ich Isabel hörte.

“Julie?”

Ich drehte mich um und sah, wie sie ihren Vorhang ein Stück zurückzog. Obwohl ihr langes dunkles Haar völlig zerzaust war, sah sie wunderschön aus in dem rosigen Morgenlicht.

Ich schlich vorsichtig zu ihrem Bett. Sie nahm meinen Arm und zog mich hinter den Vorhang.

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