Nagel & Kimche E-Book
Abraham B. Yehoshua
Der Tunnel
Roman
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Für meine Ika (1940 - 2016)
Unendliche Liebe
Beim Neurologen
Lassen Sie uns zusammenfassen, sagt der Neurologe.
Ja, bitte, flüstern beide.
Die Beschwerden sind nicht vollkommen gegenstandslos. Es hat sich tatsächlich auf einem der Frontallappen eine Atrophie gefunden, die für eine leichte Neurodegeneration spricht.
Wo genau?
Hier, auf der Hirnrinde.
Es tut mir leid, aber ich sehe nichts.
Seine Frau beugt sich über die Aufnahme. Ja, da ist etwas Dunkles, sagt sie, aber sehr klein.
Stimmt, klein, bestätigt der Neurologe, aber es kann sich ausweiten.
Kann es, Lurias Stimme zittert, oder wird es?
Es kann und wird wahrscheinlich.
Und in welchem Tempo?
Bei einer pathologischen Entwicklung gibt es keine verbindlichen Vorhersagen, vor allem nicht, wenn die Hirnrinde betroffen ist. Die Entwicklung hängt auch von Ihnen ab.
Von mir? Wieso von mir?
Von Ihrem Verhalten. Von der Art, wie Sie den Kampf aufnehmen, wie Sie dagegen angehen.
Ich soll gegen mein Gehirn kämpfen? Wie denn?
Ihre Seele gegen Ihr Gehirn.
Und ich dachte immer, beides sei ein und dasselbe.
Ganz und gar nicht, bescheidet ihn der Neurologe. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?
Dreiundsiebzig ...
Noch nicht, verbessert ihn seine Frau. Er greift immer vor ... auf das Ende ...
Na, rügt der Arzt, das ist schon mal nicht gut.
Erst jetzt bemerkt der Patient, dass sich in den üppigen Locken des Neurologen eine kleine Kippa verbirgt.
Sehen Sie, zum Beispiel die Namen, die Ihnen entfallen ...
Vor allem Vornamen, beeilt sich der Patient zu präzisieren, Nachnamen stellen sich noch relativ verlässlich ein, aber bei den Vornamen ist es, als lösten sie sich auf, wenn ich versuche, sie zu berühren.
Also bitte, da haben Sie schon mal ein kleines Schlachtfeld. Begnügen Sie sich nicht mit den Nachnamen, verzichten Sie nicht auf die Vornamen.
Ich verzichte ja nicht, aber wenn ich mich anstrenge und nachdenke, damit sie mir einfallen, springt sie ein und kommt mir zuvor.
Auch das ist nicht gut, belehrt der Arzt Lurias Frau, so sind Sie ihm keine Hilfe.
Stimmt, sie gesteht ihre Schuld ein, aber manchmal dauert es einfach so lange, bis ihm der Vorname einfällt, dass er schon vergessen hat, was er eigentlich sagen wollte.
Trotzdem müssen Sie ihm ermöglichen, selbst um sein Erinnerungsvermögen zu kämpfen, nur so helfen Sie ihm.
Sie haben recht, Herr Doktor, werde ich.
Sagen Sie, arbeiten Sie noch?
Nein. Ich bin pensioniert, seit fünf Jahren.
Und vor der Pensionierung, wenn man fragen darf?
Netiveï Israel.
Was ist das, Netiveï Israel?
Was früher Ma’atz war, die Behörde für öffentliche Bauvorhaben, dort war ich vierzig Jahre lang mit der Planung von Straßen und Schnellstraßen befasst.
Straßen und Schnellstraßen? Der Neurologe wirkt aus irgendeinem Grund amüsiert. Wo? Im Norden oder im Süden?
Und während Luria sich noch sammelt, um eine exakte Aufzählung zu liefern, mischt sich seine Frau erneut ein: Im Norden. Vor Ihnen, Herr Doktor, sitzt der Ingenieur, den man gebeten hat, dem Konsortium Derech Eretz bei der Planung von zwei Tunneln der Trans-Israel-Autobahn behilflich zu sein.
Ausgerechnet die Tunnel?, denkt Luria erstaunt, denn in seinen Augen sind dies wahrlich keine Paradebeispiele seiner Leistungen. Aber der Neurologe scheint Interesse an den Tunneln zu haben. Nun, warum nicht? Er ist Herr über seine Zeit. Luria ist der letzte Patient für heute, seine Sprechstundenhilfe hat bereits abkassiert und ist gegangen, und er hat es nicht weit nachhause, seine Privatwohnung liegt gleich über den Praxisräumen.
Mir ist noch nie aufgefallen, dass es auf der A 6 Tunnel gibt.
Weil sie nicht besonders lang sind, jeweils höchstens ein paar hundert Meter.
Dennoch hätte ich sie bemerken sollen, mokiert sich der Arzt über sich selbst. Vielleicht werden irgendwann noch mehr Straßenbauingenieure bei mir vorstellig.
Die kommen erst, wenn es ihnen nicht mehr gelingt, ihre Demenz zwischen zwei Autobahnabfahrten zu verstecken, versucht der Patient zu scherzen.
Der Neurologe aber gibt sich empört: Bitte, warum gleich Demenz? Dort sind wir noch lange nicht. Halsen Sie sich nicht vorschnell etwas auf, von dem Sie keine Ahnung haben, schüren Sie nicht unnötig Ängste und, vor allem, verfallen Sie nicht in Passivität und Pessimismus! Eine Pensionierung ist nicht das Ende des Weges. Sie sollten sich eine Beschäftigung in Ihrem Fachgebiet suchen, und sei es Teilzeit. Privatleute bauen keine Straßen oder planen Autobahnen. Autobahnen sind eine öffentliche Angelegenheit, und da sind bereits andere, Jüngere tätig.
Und was fangen Sie dann mit sich an?
Offiziell sitze ich zuhause. Aber ich mache Ausflüge, wandere und komme herum. Und wir gehen oft aus. Theater, Musik, Oper, manchmal auch Vorträge. Und natürlich sind da noch die Kinder, das heißt, wir helfen mit den Enkeln. Außerdem erledige ich ein wenig Hausarbeit, räume auf, kaufe im Supermarkt ein, gehe auf den Markt, und zuweilen …
Er liebt es, über den Markt zu bummeln, seine Frau beeilt sich, die Liste zu begrenzen.
Über den Markt?, fragt der Neurologe.
Warum nicht?
Nein, nein, wenn Sie sich auf dem Markt zurechtfinden, ist das vollkommen in Ordnung.
Weil ich nämlich koche.
Oh, Sie kochen auch?!
Richtiger gesagt ist es ein Kleinschneiden, Verrühren und Wiederbeleben der Reste, denn grundsätzlich bin ich dafür verantwortlich, das Mittagessen zuzubereiten, ehe sie wieder in ihre Klinik zurückkehrt.
Klinik?
Ich bin Kinderärztin, wirft seine Frau leise ein.
Sehr schön, der Arzt lehnt sich erleichtert in seinem Sessel zurück, wenn das so ist, dann habe ich hier ja eine Verbündete.
Und obgleich Lurias Frau gute zwanzig Jahre älter ist als der Neurologe, befragt er sie eingehend zu ihrer Arbeit, als wäre sie eine junge Kollegin, die er künftig als Mitstreiterin im Kampf gegen die verdächtige, sich womöglich schon bald ausbreitende Atrophie ihres Gatten an seiner Seite wissen will.
Welche Schlafmittel geben Sie ihm denn?
Sie legt eine sanfte Hand auf die Schulter ihres Mannes.
Ich gebe ihm gar keine Schlafmittel, denn in der Regel schläft er sehr gut ohne, aber in seltenen Fällen, wenn er Mühe hat einzuschlafen, nimmt er ... Was nimmst du noch mal genau?
Doch dem Patienten fällt der Name nicht ein, nur die Form:
Diese kleinen, dreieckigen ...
Er meint Xanax.
Xanax ist unbedenklich, sagt der Neurologe, aber seien Sie vorsichtig und geben Sie ihm nichts Stärkeres, denn das Zentrum im Gehirn, das zwischen Tag und Nacht unterscheidet, wird von jetzt an eine empfindliche Stelle bei ihm sein, die nicht erschüttert werden sollte durch Tabletten wie, sagen wir ... Und mit schnellem Füllfederhalterstrich notiert der Arzt auf einem Zettel die Namen unerlaubter Tabletten.
Sie studiert die Liste, faltet sie zusammen und verstaut sie in ihrem Portemonnaie.
Doch der Arzt lässt noch immer nicht von ihr ab: Gibt es oder gab es in seiner Familie bereits ähnliche Symptome?
Mit fragendem Blick wendet sie sich zu ihrem Gatten, doch der schweigt und zieht es vor, sie an seiner Stelle antworten zu lassen.
Nichts dergleichen ... weder bei seinen Eltern noch bei seiner Schwester.
Und in früheren Generationen?
Jetzt bleibt ihm schon keine Wahl mehr.
Meine Großeltern väterlicherseits habe ich nicht gekannt, referiert der Patient mit leichter Verbitterung, sie waren jünger als ich heute, als man sie in Europa ermordet hat, von daher, wer kann schon wissen, ob sich bei ihnen verbarg, was ... das heißt ... diese Sache, die Sie jetzt bei mir festgestellt haben. Und in der Familie meiner Mutter, in der alle hier im Lande geboren sind, hat man sich, soweit mir bekannt, bis zum letzten Augenblick immer durch geistige Gesundheit und Frische hervorgetan, bis auf ... Moment ... vielleicht allein eine entfernte Verwandte meiner Mutter, die Ende der sechziger Jahre aus Nordafrika eingewandert ist und die ausgerechnet hier, in Israel, in eine tiefe Schweigsamkeit verfallen ist, womöglich wegen einer Depression, vielleicht auch aus Wut und Verzweiflung. Oder sollte es, wer weiß, am Ende auch bei ihr diese Demenz gewesen sein?
Jetzt empört sich der Neurologe schon nicht mehr gegen die erneute, unmissverständliche Benennung der Krankheit aus dem Munde seines Patienten, sondern betrachtet noch einmal die Röntgenaufnahme, ehe er diese vorsichtig in einen großen Umschlag gleiten lässt, den er in großen Buchstaben mit Zvi Luria beschriftet und dem er, um einer Verwechslung vorzubeugen, auch noch die Nummer seines Personalausweises beifügt. Aber als er den Umschlag der Frau anvertrauen möchte, die soeben zur attestierten Begleitung des Patienten ernannt worden ist, beeilt sich Luria, ihm den Umschlag abzunehmen und ihn an sein Herz zu drücken. Für einen Moment scheint es, als wolle der Arzt noch etwas sagen, aber das Geräusch schneller Schritte in seiner Wohnung über den Praxisräumen schiebt seiner Absicht einen Riegel vor, weshalb er aufsteht und sie entlässt. Der Patient beeilt sich, Haltung anzunehmen, zur Verabschiedung bereit, aber seine Frau zögert noch, als fürchte sie, von jetzt an allein mit der Krankheit zu sein.
Das Wichtigste ist, aktiv zu bleiben, lautet das eindringliche Schlusswort. Menschen nicht meiden, auch wenn es schwerfällt, sie zu erkennen. Man darf nicht vor dem Leben fliehen, im Gegenteil, man muss es suchen und sich daran reiben.
Und während er noch redet, beginnt der Arzt, die Lichter zu löschen, hat es dann aber nicht eilig, in seine Wohnung zu kommen, sondern begleitet sie noch bis zum Eingang des Hauses und schaltet die kleinen Lampen ein, die seinen weitläufigen Garten beleuchten, um sie den Weg zur Straße leichter finden zu lassen. Und ehe sie sich endgültig verabschieden, findet er noch Zeit für ein paar letzte Worte, die er in einem neuen, sanfteren und einfühlsameren Ton vorbringt.
Sie beide sind doch gebildete, weltoffene Menschen, so dass ich frank und frei und ohne falsche Rücksichtnahme zu Ihnen sprechen kann. Als ich sagte, man dürfe nicht vor dem Leben fliehen, meinte ich damit alle Seiten des Lebens, auch die intimsten. Was ich sagen will, bitte entsagen Sie der Lust nicht, haben Sie keine Angst vor ihr. Ungeachtet des Alters und der besonderen Situation. Denn die Lust ist sehr wichtig für die Aktivität des Gehirns. Verstehen Sie mich, Doktor Luria? Das heißt, nicht nur nicht darauf verzichten, sondern im Gegenteil, steigern bitte! Das hilft, glauben Sie mir, ich spreche aus persönlicher Erfahrung. Und mit einem Mal stockt er, als sei er zu weit gegangen. Doch der Patient nickt zustimmend und dankbar, während seine Frau konsterniert flüstert, ja, Herr Doktor, absolut, ich verstehe, und ich werde mich bemühen, das heißt, wir beide ...
Aber was genau hat der Arzt gesagt?
Erst nachdem der Neurologe sich vor dem Haus von ihnen verabschiedet hat, merken sie, dass ein feiner, aber kräftiger Sprühregenschauer über sie hinwegzieht, weshalb Luria seiner Frau vorschlägt, doch an der Bushaltestelle auf ihn zu warten, bis er den Wagen geholt hat. Aber sie lehnt ab.
Sag bloß nicht, sagt er grollend und grinst dabei, du hast plötzlich Angst, ich könnte den Wagen nicht finden.
Das habe ich weder gesagt noch gedacht, ich möchte jetzt bloß nicht irgendwo alleine warten.
Und der Regen? Erst gestern warst du beim Friseur.
Wenn du mir den großen Umschlag gibst, halte ich mir den über den Kopf.
Willst du, dass der Rest meines Hirns vom Regen weggespült wird?
Unsinn, lacht sie, der Regen wird dir gar nichts wegspülen. Komm, lass uns laufen.
Und mit verzweifeltem Elan packt sie seinen Arm und zieht ihn vorwärts.
Warum hast du ihm von den Tunneln auf der A 6 erzählt, warum ausgerechnet von denen?
Weil ich das Gefühl hatte, er fängt an, dich von oben herab zu behandeln, nachdem du gesagt hast, du arbeitest nicht mehr und gehst nur noch auf den Markt. Ich wollte deine Ehre verteidigen.
Aber warum ausgerechnet die Tunnel, die sind schließlich wirklich nicht das Bedeutsamste, was ich geleistet habe.
Weil ich mich entsinne, dass du damals viel über sie geredet hast.
Über die Tunnel auf der A 6?
Ja.
Und wenn wir schon bei den Tunneln sind, warum hast du gesagt zwei und nicht drei? Denn gerade der südliche Tunnel, vor dem Anschluss der A 1 nach Jerusalem, war der kniffligste.
Es waren drei? Das wusste ich gar nicht mehr, beim nächsten Mal werde ich drei sagen.
Beim nächsten Mal wirst du gar nichts sagen, meint Luria missbilligend, diese Tunnel sind unwichtig in meinen Augen. Außerdem bin ich nicht auf Ehrbekundungen von irgendjemandem angewiesen. Hier, in der Seitenstraße haben wir geparkt.
Du irrst dich, der Wagen steht in der nächsten Straße.
Nein, genau hier. Du bist ein bisschen durcheinander.
Und tatsächlich, am Ende der kleinen Straße blinkt der Wagen seinen Besitzern treu entgegen.
Er wirft den nass gewordenen Umschlag auf den Rücksitz und beeilt sich, den Motor zu starten, um warme Luft ins Wageninnere strömen zu lassen. Und während er sich noch anschnallt, packt ihn die Niedergeschlagenheit. Wird er von jetzt an ihrer Fürsorge ausgeliefert und sie eine Gefangene seiner Hirngespinste sein?
Immerhin, danke, dass du ihm nicht erzählt hast, was im Kindergarten passiert ist.
Warum danke?
Weil er dann vielleicht empfohlen hätte, mich einweisen zu lassen.
Mach dich nicht lächerlich.
Warum? Ein Großvater, der im Kindergarten seinen Enkel abholen kommt und stattdessen, ohne es zu merken, ein anderes Kind mitnimmt, gehört der nicht besser eingewiesen?
Nein, das war doch alles nicht deine Schuld. Auch dieser Knirps – wie heißt er noch?
Nevo ...
Ja, dieser Nevo hat nach den Worten der Kindergärtnerin schon einmal versucht, sich an einen anderen Großvater zu hängen. Vielleicht schämt er sich wegen der Philippinin, die ihn abholen kommt, oder er hat Angst vor ihr.
Aber im Dunkel des Wagens ist Luria wild entschlossen, sich selbst zu belasten.
Ob er das versucht hat oder nicht, ist gar nicht die Frage. Die Frage ist, wieso ich nicht gemerkt habe, dass ich meinen Enkelsohn mit einem anderen Kind verwechsle, und wäre die Philippinin nicht laut schreiend hereingestürmt, um ihn mir zu entreißen, hätte ich den Kleinen am Ende noch mit nachhause genommen und ihm etwas zu essen gemacht.
Nie im Leben, das wäre dir sicher vorher aufgefallen. Außerdem sieht der Junge, und das hat sogar Avigail zugegeben, unserem Noam ein wenig ähnlich. Also bitte, Zvi, mach jetzt kein Drama daraus, unser Noam hat ein Nickerchen im Sandkasten gemacht, als du ihn abholen kamst, und du warst ein bisschen durcheinander, aber mehr auch nicht.
Mehr nicht?
Nein, mehr nicht. Glaub mir. Und – der Arzt hat dich gewarnt – fang jetzt nicht an, dich vor dir selbst zu fürchten und aus Angst, du könntest Dummheiten begehen, vor dem Leben Reißaus zu nehmen. Ich verspreche dir, dass ich dir vertraue.
Doch plötzlich schüttelt es sie.
Und zum Brummen des Wagens, der noch immer auf sein Kommando wartet, löst er den Sicherheitsgurt, um so leichter in einer altvertrauten Umarmung ihre Verzweiflung mit seiner Niederlage zu vereinen.
Später, zuhause, beschwert mit dem Wissen, dass die Prognose in ihren Augen deprimierend ist, macht er sich daran, eigenhändig und allein das Abendessen zuzubereiten, damit sie die Möglichkeit hat, sich ein wenig unter der warmen Dusche zu entspannen. Und wie es ihm in letzter Zeit zur Gewohnheit geworden ist, verzichtet er auf die Mikrowelle und den Backofen zugunsten des Herdes, denn das bläuliche Zischeln der Gasflammen muntert ihn ein wenig auf, weshalb er sie noch weiter brennen lässt, auch nachdem er fertig mit Braten ist. Als sie nach diesem langen Ärztetag ihren Hunger mit Rührei und Bratkartoffeln stillen, ein Gericht, dessen Zubereitung ihm mühelos von der Hand geht, erwacht das Mobiltelefon, das voreilig wiederbelebt wurde, und Avigail, ihre Tochter, möchte wissen, ob man bei der mrt-Untersuchung auf etwas Konkretes im Gehirn ihres Vaters gestoßen sei. Luria spürt, dass er das im Kindergarten zerstörte Vertrauen aus eigener Kraft nicht wird wiederherstellen können, und daher reicht er das Gespräch an seine neue Mitstreiterin weiter, damit diese als Ärztin bezeugt, die entdeckte Atrophie sei noch ganz und gar marginal, weshalb es keinen Grund gebe, dem Großvater die Ehre des Dienstagseinsatzes, die ihm zuletzt versagt wurde, vorerst nicht wieder zuzugestehen.
Mit der Sorge des ältesten Sohns Yoav hingegen, der sich kurz darauf aus dem Norden meldet, nimmt er es leichtfertig selbst auf, ja, er gibt sich gar der Illusion hin, es sei möglich, sich mit Yoav gemeinsam über die ersten Vorboten der Demenz zu amüsieren. Mit trügerischer Heiterkeit sagt er, alles halb so wild, noch erkenne ich dich, mein Sohn, aber wer weiß, ob das noch lange der Fall sein wird, wenn du also etwas von mir möchtest, solltest du dich beeilen. Eine Ausgelassenheit, die normalen Tagen gut zu Gesicht steht, fällt angesichts der ct-Aufnahme allerdings in sich zusammen. Wie die kritischen Augen seiner Frau Osnat längst bemerkt hatten, hat der Sohn das ganze letzte Jahr über, um der Würde seines Vaters und auch seiner eigenen willen, versucht, alle Anzeichen von Verwirrtheit und sonstiges sonderliches Gebaren mit einer wegwerfenden Handbewegung abzutun, aber jetzt schlagen die Dementi in Panik um, und anstatt den Vater zu trösten und ihn seiner ungebrochenen Zuneigung zu versichern, verlangt Yoav, mit seiner Mutter zu sprechen, um eine klare und fachkundige Auskunft zu erhalten, denn alles, was bis jetzt so im Spaß dahingesagt wurde, ist nicht nur bedeutungslos, sondern muss schlimmstenfalls als Anzeichen der Demenz gewertet werden.
Luria, der das Telefon an seine Frau weiterreicht, entfernt sich außer Hörweite, um sich die medizinische Diagnose zu ersparen, die die Kinderärztin ihrem Sohn behutsam und sanft übermittelt. Und dies nicht nur aus Furcht vor jener Marginalie, die sich ausweiten ›kann und dazu neigt‹, sondern auch weil es ihm schwerfällt, Zeuge des Leids und Schmerzes seines Sohnes zu werden, der wahrscheinlich begreift, dass nicht nur das Leben seiner Eltern, sondern auch sein eigenes im Begriff ist, aus den Fugen zu geraten. Und aus seinem galiläischen Norden, wo er Besitzer und zugleich Sklave einer erfolgreichen Computerchipfabrik ist, möchte Yoav wieder und wieder wissen, was denn nun der Arzt gesagt habe, und als er hört, es bestehe die Möglichkeit, dass die Seele in der Lage sei, die Degeneration des Hirns zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, klammert er sich an diese doch vage Aussage und verlangt von seiner Mutter eine handfeste Initiative, um der Gemütslage seines Vaters aufzuhelfen, die seiner Ansicht nach durch die Pensionierung sehr gelitten hat.
Und so, anstatt wehmütig und nachdenklich zu sein, gerät das Gespräch zwischen Mutter und Sohn aufgebracht und verstimmt. Schließlich wendet sich seine Frau erbost an ihn: Wieso hast du ihm gesagt, wir hätten die Haushälterin entlassen?
Wer hat gesagt, entlassen? Ich habe gesagt, wir haben ihre Stunden reduziert.
Und deshalb wirft er mir jetzt plötzlich an den Kopf: Du darfst Vater nicht zu deinem Diener machen.
Deinem Diener?, wundert sich Luria. Geht es nicht kleiner? Was ist los mit ihm? Er ist offenbar so erschrocken wegen dieser Demenz, dass er unbedingt einen Schuldigen braucht.
Nein, zum allerletzten Mal! Sie ist wirklich aufgebracht. Sag nicht andauernd Demenz. Der Arzt hat dich doch eindringlich davor gewarnt, das zu sagen.
Und wie soll ich dann sagen?
Sag Umnebelung, Abgespanntheit, Verwirrtheit ... wir finden noch bessere Begriffe.
Liebevoll schaut er seine Frau an. Noch im Bademantel, ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf geschlungen, wirkt sie trotz ihres Alters wie eine indische oder türkische Tänzerin. Wird sie seine Demenz ertragen, solange diese nur andere Namen verliehen bekommt?
Der Wagen
Der Schlaf raubt sie ihm, noch ehe es ihr gelingt, ›bessere Begriffe‹ für ihn zu finden. Erschöpft nach diesem langen Kliniktag, erst auf ihrer Kinderstation und dann bang in der anderen Praxis, in der man ihr die ›Beteiligung‹ an einer unmöglichen Heilung aufgehalst hat, entzieht sie sich ihrem Mann, als der Schlaf herbeieilt und sie tröstet. Er deckt ihre Füße zu, die noch keinen Platz unter der Decke gefunden haben, doch bevor er selbst sich der Gnade des Schlafs überlässt, möchte er die Aufnahme seines Gehirns noch einmal gründlich in Augenschein nehmen, um zu entscheiden, ob die Atrophie, die er nicht zu sehen vermocht hat, tatsächlich real oder nur möglich ist. Aber die Aufnahme liegt noch im Wagen, der in der Tiefgarage des Gebäudes parkt. Also macht er sich, nur in Hausschuhen und leicht bekleidet, auf zu seinem Auto.
Es ist nur ein Mittelklassefahrzeug im Gegensatz zu dem starken und geräumigen Wagen, den ihm Netiveï Israel in seiner Zeit als leitender Ingenieur zur Verfügung gestellt hatte und der sich ebenso gern zügig auf Autobahnen chauffieren ließ, wie er mit Lust über unbefestigte Pisten galoppierte. Zwar war das alte Schlachtross auch nach seiner Pensionierung gegen Zahlung eines eher symbolischen Betrags in seinem Besitz verblieben, aber da es sich im Parkplatzdschungel der Stadt als zu groß und unbeweglich erwies und seine steingraue Farbe es zudem in Parkhäusern und Tiefgaragen verschwinden ließ, wurde es schon bald durch einen neuen Wagen ersetzt, der kleiner, aber dafür höher ist, ein Fahrzeug, bei dem sich leicht ein- und aussteigen lässt und das mit seiner knallroten Lackierung auch einem mit den Jahren ein wenig müder werdenden Blick gleich ins Auge fällt. In letzter Zeit hat Luria, wenn auch nur heimlich, begonnen, zuweilen ein, zwei Worte mit dem Wagen zu wechseln.
Um ehrlich zu sein, war es der Wagen, der sich als erster an ihn gewandt hatte. Nachdem Zvi gelernt hatte, dessen Eigenarten zu beherrschen, meinte er, während des Startvorgangs geselle sich zu dem Schnurren der Zahnräder und Kolben auch ein feines, kurzes Murmeln, das japanische oder koreanische Stimmchen einer jungen Frau oder eines Mädchens, das vielleicht als eine Art Reisesegen in die Bordelektronik implantiert worden war, als Dank gewissermaßen an den Fahrer, sich für das richtige Auto entschieden zu haben. Selbstverständlich hat er seiner Frau nie von dieser weiblichen Stimme erzählt, um ihren Ängsten nicht noch eine weitere hinzuzufügen, aber wenn er allein im Auto sitzt, brummt er dem Mädchen manchmal zu: Ja, meine Liebe, ich höre dich, verstehe aber nicht.
Doch jetzt, zu nächtlicher Stunde, besteht kein Grund, den Wagen anzulassen und die Stille der Tiefgarage zu stören. Er schaltet die Innenraumbeleuchtung an, greift sich von der Rückbank den Umschlag, auf dem der Regen tatsächlich seinen Namen und seine Personalausweisnummer verwischt hat, und zieht vorsichtig die große Aufnahme hervor, um endlich zu überprüfen, ob die Atrophie, deren Existenz seine Frau so eilig bestätigt hat, tatsächlich real ist, und wenn ja, wozu sie neigt. Aber wo ist sie denn? Und wie erkennt man sie? Auf der computertomographischen Aufnahme sind alle möglichen dunklen Flecken verstreut, die meisten davon wahrscheinlich gutartig und sogar notwendig, denn schließlich hat der Neurologe nichts daran zu beanstanden gehabt. Aber wie zwischen gutem Dunkel und schlechtem unterscheiden?
Er lässt den Kopf nach hinten sinken und schließt die Augen. Wenn in der neu entdeckten Atrophie ausgerechnet Vornamen abhandenkommen, ist zu befürchten, dass irgendwann auch die Namen seiner Frau, seiner Kinder und Enkel in diesem schwarzen Loch verschwinden. War die peinliche Szene im Kindergarten wirklich nur ein Moment der Unaufmerksamkeit? Oder sollte am Ende eine ihm unbewusste Prägung etwas Bekanntes an diesem Knirps wahrgenommen haben, weshalb es ihn zu ihm hingezogen hatte? Gewiss, von jetzt an würde es leichtfallen, jeden Irrtum oder Fehler auf ein Ermatten des Hirns zu schieben, aber war die Seele, die der Neurologe ja ausdrücklich von seinem Hirn getrennt hatte, tatsächlich in der Lage, gegen den trügerischen Verstand anzukämpfen, oder würde sie sich im Gegenteil diesem anschließen?
Er beschließt zu testen, ob sein Erinnerungsvermögen den Code der Wegfahrsperre noch parat hat. Und obgleich sein Gedächtnis nicht enttäuscht, fällt ihm auf, dass aus dem Schnurren des Motors das Murmeln des Produzentenmädchens verschwunden ist. Sehr gut, flüstert Luria, je weniger Einbildungen, desto leichter wird es der Seele fallen, das schwindende Gehirn zu stärken. Und am allerwichtigsten ist, sich hinter dem Lenkrad in Acht zu nehmen. Denn sollte ihm wegen eines fatalen Irrtums oder gar Unglücks der Führerschein entzogen werden, würde er jeden Geschmack am Leben verlieren. Also lässt er, um seine Feinkontrolle über den Wagen zu testen, diesen sich behutsam bis auf wenige Zentimeter an die Garagenmauer herantasten. Danach legt er den Rückwärtsgang ein, setzt unter rhythmischem Piepen in die Garagengasse und steuert auf das gegenüber parkende Auto zu. Doch plötzlich wird sein Gesicht in Scheinwerferlicht getaucht, und ein Fahrzeug, das schwungvoll in die Tiefgarage einfährt, bremst quietschend ab, um den roten Wagen sein Manöver vollenden und die Ausfahrt nehmen zu lassen. Aber Luria will ja gar nicht in Richtung Ausfahrt, er will sich nur vergewissern, wie weit er noch Kontrolle über seinen Wagen hat, weshalb er diesen wieder an seinem ursprünglichen Platz abstellen möchte. Der andere Fahrer indes, der vergeblich wartet, beginnt allem Anschein nach wegen Lurias Trockenübungen besorgt zu werden und wähnt sich als guter Nachbar verpflichtet nachzufragen, ob der betagte Herr am Steuer etwa Hilfe benötige. Nein, alles bestens, meint Luria zu dem Jüngling, der an seine Seitenscheibe klopft, ich hatte nur etwas im Wagen vergessen und habe bei der Gelegenheit gleich noch etwas am Motor kontrolliert. Die Augen des jungen Mannes aber bleiben an der Hirnaufnahme hängen, die offen auf dem Beifahrersitz liegt, und registrieren Lurias Füße, die in alten Hausschuhen stecken. Gute Nacht, blafft Luria, um den Quälgeist loszuwerden. Gute Nacht, murmelt der Nachbar und fragt dann trotz allem nochmals, ob Luria auch sicher sei, dass er keine Hilfe benötige.
In der Öffentlichkeit gilt es von jetzt an, auf der Hut zu sein, sogar in der Tiefgarage eines Privathauses. Offen herumliegende medizinische Aufnahmen, nachlässige Kleidung und abgetragene Hausschuhe können leicht den Verdacht von Verwirrtheit wecken. Auch wenn der Neurologe sich weigert, eine aufziehende Demenz zu diagnostizieren, und seine Frau nach unverfänglicheren Bezeichnungen sucht, muss er künftig auf ein ordentliches und sauberes Erscheinungsbild achten. Daher schiebt er die Aufnahme zurück in den Umschlag und eilt, ehe noch ein weiterer Nachbar auftaucht, zurück in seine Wohnung, wo er entdeckt, dass die Schlafende in ihrem Aufruhr die Bettdecke abgeworfen hat, weshalb er, um wieder Ordnung zu schaffen, sogar eine kleine, ganz dezente Lampe anschalten muss. Doch Dina schlägt bereits die Augen auf.
Wo warst du?
Ich war nur kurz in der Tiefgarage, weil ich mir Sorgen um die Aufnahme gemacht habe, die wir im Wagen vergessen hatten.
Warum machst du dir Sorgen, von jeder Aufnahme gibt es eine Kopie. Ohnehin werden sie schon bald die nächste machen, um zu sehen, ob sich etwas verändert hat.
Wie soll ich wissen, was sich verändert hat, wenn ich noch nicht mal verstehe, was tatsächlich vorhanden ist?
Da gibt es nicht viel zu verstehen. Auch das, was festgestellt wurde, existiert ja kaum.
Wie ist eigentlich der Name dieses Neurologen, der ist mir plötzlich entfleucht.
Doktor Laufer.
Nein, sein Vorname.
Wozu brauchst du den?
Schließlich hat er gesagt, ich solle auch auf Vornamen nicht verzichten.
Ich meine, Nadav oder Gad. Aber warum ist das jetzt wichtig?
Weil du dich bestimmt noch entsinnst, was er über die Lust gesagt hat.
Sicher.
Dass auch sie wichtig in diesem Kampf ist.
Wichtig oder nicht, wir hätten ohnehin nicht auf sie verzichtet.
Jetzt vielleicht?
Nein. Jetzt würde es nicht nur mir, sondern auch dir schwerfallen. Wozu denn die Eile, du weißt doch, dass ich immer bei dir sein werde.
Tomaten
Am Morgen sagt er zu seiner Frau: Du kannst heute den Wagen haben. Es fehlen so viele grundlegende Dinge im Haus, sowohl Lebensmittel als auch Hygieneartikel und Putzsachen, dass ich zum Supermarkt muss und dort eine große Lieferung ordern. Hier ist die Liste, guck, was fehlt und was überflüssig ist.
Und auf den Markt gehst du nicht?
Wenn ich gehe, dann nur wegen besonderem Obst oder Gemüse.
Aber kaufe nur etwas, wenn es sowohl frisch als auch schön ist. Nur auf die Qualität kommt es an, nicht auf den Preis. Und, wenn du an der Ecke mit den Blumenständen vorbeikommst, bitte Iris um einen Strauß Anemonen.
Iris?
Die Ältere, nicht die Junge, sie wird dich schon erkennen. Und auch dort musst du dich vergewissern, dass die Blumen ganz frisch sind.
Aber das ganze Haus ist schon voller Blumen.
Ermattete Blumen, die einer Auffrischung bedürfen. Also denk dran, nur Anemonen mitbringen. Das ist jetzt genau ihre Jahreszeit. Dass du dich ja nicht zu anderen Blumen verführen lässt.
Verstanden.
Bis spätestens zwei bin ich wieder da. Beherrsche dich und iss nicht ohne mich.
Bis zwei halte ich durch. Aber wäre es nicht ratsam, meine Aufnahme irgendjemandem bei dir auf der Station zu zeigen, natürlich ohne zu sagen, von wem sie ist?
Da gibt es nichts zu zeigen. Es ist alles klar. Und du solltest dir jetzt deinen Kopf aus dem Kopf schlagen. Was da entdeckt wurde, ist so klein und verschwommen, dass jemand, der nicht auf solche Aufnahmen spezialisiert ist, überhaupt nichts feststellen würde.
Aber entschuldige, warum hast dann du, die du keine Spezialistin für solche Aufnahmen bist, die Diagnose so mir nichts dir nichts bestätigt?
Weil ich die Spezialistin für dich bin.
Das ist reinste Spitzfindigkeit.
Bin ich etwa nicht auf dich spezialisiert?
Teilweise ... nur teilweise. Und wenn die Demenz höchstselbst erst kommt, wirst du verloren sein.
Schon wieder dieser Ausdruck.
Dann schlag endlich einen anderen vor und wir werden sehen, ob er passend ist.
Die Mall ist nicht weit weg und am frühen Vormittag auch noch nicht überlaufen. Da der Weg kurz ist, dehnt Luria ihn gern ein wenig aus und schreitet die Pfade des städtischen Parks ab, in dem sich jetzt eine buntgemischte Schar von Hunden vergnügt, die einen toben angeleint um ihre Herrchen herum, andere können frei ihren Launen nachgehen. Luria lässt seinen Blick zärtlich über die Meute wandern, versucht darin einen Hund zu finden, der dem grauen Schäferhund ähnlich sieht, dem treuen Familienhund, der vor drei Jahren seinen Wohnsitz in den Norden verlegt hat, um den Rest seiner Tage in Ruhe und Freiheit zu genießen, die Lurias Sohn und seine Enkel ihm in ihrem neuen, geräumigen Landhaus bescheren würden. Aber die Ungebundenheit des Landlebens hatte offenbar mit dem Heimweh des Hundes kollidiert und ihn bewogen, sich wieder mit der Mitte des Landes zu vereinen, doch auf seinem Weg nachhause war er verschwunden, wer weiß, auf welcher Straße sein Kadaver lag. Das Bergen von Tieren – Hunde, Füchse, Wölfe, Schafe und Kühe, die auf Überlandstraßen totgefahren oder verletzt worden waren – fiel in die Zuständigkeit von Netiveï Israel, ja, Luria kannte sogar den alten Veterinär, der mit dieser Aufgabe betraut war, aber auf der mautpflichtigen A 6 lag die Verantwortung für die Tiere bei dem hochrentablen Betreiberkonsortium. Und da der Norden reich an Wildtieren war, deren Lebensraum von der breiten, mit Auffahrten und Zäunen gespickten Schnellstraße mit einem Mal durchschnitten wurde, hatte die Natur- und Umweltbehörde verlangt, eine kurze Wegstrecke mittels eines Tunnels durch einen Berg zu verlegen, nicht nur um besondere Pflanzenarten zu erhalten, sondern vor allem, um Rehen und Wildschweinen, Füchsen und Hyänen, aber auch Stachelschweinen und Kaninchen zu ermöglichen, gerade bei Nacht sicher über die vielbefahrene Straße zu wechseln. Und eben dies war einer der drei Tunnel, an deren Planung Luria beteiligt gewesen war, ja, er musste Dina, die diese Bauwerke aus irgendeinem Grund für bedeutsam hielt, den ursprünglichen und moralisch ja auch vertretbaren, aber doch sehr begrenzten Nutzen des Tunnels bei Gelegenheit in Erinnerung rufen.
Den Einkaufswagen steuert er selbstgewiss durch den riesigen Supermarkt, aber da er der Liste in seiner Hand folgt und nicht der Topographie der Regale, um sich nicht verführen zu lassen, seinen Wagen mit Dingen zu füllen, die sie nicht brauchen, muss er von einem Gang in den nächsten und häufig noch einmal kehrtmachen, so dass es nach einigen Minuten bereits Kunden gibt, und vor allem Kundinnen, denen sein Gesicht bekannt vorkommt und die sich an ihn als eine zum Inventar gehörende Person wenden, von der man Instruktionen und vielleicht auch einen guten Rat bekommen kann. Das Obst und Gemüse machten einen frischen Eindruck auf ihn, weshalb er beschließt, auf den Markt zu verzichten und der großen Lieferung eine Auswahl an Früchten und Gemüsen hinzuzufügen. Er umkreist die Obst- und Gemüseberge mehrere Male, wählt sorgfältig aus und belädt großzügig seinen Wagen. An der Fleischtheke meint er, seine Wünsche klar und präzise geäußert zu haben, bemerkt aber in der Schlange vor der Kasse gerade noch rechtzeitig, dass man ihm anstatt der Hähnchenschenkel aus irgendeinem Grund Entenkeulen gegeben hat, und bevor das Piepen der Kasse auch diese mit auf die Rechnung setzt, nimmt er die Packung und legt sie zu den Süßigkeiten, die an der Kassenschlange ungeduldig werdende Kinder ruhigstellen sollen.
Die Adresse ist schnell aufgeschrieben, und da die Lieferung innerhalb einer Stunde rausgehen soll, lassen sich auch Dinge hinzufügen, die gekühlt werden müssen. Luria verlässt also leicht und unbeschwert den Supermarkt, in der Hand nur eine Schachtel mit Eis am Stiel, bei dem die Geschäftsbedingungen des Supermarktes es ablehnen, für einen ununterbrochenen tiefgefrorenen Zustand zu garantieren. Wieder marschiert er durch den schönen Park, und angesichts der Blumenrabatten, die die Rasenflächen säumen, erinnert er sich, dass er seiner Frau frische Anemonen mitbringen soll. Auf den Markt geht er liebend gern, doch leider wird das Eis nicht mehr lange durchhalten, weshalb er, ehe er gezwungen ist, alles wegzuwerfen, schnell ein Eis schleckt und gleich noch eins, und auch Passanten Eis anbietet, nur um Gottes willen nicht kleinen Mädchen und Jungen, ja nicht einmal Erwachsenen, die sein Anliegen falsch deuten könnten, sondern nur einer finster dreinschauenden Philippinin, einem hünenhaften Sudanesen und einem Greis und einer Greisin, die wie angewachsen auf ihrer Bank hocken und vor sich hin starren. Am Ende gelangt er mit freien Händen beim Blumenstand an, doch zu seinem Missfallen machen die Anemonen, die die Verkäuferin, die sowohl seinen Nach- als auch seinen Vornamen parat hat, für ihn zusammenbindet, einen schlaffen Eindruck auf ihn, weshalb er sich ungeachtet aller Proteste und Verstimmtheit der Blumenfrau gegen den Kauf entscheidet und sich, um nicht mit leeren Händen vom Markt zurückzukehren, den Obst- und Gemüseständen zuwendet.
Die Lieferung, die vor ihm eingetroffen ist, versperrt den Zugang zur Wohnung, und er muss vorsichtig darüber hinwegsteigen, um nicht auf die Einkäufe zu treten, die schon bald einer nach dem anderen Zutritt erhalten und ihren Platz finden. Luria hat eine Schwäche für dieses Einräumen und Sortieren und hofft insgeheim, es werde sein Hirn nicht weniger stärken als das Beharren auf den Vornamen ständig wechselnder Mitmenschen. Doch bestürzt muss er feststellen, dass diesmal, offenbar aus Zerstreuung, sowohl in der Mall als auch auf dem Markt Tomaten in Mengen gekauft worden sind, dass ihr kleiner Haushalt diese auch in etlichen Tagen nicht wird verdauen können.
Sollte er, um die Schmach der flüchtigen Verwirrtheit zu verheimlichen, einen Teil der Tomaten einfach wegwerfen? Das wäre möglich, aber schmerzlich, weil er nicht nur verschiedene Sorten erworben hat, sondern die Früchte auch durch ihre Qualität und Schönheit bestechen. Es muss also eine kreative Lösung gefunden werden, weshalb er seine Schwester anruft, eine allseits gefeierte Köchin, damit sie ihm einen Rat gibt. Wieso habt ihr auf einmal so viele Tomaten? Nicht ihr, verbessert er, nur ich. Ich war im Supermarkt und habe Tomaten gekauft, und von dort bin ich weiter zum Markt, um Anemonen für Dina zu kaufen, aber die schienen mir ein bisschen welk, während die Tomaten dort so schön aussahen.
Schweigen. Seine Schwester hat schon das ganze letzte Jahr über das zum Sinkflug ansetzende Erinnerungsvermögen ihres zwei Jahre älteren Bruders wahrgenommen, enthält sich jetzt aber einer Bemerkung, die sowohl ihn wie auch sie selbst schmerzen würde. Am Ende fragt sie:
Wie viele Tomaten hast du gekauft?
Auf dem Markt ... Zwei, drei Kilo?
So viel? Warum?
Nu, ich dachte ...
Was hast du gedacht?
Jetzt ist in ihrer Stimme nicht mehr nur Kummer, sondern auch ein leiser Vorwurf.
Offensichtlich habe ich nicht richtig nachgedacht, und die Tomaten waren einfach so schön, dass ich vergessen habe, dass ich schon vorher im Supermarkt welche gekauft hatte. Vielleicht habe ich auch gedacht, das wäre vor einer Woche gewesen.
Und wie viel hast du im Supermarkt gekauft?
Auch so was in der Art, zwei, drei Kilo. Warum regst du dich auf? Ich kann ja einfach alles wegwerfen, was haben die schon gekostet? Kein Vermögen ... Also, wenn du eine Idee hast, sag, und wenn nicht – ist es auch keine Tragödie.
Warte, nicht wegwerfen ... mal sehen, was du damit anfangen kannst.
Genau das ist es, was ich möchte. Gib mir, anstatt mich zu verhören, eine Idee. Zum Beispiel irgendeine Suppe oder eine Soße.
Trotzdem, Zvi, Augenblick, willst du nicht verstehen, was genau dir durch den Kopf gegangen ist?
Warum die Wahrheit vor ihr verbergen? Sie selbst lässt ihn und Dina ja mit zuweilen erschöpfender Offenherzigkeit an all ihren Krankheiten und Wehwehchen teilhaben.
Es gibt da nicht viel zu erklären. In meinem Hirn ist so ein kleines Etwas aufgetreten, eine Art schwarzes Loch, das in letzter Zeit die Vornamen von Leuten einsaugt, das heißt, bloß von Bekannten, und wenn die geschluckt werden, bleibt allem Anschein nach eine Leerstelle zurück.
Leer für was denn?
Ich weiß nicht, vielleicht sogar für diese Tomaten.
Was faselst du denn jetzt schon wieder ...
Nein, ernsthaft, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu erzählen, dass wir gestern Abend bei einem Spezialisten waren, einem Neurologen, ein gewisser Doktor Laufer, eine Koryphäe, der sich die Aufnahme von meiner Hirnrinde angeschaut hat, und siehe da, hör gut zu und rüste dich, denn dein Bruder wird sich schon bald verflüchtigt haben, wird verschwinden, haha, aber nicht körperlich, sondern geistig ... Wird nicht mehr erfassen, dass er eine Schwester hat ... Dina wird dir noch ganz genau erklären, wie sich das abspielt. Aber bis dahin, gib mir erst mal eine gastronomische Idee, ehe ich die Tomaten alle wegwerfe.
Warte ... sie ist jetzt außer sich. Hör mal einen Augenblick mit deinen Tomaten auf und sag mir, was genau der Arzt gemeint hat.
Was genau der Arzt gemeint hat, wird dir Dina erklären. Ich übertreibe natürlich, um dir ein bisschen Angst zu machen und auch nur so zum Spaß. Aber sei unbesorgt, es ist nicht ansteckend. Dieser Neurologe hat zwar auch die genetische Schiene abgeklopft, hat wissen wollen, ob wir so etwas in der Familie haben, aber so sehr wir uns auch bemüht haben, ihm entgegenzukommen und ein paar Umnachtete in unserer Familie für ihn zu finden, ist es uns nicht gelungen, denn dich, haha, wollten wir nicht preisgeben ... Nein, im Ernst, auch du weißt schließlich, dass wir alles in allem eine normal helle Familie sind. Noch am Morgen ihres Todes hat Mutter heftig mit mir diskutiert und sich nicht davon abbringen lassen, dass es hier niemals Frieden geben wird, und am Nachmittag hat sie sich davongemacht und uns mit den Kriegen alleingelassen.
Das passt zu ihr.
Mithin hast du, persönlich, nichts zu befürchten. Für den Moment zumindest. Und die nachfolgenden Generationen, deine und meine, mögen sich bitte gefälligst selbst anstrengen und neue Medikamente erfinden. Ohnehin ist die ganze Genetik eine fragwürdige Sache. Und nur weil dieser Neurologe sich darauf versteift hatte, jemanden in unserer Familie zu finden, der ihm das Ende eines Fadens in die Hand geben soll, ist mir diese Verwandte von Mutter eingefallen, die nach dem Sechs-Tage-Krieg hergekommen ist. Wie hieß sie noch? Mimi?
Fibi, wie kommst du auf Mimi?
Ja, Fibi, die nach einem Jahr in Israel in Depressionen verfallen ist und in diese Einrichtung gekommen ist, in Kfar Saba ...
Mish’an.
Genau. Und alle ein, zwei Monate hat immer im Wechsel einer von uns, entweder du oder ich, Mutter hingefahren, damit sie sie besuchen kann. Ich habe nie verstanden, in welchem Verwandtschaftsverhältnis genau sie überhaupt zueinander standen.
Sie ist eine Kusine zweiten oder dritten Grades, aber Mutter hat sich ihr gegenüber trotzdem verpflichtet gefühlt.
Na, wenn es nur zweiten oder dritten Grades ist, hält sich die Gefahr ja in Grenzen. Ich habe ohnehin nur vage Erinnerungen an sie, weil ich bei den Besuchen in der Regel immer lieber draußen gewartet habe. Wann ist sie eigentlich gestorben? Vor oder nach Mutter?
Wer sagt dir, dass sie gestorben ist?
Moment mal, wenn Mutter vor über fünfzehn Jahren gestorben ist, wieso sollte dann ausgerechnet sie überdauert haben? Wie sind wir überhaupt bei ihr gelandet? Doch nur, weil dieser Neurologe sich an ein Fädchen geklammert hat, das ich für ihn ausgegraben habe. Aber keine Sorge, Schwesterherz, mir bleibt noch genug Zeit, bei Verstand durch die Weltgeschichte zu laufen, so einfach werdet ihr mich nicht los. Und die Geschichte mit den Tomaten, vergiss sie. Ich werde schon alleine mit ihnen fertig.