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Der Walfisch

Als der Bischof Fulgencio Putucàs 1952 aus Lateinamerika nach Spanien kommt, um in Barcelona an einem eucharistischen Kongress teilzunehmen, wird er von einer Gastfamilie respektvoll aufgenommen. Doch in seinem Heimatland findet ein Militärputsch statt, und Putucàs kann nicht mehr nach Hause – in Barcelona gestrandet, macht er eine kuriose Wandlung durch. Er hilft im Haushalt der Familie und ist bald nicht mehr der ehrwürdige Mann der Kirche, sondern einfach Fulgencio. Dann aber geht er immer öfter auf Sauftour und ist eines Tages verschwunden. Erst Jahre später taucht er wieder auf, und erneut hat er sich komplett verändert. Ein vergnüglicher Roman über die Bilder, die wir uns voneinander machen, und die Überraschungen eines Lebens.


  • Erscheinungstag: 23.02.2015
  • Seitenanzahl: 128
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006748
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

 

 

«UND WANN, WENN MAN FRAGEN DARF, kommt nun dieser Bischof Kuhkaff?», sagte Onkel Víctor.

Tante Conchita sah ihn mit wutfunkelnden Augen an und entgegnete, wenn er schon nicht den geringsten Respekt vor der Religion habe, dann solle er bitte wenigstens auf die Gefühle der Gläubigen Rücksicht nehmen; aber kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, biss sie sich auf die Lippen, erhob sich von ihrem Platz in der Sofaecke, wo sie bei den Zusammenkünften der Familie immer saß, und spazierte durch den Salon, um ihre Nervosität zu überspielen, denn obwohl sie Onkel Víctor ihr Leben lang als einen Tölpel und Taugenichts angesehen hatte, fürchtete sie ihn seit einiger Zeit mehr als alles andere. Tante Conchita und Onkel Víctor waren Geschwister und auch Geschwister meines Vaters. Tante Conchita war die Älteste von sieben Kindern, neben den bereits Genannten gab es noch Onkel Antón, der nach Spanisch-Guinea ausgewandert war und mit Holz handelte, Onkel Francisco, «Fran», der ihn auf dem heimischen Markt vertrat, und zwei weitere, einen Jungen und ein Mädchen, die schon vor meiner Geburt gestorben waren und daher in meiner Erinnerung nicht vorhanden sind. Tante Conchita war mit Agustín Voralcamps, Onkel Agustín, verheiratet, einem dicken, kahlen, hässlichen und sehr reichen Mann, mit dem sie drei Kinder hatte: zwei Jungen in ungefähr meinem Alter und ein etwas jüngeres Mädchen. Onkel Víctor war Junggeselle geblieben, was nicht hieß, dass er ein Lotterleben führte, im Gegenteil: Er war unauffällig und ordentlich, ein sanftes Gemüt und keine große Leuchte. Er arbeitete nur halbtags in einer Briefmarkenhandlung, den Rest der Zeit hockte er seiner Schwester Conchita auf der Pelle, und zum Ausgleich dafür übertrug sie ihm alle möglichen Aufgaben und machte ihn, ob mit oder ohne Grund, in einem fort zur Schnecke, ohne sich um die Anwesenheit anderer Familienmitglieder zu scheren. Nur vor Fremden tat sie es nie, denn Familienangelegenheiten, fand sie, hatten in der Familie zu bleiben. Jede Einmischung von außen war Tante Conchita zuwider, selbst wenn sie unumgänglich war: An Juristen ließ sie allein Notare zu, und wenn ein Arzt in den geschützten Kreis der Familie vorgelassen werden musste, schärfte sie allen ein, dass nichts davon nach außen dringen durfte. Das alles machte die bevorstehende Ankunft von Bischof Kuhkaff, wie Onkel Víctor ihn im Scherz genannt hatte, noch spektakulärer und noch aufregender. Inzwischen büßte dieser für seine Respektlosigkeit mit demutsvollem Schweigen, errötet bis unter die Haarwurzeln, während seine Schwester, um ihrer Empörung und Erregtheit Luft zu machen, die unzähligen Nippsachen auf den Tischen und Konsolen des Salons zurechtschob.

Ihre Nervosität hatte folgenden Grund: In den letzten Monaten des Bürgerkriegs war Onkel Víctor, nachdem er zwei lange Jahre in einem Dorf im Hinterland mit Nichtstun verbracht hatte, festgenommen worden, wie und warum ist mir nicht bekannt, nur, dass man ihn nach Barcelona brachte und dort in ein Checa-Gefängnis sperrte. Die Bezeichnung «Checa» leitete sich, wie ich später erfuhr, aus dem russischen Crezvitchainaia Komisia ab, und obwohl ich nie verstanden habe, über welchen Lautwandel aus diesem Zungenbrecher das so bündige spanische «checa» geworden sein soll, hatten diese Gefängnisse tatsächlich einiges gemeinsam mit den politischen Gefängnissen in der Sowjetunion, sowohl was die Behandlung betraf als auch den dort waltenden Stab an Leuten, ob Russen oder Spanier, sie waren alle Mitglieder der Kommunistischen Partei und damit den direkten Weisungen Moskaus unterworfen. Diese Gefängnisse, von denen es über Barcelona verteilt mehrere gab, waren berüchtigt: Perfideste Foltermethoden, psychische wie physische, kamen dort zur Anwendung, und wer dann noch nicht gebrochen war, endete vor dem Erschießungskommando. So oder so kamen aus den «Checas» die wenigsten lebend heraus.

An so einen Schreckensort, in die Checa de la Tamarita, kam Onkel Víctor. Die Familie war außer sich vor Verzweiflung und scheute weder Anstrengung noch Geld und Risiko, um ihn zu befreien. Damals war Tante Conchita mit Onkel Agustín verlobt, und der hatte als Spross einer alteingesessenen katalanischen Familie sowohl bei den Nationalen als auch bei den Roten Verwandte und Freunde; über seine Kontakte kam die Familie an führende Republikaner heran, und nachdem man diese von der Unschuld Onkel Víctors überzeugt hatte, waren sie auch bereit einzuschreiten. Das dürfte so schwer nicht gewesen sein, denn Onkel Víctor war wie gesagt so tumb und träge, dass er es während des ganzen Krieges noch nicht einmal geschafft hatte, sich für eine der beiden gegnerischen Seiten klar zu entscheiden. Nach einer Woche ließ man ihn frei. Niemand brachte je aus ihm heraus, was er in der Haft erlebt oder was er dort gesehen hatte. Vermutlich hatte er nichts zu erzählen; er hatte in irgendeiner Ecke gesessen, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu verhören oder gar zu foltern. Wut oder Angst waren ihm fremde Regungen, und so verhielt er sich nach seiner Freilassung genauso unpolitisch wie vorher. Über so viel Laschheit war die Familie dann doch etwas enttäuscht, denn da man von den ganzen Jahren nur die Angst und die Entbehrungen in Erinnerung hatte, wäre man für einen Schuss Heldentum dankbar gewesen. Aber das war Nebensache: Onkel Víctor, den alle schon tot geglaubt hatten, war gerettet, und darüber war man natürlich froh. Nach dem Krieg sprach man den Vorfall nicht mehr an. Niemand wollte sich noch einmal in die Angst dieser einen schrecklichen Woche zurückversetzen, und vor allem wollte man dem Betroffenen selbst dies ersparen. Die Familie kam in stillem Einverständnis überein, die Sache auf sich beruhen zu lassen und ihm so die in der Checa erlittene Pein vergessen zu helfen. Dank der gemeinsamen Anstrengung und der Fügsamkeit Onkel Víctors fand das Leben bald zur Normalität zurück, zumindest dem Anschein nach.

Es kamen die Jahre des Kalten Kriegs, und obwohl Spanien politisch im Abseits und somit eigentlich fein raus war, war meine überängstliche Familie zutiefst besorgt, denn sollte es zwischen den Supermächten zum Atomkrieg kommen, so ihre Überzeugung, würde alles Leben auf der Erde ausgelöscht werden, das galt auch für das Ensanche-Viertel in Barcelona. Letztlich machte meiner Familie gar nicht so sehr der Gedanke an den Tod zu schaffen, dafür waren sie zu gläubig; hingegen hatten sie wirklich Angst davor, der Roten Armee in die Hände zu fallen, das waren laut der damaligen Propaganda bestialische Horden, getrieben von gnadenlosem Fanatismus und unvorstellbarer Grausamkeit. Damals ging das Gerücht um, dass die Kommunisten in ihren Straflagern psychiatrisch motivierte Operationen durchführten, die sogenannte Gehirnwäsche: Mit unmenschlichen Methoden pflanzten eigens dafür ausgebildete Spezialisten ihren wehrlosen Opfern eine Art Gehorsamkeitsmechanismus ins Gehirn ein, der später beliebig aktiviert werden konnte. Auf diese Weise stellten sie bedingungslose Spione und potentielle Greueltäter her, die um so gefährlicher waren, als sie selbst sich nicht erinnerten, manipuliert und zu wahren Zeitbomben gemacht worden zu sein. Selbstverständlich deutete niemand etwas in diese Richtung an, aber als die Sache mit der Gehirnwäsche durch die Presse ging und später zum Stoff von Horrorfilmen wurde, nistete sich bei unserer Familie gleich einer Larve, die ein Insekt bei einem arglosen Sommergast unter der Haut ablegt, der Verdacht ein, etwas in der Art könnte mit Onkel Víctor passiert sein, und auch wenn es niemand offen aussprach, da Familien mit engem Zusammenhalt sich alles Besorgniserregende durch Telepathie mitteilen, wuchs in den Verwandten die Überzeugung, dass Onkel Víctor bei seiner Haft in der Checa de la Tamarita einer Gehirnwäsche unterzogen worden war, was ihn jederzeit und an jedem Ort zur Bedrohung werden lassen konnte, es musste nur irgendwo ein Signal ausgesendet werden, wenn er nicht schon von vornherein so programmiert worden war, und aus dem antriebsärmsten Barcelonesen würde eine unaufhaltsame Tötungsmaschine. Von diesem Moment an war alles, was geschah oder geschehen war, nur ein weiteres Puzzlesteinchen in einem diabolischen und perfekten Plan: die augenscheinliche Willkür seiner Festnahme, der seltsame Umstand, dass man ihn nicht in ein normales Gefängnis, sondern in eine Checa gebracht hatte, obwohl diese Einrichtungen unbeugsamen politischen Gefangenen vorbehalten waren, die Kürze seiner Haft und seine einfache Befreiung, ganz zu schweigen von der angeborenen Dummheit Onkel Víctors, die nicht etwa allen Verdacht zerstreute, weil es als eher unwahrscheinlich gelten konnte, dass der Oberste Sowjet Zeit und Wissen eines Spezialisten für eine geistige Null vergeudete, anstatt seine Methoden an einem geeigneteren Individuum anzuwenden, nein, man vertrat die Ansicht, dass ausgerechnet Onkel Víctors geringe Hirnmasse ihn für die Operation prädestiniert hatte und dass er mit seinem unscheinbaren Wesen und seiner bescheidenen Anstellung in einer Briefmarkenhandlung von den Geheimdiensten unbemerkt bleiben würde, er konnte sich also in der Bevölkerung und selbst im Familienkreis unauffällig bewegen, bis er sich eines Tages in ein Monster verwandeln würde. Im Grunde machte es Tante Conchita nicht so viel aus, dass irgendein Verbrechen geschehen konnte, der entscheidende Punkt war für sie, dass es von ihrem eigenen Bruder ausgehen würde. Gleich zwei Dinge kämpften in ihr gegeneinander: Da war zum einen die Angst, eine menschliche Bombe zu Hause sitzen zu haben, und zum anderen die feste Überzeugung, dass sich so viel Böses nicht unverdient bei uns eingereiht haben konnte. Was ersteres betraf, bereute sie es schon jetzt, dass sie die ehrenvolle Verpflichtung angenommen und ein Quartier angeboten hatte für diesen Herren, den Onkel Víctor, womöglich schon als Hinweis auf die in irgendeiner Windung seines Hirns heranreifenden infernalischen Pläne, gerade als «Bischof Kuhkaff» verunglimpft hatte.

Der illustre Gast hieß in Wirklichkeit Fulgencio Putucás und war Bischof von San José de Quahuicha, der Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts an der Grenze zweier, damals noch unter dem gemeinsamen Namen Centroamérica geläufiger mittelamerikanischer Länder, und war zusammen mit Hunderten Bischöfen aus der ganzen Welt nach Barcelona gekommen, um am Eucharistischen Weltkongress teilzunehmen, der im Mai 1952 in unserer Stadt stattfand.

Im Vergleich zu anderen bedeutenden Ereignissen, vergangenen wie zukünftigen, rief der Eucharistische Weltkongress wenig Beachtung und Resonanz hervor, zumal in einer Zeit, in der sich die Berichterstattung auf Zeitungen und kurze Filmberichte beschränkte, und das auch nur innerhalb unserer Grenzen. Ganz im Sinne der Marienverehrung war es das erklärte Programm des Eucharistischen Weltkongresses, eine Botschaft der Liebe und Fürsorge über den christlichen Erdenkreis zu senden, denn die Tatsache, dass Seine Heiligkeit Papst Pius XII. das Großtreffen nach Barcelona gebracht hatte als Wiedergutmachung für die «erlittenen Opfer während des Kreuzzugs», bedeutete nicht, dass sich substantiell irgendetwas änderte. Immerhin erließ Franco, um seinen guten Willen zu zeigen und innere Stabilität zu demonstrieren, am Vorabend des Kongresses eine Amnestie, die vielen politischen Gefangenen die Freiheit schenkte und vom Heiligen Stuhl mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wurde. Auch die Beschränkungen in der Stromversorgung hörten auf, die Lebensmittelkarte verschwand, und weitgehend auch der Schwarzmarkt, außerdem wurde in der Stadt und an den Zufahrtsstraßen gebaut. Das war allerhand, denn für die Barceloneser gehörten Übergangenwerden und Außenvorbleiben so zum Lebensgefühl, dass sie es schon als Ereignis empfanden, wenn sich überhaupt etwas tat. Balkone wurden geschmückt, Baudenkmäler angestrahlt, und die herbeiströmenden Gäste und der sich daraus ergebende Bedarf an allen möglichen Fremdenführern ließ die Menschen ihre Stadt mit anderen Augen sehen.

Meine Familie, die die Routine zur absolutistischen Herrscherin erhoben hatte, versetzte das alles in große Aufregung. Und das lag nicht nur an dem Trubel in der Stadt, sondern an der Eminenz, die in Kürze bei Tante Conchita über die Türschwelle treten und für ein paar Tage zum Dreh- und Angelpunkt unseres Leben werden sollte.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Fremde genau zum Eucharistischen Weltkongress nach Barcelona kamen, denn die wenigen Zahlen, die es gibt, wurden vermutlich in propagandistischem Interesse gefälscht, doch auf jeden Fall waren es viele. Tausende Pfarrer und Nonnen reisten über Land, Wasser und Luft an, und aus dieser Menge stachen ob ihrer Würde und ihren auffallenden Gewändern die Bischöfe heraus, je entfernter und exotischer ihre Herkunft war, desto mehr: Einem australischen, asiatischen oder afrikanischen Bischof war ein Foto auf der Titelseite der Lokalpresse sicher. Aber so gern man sich auch mit der Gästeschar schmückte, für eine Stadt, die gerade erst vom Krieg wiederauferstand und kaum Mittel besaß, stellte die Unterbringung ein Problem dar. Man baute Hotels, die religiösen Orden brachten ihre Mitglieder bei sich unter, und die städtischen und religiösen Oberen taten, was sie konnten, doch immer noch waren nicht alle Gäste versorgt, und so appellierte man schließlich an die Gastfreundschaft der Barceloneser. Und da Tante Conchita sehr fromm war und sich auf den Aufruf sofort meldete, und Onkel Agustín sehr einflussreich und seine Wohnung repräsentativ genug, um einen Kirchenfürsten zu beherbergen, wurde ihnen eine Obrigkeit aus fernen Landen zugewiesen. Wenn Tante Conchita im Stillen davon geträumt hatte, einen Kardinal oder zumindest einen bedeutenden Bischof bei sich aufzunehmen, dann verstand sie ihre Enttäuschung elegant zu überspielen, als sie erfuhr, dass das Los ihr einen Ordinarius zugespielt hatte, dessen Herkunftsort nicht nur einen unaussprechlichen Namen hatte, sondern so unbekannt war, dass wir ihn nur mit Hilfe einer Lupe im Atlas ausfindig machen konnten. Aber nun, ein Bischof, woher er auch kam, stand in direkter Verbindung zum Papst und war nach dem Pontifex maximus der höchste Repräsentant Gottes auf Erden. Außerdem war unser Bischof Lateinamerikaner, er würde wie wir Spanisch sprechen und hätte, was Hygiene und Ernährung betraf, dieselben Sitten. Ich will mir gar nicht vorstellen, sagte meine Tante, die bereits von «ihrem» Bischof sprach, ich will mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, einen Japaner oder einen Schwarzen im Haus zu haben. Jemanden, der so an seinen Gewohnheiten klammerte wie meine Tante, brachte es schon an die Grenzen, überhaupt einen Fremden bei sich aufzunehmen, noch dazu einen so ungewöhnlichen.

In den Wochen vor der Ankunft des illustren Gasts gab es viel zu besprechen, und die Familie wurde immer wieder zusammengerufen, allerdings wussten alle, dass sie nicht ernsthaft um Rat gefragt würden, sondern von ihnen nichts weiter erwartet wurde, als zu allen Plänen meiner Tante zu nicken, sie dafür zu bewundern, wie minutiös sie alles im voraus bedacht hatte, und sie für die Anstrengungen und den ungeheuerlichen Aufwand zu bemitleiden. Nach langem Hin und Her beschloss man, den Bischof im Gästezimmer unterzubringen, das geräumig war, gut belüftet und mit allem ausgestattet, was den Aufenthalt angenehm machte, und ihm nicht wie anfangs erwogen das Schlafzimmer zu überlassen, also das Schlafgemach meiner Tante und meines Onkels, wovon man wieder abgekommen war, weil man ihm die Atmosphäre ehelicher Intimität nicht zumuten wollte und meinte, dass es dem Prälaten vielleicht unangenehm wäre, in einem so großen Bett zu schlafen. Über das Gästebett hängte man ein einfaches Holzkreuz, und auf die Kommode stellte man eine Blumenvase, die man dann doch wieder wegnahm, weil man Pflanzen im selben Raum, in dem ein Mensch schläft, für unschicklich und ungesund erachtete. Neben Bettwäsche legte man einen Satz Handtücher und diverse Toilettenartikel bereit, inklusive Badeseife, Shampoo, Rasiercreme, Zahnpasta, Brillantine und Haarfestiger. Das Hauspersonal bekam genaueste Anweisungen. An Dienstboten gab es im Haus meiner Tante und meines Onkels eine Köchin mittleren Alters, die ein grobes Äußeres hatte, aber mit der es immer sehr lustig war, sie hieß Manifiesta, und ein junges Fräulein, sehr liebreizend und etwas einfältig, sie war die Nichte der Köchin und hieß mit Nachnamen Leres, und ich sah sie immer in der gleichen Aufmachung, mit Schürze, Ärmelaufschlägen und gestärktem Häubchen. Zu dieser festen Belegschaft, oder dem Körper des Hauses, wie man damals sagte, zählte noch ein Chauffeur, den ausschließlich mein Onkel für seine Geschäfte in Anspruch nahm, eine Stundenhilfe, eine Näherin und eine Büglerin, die einen Tag in der Woche kamen und deren Namen ich nicht wusste oder vergessen habe. Sie alle erhielten strikte Anweisungen.

Uns Kindern der Familie erteilte man ebenfalls Unterweisungen in feinem Benehmen und Protokoll. Wir Jungen mussten uns verbeugen und den Ring des Bischofs küssen, und die Mädchen mussten einen Knicks machen, also ein Knie beugen und mit beiden Händen den Rocksaum anheben. Wir durften nicht sprechen, wenn wir nicht gefragt wurden, und auf eine eventuelle Frage sollten wir laut und deutlich Antwort geben und immer die Anrede «Hochwürden» einfügen. Sollte sich Hochwürden allerdings volksnah geben und uns bitten, die Anrede sein zu lassen und ihn anders zu nennen, zum Beispiel Don Fulgencio, sollten wir dem Folge leisten und nicht in die alte Anrede zurückverfallen. An einer Tür hatten wir ihm den Vortritt zu lassen, aber wenn er uns andeutete, wir möchten doch bitte zuerst hindurchgehen, sollten wir dem unverzüglich nachkommen. Nicht mit dem Essen anfangen, bevor Hochwürden nicht zum Besteck gegriffen hatte, nicht mit vollem Mund reden und weder schmatzen noch mit offenem Mund kauen, sich vor dem Wassertrinken die Lippen mit der Serviette abtupfen, gefolgt von einem langen und vollkommen überflüssigen Etcetera, etcetera, denn dem vom Bischof von Barcelona herausgegebenen Veranstaltungsprogramm zufolge würde es kaum Gelegenheit geben, mit dem Bischof zusammen zu sein, vor allem für diejenigen von uns, die nicht bei Tante Conchita und Onkel Agustín wohnten und überhaupt nur dann etwas von der Anwesenheit des Bischofs hätten, wenn die Gastgeber uns einluden.

An diese zurückgesetzte Position waren wir gewöhnt, denn niemand aus der Familie konnte, was Vermögen und gesellschaftliche Stellung betraf, mit Tante Conchita und Onkel Agustín mithalten. Gut möglich, dass Onkel Antón es in Spanisch-Guinea zu einigem Reichtum gebracht hatte, aber er stand im Ruf eines Geflohenen, angeblich war er zu seinem Kolonialabenteuer nur aufgebrochen, weil ihn häusliche Probleme dazu getrieben hatten, allerdings erfuhr ich nie die genaueren Umstände, denn wenn darüber gesprochen wurde, dann nur andeutungsweise und in verklausulierten Worten, damit wir Kinder es nicht verstehen konnten. Bei seiner Abreise ließ er seine zwei Kinder und seine Frau in Barcelona zurück, Tante Eulalia, eine große, vollbusige Frau mit kräftiger Stimme, um die sich nun, genau wie um den Holzhandel seines Bruders, Onkel Fran kümmerte, der wie mein anderer Onkel Víctor Junggeselle war, ansonsten aber das genaue Gegenteil. Was meinen Vater angeht, was soll ich sagen. Er war eben der kleine Bruder, ein zartes Kind, gesundheitlich und seelisch nicht sehr robust. Er hatte eine tadellose Erziehung genossen, aus der er kein Kapital schlagen konnte oder wollte; das Ingenieurstudium gab er im zweiten Jahr auf, und nachdem er sich in mehreren Jobs versucht hatte, endete er als Gepäckmeister bei der spanischen Eisenbahngesellschaft Renfe, wo er sicherlich mehr durch den Einfluss der Familie als durch seine eigenen Verdienste hingekommen war und wo sein diskreter Alkoholismus weitgehend unbemerkt blieb. Seine Trinkgewohnheit, von der jeder wusste, war allerdings kein Grund, ihn nicht als Mitglied der Familie anzuerkennen und ihn nicht zu den gemeinsamen Feierlichkeiten einzuladen, zumal er, wenn er ein paar Gläser getrunken hatte, höchstens etwas unnahbar, aber niemals ausfällig wurde; im Gegenteil: Betrunken war er zurückhaltender als in nüchternem Zustand, und nur in einer Zwischenphase tanzte er gelegentlich etwas aus der Reihe, was sich sofort legte, wenn man ihm etwas zu trinken anbot. Meine Mutter ertrug die Situation mit freundlicher Gelassenheit: Sie klagte nie, zumindest nicht vor anderen, und reagierte meistens belustigt über die komischen Ausreißer ihres Mannes. Jetzt wartete die ganze Familie auf Monseñor Putucás, Ordinarius von San José de Quahuicha, was wir Tante Conchitas Großherzigkeit zu verdanken hatten, die uns diesen feierlichen Moment nicht vorenthalten wollte, wobei sie sich vielleicht auch überlegt hatte, dass so ein Begrüßungskomitee das erste Zusammentreffen eines Fremden mit seinen Gastgebern etwas abfedern würde. Da wir wiederum auch nicht einfach dumm herumsitzen konnten, organisierte man eine kleine Willkommenszeremonie zum Empfang des Bischofs. Meine Tante hatte von der Konditorei Sacha in der Avenida Diagonal feine Häppchen kommen lassen, die aus der Küche hereingetragen werden sollten, und Tante Eulalia würde etwas singen. Tante Eulalia hatte eine hübsche und ausgebildete Stimme. Sie hatte Musik studiert und war in der Klasse von Conchita Badía gewesen, und eine Zeitlang hatte sie damit geliebäugelt, Sängerin zu werden: Ihr großer Traum war, im Liceo zu singen. Als sie Onkel Antón kennenlernte und ihm ihre Pläne unterbreitete, hatte er nichts dagegen einzuwenden. Später allerdings, als die beiden offiziell verlobt waren, bekam Onkel Antón den Druck der Familie zu spüren und stellte seine Braut vor die Wahl: Entweder ließ sie das Singen bleiben oder er würde die Verbindung lösen. Sie könne weiter Unterricht nehmen, wenn sie das glücklich mache, und auch gern im privaten Rahmen singen, aber nicht in der Öffentlichkeit und schon gar nicht auf einer Bühne. Eine Sängerin zu heiraten, oder gar eine Schauspielerin, kam für ihn nicht in Frage. Es war schon schlimm genug, sich auf eine Bühne zu stellen und dafür Geld zu nehmen, aber dann auch noch sich ins Schauspielermilieu zu begeben und die Garderobe mit irgendwelchen bestimmt nicht immer ganz untadeligen Frauen zu teilen, herumzutingeln, in Hotels zu nächtigen, in irgendwelchen Wirtshäusern zu essen und immer wieder für unbestimmte Zeit von zu Hause weg zu bleiben, das war ganz und gar undenkbar. Tante Eulalia verstand diese Einwände, sie sah ein, dass sie, wenn sie Onkel Antón oder einen ähnlich gutsituierten Mann aus ihrer Schicht heiraten wollte, ihre Karriere aufgeben musste. Sie war sehr tapfer. Am Anfang sang sie noch ein paar Mal bei Familientreffen, doch ihre Wehmut war so groß, dass sie sogar aufhörte, in die Oper zu gehen, um nicht daran erinnert zu werden, was sie aufgegeben hatte, und wenn sie zufällig im Radio eine bekannte Arie hörte, traten ihr Tränen in die Augen. Doch bald vergaß sie ihre Sehnsüchte, und sie musste ihrem Mann recht geben: Ein ausschweifendes Künstlerleben wäre mit den Pflichten einer Mutter und Ehefrau nicht zu vereinbaren gewesen. Und wenn sie in späteren Jahren zufällig früheren Studienkolleginnen begegnete, die dabei geblieben waren, sah sie sich in ihrer Entscheidung bestärkt. Die meisten hatten nach langen Jahren der Geldnot, Enttäuschungen und Demütigungen aufgegeben, und die eine oder zwei, die es tatsächlich zu einer bescheidenen Karriere gebracht hatten, sahen dem Schwinden ihres Könnens und einer unsicheren Zukunft entgegen, in der sie von ihrer Erinnerung an eine nicht sehr glanzvolle und unwiederbringlich verlorene Vergangenheit würden zehren müssen. Tante Eulalia dankte Gott, dass sie sich rechtzeitig besonnen hatte. Ich habe die Logik dieser Geschichte nie ganz verstanden, denn zu guter Letzt und zum Dank dafür, dass sie ihren Lebenstraum geopfert hatte, hatte sich ihr Mann, Onkel Antón, nach Spanisch-Guinea abgesetzt und sie mit ihren zwei Kindern in Barcelona sitzenlassen. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt erst mal war das Klavier gestimmt worden, und Tante Eulalia, die noch immer ihre Stimme und ihre Technik pflegte, bereitete sich vor, um uns während oder nach dem Imbiss etwas vorzutragen, zunächst ein Stück aus dem Ave Maria von Gounod, danach ein katalanisches Volkslied und zum Abschluss die Hymne des Eucharistischen Weltkongresses, begleitet von ihren Nichten und Neffen. Gegen die Abschlussnummer erhoben wir Kinder Einspruch mit dem Argument, dass wir schon in der Schule ständig die Kongress-Hymne singen mussten, und jetzt auch noch alle zusammen zu Hause, das sei doch lächerlich und peinlich. Wir mussten Maßregelungen und Androhungen über uns ergehen lassen und beugten uns unter einer Bedingung: Wir würden die Kongress-Hymne singen, wenn die Erwachsenen mitsängen. Onkel Agustín sagte, das gäbe eine schöne Kakophonie, Onkel Fran pflichtete ihm bei, und am Ende setzten wir uns durch.

Seit zwei Stunden wartete die versammelte Familie nun schon auf Monseñor Putucás. Die Erwachsenen verbargen, so gut sie konnten, ihre Ungeduld, allerdings nicht wir Kinder, wir dachten nur an die in der Küche bereitstehenden Kanapees und Törtchen, und ebenso wenig mein Vater, den man mit ein paar Whiskys ruhigstellen musste, ganz zu schweigen von Tante Eulalia, die zur Öffnung ihrer Kehle unentwegt Kiekslaute von sich gab und ständig ins Badezimmer ging, um zu gurgeln, und eben Onkel Víctor, der es nicht länger aushielt und in den Raum rief: «Und wann, wenn man fragen darf, kommt nun dieser Bischof Kuhkaff?»

Ich glaube fast, dass mein Vater in einer seiner Übergangsphasen zwischen geistiger Helle und Benebelung auf diesen Spitznamen kam, ausgehend von dem für uns so nichtssagenden Herkunftsort des Bischofs. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis die lateinamerikanischen Schriftsteller uns mit der ungewohnten Toponymie und Terminologie dieses Teils der Welt vertraut machen würden. Ganz sicher jedenfalls war er nicht auf Onkel Víctors Mist gewachsen; ich schließe nicht einmal aus, dass er in seiner Einfalt glaubte, der Prälat heiße wirklich so. Wie dem auch sei, allein die Erwähnung des Spitznamens regte uns Kinder zu einem ansteckenden Lachen an, das selbst Tante Conchitas wutfunkelnder Blick nicht unterbinden konnte.

«Da siehst du, was du mit deinen Albernheiten anrichtest», sagte sie und vergaß in dem Augenblick, dass sie ihren Vorwurf möglicherweise an einen unerbittlichen Schergen der Komintern richtete.

Gerade flaute das Lachen unter uns Kindern ab, da prustete auf einmal Manifiesta los, womit es kein Halten mehr gab und eine allgemeine Heiterkeit ausbrach, die noch immer andauerte, als das Schellen der Klingel die Ankunft des illustren Gasts ankündigte und mit ihm den Anfang der Geschichte, die ich hier erzählen möchte.

 

 

 

DER BISCHOF WAR EIN MANN unbestimmten Alters, womit man normalerweise einen älteren Herrn meint, der sich gut gehalten hat. Klein, stämmig, erdfarbener Teint, starrer Ausdruck. Er hatte ein breites Gesicht, kleine Augen, fleischige Lippen, eine gebogene Nase und dickes, glattes, schwarz glänzendes Haar. Um ehrlich zu sein, und das fiel selbst Tante Conchita sofort auf, machte der Bischof dem ihm vorauseilenden Spitznamen alle Ehre. Deshalb hätte sein Eintreten bei den Anwesenden wohl auch tiefe Enttäuschung ausgelöst, wäre da nicht seine prächtige Aufmachung gewesen: die Soutane und der schwarze Umhang mit den violetten Einfassungen, passend zur Knopfreihe und dem Scheitelkäppchen, der Schärpe und den Handschuhen, ganz zu schweigen von dem an einer Kette hängenden silbernen Bischofskreuz. Es war, als wäre eine Figur eines alten Gemäldes in den Raum getreten, die sich auf wundersame Weise von der Leinwand gelöst hatte und sich, nachdem sie Jahrhunderte lang in einem Museumssaal gehangen hatte, mit eckigen, vorsichtigen Bewegungen in die Welt der Lebenden wagte. Jetzt stand die seltsame Erscheinung mitten im Zimmer, mit glasigem Blick, die eine Hand leicht erhoben und die andere auf der Brust. Einen Moment lang war der versammelte Familienkreis wie benommen, als würden wir nur darauf warten, dass die Puppe jeden Moment auseinanderfallen würde, bis Tante Conchita, vollkommen von diesem Anblick vereinnahmt, aus unseren Reihen heraustrat, zu dem Bischof ging, mit einem Knie den Boden berührte und voller Inbrunst den Ring küsste, woraufhin durch das Bildnis ein Ruck fuhr.

«Bitte, Señora», flüsterte er mit eigenartigem Akzent, «stehen Sie auf.»

«Hochwürden», flüsterte meine verwirrte Tante, «bitte, segnen Sie dieses Haus mitsamt den darin wohnenden Menschen.»

Autor