×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Der Welt nicht mehr verbunden«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Der Welt nicht mehr verbunden« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Der Welt nicht mehr verbunden

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Das erste Rätsel, vor dem ich stand, war: Wie konnte es sein, dass ich immer noch depressiv war, obwohl ich Antidepressiva nahm? Ich machte alles richtig – und doch lief etwas falsch. Warum?

Das zweite Rätsel: Warum gibt es heute so viel mehr Menschen, die unter Depressionen und schweren Ängsten leiden? Was hat sich verändert?

Da ging mir auf, dass noch ein drittes Rätsel über allem schwebte. Konnte es sein, dass etwas anderes, und nicht die Chemie in meinem Hirn, Depressionen und Ängste bei mir und so vielen anderen Menschen auslöste? Und wenn ja: Was konnte es sein?

»Wenn Sie sich jemals niedergeschlagen oder verloren gefühlt haben, wird dieses Buch Ihr Leben ändern.« Elton John

»Eine wunderbare und bestechende Analyse.« Hillary Clinton

»Ein Buch, das viel über unsere innere Verzweiflung und unseren Lebenswandel verrät« Naomi Klein

»Ein brillanter, anregender und radikaler Ansatz zur psychischen Gesundheit« Matt Haig

»Mit seinem persönlichen Erfahrungsbericht und der gleichzeitigen Gesellschaftsanalyse trifft Johann Hari den Nerv unserer Zeit.« psychologie.neuropraxis


  • Erscheinungstag: 01.02.2019
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678230
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Barbara Bateman, John Bateman und Dennis Hardman

Vorwort
Der Apfel

An einem Frühlingsabend im Jahr 2014 ging ich im Zentrum von Hanoi eine schmale Gasse entlang, als ich an einem Stand am Straßenrand einen Apfel bemerkte. Er war unglaublich groß und rot und sah einfach zum Anbeißen aus. Feilschen fällt mir schwer, also zahlte ich drei Dollar für diesen einen Apfel und nahm ihn mit auf mein Zimmer im Very Charming Hanoi Hotel. Wie jeder brave Ausländer, der die Warnhinweise gelesen hat, wusch ich den Apfel sorgfältig mit Trinkwasser aus der Flasche, aber als ich hineinbiss, schmeckte er bitter und chemisch. Es war das Aroma, das alle Speisen nach einem Atomkrieg haben würden – so in etwa hatte ich mir das als Kind jedenfalls vorgestellt. Mir war klar, dass ich es lassen sollte, aber ich war zu müde, um noch einmal rauszugehen und mir etwas anderes zu essen zu besorgen, also aß ich die Hälfte und legte den Rest angewidert weg.

Zwei Stunden später begannen die Magenschmerzen. Zwei Tage lang hockte ich in meinem Zimmer, das sich mit zunehmender Geschwindigkeit drehte, war aber nicht weiter besorgt. Lebensmittelvergiftungen hatte ich schon öfter durchgemacht. Ich wusste, wie es abläuft. Man musste einfach Wasser trinken und es durch sich hindurchfließen lassen.

Am dritten Tag ging mir auf, dass mir im Schleier der Krankheit meine Zeit in Vietnam entglitt. Ich war hier, um für ein anderes Buchprojekt mit Menschen zu sprechen, die den Krieg überlebt hatten, also rief ich Dang Hoang Linh an, meinen Übersetzer, und sagte ihm, wir könnten jetzt unsere geplante Fahrt tief in die ländlichen Gebiete südlich der Stadt antreten. Auf unserer Reise – da ein zerstörter Weiler, dort ein Agent-Orange-Opfer – wurde ich allmählich stabiler. Am folgenden Morgen führte mich Dang in die Hütte einer siebenundachtzigjährigen Frau. Ihre Lippen leuchteten rot von den Kräutern, die sie kaute, und sie rutschte auf einem Holzbrett, das jemand mit Rädern versehen hatte, auf mich zu. In den neun Jahren des Krieges, erklärte sie mir, war sie stets auf der Flucht vor den Bomben gewesen und hatte versucht, ihre Kinder zu retten. Sie waren die einzigen Überlebenden aus ihrem Dorf.

Während sie mit mir sprach, erlebte ich etwas Seltsames. Ihre Stimme schien von sehr weit her zu kommen, und der Raum drehte sich, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Dann – völlig unerwartet – explodierte ich wie eine Bombe, Erbrochenes und Fäkalien verteilten sich über ihre Hütte. Als ich – einige Zeit später – wieder zu Bewusstsein kam, sah mich die alte Frau mit traurigen Augen an. »Dieser Junge gehört ins Krankenhaus«, sagte sie. »Er ist sehr krank.«

Nein, nein, widersprach ich. In Ostlondon habe ich mich jahrelang hauptsächlich von Brathähnchen ernährt, ich hatte also nicht zum ersten Mal mit Kolibakterien zu tun. Ich bat Dang, mich zurück nach Hanoi zu fahren, damit ich mich in meinem Hotelzimmer beim Anschauen von CNN und meinem eigenen Mageninhalt noch ein paar Tage erholen konnte.

»Nein«, entgegnete die alte Frau resolut. »Ab ins Krankenhaus.«

»Pass auf, Johann«, sagte Dang, »sie ist die Einzige aus ihrem Dorf, die mit ihren Kindern neun Jahre amerikanischen Bombenkrieg überlebt hat. Ich traue ihr, was medizinische Ratschläge betrifft, mehr zu als dir.« Er schleppte mich zu seinem Auto und fuhr mich, während ich unter Krämpfen würgte, zu einem schlichten Gebäude, das, wie ich später erfuhr, vor Jahrzehnten von den Sowjets erbaut worden war. Ich war der erste Ausländer, der jemals dort behandelt wurde. Einige Schwestern kamen heraus, eilten – halb aufgeregt, halb verdutzt – auf mich zu und trugen mich zu einem Tisch, wo sie sofort anfingen zu schreien. Dang schrie zurück, und nun kreischten sie in einer Sprache, von der ich kein einziges Wort verstand. Ich bemerkte, dass sie etwas eng um meinen Arm gezurrt hatten.

Mir fiel auch auf, dass in einer Ecke ganz allein ein kleines Mädchen mit einem Pflaster auf der Nase lag. Sie sah mich an. Ich sah sie an. Wir waren die einzigen Patienten im Raum.

Sobald sie meinen Blutdruck gemessen hatten – gefährlich niedrig, wie die Schwester mir, von Dang übersetzt, mitteilte –, fingen sie an, mich mit Nadeln zu piksen. Dang erzählte mir später, er habe behauptet, ich sei ein Prominenter aus dem Westen, und wenn ich hier stürbe, wäre das eine Schande für das vietnamesische Volk. Jedenfalls ging das zehn Minuten lang so weiter, während mein Arm mit all den Kanülen und Einstichen immer schwerer wurde. Dann fingen sie an, laut schreiend Fragen über meine Symptome zu stellen, die Dang für mich übersetzte. Eine scheinbar endlose Liste über den Charakter meiner Beschwerden.

Während sich all das abspielte, fühlte ich mich seltsam gespalten. Einerseits hatte mich die Übelkeit fest im Griff – alles drehte sich so schnell, und ich dachte immerzu: Es soll aufhören, es soll aufhören. Aber andererseits führte ich – daneben, unterhalb oder jenseits davon – ein ganz vernünftiges kleines Selbstgespräch. Oh, du bist dem Tode nahe. Niedergestreckt von einem vergifteten Apfel. So wie Eva oder Schneewittchen oder Alan Turing.

Dann dachte ich: Soll dein letzter Gedanke wirklich so anmaßend sein?

Dann dachte ich: Wenn dich ein halber Apfel so fertigmachen kann, was richten diese Chemikalien dann mit den Bauern an, die auf den Feldern Tag für Tag, Jahr für Jahr damit zu tun haben? Das wäre eine gute Story, irgendwann einmal.

Dann dachte ich: So etwas solltest du an der Schwelle zum Tod nicht denken. Denk lieber an innige Augenblicke in deinem Leben. Du solltest Flashbacks haben. Wann warst du wirklich glücklich? Ich erinnerte mich, wie ich als kleiner Junge in unserem alten Haus mit meiner Großmutter auf dem Bett lag, mich an sie kuschelte und die britische Serie Coronation Street sah. Ich erinnerte mich, wie ich Jahre später auf meinen kleinen Neffen aufpasste und er mich morgens um sieben aufweckte, sich zu mir ins Bett legte und mir ausführliche und ernste Fragen über das Leben stellte. Ich erinnerte mich, wie ich mit siebzehn Jahren auf einem anderen Bett lag, und zwar mit dem ersten Menschen, in den ich mich jemals verliebt hatte. Es ging dabei nicht um Sex – einfach daliegen und festgehalten werden.

Moment mal, dachte ich. Warst du immer nur glücklich, wenn du im Bett lagst? Was sagt das über dich aus? Dann wurde dieser innere Monolog durch einen Würgreflex unterbrochen. Ich bat die Ärzte, mir etwas zu geben, was diese extreme Übelkeit wegmachen würde. Dang unterhielt sich angeregt mit den Medizinern. Schließlich erklärte er mir: »Der Arzt sagt, du brauchst deine Übelkeit. Sie ist eine Botschaft, und wir müssen auf die Botschaft hören. Sie wird uns sagen, was dir fehlt.« Und dann begann ich wieder zu kotzen.

Viele Stunden später erschien ein Arzt – ein Mann um die vierzig – in meinem Gesichtsfeld und sagte: »Wir haben festgestellt, dass Ihre Nieren versagt haben. Sie sind extrem dehydriert. Wegen des Erbrechens und des Durchfalls hat Ihr Körper sehr lange Zeit kein Wasser aufgenommen, Sie sind also wie ein Mensch, der tagelang durch die Wüste gewandert ist.«1 Und dann fügte Dang noch hinzu: »Er sagt, wenn ich dich zurück nach Hanoi gefahren hätte, wärst du unterwegs gestorben.«

Der Arzt bat mich, alles aufzuzählen, was ich in den letzten drei Tagen gegessen hatte. Die Liste fiel kurz aus. Einen Apfel. Er sah mich komisch an. »War es ein sauberer Apfel?« Ja, erwiderte ich, ich habe ihn mit Trinkwasser gewaschen. Alle brachen in Gelächter aus, als hätte ich den Witz des Jahres erzählt. Wie sich herausstellte, genügt es in Vietnam nicht, Äpfel zu waschen. Sie sind mit Pestiziden getränkt, damit sie Monate überdauern, ohne zu verfaulen. Man muss sie sorgfältig abschälen – oder es kann einem ergehen wie mir.

Obwohl ich es nicht recht verstand, ging mir bei der Arbeit an diesem Buch etwas immer wieder durch den Kopf, das dieser Arzt an jenem Tag in der wenig glamourösen Stunde meiner Vergiftungserscheinungen zu mir gesagt hatte.

Sie brauchen Ihre Übelkeit. Sie ist eine Botschaft. Sie wird uns sagen, was Ihnen fehlt.

Richtig verstanden habe ich es erst an einem ganz anderen Ort, Tausende Kilometer entfernt, am Ende meiner Reise zu den wahren Ursachen von Depressionen und Ängsten, auf der ich lernte, wie wir wieder nach Hause finden.

Einführung
Ein Rätsel

Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal Antidepressiva schluckte. Ich stand im matten englischen Sonnenlicht vor einer Apotheke in einem Londoner Einkaufszentrum. Die Tablette war klein und weiß, und als ich sie einnahm, fühlte es sich an wie ein chemischer Kuss.

Am Vormittag hatte ich meinen Arzt aufgesucht. Es falle mir schwer, erklärte ich ihm, mich an einen Tag zu erinnern, an dem ich nicht geheult hätte wie ein Schlosshund. Seit ich ein kleines Kind war – in der Schule, im Studium, zu Hause, bei Freunden –, musste ich mich oft zurückziehen, mich irgendwo einschließen und weinen. Das waren nicht nur ein paar Tränen. Es war ein regelrechtes Schluchzen. Und auch wenn die Tränen ausblieben, lief in meinen Gedanken ein unaufhörlicher angstvoller Monolog ab. Dann schalt ich mich selbst: Das ist alles nur in deinem Kopf. Reiß dich zusammen. Sei nicht so schwach.

Damals war es mir peinlich, es auszusprechen; heute ist es mir peinlich, es aufzuschreiben.

In jedem Buch über Depressionen oder schwere Ängste, verfasst von Betroffenen, gibt es einen ausführlichen Schmerzporno, in dem der Autor oder die Autorin eloquent die Abgründe der Verzweiflung schildern, in die sie gefallen sind. Das war nötig, als die anderen noch nicht wussten, wie man sich fühlt, wenn man unter Depressionen oder schweren Angstzuständen leidet. Dank der Menschen, die dieses Tabu seit Jahrzehnten brechen, muss ich meine Leidensgeschichte in diesem Buch nicht darstellen. Das ist hier nicht mein Thema. Aber glauben sie mir: Es tut weh.

Einen Monat bevor ich diese Arztpraxis betrat, lag ich in Barcelona am Strand und weinte, während mich die Wellen umspülten, als mir ganz plötzlich dämmerte, warum mir das passierte und wie ich da wieder herausfinden könnte. Damals, in jenem Sommer, bevor ich als erstes Mitglied meiner Familie das Studium an einer Spitzenuniversität aufnahm, reiste ich mit einer Freundin durch Europa. Wir hatten uns ein günstiges Interrail-Ticket gekauft, mit dem wir einen Monat lang jeden Zug in der EU kostenlos nutzen konnten, und übernachteten unterwegs in Jugendherbergen. Ich sah gelbe Sandstrände und Hochkultur vor mir – den Louvre, ein paar Joints, temperamentvolle italienische Jungs. Aber kurz bevor wir fuhren, hatte ich eine Abfuhr von dem ersten Menschen bekommen, in den ich richtig verliebt war. Und ich hatte das Gefühl, dass die Emotionen wie ein peinlicher Geruch aus mir herausströmten.

Die Reise lief nicht wie geplant. Auf einer Gondel in Venedig brach ich in Tränen aus. Ich heulte auf dem Matterhorn. In Kafkas Haus in Prag fing ich an zu schluchzen.

Für mich war das ungewöhnlich, aber so ungewöhnlich auch wieder nicht. Ich hatte schon solche Phasen erlebt, in denen der Schmerz nicht mehr zu ertragen war und ich mich von der Welt verabschieden wollte. Aber damals in Barcelona, als ich nicht aufhören konnte zu weinen, sagte meine Freundin zu mir: »Dir ist schon klar, dass die meisten Menschen das nicht machen, oder?«

Und dann hatte ich eine der wenigen Erleuchtungen in meinem Leben. Ich schaute sie an und sagte: »Ich bin depressiv! Es ist nicht nur in meinem Kopf! Ich bin nicht unglücklich, ich bin nicht schwach – ich bin depressiv!«

Es mag merkwürdig klingen, aber was ich in diesem Augenblick erlebte, war ein unverhoffter Glücksfall – als würde man plötzlich in der Sofaritze ein dickes Geldbündel finden. Es gibt einen Begriff für dieses Gefühl! Es ist eine Krankheit, so wie Diabetes oder Reizdarm! Natürlich hörte ich seit Jahren die Botschaft, die in unserem Kulturkreis immer wieder auftauchte, aber jetzt fiel endlich der Groschen bei mir: Die meinten mich! Und es gibt, ging mir in dem Moment plötzlich auf, ein Mittel gegen Depression: Antidepressiva. Die brauche ich! Sobald ich heimkomme, probiere ich diese Tabletten aus, und dann werde ich normal, und alle Teile von mir, die nicht deprimiert sind, werden befreit. Schon immer hatten mich Dinge gereizt, die nichts mit Depressionen zu tun hatten – Menschen treffen, lernen, die Welt verstehen. All das werde ich machen können, sagte ich mir, und zwar bald.

Am nächsten Tag besuchten wir den Park Güell im Zentrum von Barcelona. Dieser merkwürdige Park wurde von dem Architekten Antoni Gaudí entworfen – alles ist dort unsymmetrisch, als würde man in einen Zerrspiegel blicken. Man geht durch einen Tunnel, der ganz und gar schief ist und in dem die Wände sich zu kräuseln scheinen, als würde er von einer Welle erfasst. An einer anderen Stelle erheben sich Drachen, die den Eindruck machen, als würden sie sich bewegen. Nichts sieht so aus, wie die Welt aussehen sollte. Als ich durch den Park stolperte, dachte ich mir: So sieht es in meinem Kopf aus – alles ist unförmig, falsch. Und bald wird es in Ordnung gebracht.

Wie alle Erleuchtungen schien sie jäh auf, aber in Wirklichkeit hatte sie sich schon lange angebahnt. Ich wusste, was Depressionen sind. Sie kamen in Fernsehserien vor, und ich hatte Bücher darüber gelesen. Meine eigene Mutter hatte ich von Depressionen und Ängsten reden hören und beobachtet, wie sie Pillen dagegen schluckte. Auch über die Heilverfahren wusste ich Bescheid, weil sie vor wenigen Jahren weltweit durch die Medien gegangen waren. Meine Teenagerzeit fiel in die Prozac-Ära (in Deutschland unter dem Namen Fluoxetin beziehungsweise Fluctin vermarktet) – es war das Zeitalter der neuen Medikamente angebrochen, die erstmals Heilung von Depressionen ohne lähmende Nebenwirkungen versprachen. Ein damals erschienener Bestseller erklärte, dank dieser Medikamente gehe es einem »besser als gut«2 – sie machten einen stärker und gesünder als normale Menschen.

All das nahm ich auf, ohne mir wirklich Gedanken darüber zu machen. Ende der Neunzigerjahre wurde viel über das Thema geredet, es war allgegenwärtig. Und jetzt sah ich – endlich –, dass es mich selbst betraf.

Als ich an jenem Vormittag meinen Arzt aufsuchte, wurde mir rasch klar, dass er mit alldem ebenfalls vertraut war. In seinem kleinen Sprechzimmer erklärte er mir geduldig, warum ich mich so fühlte. Es gebe Menschen, in deren Gehirn von Natur aus ein Mangel an einer Chemikalie namens Serotonin herrsche, sagte er, und dadurch würden Depressionen verursacht – diese seltsame, hartnäckige Fehlzündung, die man Unglück nennt und die nicht weichen will. Glücklicherweise gab es, gerade rechtzeitig für meinen Start ins Erwachsenenleben, eine neue Generation von Medikamenten – Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs, selective Serotonin Reuptake Inhibitors) –, die den Serotoninspiegel auf das Niveau eines normalen Menschen heben. Eine Depression ist eine Krankheit des Gehirns, sagte er, und das ist die Kur. Er holte die Abbildung eines Gehirns hervor und sprach mit mir darüber.

Er führte aus, dass die Depression tatsächlich nur in meinem Kopf angesiedelt sei – aber anders, als man sich das vorstellt. Sie ist nicht eingebildet. Sie ist durchaus real, und sie ist eine Fehlfunktion des Gehirns.

Groß drängen musste er mich nicht. Ich war sofort begeistert.3 Zehn Minuten später verließ ich die Praxis mit meinem Rezept für Paroxetin, das auch unter den Bezeichnungen Paxil, Seroxat und etlichen anderen verkauft wird.

Erst Jahre später – als ich bereits an diesem Buch schrieb – hat mich jemand auf all die Fragen aufmerksam gemacht, die mein Arzt an jenem Tag nicht gestellt hatte. Zum Beispiel: Gibt es einen Grund, warum Sie so verzweifelt sind? Was geht in Ihrem Leben vor sich? Gibt es etwas, das Ihnen wehtut und das wir ändern könnten? Auch wenn er sie gestellt hätte, ich hätte ihm wahrscheinlich keine Antwort darauf geben können. Vermutlich hätte ich ihn verdutzt angeschaut. Mein Leben, hätte ich gesagt, verlaufe gut. Sicher, Probleme gebe es schon, aber ich hätte keinen Grund, unglücklich zu sein – jedenfalls nicht so unglücklich.

Ohnehin fragte er nicht, und mich wunderte das auch nicht. In den nächsten dreizehn Jahren stellten mir Ärzte immer wieder Rezepte für dieses Medikament aus, und auch sie fragten nicht. Wenn sie es getan hätten, wäre ich wohl empört gewesen und hätte entgegnet: Wenn man ein kaputtes Hirn hat, das nicht die richtigen Glück produzierenden Chemikalien erzeugen kann, welchen Sinn haben dann solche Fragen? Ist das nicht grausam? Sie fragen Demenzpatienten ja auch nicht, warum sie nicht mehr wissen, wo sie ihre Schlüssel gelassen haben. Wie können Sie mir so dumme Fragen stellen? Haben Sie nicht Medizin studiert?

Der Arzt hatte mir erklärt, es würde zwei Wochen dauern, bis sich die Wirkung des Medikaments einstellte, aber am Abend des Tages, an dem ich das Rezept eingelöst hatte, spürte ich, wie mich Wärme durchflutete – es war wie ein leichtes Beben, das bestimmt daher rührte, dass die Synapsen in meinem Gehirn stöhnend und ächzend in die richtige Konstellation fanden. Ich lag auf meinem Bett, hörte ein ausgeleiertes Mixtape und war mir sicher, dass ich lange Zeit nicht mehr weinen würde.

Ein paar Wochen später ging ich an die Uni. Mit meiner neuen chemischen Rüstung hatte ich keine Angst. Dort wurde ich zum Wanderprediger für Antidepressiva. Wenn Freunde traurig waren, bot ich ihnen an, eine meiner Pillen auszuprobieren, und riet ihnen, sich beim Arzt welche zu besorgen. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass ich nicht nur meine Depression abgelegt, sondern in einen noch besseren Zustand aufgestiegen war – ich nannte das »Antidepression«. Ich war, so sagte ich mir, ungewöhnlich belastbar und energiegeladen. Zwar machten sich einige körperliche Nebenwirkungen des Medikaments bemerkbar – ich nahm stark zu und bekam unverhofft Schweißausbrüche –, aber das war ein geringer Preis dafür, dass ich die Menschen in meiner Umgebung nicht mehr mit Traurigkeit überschwemmte. Und – siehe da! – ich konnte jetzt alles schaffen.

Nach ein paar Monaten bemerkte ich, dass es Augenblicke gab, in denen ganz unerwartet die Traurigkeit wieder aufwallte. Das war mir unerklärlich und erschien mir offenkundig irrational. Wieder suchte ich meinen Arzt auf, und wir waren uns einig, dass ich eine höhere Dosis brauchte. Also wurden meine zwanzig Milligramm pro Tag auf dreißig Milligramm aufgestockt; aus meinen weißen Pillen wurden blaue Pillen.

Und so ging es weiter bis zu meinem zwanzigsten und dann bis zu meinem dreißigsten Geburtstag. Ich predigte die Vorteile dieser Medikamente; nach einer Weile kehrte die Traurigkeit zurück; also erhielt ich eine höhere Dosis; aus dreißig Milligramm wurden vierzig, aus vierzig wurden fünfzig, bis ich schlussendlich jeden Tag zwei große blaue Pillen schluckte, das heißt sechzig Milligramm. Jedes Mal wurde ich dicker; jedes Mal schwitzte ich heftiger; jedes Mal wusste ich, es lohnt sich, diesen Preis zu zahlen.

Jedem, der es wissen wollte, sagte ich, Depressionen seien eine Krankheit des Gehirns und SSRIs könnten sie heilen. Als ich Journalist wurde, schrieb ich Artikel für Zeitungen, in denen ich diesen Sachverhalt geduldig der Öffentlichkeit erklärte. Die wiederkehrende Traurigkeit, die ich erlebte, schilderte ich als medizinischen Vorgang – offensichtlich gingen bestimmte Chemikalien in meinem Hirn zur Neige, was ich weder kontrollieren noch verstehen konnte. Gott sei Dank seien diese Medikamente erstaunlich wirksam, erklärte ich, und sie funktionierten. Schaut mich an. Ich bin der Beweis. Hin und wieder meldeten sich in meinem Kopf Zweifel an, die ich aber schnell zum Verstummen brachte, indem ich an diesem Tag ein, zwei Pillen zusätzlich schluckte.

Ich hatte meine Geschichte. Heute sehe ich, dass sie aus zwei Teilen bestand. Der erste handelt von den Ursachen der Depression: Sie ist eine Fehlfunktion im Gehirn, ausgelöst durch Serotoninmangel oder einen anderen Defekt in der mentalen Hardware. Im zweiten Teil geht es um die Auflösung der Depression: Medikamente, welche die Hirnchemie korrigieren.

Die Geschichte gefiel mir. Sie leuchtete mir ein. Sie gab mir Orientierung im Leben.

***

Mir war nur eine andere mögliche Erklärung für meine Gefühlslage bekannt. Sie stammte nicht von meinem Arzt, aber ich hatte Bücher darüber gelesen, und auch im Fernsehen wurde sie diskutiert. Sie besagte, Depressionen und Ängste seien genetisch bedingt. Ich wusste, dass meine Mutter vor meiner Geburt (und auch danach) unter Depressionen und starken Ängsten gelitten hatte und diese Probleme noch weiter in meiner Familie zurückreichten. Ich hatte den Eindruck, dass Parallelen zwischen beiden Geschichten existierten. Beide besagten: Es ist etwas Angeborenes, es sitzt quasi im Fleisch.

***

Mit der Arbeit an diesem Buch begann ich vor drei Jahren, weil mir verschiedene Fragen Rätsel aufgaben – seltsame Dinge, die sich mit den Geschichten, die ich so lange gepredigt hatte, nicht erklären ließen, und ich wollte Antworten finden.

Hier ist das erste Rätsel. Eines Tages, als ich diese Medikamente schon seit Jahren schluckte, saß ich in der Praxis meines Therapeuten und sprach darüber, wie dankbar ich sei, dass Antidepressiva existierten und dafür sorgten, dass es mir besser ging. »Das ist seltsam«, erwiderte er. »Weil ich das Gefühl habe, dass Sie immer noch ziemlich depressiv sind.« Ich war perplex. Wovon redete er? »Tja«, sagte er. »Sie sind sehr oft betrübt. Und für mich hört sich das nicht viel anders an als Ihre Beschreibung der Zeit, bevor Sie die Medikamente genommen haben.«4

Ich erklärte ihm geduldig, er verstehe das nicht: Depressionen würden durch einen niedrigen Serotoninspiegel verursacht, und mein Serotoninspiegel werde in die Höhe getrieben. Welche Ausbildung kriegen diese Therapeuten eigentlich, fragte ich mich.

Im Lauf der Jahre wies er immer wieder freundlich auf seine Beobachtung hin. Er machte mich darauf aufmerksam, mein Glaube, eine höhere Dosis des Medikaments löse mein Problem, stehe im Widerspruch zu den Tatsachen, weil ich immer noch sehr oft niedergeschlagen, depressiv und ängstlich sei. Halb ärgerlich, halb getrieben von kleinlicher Überheblichkeit schreckte ich zurück.

Es dauerte lange, bis ich endlich verstand, was er sagte. Mit Anfang dreißig erlebte ich eine Art negative Erleuchtung – das Gegenteil der Offenbarung viele Jahre zuvor am Strand von Barcelona. Ganz gleich, wie hoch ich die Dosis meiner Antidepressiva schraubte, die Traurigkeit behielt immer die Oberhand. Erst einmal stellte sich eine scheinbar chemisch bedingte Linderung ein, und dann kehrte dieses kribbelnde Gefühl des Unglücks zurück. Und wieder wurde ich von den ewig gleichen Gedanken geplagt, die besagten: Das Leben ist sinnlos. Alles, was du tust, ist sinnlos. Das alles ist eine verdammte Zeitverschwendung. Es war das monotone Hintergrundgeräusch nicht enden wollender Angst.

Das erste Rätsel, vor dem ich stand, war also: Wie konnte es sein, dass ich immer noch depressiv war, obwohl ich Antidepressiva nahm? Ich machte alles richtig, und doch lief etwas falsch. Warum?

***

In den letzten Jahrzehnten ist mit meiner Familie etwas Merkwürdiges passiert. Schon als kleines Kind bemerkte ich Fläschchen mit Pillen auf dem Küchentisch, versehen mit unentzifferbaren weißen Etiketten. Über die Medikamentensucht in meiner Familie habe ich früher schon geschrieben und auch von einer sehr frühen Kindheitserinnerung: dem vergeblichen Versuch, einen Familienangehörigen aufzuwecken. Aber damals war ich noch ganz klein, und es waren keine verbotenen Substanzen, die eine so wichtige Rolle in unserem Leben spielten – sie waren von Ärzten verschrieben worden: Antidepressiva und Beruhigungsmittel im alten Stil, wie Valium, chemische Optimierungen und Modifizierungen, die uns durch den Tag halfen.

Das war aber nicht das Merkwürdige, das uns passierte. Das Merkwürdige war, dass, als ich erwachsen wurde, die westliche Zivilisation mit meiner Familie gleichzog. Wenn ich als Kind bei Freunden zu Besuch war, fiel mir auf, dass in ihrer Familie niemand zum Frühstück, Mittag- oder Abendessen Pillen schluckte. Niemand war sediert oder aufgeputscht oder aufgehellt. Meine Familie war, das ging mir auf, ungewöhnlich.

Und dann bemerkte ich, während die Jahre ins Land zogen, dass die Pillen im Leben von immer mehr Menschen auftauchten, dass sie verschrieben, befürwortet, empfohlen wurden. Heute sind sie allgegenwärtig. Ungefähr einer von fünf erwachsenen Amerikanern nimmt wegen psychiatrischer Störungen mindestens ein Medikament;5 annähernd eine von vier Amerikanerinnen in mittleren Jahren schluckt Antidepressiva;6 gut jeder zehnte Junge an amerikanischen Highschools erhält ein starkes Aufputschmittel, damit er sich konzentrieren kann;7 und die Medikamenten- und Drogenabhängigkeit nimmt inzwischen solche Ausmaße an, dass die Lebenserwartung weißer Männer zum ersten Mal in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten während Friedenszeiten sinkt. Diese Erscheinungen greifen in der ganzen westlichen Welt um sich: Zum Beispiel nimmt derzeit einer von drei Franzosen legale Psychopharmaka, darunter Antidepressiva,8 und Großbritannien belegt europaweit, was den Gebrauch von Psychopharmaka betrifft, einen Spitzenplatz.9 Man entkommt ihnen nicht: Wenn Wissenschaftler das Trinkwasser westlicher Länder testen, finden sie stets Rückstände von Antidepressiva, weil so viele Menschen sie einnehmen und wieder ausscheiden, dass sie aus dem Wasser, das wir täglich trinken, nicht mehr herausgefiltert werden können.10 Wir werden buchstäblich mit diesen Medikamenten überschwemmt.

Was einst alarmierend schien, ist normal geworden. Ohne groß darüber zu sprechen, haben wir akzeptiert, dass sehr viele verzweifelte Menschen in unserem Umfeld glauben, sie würden täglich eine hochwirksame chemische Substanz benötigen, um nicht zusammenzubrechen.

Das zweite Rätsel, das mich beschäftigte, war demnach: Warum gibt es heute so viel mehr Menschen, die unter Depressionen und schweren Ängsten leiden? Was hat sich verändert?

***

Gerade in Deutschland, wo meine Eltern viele Jahre gelebt haben, wo mein Bruder zur Welt kam und ich bei den Recherchen für dieses Buch viel Zeit verbracht habe, nimmt die Krise ungezügelt ihren Lauf. In der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) belegt Deutschland nach dem kleinen Island den zweiten Platz in der Liste der Länder mit den meisten Fällen von Depression. 58,9 Prozent der Deutschen geben an, entweder sie selbst oder ein naher Verwandter oder Freund leide an Depressionen. Jeder dritte Notruf erfolgt wegen einer psychischen Krise, und Depression wird inzwischen als häufigster Grund für den vorzeitigen Ruhestand genannt. Zu jedem Zeitpunkt sind sechs Prozent der Männer und zehn Prozent der Frauen in Deutschland von Depressionen betroffen. Noch besorgniserregender ist, dass sich die Rate schwerer Depressionen in der Kindheit in nur acht Jahren verdreifacht hat.

Professor Dr. Tom Bschor von der Schlosspark-Klinik Berlin erklärt, dass Antidepressiva zu verschreiben »extrem verbreitet [ist] und weiter zunimmt. Seit Mitte der Neunzigerjahre haben sich die Verschreibungen verfünffacht. Das ist eine wirklich steile Steigerungsrate … Inzwischen werden pro Jahr rund 1,4 Milliarden Tagesdosen an Antidepressiva verschrieben. Teilt man das durch achtzig Millionen Deutsche, vom Neugeborenen bis zum Hochbetagten, dann bekommt jeder Deutsche pro Jahr einen halben Monat lang Antidepressiva verschrieben.« Bezogen auf die Gesamtbevölkerung »kann jeder Deutsche einen halben Monat lang eine volle Dosis Antidepressiva einnehmen.« Und selbst diese Zahlen, ergänzt er, seien zu niedrig angesetzt, weil sie weder die zehn Prozent der Privatversicherten noch die stationären Patienten berücksichtigen, die diese Medikamente erhalten.

Ich fragte Dr. Bschor, ob Depressive in Deutschland dieselbe Botschaft zu hören bekommen wie ich – ihr Leid sei nur auf einen chemischen Mangel im Gehirn des Patienten zurückzuführen. »Ich muss sagen: Ja, es ist absolut dasselbe. Natürlich kommt es auf den Arzt an, aber wir haben immer noch viele Patienten, die glauben: ›Ach, ich habe ein Serotonin-Defizit.‹« Das ist die meistverbreitete Erklärung, die den Deutschen für ihren tiefen Seelenschmerz angeboten wird.

Es handelt sich bereits um eine schwere Krise – allein der Produktivitätsverlust aufgrund von Depressionen und Ängsten beläuft sich auf fünfzehn bis einundzwanzig Milliarden Euro pro Jahr, knapp ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Aber die Trends besagen, es wird noch schlimmer kommen. Vieles deute darauf hin, dass es in Zukunft noch deutlich mehr psychisch kranke junge Menschen geben werde, sagt Barmer-Chef Professor Dr. Christoph Straub. »Gerade bei den angehenden Akademikern steigen Zeit- und Leistungsdruck kontinuierlich, hinzu kommen finanzielle Sorgen und Zukunftsängste.«

In Deutschland fand ich also überzeugende Beweise für die Krise, die in der westlichen Welt um sich greift – aber, wie Sie sehen werden, entdeckte ich mitten in Deutschland auch einen sich abzeichnenden Ausweg aus dieser Krise.

***

Mit einunddreißig Jahren fühlte ich mich erstmals seit meiner Teenagerzeit chemisch nackt.11 Fast ein Jahrzehnt lang hatte ich die freundlichen Hinweise meines Therapeuten ignoriert, ich sei trotz meiner Medikamente immer noch depressiv. Erst nach einer Lebenskrise – als ich mich eindeutig elend fühlte und sich dieses Gefühl nicht abschütteln ließ – beschloss ich, auf ihn zu hören. Mein langer Selbstversuch war, wie es schien, gescheitert. Und als ich meine letzten Packungen Paroxetin wegwarf, stellte ich fest, dass diese Rätsel auf mich warteten wie Kinder auf dem Bahnsteig, die abgeholt werden wollen und nach mir Ausschau halten. Warum war ich immer noch depressiv? Warum ging es so vielen Leuten wie mir?

Da ging mir auf, dass noch ein drittes Rätsel über allem schwebte. Konnte es sein, dass etwas anderes – und nicht die Chemie in meinem Hirn – Depressionen und Ängste bei mir und so vielen anderen Menschen auslöste? Und wenn ja, was konnte es sein?

Doch ich schob es weiterhin auf, mich damit zu beschäftigen. Sobald man sich eine Geschichte über den eigenen Schmerz zurechtgelegt hat, zieht man sie nur ungern in Zweifel. Sie war wie eine Leine, die ich meiner Verzweiflung angelegt hatte, um sie unter Kontrolle zu halten. Ich fürchtete, wenn ich an der Geschichte herumpfuschte, mit der ich nun schon so lange lebte, würde der Schmerz wie ein von der Kette gelassenes Tier über mich herfallen.

In den nächsten Jahren kristallisierte sich ein Muster heraus. Ich fing an zu recherchieren12 – ich las Abhandlungen und sprach mit einigen der Wissenschaftler, die sie geschrieben hatten –, aber dann machte ich einen Rückzieher, weil mir das, was sie sagten, die Orientierung nahm und noch mehr Ängste auslöste, als mich vorher schon geplagt hatten. Also konzentrierte ich mich stattdessen auf die Arbeit an einem anderen Buch – Drogen: Die Geschichte eines langen Krieges. Es klingt absurd, aber es fiel mir leichter, Auftragskiller des mexikanischen Drogenkartells zu interviewen, als mich mit den Ursachen von Depressionen und Ängsten zu beschäftigen, aber an der Geschichte über meine Emotionen herumzubasteln – was ich empfand und warum ich es empfand – schien mir gefährlicher als das.

Letztlich kam ich zu dem Schluss, dass ich das Rätsel nicht länger ignorieren konnte, und machte mich auf die Reise. In den nächsten drei Jahren legte ich über sechzigtausend Kilometer zurück und führte in aller Welt mehr als zweihundert Interviews, mit einigen weltweit führenden Sozialwissenschaftlern, mit Menschen, die Abgründe der Depression und Angst durchlebt hatten, und mit Menschen, die wieder gesund geworden waren. Ich gelangte an Orte, auf die ich beim Start der Reise nie gekommen wäre – ein Amischendorf in Indiana, ein Wohnprojekt in Berlin, das eine Rebellion anzettelte, eine brasilianische Stadt, die Werbung verboten hatte, ein Labor in Baltimore, das Menschen auf völlig unerwartete Weise ihre Traumata noch einmal durchleben ließ. Was ich dabei lernte, zwang mich, meine Geschichte gründlich umzuschreiben – über mich und über die Verzweiflung, die sich wie Pech über unsere Kultur ausbreitet.

***

Auch möchte ich gleich zu Beginn auf zwei Dinge aufmerksam machen, die sich auf meinen Sprachgebrauch in diesem Buch auswirken. Beide waren überraschend für mich.

Mein Arzt hatte mir erklärt, ich litte sowohl unter Depressionen als auch unter akuter Angst. Ich hatte geglaubt, das seien zwei eigenständige Probleme, und so wurden sie auch in den dreizehn Jahren erörtert, in denen ich mich deshalb in medizinischer Behandlung befand. Aber bei meinen Recherchen fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Alles, was Depressionen fördert, fördert auch Ängste, und umgekehrt. Sie nehmen gemeinsam zu und ab.

Das kam mir seltsam vor, und ich verstand es erst, als ich in Kanada mit dem Psychologie-Professor Robert Kohlenberg sprach. Auch er hatte einst angenommen, Depressionen und Ängste seien klar unterscheidbar. Aber in seiner mittlerweile zwanzigjährigen Forschungsarbeit entdeckte er: »Die Daten deuten darauf hin, dass sie nicht zu unterscheiden sind.« In der Praxis »überschneiden sich die Diagnosen, insbesondere für Depressionen und Ängste«. Manchmal ist das eine ausgeprägter als das andere – in einem Monat leidet man unter Panikattacken und im nächsten weint man sehr viel. Aber die Vorstellung, beides sei unterscheidbar, so wie sich zum Beispiel eine Lungenentzündung von einem gebrochenen Bein unterscheidet, lässt sich nicht belegen. Kohlenberg hat bewiesen, dass beides »durcheinander« geht.

Robert Kohlenbergs Standpunkt in der Frage hat sich in der wissenschaftlichen Debatte durchgesetzt. In den letzten Jahren haben die National Institutes of Health – die wichtigste Einrichtung, die medizinische Forschung in den Vereinigten Staaten finanziert – keine Studien mehr gefördert, die Depressionen und Ängste als zwei verschiedene Diagnosen auffassen.13 »Sie wollen etwas Realistischeres, etwas, das dem entspricht, wie Menschen in der klinischen Praxis tatsächlich sind«, erklärt er.

Für mich sind Depressionen und Ängste inzwischen wie Cover-Versionen desselben Songs durch verschiedene Bands. Die Depression ist die Version einer pessimistischen Emo-Band und Angst die Version einer kreischenden Heavy-Metal-Gruppe, aber die zugrunde liegende Partitur ist dieselbe. Sie sind nicht identisch, aber Zwillinge.14

***

Die zweite Geschichte geht auf etwas zurück, was ich ebenfalls lernte, als ich die neun Ursachen für Depressionen und Ängste studierte. Immer wenn ich in der Vergangenheit über Depressionen und Ängste schrieb, erklärte ich zunächst Folgendes: Ich spreche hier nicht über Unglücklichsein. Unglücklichsein und Depressionen sind zwei grundverschiedene Dinge. Nichts ist für depressive Menschen so ärgerlich, wie wenn man versucht, sie aufzuheitern, oder ihnen lustige kleine Lösungen anbietet, als hätten sie einfach eine schlechte Woche. Da fühlt man sich, als würde einem jemand erzählen, dass Tanzen die Stimmung hebt, obwohl man zwei gebrochene Beine hat.

Aber als ich mich mit dem Stand der Forschung beschäftigte, bemerkte ich etwas, das sich nicht ignorieren ließ.

Die Kräfte, die bei einigen von uns Depressionen und schwere Ängste auslösen, machen zugleich sogar noch mehr Menschen unglücklich. Es stellt sich heraus, dass der Übergang zwischen Unglücklichsein und Depression fließend ist. Beide Zustände unterscheiden sich zwar erheblich – so wie es etwas anderes ist, ob man bei einem Autounfall einen Finger oder einen Arm verliert oder ob man auf der Straße oder von einer Klippe stürzt. Aber sie haben miteinander zu tun. Depressionen und Ängste, so sollte ich erfahren, sind nur die schärfsten unter all den Speeren, die auf fast alle Menschen in unserer Kultur geschleudert werden. Deshalb werden auch Menschen, die weder an Depressionen noch an schweren Ängsten leiden, vieles wiedererkennen, was ich beschreibe.

***

Wenn Sie dieses Buch lesen, bitte schlagen Sie die wissenschaftlichen Studien nach, auf die ich in den Endnoten verweise, und versuchen Sie, diese Abhandlungen mit derselben Skepsis zu lesen, wie ich es getan habe. Prüfen Sie die Befunde auf Herz und Nieren und sehen Sie, ob sie standhalten. Für uns alle steht zu viel auf dem Spiel, um hier etwas falsch zu verstehen. Denn ich bin inzwischen zu einer Einschätzung gelangt, die mich am Anfang meiner Reise schockiert hätte.

Wir werden über das Wesen von Depressionen und Ängsten systematisch falsch informiert.

Ich hatte den beiden Geschichten über die Depression in meinem Leben Glauben geschenkt. In den ersten achtzehn Jahren meines Lebens hatte ich gedacht, alles sei »in meinem Kopf«, das heißt, es sei nicht real, eingebildet, eine Täuschung, zu große Nachgiebigkeit mir selbst gegenüber, eine Peinlichkeit, eine Schwäche. In den folgenden dreizehn Jahren glaubte ich immer noch, alles sei »in meinem Kopf«, nur anders – es sei auf eine Fehlfunktion des Gehirns zurückzuführen.

Aber ich sollte herausfinden, dass keine der beiden Geschichten zutraf. Die Hauptursache für die Zunahme von Depressionen und Ängsten liegt nicht in unserem Kopf. Sie liegt, wie ich festgestellt habe, weitgehend in der Welt und in unserer Lebensweise begründet. Es gibt mindestens neun erwiesene Ursachen für Depressionen und Ängste (obwohl sie noch niemand in dieser Form zusammengestellt hat), und viele von ihnen verbreiten sich immer weiter – was dazu führt, dass wir uns noch sehr viel schlechter fühlen.

Für mich war das keine leichte Reise. Wie Sie sehen werden, habe ich mich lange an meine alte Geschichte von der Depression, die durch mein kaputtes Gehirn verursacht wird, geklammert. Ich habe um sie gekämpft und mich lange Zeit geweigert, die Gegenbeweise zur Kenntnis zu nehmen, die mir vorgelegt wurden. Das war kein behagliches Hinübergleiten in ein anderes Denken. Es war ein Kampf.15

Wenn wir aber an den Fehlern festhalten, die wir so lange begangen haben, werden wir in diesen Zuständen gefangen bleiben, und sie werden weiter um sich greifen. Ich weiß, anfangs kann es beängstigend wirken, Abhandlungen über die Wurzeln von Depressionen und Ängsten zu lesen, weil sie so tief in unsere Kultur hineinreichen. Für mich war es jedenfalls einschüchternd. Aber während meiner Reise wurde mir klar, was mich auf der anderen Seite erwartete: echte Lösungen und Auswege.

Als ich endlich verstand, was passierte – mit mir und so vielen Menschen wie mir –, erfuhr ich, dass es echte Antidepressiva gibt, die auf uns warten. Sie haben keine Ähnlichkeit mit den chemischen Substanzen, die vielen von uns schlechte Dienste geleistet haben. Man kann sie nicht kaufen oder schlucken. Aber sie könnten am Anfang eines Weges stehen, der uns wirklich von unserem Schmerz befreit.

Kapitel 1
Der Zauberstab

Dr. John Haygarth war ratlos. In der englischen Stadt Bath – und an diversen Orten in der ganzen westlichen Welt – geschah etwas Außerordentliches: Menschen, die jahrelang der Schmerz gelähmt hatte, erhoben sich von ihrem Krankenbett und konnten wieder laufen. Ob sie nun an Rheumatismus oder den Folgen harter Arbeit litten – es hieß, sie dürften wieder Hoffnung schöpfen. Hoffnung auf Besserung. So etwas war noch nie da gewesen.

Haygarth wusste, dass eine Gesellschaft, gegründet von dem Amerikaner Elisha Perkins aus Connecticut, vor Jahren angekündigt hatte, man habe ein Heilmittel für Schmerzen aller Art gefunden – und es gab nur eine Möglichkeit, es zu erlangen: Man musste für den Einsatz eines massiven Metallstabs bezahlen, den die Gesellschaft hatte patentieren lassen und als »Tractor« bezeichnete. Er habe besondere Eigenschaften, die die Firma leider nicht preisgeben könne, weil sonst Konkurrenten den Tractor kopieren und sie um den Gewinn bringen würden. Wer jedoch die Heilkräfte des Tractors brauche, würde von einer dafür geschulten Person zu Hause oder im Krankenhaus besucht, worauf man dem Kranken feierlich erklärte, der Tractor würde – so wie ein Blitzableiter die Blitze – die Krankheit aus dem Körper ziehen und sie in die Luft austreiben. Anschließend fuhr die geschulte Person mit dem Tractor über den Körper des Patienten, ohne ihn auch nur zu berühren.

Sie werden ein Hitzegefühl verspüren, vielleicht sogar ein Brennen, hieß es. Und dabei wird der Schmerz kontinuierlich abgezogen. Können Sie es nicht fühlen?

Sobald diese Prozedur durchgeführt war, zeigte sich der Erfolg. Viele zuvor von Schmerz gepeinigte Menschen standen tatsächlich auf. Ihr Leiden ließ wirklich nach. Zahlreiche scheinbar hoffnungslose Fälle wurden wieder mobil – erst einmal.

Dr. John Haygarth konnte sich nicht erklären, wie das möglich war. Nach allem, was er in seiner medizinischen Ausbildung gelernt hatte, war die Behauptung, Schmerz sei eine körperlose Energie, die einfach in die Luft ausgetrieben werden könne, blanker Unsinn. Aber hier gab es Patienten, die ihm versicherten, dass es funktionierte. Nur ein Narr, so schien es, konnte die Wirksamkeit des Tractors noch anzweifeln.

Also beschloss John Haygarth, ein Experiment durchzuführen. Im General Hospital der Stadt Bath nahm er einen Holzstab und umkleidete ihn mit einem alten Stück Metall. So bastelte er sich einen »Fake-Tractor«, dem die geheimen Eigenschaften der offiziellen Version fehlten. Er ging damit zu fünf Patienten in seiner Abteilung, die durch chronische Schmerzen, darunter Rheumatismus, stark beeinträchtigt waren, und erklärte ihnen, er habe einen der inzwischen berühmten Perkins-Zauberstäbe dabei und könne ihnen damit helfen. Am 7. Januar 1799 behandelte er im Beisein von fünf angesehenen Ärzten, die als Zeugen fungierten, die Leidenden mit dem vermeintlichen Zauberstab. Von den fünfen, wie er wenig später notierte, »glaubten vier der Patienten, eine sofortige und drei eine erhebliche Linderung durch den falschen Tractor zu verspüren«. Ein Mann, der unter unerträglichen Schmerzen im Knie gelitten hatte, begann ohne Hilfe zu gehen – und demonstrierte dies den Ärzten voller Freude.

Haygarth schrieb einem Freund, einem anerkannten Arzt in Bristol, und bat ihn, dieses Experiment ebenfalls durchzuführen. Kurze Zeit später meldete sein Freund, erstaunlicherweise habe sein unechter Tractor – ebenfalls ein mit Metall umkleideter Stock – dieselben bemerkenswerten Ergebnisse hervorgebracht. Zum Beispiel gab es einen dreiundvierzigjährigen Patienten namens Robert Thomas, der so starke rheumatische Schmerzen in der Schulter hatte, dass er seine Hand seit Jahren nur noch auf dem Knie ruhen lassen konnte – als sei sie dort festgenagelt. Aber nur vier Minuten nach der Behandlung mit dem Zauberstab hob er die Hand um gut zehn Zentimeter an. Da an den nächsten Tagen immer wieder der Stab über ihm geschwungen wurde, dauerte es nicht lange und er konnte bereits den Kaminsims erreichen. Nach acht Tagen der Behandlung konnte er ein Holzbrett berühren, das sich dreißig Zentimeter oberhalb des Kaminsimses befand.

So geschah es mit einem Patienten nach dem anderen. Und die Ärzte fragten sich: Konnte es sein, dass einem Stock Kräfte innewohnten, von denen man zuvor nichts gewusst hatte? Um dies herauszufinden, variierten sie das Experiment, indem sie einen alten Knochen in Metall hüllten. Dieser funktionierte ebenso gut. Auch eine alte Tabakpfeife wurde mit Metall umkleidet. »Mit demselben Erfolg«, notierte Haygarth trocken. »Niemals war ich Zeuge einer kurioseren Farce; wir wagten kaum, einander in die Augen zu sehen«, schrieb ihm ein anderer Arzt, der das Experiment wiederholt hatte. Die Patienten hingegen schauten die Ärzte an und sagten mit Inbrunst: »Gott segne Sie, Sir.«

Rätselhaft war allerdings, dass bei einigen Patienten der Effekt nicht anhielt. Nach dem anfänglichen Wunder stellte sich die Lähmung wieder ein.

Was ging da nur vor sich?1

***

Als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann, beschäftigte ich mich ausgiebig mit der wissenschaftlichen Debatte über Antidepressiva, die seit mehr als zwei Jahrzehnten in den medizinischen Fachzeitschriften geführt wird. Überrascht stellte ich fest, dass offenbar niemand ganz genau weiß, was diese Medikamente mit uns machen und warum – einschließlich der Wissenschaftler, die sich lautstark für sie einsetzen. Es herrscht große Uneinigkeit unter den Experten und keineswegs Konsens. Aber ein Mann wurde, wie ich sah, in dieser Debatte häufiger zitiert als jeder andere – und als ich mich über seine Erkenntnisse informierte, seine Fachaufsätze und sein Buch The Emperor’s New Drugs las, stellten sich bei mir zweierlei Reaktionen ein.

Zuerst spöttelte ich; seine Behauptungen schienen absurd und widersprachen meiner eigenen unmittelbaren Erfahrung in vielerlei Hinsicht. Und dann wurde ich wütend. Er schien die Säulen umzustoßen, auf denen meine Version der Geschichte stand. Er bedrohte, was ich über mich und meine Depression wusste. Sein Name war Professor Irving Kirsch, und als ich ihn in Massachusetts aufsuchte, war er stellvertretender Direktor eines maßgeblichen Programms an der Harvard Medical School.

***

In den Neunzigerjahren hatte Kirsch in seinem mit Bücherregalen gefüllten Büro gesessen und seinen Patienten erklärt, sie sollten Antidepressiva nehmen.2 Er ist ein großer, grauhaariger Mann mit einer sanften Stimme, und ich kann mir vorstellen, mit welcher Erleichterung sie diese Empfehlung aufnahmen. Manchmal, so fiel ihm auf, wirkten die Medikamente und dann wieder nicht, aber er zweifelte nicht an der Erklärung für ihre Erfolge: Depressionen wurden durch einen niedrigen Serotoninspiegel ausgelöst, und diese Medikamente hoben ihn an. Also schrieb er Bücher, in denen er die neuen Antidepressiva als gute, wirksame Behandlung darstellte, die durch Psychotherapie ergänzt werden sollte, um zugleich bestehende psychologische Probleme zu behandeln. Kirsch glaubte den Forschern, die ihre umfangreichen Ergebnisse publiziert hatten, und er sah mit eigenen Augen die positiven Auswirkungen, wenn es seinen Patienten nach einiger Zeit besser ging.

Aber Kirsch war zugleich ein weltweit hoch angesehener Experte auf einem Gebiet, das in Bath begründet wurde, als John Haygarth erstmals seinen falschen Zauberstab schwang. Damals hatte der englische Arzt erkannt, dass ein Patient bei einer Behandlung mit Medikamenten eigentlich zweierlei bekommt. Zum einen erhält er eine Arznei, die in der Regel irgendeine chemische Wirkung auf den Körper zeigt. Zum anderen bekommt er eine Geschichte, die schildert, wie sich die Behandlung auf ihn auswirken wird.

So erstaunlich es scheinen mochte, Haygarth erkannte, dass die Geschichte, die man dem Patienten präsentiert, oft genauso wichtig ist wie das Medikament selbst. Woher wissen wir das? Weil die Patienten, die nichts außer einer Geschichte erhalten – zum Beispiel, dass dieser alte, mit Metall ummantelte Knochen ihre Schmerzen heilen wird –, außerordentlich häufig beschwerdefrei werden.

Dieses Phänomen wurde als Placeboeffekt bekannt, und in den letzten zweihundert Jahren hat man seine Existenz mit umfangreichen wissenschaftlichen Belegen bewiesen. Mediziner wie Irving Kirsch haben bemerkenswerte Auswirkungen von Placebos beobachtet. Sie beeinflussen nicht nur, wie wir uns fühlen – unter Umständen haben sie sogar körperliche Auswirkungen. So kann ein Placebo dafür sorgen, dass eine Entzündung im Kiefer abheilt. Oder ein Magengeschwür kurieren.3 Wenigstens ansatzweise und bis zu einem gewissen Grad kann es die meisten medizinischen Leiden mildern. Wenn wir damit rechnen, dass es wirkt, dann wird es vielen von uns helfen.

Wissenschaftler stoßen seit Jahren immer wieder auf den Placeboeffekt. Dabei geraten sie oft ins Staunen. Ein Beispiel: Als die Alliierten im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis kämpften, gab es so viele Verwundete mit schwersten Verletzungen, dass den Sanitätern häufig die opiathaltigen Schmerzmittel ausgingen. Henry Beecher, ein amerikanischer Anästhesist, der an der Front stationiert war, befürchtete, dass die Soldaten an Herzversagen sterben würden, wenn er sie ohne Betäubung operierte. Weil er sich keinen Rat mehr wusste, führte er ein Experiment durch. Er versicherte den Männern, sie erhielten Morphium, obwohl er ihnen in Wirklichkeit nur eine Salzwasserinfusion verabreichte. Sie schrien nicht, sie heulten nicht, und sie erlitten auch keinen Schock.4 Es funktionierte.

Mitte der Neunzigerjahre war Irving Kirsch der weltweit führende Experte auf diesem Gebiet, und er war im Begriff, in Harvard eine leitende Stellung in einem Forschungsprogramm zum Placeboeffekt anzutreten. Allerdings glaubte er, dass die neuen Antidepressiva tatsächlich besser waren als Placebos – dass sie eine echte chemische Wirkung zeigten, und dies aus einem einfachen Grund. Wenn man ein Medikament in den Handel bringen will, muss man ein strenges Verfahren durchlaufen. Das Medikament wird an zwei Gruppen getestet: Die eine bekommt den echten Wirkstoff, die andere eine Zuckerpille (oder ein anderes Placebo). Dann vergleichen die Wissenschaftler die beiden Gruppen. Das Medikament erhält erst dann eine Zulassung, wenn es deutlich besser abschneidet als das Placebo.

Als nun einer seiner Doktoranden – ein junger Israeli namens Guy Sapirstein – mit einem Vorschlag auf ihn zukam, war Kirsch zwar interessiert, aber nicht in heller Aufregung. Sapirstein erklärte, ihn treibe die Neugier um. Wenn man ein Medikament nimmt, gibt es neben der chemischen Wirkung immer auch einen gewissen Placeboeffekt. Aber in welchem Maße ist er an der Wirkung beteiligt? Bei starken Medikamenten geht man in der Regel davon aus, er sei nur geringfügig. Sapirstein meinte, die neuen Antidepressiva eigneten sich sehr gut dazu, die genauen Verhältnisse zu erforschen – und zu sehen, inwieweit die Wirksamkeit eines Medikaments auf unseren Glauben zurückzuführen ist. Sie gingen davon aus, bei ihren Studien festzustellen, dass der Großteil der Wirkung chemisch bedingt sei, fanden es jedoch auch interessant, den geringfügigeren Placeboeffekt zu untersuchen.

Daraufhin entwickelten sie ein recht einfaches Konzept. Will man wissen, welcher Anteil der Wirkung eines Medikaments, das man einnimmt, durch die darin enthaltenen Chemikalien und welcher Anteil durch den Glauben an seine Wirkung erzeugt wird, lässt sich dies ziemlich leicht feststellen. Die Forscher müssen dazu eine spezielle wissenschaftliche Studie durchführen. Die Teilnehmer werden in drei Gruppen aufgeteilt. Den Patienten der ersten Gruppe sagt man, sie erhielten ein chemisches Antidepressivum – aber in Wirklichkeit bekommen sie ein Placebo: eine Zuckerpille, so wirksam wie John Haygarths Zauberstab. Die Teilnehmer der zweiten Gruppe erfahren, dass sie ein chemisches Antidepressivum erhalten – und erhalten es tatsächlich. Und die dritte Gruppe bekommt gar nichts – kein Medikament und keine Zuckerpille, das Befinden der Teilnehmer wird lediglich über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet.5

Die dritte Gruppe, so Kirsch, ist wirklich wichtig – obwohl sie bei fast allen Studien weggelassen wird. »Stellen Sie sich vor«, erklärt er, »dass Sie ein neues Mittel gegen Erkältung erforschen.« Dabei erhalten die Leute entweder ein Placebo oder ein Medikament. Im Lauf der Zeit erholen sich alle. Die Erfolgsrate ist erstaunlich. Aber dann erinnert man sich, dass eine Erkältung bei vielen Menschen ohnehin nach ein paar Tagen abklingt. Wenn man das nicht berücksichtigt, erhält man einen völlig irreführenden Eindruck über die Wirksamkeit des Mittels, denn es scheint, als seien Patienten durch das Medikament geheilt worden, während sie einfach von selbst wieder gesund wurden. Man braucht die dritte Gruppe, um den Anteil jener Menschen herauszufinden, die sich ohne Hilfe von außen erholen.

Also verglichen Kirsch und Sapirstein die Ergebnisse aller bisher veröffentlichten Studien zu Antidepressiva für diese drei Gruppen. Um die chemische Wirkung eines Medikaments zu ermitteln, sollte man zweierlei tun. Erstens muss man alle Menschen abziehen, die sich ohnehin erholt hätten. Dann zieht man all jene ab, deren Befinden sich nach Einnahme des Placebos besserte. Was übrig bleibt, verrät die tatsächliche Wirksamkeit des Medikaments.

Als die beiden Forscher anschließend die Zahlen aus allen öffentlich zugänglichen wissenschaftlichen Studien zusammenzählten, erhielten sie ein verblüffendes Ergebnis.

Es zeigte sich, dass fünfundzwanzig Prozent der Wirkung von Antidepressiva auf natürliche Selbstheilung zurückzuführen waren, fünfzig Prozent wurden durch die Geschichte bewirkt, die man zu hören bekam, und nur fünfundzwanzig Prozent gingen auf die chemischen Inhaltsstoffe zurück.6 »Das hat mich verdammt überrascht«, erklärte mir Kirsch im Wohnzimmer seines Hauses in Cambridge. Sie nahmen an, es sei ihnen ein Fehler unterlaufen oder sie hätten sich verrechnet. Wie Sapirstein mir später berichtete, war er sicher, dass »mit den Daten etwas nicht stimmte«. Deshalb gingen sie die Zahlen monatelang immer wieder durch. »Ich war es so leid, diese Daten und Tabellenkalkulationen anzusehen und sie auf jede erdenkliche Weise zu prüfen«, sagte er. Aber irgendwo musste der Fehler ja stecken. Doch da Sapirstein und Kirsch keine Mängel fanden, veröffentlichten sie ihre Daten und warteten ab, was andere Wissenschaftler davon hielten.

Die Folge war, dass Kirsch eines Tages eine E-Mail erhielt, aus der er schloss, dass sie möglicherweise nur an der Oberfläche eines viel tiefer greifenden Skandals gekratzt hatten. Das war, denke ich, der Augenblick, in dem Kirsch zum Sherlock Holmes der Antidepressiva wurde.

***

In der E-Mail erklärte ein Wissenschaftler namens Thomas J. Moore, Kirschs Ergebnisse hätten ihn aufgerüttelt und er glaube, es gebe eine Möglichkeit, die Forschung weiter voranzutreiben – und den tatsächlichen Vorgängen auf den Grund zu gehen. Fast alle von Kirsch bisher herangezogenen wissenschaftlichen Studien hatten einen Haken. Die große Mehrzahl der Studien über die Wirksamkeit von Medikamenten wird von den großen Pharmaunternehmen finanziert, und sie beschäftigen sich aus einem bestimmten Grund damit: Sie wollen die betreffenden Mittel vermarkten, um Gewinne zu erzielen. Deshalb führen die Medikamentenhersteller ihre Studien heimlich durch und veröffentlichen anschließend nur jene Ergebnisse, die ihr Medikament gut oder das Produkt ihrer Konkurrenten schlecht aussehen lassen. Das tun sie aus demselben Grund, warum die Betreiber eines Hähnchengrills Informationen zurückhalten würden, die besagen, dass Brathähnchen Ihrer Gesundheit schaden.

Das bezeichnet man als »Publikationsverzerrung«.7 Von allen Studien, die Pharmafirmen durchführen, werden vierzig Prozent niemals veröffentlicht, und viele weitere erscheinen nur in gekürzter Form, wobei negative Ergebnisse der Schere des Zensors zum Opfer fallen.

Die E-Mail seines Kollegen machte Kirsch darauf aufmerksam, dass er bisher nur jene Teile der wissenschaftlichen Studien betrachtet hatte, die für unsere Augen bestimmt sind. Aber Thomas J. Moore meinte, es gebe eine Möglichkeit, Zugang zu all den Daten zu bekommen, die uns die Pharmafirmen vorenthalten. Und das geht so: Wer auf dem US-Markt ein Medikament verkaufen möchte, muss bei der Food and Drug Administration (FDA), der zuständigen Behörde für Lebens- und Arzneimittel, einen Antrag stellen. Dabei sind alle Tests, die das Unternehmen durchgeführt hat, vollständig vorzulegen – ob sie nun umsatzfördernd sind oder nicht. Das ist, als würden Sie Selfies machen und von den zwanzig Aufnahmen neunzehn aussortieren, die Sie mit Doppelkinn oder triefäugig zeigen. Auf Facebook oder Instagram posten Sie nur das eine Foto, auf dem Sie großartig aussehen (oder, in meinem Fall, weniger scheußlich). Aber die Pharmafirmen sind – per Gesetz – verpflichtet, der FDA quasi alle Selfies zu schicken, auch die, auf denen sie alt aussehen.

Wenn man aber über den Freedom of Information Act (das Gesetz zur Informationsfreiheit) einen Antrag stellt, so hieß es in der E-Mail, dürfe man Einsicht in die kompletten Unterlagen nehmen. Dann ließe sich herausfinden, was wirklich los ist.

Gemeinsam mit Moore forderte Kirsch daraufhin die Unterlagen an, die Pharmafirmen für die sechs in den Vereinigten Staaten meistverwendeten Antidepressiva eingereicht hatten: Fluctin (Fluoxetin), Paroxetin (das Medikament, das ich genommen hatte), Zoloft (Sertralin), Trevilor retard (Venlafaxin), Dutonin (Nefazodon) und Citalopram.8 Mehrere Monate später erhielten sie die Daten, und Kirsch nahm sie gründlich unter die Lupe.

Gleich zu Anfang sah er, dass die Pharmafirmen bereits seit Jahren nur eine Auswahl ihrer Forschungsergebnisse publiziert hatten, dies allerdings in weit größerem Umfang als von ihm erwartet. So hatten bei einem Test beispielsweise zweihundertfünfundvierzig Probanden Prozac (Fluctin) bekommen, doch nur für siebenundzwanzig von ihnen waren von dem Unternehmen die Ergebnisse veröffentlicht worden.9 Diese siebenundzwanzig Patienten waren jene, für die das Medikament zu wirken schien. Das war ein Teil des Musters.

Kirsch und Sapirstein erkannten, dass sie mithilfe dieser realen Zahlen berechnen konnten, um wie viel besser es Menschen mit Antidepressiva ging als jenen, die Zuckerpillen schluckten. Forscher ermitteln die Schwere einer Depression anhand der Hamilton-Skala, entworfen 1959 von dem Psychiater Max Hamilton. Die Hamilton-Skala reicht von null (man hüpft fröhlich herum) bis einundfünfzig (man ist im Begriff, sich vor den Zug zu werfen). Ein Anhaltspunkt: Sie verbessern Ihren Hamilton-Wert um sechs Punkte, wenn Ihre Schlafstörungen nachlassen.

Anhand der realen Daten, die nicht durch den PR-Filter gegangen waren, stellte Kirsch fest, dass Antidepressiva tatsächlich die Position auf der Hamilton-Skala verbessern – sie erreichen, dass Depressive aufleben. Das Plus liegt bei 1,8 Punkten.

Kirsch staunte. Das war nur ein Drittel der Punktzahl, die man durch besseren Schlaf erzielt. Das war erschreckend. Wenn es stimmte, dann hieß es, dass die Medikamente eine überraschend geringe Wirkung zeigten, jedenfalls für den Durchschnittskonsumenten, der sich so wie John Haygarths Patienten damals in Bath dank der Geschichte für eine Weile besser fühlte, dann aber einen Rückfall erlitt, weil sich das zugrunde liegende Problem wieder bemerkbar machte.

Aber die Daten zeigten noch etwas anderes. Die Nebenwirkungen der Medikamente waren durchaus real. Bei vielen Patienten führten sie zu Gewichtszunahme, sexuellen Funktionsstörungen oder Schweißausbrüchen. Schließlich handelt es sich um echte Medikamente mit realen Wirkstoffen. Betrachtet man hingegen ihre vermeintlichen Auswirkungen auf Depressionen und Ängste, bieten sie für die meisten Menschen höchstwahrscheinlich keine Lösung ihres Problems.

Kirsch wollte das nicht wahrhaben. Es widersprach den Arbeiten, die er selbst veröffentlicht hatte, aber er erklärte mir: »Ich bin stolz darauf, dass ich die Daten prüfe und mir erlaube, meine Meinung zu ändern, wenn sie anders aussehen als erwartet.« Er hatte diese Medikamente Patienten empfohlen, als er nur auf die handverlesenen Studien der Pharmafirmen zurückgreifen konnte. Jetzt lagen ihm ungeschönte Ergebnisse vor, und ihm wurde klar, dass er so nicht weitermachen konnte.

***

Als Irving Kirsch seine Zahlen in einer Fachzeitschrift veröffentlichte, rechnete er mit großem Widerstand vonseiten der Forscher, die an all diesen Studien beteiligt gewesen waren. Tatsächlich aber stellte er in den folgenden Monaten fest, dass sich viele von ihnen – wenn sie denn überhaupt reagierten – beschämt und erleichtert zeigten. Eine Forschergruppe schrieb, auf ihrem Gebiet sei es lange Zeit ein »schmutziges kleines Geheimnis« gewesen, dass die Wirksamkeit dieser Medikamente bei Depressionen in Wirklichkeit sehr gering sei.10 Bevor sein Aufsatz erschien, dachte Irving Kirsch, er habe mit der Aufdeckung erschreckender und bisher unbekannter Fakten einen Knüller gelandet. Doch im Grunde hatte er nur aufgedeckt, was viele Fachleute insgeheim bereits wussten.

***

In Deutschland machten Ärzte dieselbe Entdeckung. Dr. Tom Bschor erklärte mir, er habe – nachdem er jahrelang Antidepressiva verschrieben hatte – mit der Lektüre dieser Studien begonnen. »Je mehr ich mich in die Studien über Antidepressiva – oder die Daten zu Antidepressiva – vertiefte, desto größer wurden meine Zweifel … Die Studien, die Wirksamkeit nachweisen, sind nicht wirklich überzeugend und umfassen zahlreiche Patienten, die nicht reagieren.« Der Unterschied zwischen Placebo und Antidepressiva ist nicht gleich null, aber Bschor stellte fest, dass er »ziemlich gering ist«.

Mit der Folge, so Bschor, dass die »Psychiater in Deutschland geteilter Meinung sind. Es gibt eine wachsende Minderheit mit einer kritischen Haltung zu Antidepressiva«. Nur wenige Ärzte glauben, die Medikamente hätten gar keinen Einfluss oder sie würden niemandem helfen – aber immer mehr meinen, ihr Nutzen und die Versprechungen, sie würden für die meisten Menschen das Problem lösen, seien gewaltig übertrieben gewesen.

***

Einige Zeit nachdem die Presse ausgiebig über die Enthüllungen berichtet hatte, besuchte Guy Sapirstein, der Doktorand, der quasi als Dr. Watson die Detektivarbeit seines Professors unterstützt hatte, eine Familienfeier. Dort sprach ihn eine Verwandte an, die seit Jahren Antidepressiva einnahm. Unter Tränen erklärte sie ihm, sie habe den Eindruck, er würde alles, was sie unter dem Einfluss von Antidepressiva erlebt habe – ihre tiefsten Gefühle –, als unecht abtun.

»Das will ich keineswegs«, erwiderte er. »Die Tatsache, dass der größte Teil [der Wirkung] auf einem Placeboeffekt beruht, heißt nur, dass dein Gehirn der allerunglaublichste Teil deines Wesens ist – und einen großartigen Beitrag dafür leistet, dass du dich besser fühlst.« Irreal ist nicht, wie du dich fühlst, erklärte er. Deine Gefühle haben nur nicht die Ursache, die man dir geschildert hat.

Sie war nicht überzeugt. Jahrelang sprach sie kein Wort mehr mit ihm.

***

Kurze Zeit später wurde Irving Kirsch unter der Hand eine nicht veröffentlichte Studie zugespielt. Als ich sie las, traf es mich besonders schwer, weil sie eine Situation betraf, die ich aus eigener Erfahrung kannte.

Kurz bevor ich mit der Einnahme von Paxil begann (in Deutschland unter verschiedenen Bezeichnungen wie Paroxalon, Paroxat oder Seroxat auf dem Markt), hatte dessen Hersteller, der Pharmariese GlaxoSmithKline, heimlich drei klinische Versuche zu der Frage durchgeführt, ob der zugrunde liegende Wirkstoff Paroxetin Teenagern wie mir verabreicht werden sollte. Eine Studie ergab, das Placebo wirke besser, eine andere stellte keinen Unterschied zwischen Medikament und Placebo fest, und eine dritte zog eine gemischte Bilanz. Keine konnte einen Erfolg nachweisen. In einer Teilveröffentlichung der Ergebnisse wurde jedoch verkündet: »Paroxetin kann zur Behandlung schwerer Depressionen bei Jugendlichen erfolgreich eingesetzt werden.«

Die interne Diskussion, die damals innerhalb der Firma stattfand, gelangte später auch an die Öffentlichkeit. Ein Mitarbeiter hatte gewarnt: »Es wäre wirtschaftlich nicht hinnehmbar, wenn wir die Aussage aufnehmen, dass keine Wirksamkeit nachgewiesen wurde, weil dies das Profil von Paroxetin aufweichen würde.« Mit anderen Worten: Wir dürfen nicht sagen, dass es nicht wirkt, weil wir sonst weniger Geld verdienen. Also verschwiegen sie es.

Letztlich wurde das Unternehmen im Staat New York von einem Gericht für diese Lüge zu einer Strafe von 2,5 Millionen Dollar verurteilt, nachdem der dortige Generalstaatsanwalt Eliot Spitzer Anklage erhoben hatte.11 Mir war dieses Medikament als Teenager verschrieben worden, und ich hatte es anschließend zehn Jahre lang eingenommen. Später führte The Lancet, eine weltweit führende Fachzeitschrift, eine detaillierte Studie mit vierzehn Antidepressiva durch, die auch Jugendlichen verschrieben werden. Die Beweise – abgeleitet aus den ungefilterten, realen Resultaten – enthüllten, dass sie keinerlei Wirkung hatten – bis auf eine einzige Ausnahme, die sehr geringe Erfolge zeigte. Die Zeitschrift kam zu dem Schluss, dass diese Mittel Teenagern nicht mehr verschrieben werden sollten.12

Dieser Artikel markierte für mich einen Wendepunkt. Da war das Medikament, das ich seit meiner Jugend eingenommen hatte, und da war die Firma, die es herstellte und mit eigenen Worten erklärte, dass es bei Menschen wie mir nicht wirkte. Aber trotzdem machte sie weiter dafür Werbung.13

Als ich das las, wurde mir klar, dass ich die Aussagen von Irving Kirsch nicht mehr ohne Weiteres abtun konnte. Aber das war nur die erste seiner Enthüllungen. Eine weit erschreckendere wartete noch auf mich.

Kapitel 2
Das Ungleichgewicht

Ein Jahr nachdem ich zum ersten Mal ein Antidepressivum eingenommen hatte, sprach Tipper Gore – die Frau des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore – mit der Zeitschrift USA Today über ihre kürzlich aufgetretene Depression.1 »Es war mit Sicherheit eine klinische Depression, die ich ohne Hilfe nicht überwinden konnte«, sagte sie. »Man hat mir erklärt, dass unser Gehirn eine bestimmte Menge an Serotonin braucht, und wenn wir davon zu wenig haben, ist das wie bei einem Auto ohne Benzin.« Das Gleiche erzählte man Abermillionen von Menschen, darunter auch mir.

Als Irving Kirsch herausfand, dass die serotoninstimulierenden Medikamente nicht die Wirkung hatten, die ihnen in der Öffentlichkeit zugeschrieben wurde, begann er – zu seiner eigenen Überraschung –, sich für eine weitergehende Frage zu interessieren: Womit ist überhaupt bewiesen, dass Depressionen durch einen Serotoninmangel oder durch das Ungleichgewicht eines anderen chemischen Stoffes im Gehirn hervorgerufen werden?2 Woher stammt diese Behauptung?

***

Die Geschichte des Serotonins begann, wie Kirsch herausfand, eher durch Zufall in dem feuchtkalten Sommer des Jahres 1952 in einer Tuberkulosestation in New York, als einige Patienten plötzlich ohne ersichtlichen Grund zu tanzen begannen.3 Die Ärzte hatten ein neues Medikament namens Marsilid entdeckt, von dem sie sich für ihre Tuberkulosepatienten Linderung versprachen. Auswirkungen auf die TB hatte es kaum – doch es zeigte sich etwas vollkommen anderes, was sich nicht ignorieren ließ: Es versetzte die Kranken in eine vergnügte, fröhliche, euphorische Stimmung – einige begannen sogar ungehemmt zu tanzen.

Daher dauerte es nicht lange, bis jemand den logischen Schluss zog, das Medikament versuchsweise auch depressiven Menschen zu geben. Scheinbar hatte es bei ihnen kurzfristig die gleiche Wirkung. Wenig später kamen – unter dem Namen Iproniazid und Imipramine – weitere Medikamente auf den Markt, die (ebenfalls vorübergehend) eine ähnliche Wirkung zeigten.4 Was, so fragte man sich, hatten sie gemeinsam? Enthielten diese wie auch immer gearteten Stoffe den Schlüssel für die Heilung von Depressionen?

Da man jedoch rätselte, wo man zur Lösung dieser Frage ansetzen sollte, blieb sie zur Qual der Forscher ein ganzes Jahrzehnt offen. 1965 jedoch trat ein britischer Arzt namens Alec Coppen mit einer Theorie an die Öffentlichkeit: Könnte es nicht sein, mutmaßte er, dass alle diese Medikamente den Serotoninspiegel im Gehirn anhoben? Wenn dem so wäre, müsste man davon ausgehen, dass Depressionen womöglich durch einen Serotoninmangel ausgelöst wurden. »Es war ungeheuerlich, in welchem Maße sich diese Wissenschaftler damit aus dem Fenster lehnten«, stellt Dr. Gary Greenberg fest, der die Ereignisse dieser Periode in einem Buch zusammengefasst hat.5 Fairerweise betont er allerdings auch, dass es zunächst als Idee – oder als Anregung – vorgetragen wurde. So meinte einer der Wissenschaftler, es sei »bestenfalls eine reduktionistische Vereinfachung«, die sich »auf der Grundlage des gegenwärtig vorhandenen Datenmaterials« nicht verifizieren lasse.6

Einige Zeit später, in den Siebzigerjahren, war es schließlich möglich, diese Theorie zu testen. Man hatte entdeckt, dass man mithilfe eines chemischen Cocktails den Serotoninspiegel bei Menschen senken konnte. Wenn die Theorie richtig war und ein Serotoninmangel Depressionen hervorrief, konnte nur eins die Folge sein: Es war zu erwarten, dass sich als Auswirkung des Cocktails Depressionen einstellten. Also begann man mit einem Versuch. Man gab Probanden den Cocktail zur Senkung des Serotoninspiegels und beobachtete die Folgen. Doch sofern die Versuchspersonen nicht bereits in der Vergangenheit starke Medikamente eingenommen hatten, stellten sich bei ihnen keine Depressionen ein.7 Bei der großen Mehrheit der Teilnehmer zeigte er sogar überhaupt keine Auswirkungen auf die Stimmung.

Ich besuchte Professor David Healy, einen der ersten Wissenschaftler, der diese neuen Antidepressiva erforscht hatte, in seinem Krankenhaus in der nordwalisischen Stadt Bangor. Er ist Autor der umfassendsten Geschichte der Antidepressiva, die uns vorliegt. Als wir auf das Konzept zu sprechen kamen, Depressionen seien durch einen Serotoninmangel hervorgerufen, sagte er: »Dafür gab es niemals einen Anhaltspunkt. Das war einfach nur eine Marketingstrategie. Damals, zu Beginn der Neunzigerjahre, als die Medikamente herauskamen, gab es keinen ernsthaften Experten, der sich aufs Podium gestellt und gesagt hätte: ›Menschen, die an Depressionen leiden, haben einen niedrigeren Serotoninspiegel‹ … Das konnte niemals nachgewiesen werden.«8 Die Theorie wurde zu keinem Zeitpunkt widerlegt, weil »sie nie ›offiziell anerkannt‹ worden war. Wieso auch, wenn in jenen Tagen die Hälfte der Fachleute ohnehin daran glaubte? In der umfangreichsten Studie zu den Auswirkungen von Serotonin auf Menschen konnte kein direkter Zusammenhang zu Depressionen hergestellt werden.«9 Der Princeton-Professor Andrew Skull hatte erklärt, Depressionen auf einen Serotoninmangel zurückzuführen sei »höchst irreführend und unwissenschaftlich«.10

Nur in einer Hinsicht war die Theorie von Nutzen gewesen. Als es den Pharmaunternehmen darum ging, Menschen wie Tipper Gore und mir Antidepressiva zu verkaufen, bot sie eine großartige Analogie: leicht zu verstehen, verbunden mit der Illusion, Antidepressiva seien in der Lage, einen natürlichen Zustand wiederherzustellen – jenes Gleichgewicht, dessen sich alle anderen Menschen erfreuten.

***

Nicht lange nach diesen Entdeckungen begannen führende Experten, ihre Patienten darüber zu informieren. Dr. Tom Bschor sagt dazu: »Nach wie vor gibt es viele Patienten, die glauben: ›Ach, ich habe einen Serotoninmangel im Gehirn. Könnten Sie den bitte ausgleichen?‹ Dabei wissen wir inzwischen, dass diese Darstellung falsch ist. Es gibt keinen Serotoninmangel. Niemand hat so was je bei einem Menschen gemessen.« Deshalb erklärt er seinen Patienten heute: »Ein Serotonindefizit [bei Depressiven] wurde bislang niemals nachgewiesen, und wir haben keine Möglichkeit festzustellen, wie viel Serotonin sich in Ihrem Gehirn befindet. Das können wir nicht. Wir könnten es in Ihrem Blut messen, aber das ist dann noch keine Aussage über den Zustand in Ihrem Gehirn.« Wie Kirsch weist er noch einmal darauf hin, dass Antidepressiva, die den Serotoninspiegel senken, die gleiche Wirkung zeigen wie Antidepressiva, die den Serotoninspiegel heben.

Dann spricht er jedoch von der außerordentlichen Macht der Pharmakonzerne in Deutschland. »Sie tragen die Hauptschuld daran, dass sich die biologische Erklärung für Depressionen in diesem Maße durchsetzen konnte. Das war ihr Anliegen, und das haben sie erfolgreich umgesetzt. Depressionen sind für einige Pharmafirmen deshalb so interessant, weil sie ein Massenphänomen sind und die Menschen die Tabletten anders als bei Antibiotika, die man nur eine Woche lang einnimmt, über lange Zeit hinweg brauchen. Sie hatten einen gewissen Einfluss auf die breite Bevölkerung und auf die Medien, aber am wirksamsten ist ihre Einflussnahme auf die sogenannten wissenschaftlichen und medizinischen Wortführer – indem man sie beeinflusst, sie subventioniert und für ihre Forschung bezahlt. Natürlich hat man ganz eindeutig ein Interesse an dem Glauben [bezüglich des Serotonins], wenn man Pillen herstellt und sie verkauft.«

***

Sobald die Theorie vom Serotoninmangel als Ursache für Depressionen und Angstzustände von den Wissenschaftlern (nicht aber von den Werbestrategen der Pharmakonzerne) aufgegeben worden war, änderte sich in der Forschung die Ausrichtung, fand Irving Kirsch heraus. Wenn diese Probleme nicht von einem Serotoninmangel hervorgerufen werden, so überlegte man, muss der Mangel eines anderen Stoffes dafür verantwortlich sein.11 Denn nach wie vor ging man von einem chemischen Ungleichgewicht im Gehirn aus, das durch die Gabe von Antidepressiva ausgeglichen werden könne. Wenn also nicht der eine Stoff diese lähmende Wirkung auf die Psyche hatte, sollte man sich auf die Suche nach dem nächsten machen.12

Kirsch aber befasste sich mit einer heiklen Frage. Wenn Depressionen und Ängste durch ein chemisches Ungleichgewicht entstehen und Antidepressiva dieses Ungleichgewicht beheben können, erklärte dies noch nicht ein seltsames Phänomen, auf das er immer wieder stieß: Medikamente, die den Serotoninspiegel im Gehirn anhoben, zeigten in klinischen Tests die gleichen moderaten Auswirkungen wie Medikamente, die den Serotoninspiegel im Gehirn senkten. Außerdem war ihre Wirkung vergleichbar mit der von Medikamenten, die den Spiegel eines anderen Stoffes anhoben, des Noradrenalins. Und Gleiches galt für einen weiteren Stoff, das Dopamin. Anders ausgedrückt: Es war völlig egal, welchen dieser Botenstoffe man beeinflusste – am Ergebnis änderte es nichts.

Deshalb versuchte Kirsch herauszufinden, was all die Menschen, die diese verschiedenen Medikamente nahmen, gemeinsam hatten. Er fand lediglich ein verbindendes Element: den Glauben an die positive Wirkung ihrer Tabletten. Letztlich beruht deren Effekt also auf dem gleichen Prinzip wie John Haygarths Zauberstab: auf dem Glauben, betreut zu werden, und der Aussicht auf eine Linderung ihres Leidens.

***

Nach zwanzig Jahren intensivster Forschung zu diesen Fragen gelangte Kirsch zu der Schlussfolgerung, dass die Idee, Depressionen würden durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn hervorgerufen, auf einem »Betriebsunfall« beruhte, entstanden durch einen Irrweg der Forscher, die die Phänomene, vor denen sie standen, falsch deuteten. Die Pharmaunternehmen legten diese Fehlschlüsse anschließend der Öffentlichkeit vor, um Kasse zu machen.

Und so, meint Kirsch, gerät das Fundament der in unserer Kultur dominierenden Erklärung für die Entstehung von Depressionen ins Wanken. Die Theorie, dass man sich wegen eines »Ungleichgewichts der Botenstoffe« schlecht fühlt, beruht auf einer Reihe von Irrtümern und Fehlschlüssen. Und über kurz oder lang werde sie nach wissenschaftlichen Maßstäben auch gänzlich widerlegt sein, zerstört am Boden liegen, wie ein zerbrochener Spielzeugclown mit einem traurigen Lächeln im Gesicht.

***

Ich war Kirschs Darlegung über weite Strecken gefolgt, an diesem Punkt aber hielt ich verdutzt inne. Konnte das sein? Ich habe Sozialwissenschaften studiert und werde deren Herangehensweise auch in meinem weiteren Text verfolgen. In dem Bereich, auf den Kirsch sich spezialisiert hat, habe ich keine Vorkenntnisse. Hatte ich ihn vielleicht falsch verstanden, oder bewegte er sich womöglich im wissenschaftlichen Grenzbereich? Ich las alles, was ich finden konnte, und bat so viele weitere Forscher um Erklärungen wie möglich.

»Es gibt keinerlei Belege für ein chemisches Ungleichgewicht« im Gehirn von Menschen, die an Depressionen oder Angstzuständen leiden, erklärte mir Professor Joanna Moncrieff – eine der führenden Expertinnen in diesem Bereich – in ihrem Büro am University College London rundheraus.13 Ihrer Ansicht nach sei schon der Begriff an sich sinnlos, schließlich wüssten wir nicht, wie ein »Gehirn in chemischem Gleichgewicht« beschaffen sei. Zwar suggerierte man den Patienten, mit Medikamenten wie Antidepressiva in ihrem Gehirn wieder eine natürliche Ausgewogenheit herzustellen, aber das sei nicht wahr – man erzeuge damit einen künstlichen Zustand. Die Vorstellung von einem »chemischen Ungleichgewicht« als Ursache für psychische Probleme sei, wie sie letztlich festgestellt habe, »ein Märchen«, das uns von den Pharmakonzernen aufgetischt werde.

Die klinische Psychologin Dr. Lucy Johnstone formulierte es sogar noch deutlicher: »Fast alles, was man uns erzählt hat, war Mist«, sagte sie, als wir bei einem Kaffee zusammensaßen.14 Die Serotonin-Theorie »ist eine Lüge. Meiner Meinung nach sollten wir ihr nicht noch mehr Gewicht geben und erwarten: ›Ach, vielleicht gibt es ja doch Beweise, die sie stützen.‹ Die gibt es nämlich nicht.«

***

Trotzdem erschien es mir schlichtweg unvorstellbar, dass etwas so Gewaltiges – immerhin eines der bekanntesten Medikamente der Welt, das zahlreiche Menschen in meinem Umkreis einnahmen – auf falschen Voraussetzungen basierte. Bekanntermaßen sind wir vor solchen Entwicklungen geschützt: Ein Medikament muss massive Hürden in Form wissenschaftlicher Tests bestehen, ehe es in unserem Badezimmerschrank landen kann. Ich kam mir vor, als hätte sich nach meinem Flug von New York nach Los Angeles herausgestellt, dass die Maschine den ganzen Weg von einem Affen geflogen worden war.15 Gab es nicht Untersuchungen, die so etwas verhindern sollten? Wie konnten diese Medikamente den gesamten Genehmigungsweg überstehen, wenn ihre Heilwirkung tatsächlich so unbedeutend war, wie die neuesten Forschungsergebnisse andeuteten?

Ich besprach diese Frage mit einem führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet, Professor John Ioannidis, den die Zeitschrift Atlantic Monthly als »einen der vielleicht einflussreichsten Wissenschaftler unserer Tage« bezeichnet hatte.16 Er fand es keineswegs überraschend, dass die Pharmaunternehmen Hinweise ignorieren und ihr Produkt nichtsdestotrotz auf den Markt bringen konnten, denn dergleichen geschehe fortwährend. Er schilderte mir sogar, welche Schritte die Antidepressiva vom Entwicklungsstadium bis zu mir als Verbraucher genommen hatten: »Die Unternehmen führen die Tests an ihren Produkten oft selbst durch.« Das bedeutet, sie gestalten die Versuchsanordnung und entscheiden letztlich, wer die Ergebnisse zu sehen bekommt. Mit anderen Worten, »sie beurteilen ihre Produkte selbst. Dazu bedienen sie sich all der armen Forscher, die keine anderen Geldquellen haben … [und die] kaum kontrollieren können, wie [die Ergebnisse] festgehalten und präsentiert werden.« Sobald die wissenschaftlichen Nachweise zusammengetragen wurden, sind es in den meisten Fällen nicht einmal die Wissenschaftler, die die Ergebnisse aufschreiben. »Normalerweise wurden die [veröffentlichten wissenschaftlichen] Artikel von Mitarbeitern des Unternehmens formuliert.«17

Die Ergebnisse werden im Anschluss einer Regulierungsbehörde vorgelegt, die über die Freigabe eines Medikaments für den Markt entscheidet. Doch in den Vereinigten Staaten werden die Mitarbeitergehälter dieser Behörde zu vierzig Prozent von den Pharmaunternehmen bezahlt (in Großbritannien sogar zu hundert Prozent). Wenn die Öffentlichkeit vor der Frage steht, ob ein Medikament so sicher ist, dass es auf den Markt gebracht werden kann, treten zwei Teams gegeneinander an: der Arzneimittelkonzern, der sich dafür einsetzt, und die Aufsichtsbehörde, die die Interessen der Öffentlichkeit vertritt und eruiert, ob es auch die gewünschte Wirkung hat. Was Professor Ioannidis mir erklärte, bedeutete jedoch, dass die Behörde, die eigentlich so etwas wie ein neutraler Schiedsrichter sein sollte, von den Pharmaunternehmen bezahlt wird und deren Team das Match fast immer gewinnt.

Die von den Unternehmen ausgearbeiteten Regeln machen es ihnen ungeheuer leicht, ein neues Medikament einzuführen. Sie brauchen dazu lediglich zwei Testreihen, die jederzeit und überall auf der Welt durchgeführt werden konnten, vorzulegen, in denen das Medikament eine auch nur ansatzweise positive Wirkung hat. Die beiden Tests und eine gewisse Wirkung reichen. Und mag es auch neunhundertachtundneunzig Versuchsreihen geben, die dem Mittel keinerlei Wirkung attestieren – sobald zwei weitere auch nur den leichtesten Effekt verzeichnen, wird das Medikament in die Apotheke um die Ecke gelangen.

»Meiner Ansicht nach ist dieser Bereich wirklich marode«, sagte Professor Ioannidis in unserem Gespräch. »Das ganze System ist krank, es ist käuflich und korrupt, anders kann ich es nicht beschreiben.« Ich fragte ihn, was er empfindet, wenn er sich all dies vor Augen hält. »Es deprimiert mich«, stellte er fest. Ich fand die Antwort paradox und sagte es ihm auch. »Aber nicht so deprimierend«, fuhr er fort, »dass ich Antidepressiva nehmen würde.«

Ich hätte gern gelacht, doch das Lachen blieb mir im Halse stecken.

***

Kirsch bekam immer wieder zu hören, es spiele keine Rolle, dass die Wirkung durch den Placeboeffekt zustande käme. Immerhin gehe es den Leuten unabhängig von den Wirkstoffen nach wie vor gut. Warum sollte man ihnen das kaputt machen? Doch er erklärte mir: Die Ergebnisse klinischer Studien führen die Wirksamkeit von Antidepressiva zwar auf einen Placeboeffekt zurück, doch ein Großteil der unter Umständen schweren Nebenwirkungen werden durch das Mittel selbst hervorgerufen.

»Zum einen«, sagte Kirsch, »ist da natürlich die Gewichtszunahme.« Ich ging ganz gewaltig in die Breite, was sich fast sofort verlor, nachdem ich das Medikament abgesetzt hatte. »Wir wissen, dass gerade die SSRI [Antidepressiva einer neuen Generation] mit sexuellen Funktionsstörungen verbunden sind und die meisten der [aus] SSRI [bestehenden Mittel] eine Rate von fünfundsiebzig Prozent behandlungsbedingter sexueller Funktionsstörungen nach sich ziehen«, fuhr er fort. Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber dies galt auch für mich. Solange ich Paxil nahm, hatte ich den Eindruck, meine Geschlechtsorgane seien weniger empfindsam, und es dauerte wirklich lange, bis ich zur Ejakulation kam. Dadurch wurde der Sexualakt schmerzhaft, was meine Lust verringerte. Erst als ich das Medikament abgesetzt hatte, konnte ich wieder Freude an der Sexualität empfinden, und mir wurde wieder bewusst, dass regelmäßiger Sex eines der besten Antidepressiva der Welt ist.

»Bei jungen Leuten steigt [durch die SSRI] die Selbstmordgefahr.18 Und eine neue schwedische Studie verweist auf ein gestiegenes Risiko von Gewaltdelikten«, zählte Kirsch auf. »Bei älteren Menschen erhöht sich das Sterberisiko aus verschiedenen Ursachen, und es kommt häufiger zu Schlaganfällen. Für alle besteht ein größeres Risiko, an Typ-2-Diabetes zu erkranken. Bei Schwangeren kommt es häufiger zu Fehlgeburten [und] einer größeren Zahl von Kindern mit Autismus oder körperlichen Missbildungen. Dies alles wissen wir.« Wenn man diese Nebenwirkungen erst einmal am eigenen Leib spürt, ist es allerdings oft schwer, das Medikament wieder abzusetzen – ungefähr zwanzig Prozent haben dabei mit schweren Entzugserscheinungen zu kämpfen.19

»Wenn Sie also etwas suchen, um den Placeboeffekt zu erzeugen, sollten Sie wenigstens ein Mittel nehmen, das ungefährlich ist«, sagte Kirsch. Wie etwa Johanniskraut, das ohne die beschriebenen Nachteile auskommt, aber alle positiven Eigenschaften des Placebos zeige. Allerdings besäßen die Pharmakonzerne darauf keine Patentrechte, und niemand würde groß daran verdienen.

Als ihm dies klar wurde, erklärte mir Kirsch leise, bekam er ein schlechtes Gewissen, diese Pillen jahrelang verschrieben zu haben. Er fühlte sich »schuldig«.

***

1802 verriet John Haygarth die Wahrheit über seine Zauberstäbe. Einige Menschen seien dadurch wirklich eine Zeit lang von ihren Schmerzen befreit worden, erklärte er, doch das habe nicht an den Kräften des Tractors gelegen, sondern an den Kräften ihres Geistes. Es sei der Placeboeffekt, der wohl nicht von Dauer sein werde, weil er keine Lösung für die zugrunde liegenden Probleme sei.

Autor