×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Destination Dallas«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Destination Dallas« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Destination Dallas

»Lou Berney hat weit mehr als nur einen spannenden Thriller mit Hunter-Hunted-Motiv geschrieben, der sich bei den Mysterien des Kennedy-Attentats bedient.«Kulturnews

November 1963: Amerika befindet sich in Schockstarre. Präsident Kennedy ist gerade in Dallas erschossen worden.
Auch den sonst nie um ein Wort verlegenen Frank Guidry macht die Nachricht sprachlos. Einige Tage zuvor hat er seinem Boss, der Mafiagröße Carlos Marcello, einen Gefallen getan und unweit des Tatorts ein Auto abgestellt. Ein Fluchtwagen, wie es nun scheint.
Da Frank weder verhaftet, noch als Mitwisser zum Schweigen gebracht werden will, muss er die Stadt schnellstmöglich verlassen.
Die junge Charlotte flieht ebenfalls, zusammen mit ihren Töchtern – vor ihrer trostlosen Ehe, der Enge ihres Zuhauses, der Chancenlosigkeit ihres Lebens. In einer Notsituation trifft sie auf den weltgewandten Frank, der vorschlägt, den Rest des Weges durch die USA gemeinsam fortzusetzen.
Schnell stellen Frank und Charlotte fest, dass sie einander auf ihrer Reise brauchen werden.

  • »Dies ist ein herausragendes Buch. Wenn Sie es noch nicht gelesen haben, kaufen Sie es jetzt.« Don Winslow
  • »Klassischer, fintenreicher Krimi mit viel unterhaltsamem Zeitkolorit.«
    Hörzu
  • »Berney liefert einen jederzeit spannenden Thriller mit Zeitkolorit.«
    Landeszeitung Lüneburger Heide
  • »Brillantes Zeitporträt der frühen Sechzigerjahre.« BÜCHERmagazin
  • »Packende Road-Novel inklusive Lovestory.« Bayern 2

  • Erscheinungstag: 01.03.2019
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678247
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Adam, Jake und Sam

1

Was für ein Anblick! The Big Easy in seiner ganzen verruchten, verkommenen Pracht!

Frank Guidry hielt an der Ecke Toulouse einen Moment inne, um den neonfarbenen Schein dieses Glutofens in sich aufzunehmen. Er hatte zwar den Großteil seines siebenunddreißigjährigen Lebens in New Orleans verbracht, aber das dreckige Funkeln und Knistern des French Quarter gaben ihm immer noch denselben Kick wie eh und je. Landeier und Einheimische, Gelegenheitsdiebe und Stricher, Feuerschlucker und Zauberer. Ein Go-go-Girl hing im ersten Stock eines Hauses über die schmiedeeiserne Balkonbrüstung, ein Busen war ihr aus dem paillettenbesetzten Negligé gerutscht und schwang im Takt zum Jazz-Trio drinnen gleichmäßig hin und her wie ein Metronom. Bass, Schlagzeug, Klavier, die sich im rasanten Tempo durch »Night and Day« spielten. In dieser Stadt konnte selbst die mieseste Band in der übelsten Neppkaschemme so richtig swingen.

Unter lautem Geschrei kam ein Typ die Straße raufgerannt. Ihm auf den Fersen eine Frau, die mit einem Schlachtermesser herumfuchtelte und ebenfalls aus vollem Hals brüllte.

Leichtfüßig trat Guidry zur Seite, um sie vorbeizulassen. Der Streifenpolizist an der Ecke gähnte. Der Jongleur vor Caracci’s 500 Club ließ keinen seiner Bälle fallen. Ein ganz gewöhnlicher Mittwochabend auf der Bourbon Street.

»Na los, Jungs!« Das Go-go-Girl auf dem Balkon wackelte mit ihrem nackten Busen einladend in Richtung zweier besoffener Matrosen. Die standen schwankend am Bordstein und sahen zu, wie ihr Kumpel in den Rinnstein kotzte. »Seid nicht knickerig und spendiert ner Lady nen Drink!«

Die Matrosen sahen mit gierigen Blicken zu ihr rauf. »Was soll’s denn kosten?«

»Wie viel habt ihr denn?«

Guidry musste schmunzeln. Und so drehte das Rad sich immer weiter. Über den auftoupierten Haaren des Go-go-Girls wippten schwarze Katzenohren aus Samt, und ihre falschen Wimpern waren so lang, dass Guidry sich fragte, wie sie dadurch etwas erkennen konnte. Vielleicht war aber genau das der Sinn und Zweck.

Er bog in die Bienville ab und bahnte sich langsam einen Weg durch die Menge. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug mit feinem Nailhead-Muster aus einem leichten Wolle-Seide-Gemisch, das sein Schneider extra aus Italien hatte kommen lassen. Weißes Hemd, dunkelrote Krawatte. Kein Hut. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten keinen Hut brauchte, dann brauchte auch Guidry keinen.

Der Page des Monteleone-Hotels beeilte sich, um ihm die Tür aufzuhalten. »Was gibt’s Neues, Mr. Guidry?«

»Weißt du, Tommy«, antwortete Guidry, »ich bin zu alt für was Neues, aber das Alte funktioniert immer noch tadellos.«

In der Carousel Bar war wie immer die Hölle los. Guidry ließ ein »Hallo, wie geht’s« nach dem anderen vom Stapel, als er sich durch das Lokal arbeitete. Schüttelte Hände, klopfte auf Schultern und fragte Fat Phil Lorenzo, ob er nur gut zu Abend gegessen hatte oder den Kellner gleich mit, der es gebracht hatte. Dafür erntete er einige Lacher. Einer der Jungs, die für Sam Saia arbeiteten, legte ihm den Arm um die Schultern und flüsterte ihm ins Ohr.

»Ich muss dich dringend sprechen.«

»Dann sollten wir das nicht aufschieben«, sagte Guidry.

Der Tisch ganz hinten in der Ecke. Guidry bevorzugte es, den Überblick zu haben. Eine der Grundwahrheiten des Lebens: Wenn etwas einem an den Kragen wollte, sollte man es wenigstens kommen sehen.

Eine Kellnerin brachte ihm einen doppelten Macallan, Eiswürfel extra. Sam Saias Knabe fing an zu reden. Guidry nahm einen Schluck von seinem Drink und sah sich an, was sich vor seinen Augen abspielte. Die Männer umgarnten die Mädchen, und die Mädchen umgarnten die Männer. Überall Lächeln und Lügen und Blicke, verschleiert vom dichten Qualm, der in der Luft hing. Eine Hand, die unter den Saum eines Kleides fuhr, Lippen, die ganz leicht ein Ohr streiften. Guidry war in seinem Element. Jeder hier war auf der Suche nach etwas, wo er ansetzen konnte, einem Schwachpunkt.

»Den Ort haben wir schon, Frank, ganz große Klasse. Der Typ, dem das Gebäude und die Bar unten gehören, macht für ’n bisschen Kleingeld Fassade für uns. Genauso gut könnte er’s umsonst machen.«

»Großes Spiel«, folgerte Guidry.

»Nur das Beste vom Besten. Ein richtiger Luxusladen. Aber die Bullen wollen nicht mit uns reden. Wir brauchen dich, um diesen Scheißkerl Dorsey auf unsere Seite zu bringen. Du weißt doch, worauf er steht.«

Die Kunst der Bestechung. Guidry kannte den Preis von jedem, das entscheidende Argument, um einen Deal zum Abschluss zu bringen. Ein Mädchen? Ein Junge? Ein Mädchen und ein Junge? Wie sich Guidry erinnerte, hatte Lieutenant Dorsey vom Eighth District eine Frau, die sich ganz besonders über ein Paar Diamantohrringe von Adler’s freuen würde.

»Du weißt ja, dass Carlos zustimmen muss«, antwortete Guidry.

»Das wird er auch, wenn du ihm erklärst, wie gut die Nummer ist, Frank. Für deinen Part würden wir dir fünf Prozent geben.«

Eine Rothaarige an der Bar hatte ein Auge auf Guidry geworfen. Sie stand wohl auf sein dunkles Haar und die olivfarbene Haut, seine schlanke Statur und das Grübchen im Kinn, die leichte Cajun-Mandelform seiner Augen. Genau diese Form seiner Augen verriet den Itakern, dass er keiner von ihnen war.

»Fünf?«, fragte Guidry.

»Komm schon, Frank. Wir machen schließlich die ganze Arbeit.«

»Dann braucht ihr mich ja auch nicht, oder?«

»Jetzt sei vernünftig.«

Guidry konnte sehen, wie die Rothaarige mit jeder langsamen Umdrehung des Karussells mehr Mut fasste. Ihre Freundin stachelte sie an. Auf jeder Rückseite der gepolsterten, seidenbespannten Rücklehnen der Sitze an der Carousel Bar prangte ein handgemaltes Dschungeltier. Tiger, Elefant, Hyäne.

»›Ob auch an Klaue rot und Zahn / Natur‹«, deklamierte Guidry.

»Hä?«, sagte Saias Junge.

»Ich zitiere gerade Lord Tennyson, du Barbar.«

»Zehn, Frank. Mehr ist nicht drin.«

»Fünfzehn. Und ein Blick in die Bücher, wann immer’s mir einfällt. Jetzt ab mit dir.«

Saias Junge warf ihm einen wütenden Blick zu und kochte innerlich, aber so sah’s nun mal aus im Spiel von Angebot und Nachfrage. Lieutenant Dorsey war der sturste Bulle in ganz New Orleans. Und nur Guidry besaß das Talent, ihn weichzukriegen.

Er bestellte sich noch einen Scotch. Die Rothaarige drückte ihre Zigarette aus und kam langsam zu ihm rüber. Sie hatte Kleopatra-Augen, der letzte Schrei, und ihre Haut hatte eine goldene Bräune. Vielleicht war sie eine Stewardess, zurück von einem Zwischenstopp in Miami oder Vegas. Beeindruckt von ihrer eigenen Kühnheit, nahm sie Platz, ohne zu fragen.

»Meine Freundin da drüben hat gesagt, ich soll mich von dir fernhalten«, sagte sie.

Guidry fragte sich, wie viele Gesprächseinleitungen sie im Kopf durchgegangen war, bis sie sich für diese entschieden hatte. »Und trotzdem bist du hier.«

»Meine Freundin sagt, du hast ein paar sehr interessante Freunde.«

»Aber auch eine Menge langweilige«, sagte Guidry.

»Sie sagt, du arbeitest für, na, du weißt schon.«

»Den berüchtigten Carlos Marcello?«

»Ist es wahr?«

»Nie von ihm gehört.«

Sie spielte demonstrativ mit der Kirsche in ihrem Drink. Sie war neunzehn oder zwanzig. In ein paar Jahren würde sie das größte Uptown-Bankkonto heiraten, das sie finden konnte, und eine Familie gründen. Jetzt war sie allerdings auf ein kleines Abenteuer aus. Den Gefallen wollte Guidry ihr nur zu gerne tun.

»Bist du denn gar nicht neugierig?«, fragte die Rothaarige. »Warum ich nicht auf meine Freundin gehört und einen Bogen um dich gemacht habe?«

»Weil du’s nicht ausstehen kannst, wenn dir jemand sagt, dass du etwas nicht haben kannst.«

Sie sah ihn mit schmalen Augen an, als ob er heimlich ihre Handtasche durchwühlt hätte. »Stimmt.«

»Ich auch nicht«, sagte Guidry. »In diesem Leben kriegen wir nur eine einzige Chance, nur dieses eine Mal. Wenn wir nicht jede Sekunde davon auskosten, wenn wir unser Vergnügen nicht mit offenen Armen empfangen, wessen Schuld ist es dann?«

»Ich koste gerne jede Sekunde aus«, sagte sie.

»Das hör ich gern.«

»Ich heiße Eileen.«

Guidry sah, dass Mackey Pagano in die Bar gekommen war. Ausgezehrt, grau und unrasiert, wie er war, sah Mackey aus, als habe er unter einer Brücke geschlafen. Er hatte Guidry entdeckt und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, dass er ihn sprechen musste. Ach, Mackey. Sein Timing war beschissen. Aber er hatte einen guten Riecher für günstige Gelegenheiten und brachte ihm nie einen Deal, der sich nicht gelohnt hätte.

Guidry stand auf. »Warte hier, Eileen.«

»Wo gehst du hin?«, fragte sie überrascht.

Er ging durchs Lokal und umarmte Mackey. Herr des Himmels. Mackey roch genauso, wie er aussah. Er brauchte dringend eine Dusche und einen sauberen Anzug, und zwar sofort.

»Muss ja ne Wahnsinnsparty gewesen sein, Mack«, sagte Guidry. »Erzähl mir alles.«

»Ich will dir ein Angebot machen.«

»Hab ich mir schon gedacht.«

»Lass uns ne kleine Runde drehen.«

Er nahm Guidry beim Ellbogen und lotste ihn raus in die Lobby, am Zigarrenstand vorbei, einen menschenleeren Flur hinunter, dann noch einen.

»Laufen wir bis nach Kuba, Mack?«, fragte Guidry. »Ein Bart steht mir allerdings nicht besonders.«

Endlich hielten sie an, und zwar vor den Türen des Lieferanteneingangs an der Rückseite des Hotels.

»Also, was hast du für mich?«, fragte Guidry.

»Ich hab gar nichts.«

»Was?«

»Ich musste nur unbedingt mit dir reden.«

»Dir ist nicht entgangen, dass ich momentan Besseres zu tun habe.«

»Tut mir leid. Ich steck in der Klemme, Frankie. Vielleicht sogar in ner richtig üblen.«

Guidry hatte für jede Situation das passende Lächeln. Auch eines, um das mulmige Gefühl zu überspielen, das sich in ihm breitmachte. Er drückte kurz Mackeys Schulter. Wird schon nicht so schlimm sein, alter Kumpel, alter Freund, was soll schon passieren? Aber Guidry gefiel das Zittern in Mackeys Stimme ganz und gar nicht oder wie er sich an dem Ärmel seines Jacketts festkrallte.

Hatte jemand bemerkt, dass sie beide das Carousel gemeinsam verlassen hatten? Was, wenn jemand genau jetzt zufällig um die Ecke bog und sie hier herumlungern sah? Ärger in diesem Geschäft verbreitete sich rasant, genau wie eine Erkältung oder der Tripper. Guidry wusste, man konnte sich schnell anstecken, durch ein Händeschütteln mit dem Falschen, einen unbedachten Blick.

»Am Wochenende komme ich bei dir in der Bude vorbei«, sagte Guidry. »Dann helfe ich dir, die Sache zu regeln.«

»Das muss jetzt geregelt werden.«

Guidry versuchte, peu à peu einen Abgang zu machen. »Ich muss los. Morgen, Mack. Du kannst dich drauf verlassen.«

»Ich bin seit ner Woche nicht mehr bei mir zu Hause gewesen«, sagte Mackey.

»Schlag was vor. Ich treffe mich mit dir, wo immer du willst.«

Mackey musterte ihn. Diese Augen, mit den schweren Lidern, konnten in einem bestimmten Licht fast weich aussehen. Mackey wusste, dass Guidry wegen des Treffens morgen gelogen hatte. Natürlich tat er das. Guidrys Begabung für Betrug und Täuschung war ihm zwar in die Wiege gelegt worden, aber Mackey hatte ihm die Feinheiten beigebracht, hatte ihm geholfen, sein Handwerk zu perfektionieren.

»Wie lange kennen wir uns jetzt, Frankie?«, fragte Mackey.

»Verstehe«, seufzte Guidry. »Die sentimentale Schiene.«

»Du warst sechzehn.«

Fünfzehn. Guidry, frisch vom Rübenlaster aus Ascension Parish, Louisiana, hatte sich damals im Faubourg Marigny rumgetrieben. Lebte von der Hand in den Mund und klaute Dosen Schweinefleisch mit Bohnen aus den Regalen des A&P-Markts. Mackey sah etwas in ihm und gab Guidry seinen ersten Job. Ein Jahr lang hatte Guidry jeden Morgen den Anteil von den Mädchen in der St. Peter eingesammelt und schnell rüber zu Snake Gonzalez geschafft, dem legendären Zuhälter. Fünf Dollar am Tag und schon ziemlich bald keinerlei Illusionen mehr, was die menschliche Spezies anging, die er am Anfang vielleicht noch gehabt hatte.

»Bitte, Frankie«, sagte Mackey eindringlich.

»Was willst du?«

»Red mit Seraphine. Finde für mich raus, wie die Lage ist. Vielleicht bild ich’s mir auch nur ein.«

»Was ist passiert? Egal. Geht mich nichts an.« Guidry interessierten die Details von Mackeys misslicher Lage nicht im Geringsten. Alles, was ihn interessierte, waren die Details seiner misslichen Lage, in die Mackey ihn gerade gebracht hatte.

»Du erinnerst dich, vor ungefähr einem Jahr«, fing Mackey an, »als ich raus nach Frisco gefahren bin, um mit diesem Typen wegen der Sache mit dem Richter zu sprechen. Carlos hat das Ganze dann abgeblasen, wie du weißt, aber …«

»Halt«, unterbrach ihn Guidry. »Ich will’s gar nicht wissen. Verdammt, Mack.«

»Tut mir leid, Frankie. Du bist der Einzige, dem ich vertrauen kann. Sonst würd ich nicht fragen.«

Mackey wartete. Guidry löste den Knoten seiner Krawatte. Genau daraus bestand doch das Leben: eine Abfolge blitzschneller Berechnungen. Das Verschieben von Gewichten, das Austarieren der Waagschalen. Die einzige schlechte Entscheidung war die, die man einem anderen überließ.

»Na schön, also gut«, sagte Guidry schließlich. »Aber ich kann kein Wort für dich einlegen, Mack. Dann bin ich auch dran. Das verstehst du doch?«

»Klar versteh ich das«, antwortete Mack erleichtert. »Finde nur raus, ob ich aus der Stadt verschwinden muss. Ich verschwinde noch heute Nacht.«

»Rühr dich nicht vom Fleck, bis ich mich melde.«

»Ich bin momentan drüben in der Frenchmen Street, in der Wohnung von Darlene Monette. Komm danach da vorbei. Aber hinterlass keine Nachricht.«

»Darlene Monette?«

»Sie schuldet mir noch nen Gefallen«, erläuterte Mack. Unter seinen halbgeschlossenen Lidern hervor sah er Guidry an. Flehentlich. Eigentlich hieß das: Guidry, du schuldest mir noch nen Gefallen.

»Rühr dich nicht vom Fleck, bis ich mich melde«, wiederholte Guidry.

»Danke dir, Frankie.«

Von einem Münzfernsprecher in der Lobby rief Guidry Seraphine an. Bei sich zu Hause ging sie nicht ans Telefon, also versuchte er es in Carlos’ privatem Büro draußen am Airline Highway in Metairie. Wie viele Leute hatten diese Nummer? Sicher nicht mehr als ein Dutzend. Guck mal, was aus mir geworden ist, Ma!

»Sehen wir uns etwa nicht am Freitag, mon cher?«, fragte Seraphine.

»Doch, doch«, antwortete Guidry. »Kann ich nicht einfach anrufen, um nett mit dir zu plaudern?«

»Aber das mache ich doch am liebsten.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Onkel Carlos auf der Suche nach einem Penny ist, den er verloren hat. Unser Freund Mackey. Oder liege ich da falsch?«

Durchs Telefon konnte Guidry das Rascheln eines seidigen Stoffs hören. Wenn Seraphine sich streckte, machte sie den Rücken krumm wie eine Katze. Er hörte auch das helle Klirren eines einzelnen Eiswürfels in einem Drink.

»Da liegst du nicht falsch«, antwortete sie.

Verdammt. Also hatte Mackey mit seinen Befürchtungen recht gehabt. Carlos wollte ihn aus dem Weg schaffen.

»Bist du noch dran, mon cher

Verflucht. Mackey hatte Guidry unzählige Male bekocht. Er hatte ihn den Marcello-Brüdern vorgestellt. Und er hatte für Guidry gebürgt, als niemand sonst auf der Welt überhaupt wusste, dass es ihn gab.

Aber all das war Schnee von gestern. Guidry interessierte nur, was heute war – und was morgen.

»Bestell Carlos, er soll mal in der Frenchmen Street nachsehen«, sagte Guidry. »An der Ecke Rampart gibt’s ein Haus mit grünen Fensterläden. Bei Darlene Monette. Oberster Stock, die Wohnung ganz hinten.«

»Danke, mon cher«, antwortete Seraphine.

Guidry schlenderte zurück zum Carousel. Die Rothaarige hatte auf ihn gewartet. Vom Türrahmen aus beobachtete er sie eine Zeit lang. Ja oder nein, meine Damen und Herren Geschworene? Ihm gefiel, wie ihre mühevolle Aufmachung ein klein wenig zu leiden begonnen hatte; der Kleopatra-Lidstrich war verlaufen, und ihre Frisur machte langsam schlapp. Sie wimmelte eine Niete ab, die sich an sie heranmachen wollte, und fuhr mit dem Finger am Rand ihres leeren Highball-Glases entlang. Entschloss sich, Guidry noch weitere fünf Minuten zu geben, aber das wäre es dann wirklich, keine Sekunde länger, und diesmal meinte sie es auch so.

Er wünschte, die Sache mit Mackey wäre anders gelaufen. Dass Seraphine gesagt hätte: Da musst du dich verhört haben, mon cher. Carlos hat nichts gegen Mackey. Jetzt konnte Guidry nur noch mit den Achseln zucken. Gewichte und Waagschalen, einfache Mathematik. Jemand hatte ihn heute Abend vielleicht mit Mackey gesehen. Guidry durfte es nicht darauf ankommen lassen. Warum sollte er auch?

Er nahm die Rothaarige mit zu sich nach Hause. Seine Wohnung lag fünfzehn Stockwerke über der Canal Street in einem modernen Hochhaus, das aussah wie ein stromlinienförmiger Stachel aus Stahl und Beton, außen komplett plan und mit hauseigener Klimaanlage. Im Sommer, wenn der Rest der Stadt im eigenen Saft kochte, zeigte sich bei Guidry nicht die kleinste Schweißperle.

»Oooh«, quietschte die Rothaarige. »Ist das irre!«

Der Blick durch die große Fensterfront, das schwarze Ledersofa, der Barwagen aus Glas und Chrom, die teure Hi-Fi-Anlage. Sie stellte sich ans Fenster, die Hand an der Hüfte, das Gewicht auf einem Bein, um ihre Kurven richtig zur Geltung zu bringen, Blick zurück über die Schulter, wie es die Fotomodelle in den Zeitschriften machten.

»Ich bin ganz versessen drauf, auch mal so hoch oben zu wohnen«, sagte sie. »Die ganzen Lichter. Die ganzen Sterne. Wie in nem Raumschiff.«

Guidry wollte vermeiden, dass sie den falschen Eindruck bekam, er wollte mit ihr reden, also drückte er sie ans Fenster. Die Scheibe gab etwas nach, und die Sterne wackelten. Er küsste sie. Ihren Hals, die empfindliche Stelle zwischen Kiefer und Ohr. Sie roch wie eine Kippe in einer Pfütze Lanvin-Parfüm.

Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Er packte ihre Hand, drehte sie ihr auf den Rücken und hielt sie fest. Mit der anderen griff er ihr unter den Rock.

»Oh«, hauchte sie.

Satinhöschen. Die konnte sie erst mal anbehalten, und ganz sachte fuhr er die Konturen entlang von dem, was darunterlag, mit zwei Fingern, die langsam über jede kleine Wölbung glitten. Gleichzeitig küsste er ihren Hals fordernder, ließ sie ein wenig seine Zähne spüren.

»Oh.« Diesmal war’s ernst gemeint.

Er schob das Gummiband des Höschens zur Seite und ließ seine Finger in sie hineingleiten. Rein und raus, dabei den Daumenballen auf ihrem Kitzler, als er versuchte rauszufinden, welcher Rhythmus ihr am besten gefiel, welcher Druck. Als er merkte, wie sich ihre Atmung veränderte und sich ihre Hüften mitbewegten, hörte er auf. Vor Überraschung spannten sich die Muskeln an ihrem Hals an. Er wartete kurz ab, dann fing er wieder an. Erleichterung durchzuckte ihren gesamten Körper wie ein Stromschlag. Als er ein zweites Mal innehielt, stöhnte sie auf, als habe er ihr einen Tritt versetzt.

»Nicht aufhören«, bettelte sie.

Er lehnte sich ein Stück zurück, damit er sie ansehen konnte. Ihre Augen waren ganz glasig, das Gesicht eine verschmierte Mischung aus Lust und Verlangen. »Sag bitte.«

»Bitte.«

»Sag bitte, bitte.«

»Bitte.«

Er brachte sie zum Höhepunkt. Jede Frau kam auf eine andere Weise. Die Augen zu Schlitzen verengt oder das Kinn vorgereckt, mit geöffneten Lippen oder geweiteten Nasenlöchern, mit einem Seufzen oder einem Schrei. Aber jedes Mal gab es diesen einen Moment, in dem die Welt um sie herum verschwamm, diesen grellweißen Atomblitz.

»Meine Güte.« Die Rothaarige kam gerade wieder in der wirklichen Welt an. »Mir zittern ja die Beine.«

Gewichte und Waagschalen, einfache Mathematik. Mackey hätte dieselben Berechnungen angestellt wie er, wäre er an Guidrys Stelle gewesen. Mackey hätte zum Telefon gegriffen und denselben Anruf getätigt wie Guidry, gar kein Zweifel. Und Guidry hätte ihn dafür respektiert. C’est la vie. Zumindest seines.

Er drehte die Rothaarige um, schob ihr den Rock hoch und zog ihr das Höschen runter. Als er in sie stieß, gab die Scheibe wieder nach. Guidrys Vermieter behauptete zwar, die Fenster im Gebäude würden einem Hurrikan standhalten, aber das musste sich erst noch zeigen.

2

In ihrer Vorstellung sah sich Charlotte allein auf der Brücke eines Schiffes stehen. Ein Sturm tobte, und die hohen Wellen brachen über dem Deck. Segeltuch riss, Taue gingen entzwei. Warum nicht noch ein paar berstende Schiffsplanken dazu, um das Bild zu vervollständigen? Die Sonne verbreitete nur ein kaltes, bleiches Licht, sodass Charlotte sich fühlte, als sei sie bereits ertrunken.

»Mommy«, rief Rosemary aus dem Wohnzimmer. »Joan und ich haben eine Frage.«

»Ich hab euch doch schon gesagt, ihr sollt zum Frühstück kommen, meine Süßen«, rief Charlotte zurück.

»September ist doch dein Lieblingsherbstmonat, oder, Mommy? Und November magst du am wenigsten?«

»Kommt frühstücken!«

Der Frühstücksspeck brannte gerade an. Charlotte fiel fast über den Hund, der mitten im Zimmer auf dem Fußboden lag, und verlor dabei ihren Schuh. Als sie die Küche durchquerte – jetzt hatte nämlich auch noch der Toaster angefangen zu qualmen –, stolperte sie über den Schuh. Der Hund zuckte und verzog die Schnauze: Ein Anfall war im Anmarsch. Charlotte hoffte inständig, dass es nur ein falscher Alarm war.

Teller. Gabeln. Charlotte malte sich mit einer Hand die Lippen, während sie mit der anderen Orangensaft in Gläser schenkte. Schon halb acht. Wo war die Zeit hin? Auf jeden Fall hatte sie keine mehr.

»Kinder!«, rief sie.

Dooley kam in die Küche geschlurft. Er war noch im Pyjama und hatte die leicht grünliche Gesichtsfarbe und gekrümmte Haltung eines gemarterten Heiligen von El Greco.

»Du wirst wieder zu spät zur Arbeit kommen, Schatz«, begrüßte ihn Charlotte.

Er ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Heute Morgen fühle ich mich gar nicht gut.«

Das glaubte ihm Charlotte ohne Weiteres. Es war nach eins gewesen, als sie endlich gehört hatte, wie die Haustür aufflog und er durch den Flur getorkelt war und dabei an die Wände stieß. Bevor er ins Bett kam, hatte er zwar die Hose ausgezogen, aber er war so betrunken gewesen, dass er das Sakko vergessen hatte. Mit anderen Worten, so betrunken wie üblich.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Charlotte. »Ich mache dir Toast.«

»Ich glaube, es könnte eine Grippe sein.«

Bewundernswürdig, dass ihr Mann nicht über sich selbst lachen musste. Oder vielleicht glaubte er tatsächlich, was er da von sich gab? Schließlich war er ein leichtgläubiger Mensch.

Er trank einen Schluck Kaffee, dann schlurfte er wieder hinaus und ins Bad. Sie konnte hören, wie er würgte und sich dann den Mund ausspülte.

Die Mädchen kamen an den Tisch und kletterten auf ihre Stühle. Rosemary, sieben, und Joan, acht. Wenn man sie ansah, würde man nie vermuten, dass sie Schwestern waren. Joans kleiner blonder Schopf war immer so glatt und glänzend wie frisch poliert, während sich schon mehrere Strähnen von Rosemarys widerspenstigem rotbraunen Haar aus dem Schildpatthaarreif gelöst hatten. In einer Stunde würde sie vollkommen verwildert aussehen.

»Aber ich mag November«, merkte Joan an.

»Nein, Joan, es ist so: September ist der beste, weil er jedes Jahr der einzige Monat ist, in dem wir gleich alt sind«, korrigierte sie Rosemary. »Und im Oktober ist Halloween. Halloween ist natürlich viel besser als Thanksgiving. Also muss November der Herbstmonat sein, den du am wenigsten magst.«

»Na gut«, sagte Joan. Sie war immer mit allem einverstanden. Bei einer kleinen Schwester wie Rosemary war das auch gut so.

Charlotte suchte ihre Handtasche. Hatte sie sie nicht gerade noch in der Hand gehabt? Wieder hörte sie Dooley würgen und sich den Mund spülen. Der Hund hatte sich auf die andere Seite gedreht und schien sich beruhigt zu haben. Der Tierarzt hatte gesagt, die neuen Medikamente würden vielleicht dafür sorgen, dass er weniger Anfälle bekam, vielleicht aber auch nicht. Sie würden abwarten müssen.

Ihren vermissten Schuh fand sie unter dem Hund. Sie musste ihn unter seinem schweren Körper hervorziehen.

»Armer Daddy«, bemerkte Rosemary. »Fühlt er sich wieder etwas angeschlagen?«

»Kann man wohl sagen«, murmelte Charlotte. Dann, lauter: »Ja, das tut er.«

Dooley kam aus dem Bad und sah weniger grün, dafür aber noch märtyrerhafter aus.

»Daddy!«, quietschten die Mädchen.

Er zuckte zusammen. »Psst, leise. Mein Kopf.«

»Daddy, Joan und ich, wir finden beide, dass unser Lieblingsmonat im Herbst der September ist und November der, den wir am wenigsten leiden können. Sollen wir dir erklären, warum?«

»Außer wenn es im November schneit«, wagte Joan sich vor.

»O ja!«, sagte Rosemary schnell. »Wenn’s schneit, ist das der beste Monat. Joan, wir tun jetzt so, als ob’s gerade schneit und der Wind heult und uns der geschmolzene Schnee in den Nacken läuft.«

»Na gut«, sagte Joan.

Charlotte stellte Dooley den Teller mit Toast hin und gab jedem Mädchen einen Kuss auf den Kopf. Die Liebe zu ihren Töchtern konnte man nicht beschreiben. Manchmal durchfuhr sie das Gefühl so heftig und unerwartet wie ein Blitzschlag, den sie in ihrem ganzen Körper spürte.

»Charlie, ein Spiegelei wäre nicht schlecht«, sagte Dooley.

»Du willst doch nicht schon wieder zu spät zur Arbeit kommen, Schatz.«

»Ach was. Pete ist es egal, wann ich in den Laden komme. Vielleicht melde ich mich heute sowieso krank.«

Pete Winemiller gehörte das Eisenwarengeschäft in der Stadt. Er war ein Freund von Dooleys Vater und der Letzte in einer langen Reihe von Freunden und Klienten, die seinem alten Herrn einen Gefallen getan und seinem missratenen Sohn eine Anstellung gegeben hatten. Und auch der Letzte in einer langen Reihe von Arbeitgebern, deren Geduld mit Dooley rasch erschöpft gewesen war.

Charlotte musste jedoch behutsam vorgehen. Schon früh in ihrer Ehe hatte sie herausgefunden, dass ein falsches Wort, der falsche Tonfall oder ein Stirnrunzeln zur falschen Zeit dafür sorgen konnte, dass Dooley eingeschnappt war und manchmal stundenlang schmollte.

»Hat Pete nicht letzte Woche gesagt, er braucht dich jeden Tag, und zwar in aller Frühe?«, deutete sie an.

»Ach, mach dir wegen Pete keine Sorgen. Der erzählt viel, wenn der Tag lang ist.«

»Aber er verlässt sich doch bestimmt auf dich. Wenn du vielleicht einfach …«

»Herrgott noch mal, Charlotte«, brauste Dooley auf. »Ich bin krank. Das siehst du doch. Du versuchst gerade, Wasser aus nem Stein zu pressen.«

Wenn es mit Dooley doch nur so einfach und unkompliziert wäre. Charlotte zögerte kurz, dann drehte sie sich um. »Also gut. Dann mach ich dir eben ein Spiegelei.«

»Ich leg mich nur kurz aufs Sofa. Ruf mich, wenn’s fertig ist.«

Sie sah zu, wie er aus dem Zimmer ging. Ja, wo war sie hin, die Zeit? Eben noch war Charlotte elf gewesen und nicht achtundzwanzig. Eben noch war sie barfuß und braun gebrannt vom langen Präriesommer durch das raschelnde, hüfthohe Blauhalm-Gras und die Rutenhirse gerannt und von der hohen Uferböschung des Redbud River mit angezogenen Beinen, Gesäß voran, ins Wasser gesprungen. Damals ermahnten die Eltern ständig ihre Kinder, im Flachen, auf der der Stadt zugewandten Seite des Flusses zu bleiben, aber Charlotte war eine bessere Schwimmerin als all ihre Freundinnen und ließ sich nicht von der Strömung abschrecken. Fast mühelos hatte sie es bis zum anderen Ufer geschafft, dahin, wo die Abenteuer anfingen.

Charlotte erinnerte sich, wie sie danach auf dem Rücken in der Sonne gelegen und vor sich hin geträumt hatte, von Wolkenkratzern in New York, Filmpremieren in Hollywood und Jeeps in der afrikanischen Savanne, und sich gefragt hatte, welche dieser vielen reizvollen, exotischen Bilder wohl ihre Zukunft darstellten. Jedes einzelne war möglich. Alles war möglich.

Sie wollte Joans Teller abräumen und stieß dabei ihren Saft um. Das Glas fiel auf den Boden und zerbrach in tausend Stücke. Der Hund fing wieder an zu zucken und die Schnauze zu verziehen, diesmal stärker als beim letzten Mal.

»Mommy?«, fragte Rosemary. »Weinst du oder lachst du?«

Charlotte kniete sich hin, um dem Hund den Kopf zu streicheln. Mit der anderen Hand las sie die scharfen, glitzernden Scherben des Saftglases auf.

»Weißt du, Schätzchen. Ich glaube, vielleicht ein bisschen von beidem.«

Um Viertel nach acht hatte sie es endlich ins Zentrum geschafft. Zentrum klang viel zu großartig. Drei Blocks im Karree, eine Handvoll Gebäude aus rotem Backstein mit viktorianischen Kuppeln und Einfassungen aus rauem Sandstein, keines höher als zwei Stockwerke. Ein Diner, ein Bekleidungsgeschäft, eine Eisenwarenhandlung, eine Bäckerei. Die First Bank of Woodrow, Oklahoma – und gleichzeitig auch die einzige.

Das Fotostudio befand sich an der Ecke Main und Oklahoma, gleich neben der Bäckerei. Charlotte arbeitete jetzt seit fast fünf Jahren hier. Mr. Hotchkiss spezialisierte sich auf Porträtaufnahmen. Strahlende Bräute, Kleinkinder in gestärkten Matrosenanzügen, neugeborene Babys. Charlotte rührte die Chemikalien für die Dunkelkammer an, entwickelte den Film, machte die Abzüge und kolorierte die Schwarz-Weiß-Porträts. Stunde um sterbenslangweilige Stunde saß sie an ihrem Tisch und ließ mittels Leinöls und Farbe Haar gülden erstrahlen oder eine Iris blau schimmern.

Sie zündete sich eine Zigarette an und nahm sich die kleinen Richardsons vor, eineiige Zwillinge mit identischen Weihnachtsmannmützen auf dem Kopf und demselben verstörten Gesichtsausdruck.

Mr. Hotchkiss kam zu ihr herübergewackelt und beugte sich über den Tisch, um ihre Arbeit zu begutachten. Er war ein Witwer in den Sechzigern und roch nach Pfeifentabak mit Apfelaroma und fotochemischem Fixiermittel. Als Einleitung zu jeder wichtigen Verlautbarung zog er sich gerne die Hose hoch.

Das tat er auch jetzt. »Na, gar nicht übel.«

»Danke«, sagte Charlotte. »Ich war mir nicht sicher, welches Rot ich für die Mützen nehmen sollte. Ich hatte eine ziemlich lebhafte Auseinandersetzung mit mir selbst.«

Mr. Hotchkiss warf einen Blick auf ihr Transistorradio auf dem Regal. Der AM-Sender, den sie mochte, war in Kansas, also war das Signal ziemlich undeutlich und verzerrt, wenn es in Woodrow ankam. Selbst nach langem Herumgefummel am Einstellknopf und der Antenne klang »Don’t Think Twice, It’s All Right« immer noch, als stünde Bob Dylan irgendwo in einem Kellergewölbe.

»Eins kann ich dir sagen, Charlie«, bemerkte Mr. Hotchkiss. »Der Knabe da ist kein Bobby Vinton.«

»Da haben Sie absolut recht«, antwortete Charlotte.

»Nuschel, nuschel, nuschel. Ich verstehe kein Wort von dem, was er singt.«

»Die Welt ist dabei, sich zu verändern, Mr. Hotchkiss. Sie spricht eine neue Sprache.«

»Aber nicht hier in Logan County. Gott sei Dank.«

Nein, nicht hier in Logan County. In diesem Punkt musste Charlotte ihm leider recht geben.

»Mr. Hotchkiss, hatten Sie schon Gelegenheit, sich das neue Foto anzusehen, das ich Ihnen gegeben habe?«, fragte sie.

Neben seiner Arbeit im Fotostudio fungierte Mr. Hotchkiss als der Bildredakteur der örtlichen Zeitung, der Woodrow Trumpet. Charlottes sehnlichster Wunsch war einer der extern vergebenen Aufträge. Vor einigen Monaten hatte sie Mr. Hotchkiss überredet, ihr eine seiner weniger kostspieligen Kameras zu leihen.

Ihre ersten fotografischen Versuche waren ziemlich kläglich gewesen. Davon hatte sie sich jedoch nicht entmutigen lassen. Sie übte in der Mittagspause, wann immer sie ein paar Minuten Zeit zwischen Besorgungen hatte und auch frühmorgens, bevor die Mädchen aufwachten. Wenn sie samstags mit ihnen in die Bücherei ging, studierte sie Magazine und Kunstbände. Wenn sie Fotos machte und die Welt aus einer Perspektive betrachtete, die ihr normalerweise gar nicht eingefallen wäre, fühlte sie sich genau so, wie sie es tat, wenn sie Bob Dylan oder Ruth Brown hörte: hellwach und quicklebendig, als sei ihr kleines, unbedeutendes Leben für diesen einen Moment Teil eines größeren Ganzen.

»Mr. Hotchkiss?«

Er war in die Morgenpost vertieft. »Hmm?«

»Ich habe gefragt, ob Sie sich schon mein neues Bild ansehen konnten.«

Er zog sich die Hose hoch und räusperte sich. »Ach, genau. Na ja. Also, ja.«

Das Bild, das sie ihm gegeben hatte, zeigte Alice Hubbard und Christine Kuriger, die gegen Abend an der Oklahoma Avenue standen und darauf warteten, sie zu überqueren. Das Gegenlicht, die Kontraste … was Charlotte besonders an dem Motiv interessiert hatte, war, dass ihre Schatten irgendwie mehr Substanz zu haben schienen und beinahe realer wirkten als die beiden Frauen selbst.

»Und, wie hat es Ihnen gefallen?«, fragte Charlotte.

»Tja. Die Drittel-Regel habe ich dir schon erklärt?«

Nur ungefähr hundert Mal. »Ja, ich weiß. Aber in diesem Fall wollte ich versuchen einzufangen, wie …«

»Charlotte«, sagte Hotchkiss nachsichtig. »Meine Liebe. Du bist ein nettes, intelligentes Mädchen, und ich bin froh, dich zu haben. Das Mädchen vor dir, na ja. Zwei linke Hände und nichts im Oberstübchen, die Gute. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte, Charlie.«

Er tätschelte ihr die Schulter. Charlotte war versucht, ihm ein Ultimatum zu stellen. Entweder ließ er sie etwas für die Trumpet machen – sie würde jeden Auftrag annehmen, egal, wie winzig –, oder er konnte hautnah herausfinden, wie er ohne sie zurechtkam.

Hatte sie denn überhaupt Talent als Fotografin? Charlotte war sich nicht sicher, dachte aber, da sei etwas. Zumindest kannte sie den Unterschied zwischen einem interessanten Bild und einem langweiligen. Zwischen den Fotos im Life-Magazin und dem National Geographic, die einem gleich ins Auge sprangen, und denen in der Trumpet, die so leblos wirkten wie Leichen auf dem Seziertisch.

»Mr. Hotchkiss«, setzte sie an.

Er hatte sich bereits umgedreht und war dabei, wieder wegzuzockeln. »Hmm?«

Aber sie konnte es sich natürlich gar nicht leisten, ihre Arbeit im Studio aufzugeben. Das Geld, das sie jede Woche mit nach Hause brachte, war schließlich das, was sie alle über Wasser hielt. Und vielleicht hatte Mr. Hotchkiss auch recht, und Charlotte hatte zwei linke Hände, was das Fotografieren anging. Schließlich war er ein Fachmann, mit einer gerahmten Verdiensturkunde von der Oklahoma Society of Professional Journalists, dem Journalistenverband von Oklahoma. Vielleicht tat er Charlotte ja in Wirklichkeit einen Gefallen. In ein paar Jahren, wenn sie sich an diesen Moment erinnerte, würde sie vielleicht sagen Gott sei Dank. Gott sei Dank, dass ich auf diese Sache nicht noch mehr Zeit verschwendet habe.

»Ach nichts«, sagte sie zu Mr. Hotchkiss. »Schon gut.«

Sie widmete sich wieder den Richardson-Zwillingen. Ihre Eltern waren Harold und Virginia. Harolds Schwester Beanie war Charlottes beste Freundin in der Grundschule gewesen. Sein Vater war Charlottes Chorleiter in der Junior-Highschool. Seine Mutter liebte gestürzten Ananaskuchen, und jedes Jahr achtete Charlotte darauf, ihr einen zum Geburtstag zu backen.

Virginia Richardson (geborene Norton) hatte mit Charlotte zusammen am Jahrbuch gearbeitet und darauf bestanden, dass Charlotte jede Bildunterschrift zweimal überprüfte, ob alles richtig geschrieben war. Bob, Virginias älterer Bruder, war der unglaublich gut aussehende Star des Leichtathletik-, Baseball- und Footballteams gewesen. Jetzt war er mit Hope Kirby verheiratet, die sich ein Jahr nach dem Highschool-Abschluss vom hässlichen Entlein zu einem wunderschönen Schwan gemausert hatte. Hope Kirbys Mutter Irene war die Trauzeugin von Charlottes Mutter gewesen.

Sie alle, die Richardsons, die Nortons und die Kirbys, kannte Charlotte schon ihr ganzes Leben lang. Sie kannte jeden Einzelnen in dieser Stadt schon ihr ganzes Leben lang, wie ihr bewusst wurde. Und jeder hier kannte sie. Das würde sich auch nie ändern.

Sie fragte sich, ob es selbstsüchtig von ihr war, mehr vom Leben zu erwarten. Mehr zu erwarten für Rosemary und Joan. In vielerlei Hinsicht war Woodrow ein idyllisches Fleckchen. Malerisch, sicher, freundlich. Aber auch unendlich dröge, so verhaftet in seinen engstirnigen Ansichten, so ablehnend gegenüber Neuem wie Mr. Hotchkiss. Charlotte sehnte sich danach, an einem Ort zu leben, an dem es leichter war, die Vergangenheit von der Zukunft zu unterscheiden.

Vor ein paar Monaten hatte sie Dooley vorgeschlagen, doch mal darüber nachzudenken, ob sie nicht von hier wegziehen sollten, vielleicht nach Kansas City oder Chicago. Dooley hatte sie nur vollkommen sprachlos angestarrt, als hätte sie vorgeschlagen, sich nackt auszuziehen und schreiend durch die Straßen zu laufen.

In der heutigen Mittagspause hatte Charlotte keine Zeit zum Fotografieren. Sie schlang ihr Sandwich herunter, holte die Medikamente für den Hund beim Tierarzt ab und eilte dann die Straße hinunter zur Bank. Eigentlich hatte Dooley versprochen, diesmal mit Jim Feeney zu reden, aber niemand war so gut darin, unangenehmen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen wie ihr Mann. Bedauerlicherweise war das ein Luxus, den Charlotte sich nicht leisten konnte.

»Ach Mist, hab ich das etwa vergessen?«, sagte Dooley in solchen Fällen, sein Lächeln ein wenig verschämt, aber nicht reumütig. Ein kleiner Junge, dem man in seinem Leben nahezu alles hatte durchgehen lassen und der sich daran gewöhnt hatte.

In der Bank musste Charlotte Platz nehmen und warten, bis Jim Feeney sein Telefonat beendet hatte.

Der kleine Jimmy Feeney. Seit dem Kindergarten waren er und Charlotte in dieselbe Klasse gegangen. In der Grundschule musste er eine Klasse wiederholen, weil er im Rechnen nicht so gut mitkam. In der Highschool hatte er sich einmal den Arm gebrochen, als er versucht hatte, eine Kuh umzukippen. Und trotzdem saß er jetzt hier, am Schreibtisch des stellvertretenden Direktors, weil er ein Mann war. Und sie saß jetzt hier, auf der anderen Seite des Schreibtischs, weil sie keiner war.

»Hallo, Charlie«, begrüßte er sie. »Womit kann ich dir heute behilflich sein?«

Womit wohl? Charlotte fragte sich, ob Jimmy ihre Demütigung genoss oder ob er einfach kein Gespür für so etwas hatte.

»Hallo, Jim«, sagte sie. »Leider muss ich diesen Monat um einen Aufschub der Hypothekenzahlung bitten.«

»Ah.«

Vom vergitterten Schalter sah Bonnie Bublitz zu ihnen herüber. Das tat auch Vernon Phipps, der gerade einen Scheck einlöste. Hope Kirby eilte aufgeregt vorbei, dann eilte sie wieder zurück und reichte Jim einen Aktenordner.

Ich werde nicht betteln, dachte Charlotte, während sie sich innerlich bereit machte, genau das zu tun.

»Wir brauchen nicht viel, Jim. Ein, zwei Wochen.«

»Das bringt mich jetzt ganz schön in Verlegenheit, Charlie«, entgegnete er.

»Entschuldige.«

»Das wäre ja schon die dritte Verlängerung dieses Jahr.«

»Ja, ich weiß. In letzter Zeit waren wir ganz schön knapp bei Kasse. Aber bald geht’s wieder aufwärts.«

Jim klopfte mit seinem Füller gegen den Ordnerrücken. Er dachte nach, oder tat das, was dem in seinem Fall am nächsten kam.

»Du musst jeden Penny umdrehen, Charlie«, sagte er schließlich, obwohl er Dooley kannte und ganz genau wusste, wer für ihre finanziellen Schwierigkeiten verantwortlich war. »Ein genauer Plan kann da sehr hilfreich sein. Mit Ausgaben für den Haushalt und dergleichen.«

»Nur zwei Wochen. Bitte, Jim.«

Das Trommeln des Füllers wurde immer langsamer. Ta-ta-ta, ta-ta, ta. Wie ein ersterbender Herzschlag. »Na ja, ich denke, ich kann dir noch diese eine …«

Plötzlich trat Earl Grindle aus dem Büro des Direktors. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sich um, als ob er nicht begreifen könne, wie alle anderen im Bankgebäude seelenruhig sitzen oder stehen bleiben konnten.

Er nahm die Brille ab und setzte sie sofort wieder auf. »Man hat ihn erschossen! Jemand hat Präsident Kennedy erschossen!«

Charlotte ging zurück zum Fotostudio. Mr. Hotchkiss hatte die Nachricht vom Tod des Präsidenten noch nicht mitbekommen. Sie steckte den Kopf in die Dunkelkammer und sah ihn vollkommen nichts ahnend am Lampenhaus des Beseler-Vergrößerungsgerätes herumhantieren.

Sie setzte sich an ihren Tisch und fing an, ein neues Porträt zu kolorieren. Das Moore-Baby, drei Monate. Der Kleine saß auf einem elegant drapierten nelkenpinken Stück Satin, das nach einem gedeckten Elfenbeinton verlangte, beschloss Charlotte.

Der Präsident war erschossen worden. Charlotte war sich nicht sicher, ob sie diese Tatsache überhaupt schon begriffen hatte. In der Bank hatte sie gesehen, wie Hope Kirby der Stapel Ordner aus der Hand gefallen war. Bonnie Bublitz war im vergitterten Schalter in Tränen ausgebrochen. Vernon Phipps war wie in Trance auf die Straße gelaufen und hatte einen Stapel Fünfdollarscheine auf der Theke liegen lassen. Jimmy Feeney hatte immer wieder gefragt: »Ist das ein Scherz? Earl, soll das so ne Art Scherz sein?«

Der Geruch nach Leinöl und Pfeifentabak mit Apfelaroma. Das Brummen und Gluckern der Heizung. Charlotte arbeitete weiter. Nach wie vor war sie seltsam unberührt von den Nachrichten aus Dallas, fühlte sich seltsam distanziert. Kurzzeitig konnte sie sich nicht erinnern, welcher Wochentag es war oder welches Jahr. Es hätte jeder x-beliebige Tag, jedes x-beliebige Jahr sein können.

Das Telefon klingelte. Sie hörte, wie Mr. Hotchkiss in sein Büro ging und abnahm.

»Wie bitte?«, fragte er aufgeregt. »Was? O nein! O nein!«

Die Eltern des Moore-Babys waren Tim und Ann Moore, der Kleine war ihr drittes Kind. Charlottes erster Job als Babysitterin war bei der Horde von Tims jüngeren Brüdern gewesen. Anns Schwester war niemand anderes als Hope Kirby, die mit Virginia Richardsons älterem Bruder Bob verheiratet war. Und es gab auch noch eine weitere Verbindung: Anns Cousin mütterlicherseits war Dooleys Chef bei der Eisenwarenhandlung, Pete Winemiller.

»O nein«, hörte sie Mr. Hotchkiss stammeln. »Ich kann’s einfach nicht glauben.«

Der Präsident war erschossen worden. Charlotte konnte gut verstehen, warum die Leute so entsetzt und bestürzt waren. Sie hatten Angst vor einer ungewissen Zukunft. Sie befürchteten, ihr Leben würde vielleicht nie mehr dasselbe sein.

Und vielleicht würde es das auch nicht. Aber Charlotte wusste, dass ihr Leben in keiner Weise davon betroffen wäre, dass ihre Zukunft – und die ihrer Töchter – für immer feststand. Eine Kugel, die Hunderte von Meilen entfernt abgefeuert worden war, konnte nichts daran ändern.

Sie tauchte den Pinsel in die Farbe und hauchte den schwarzweißen Wangen des Moore-Babys rosiges Leben ein. Als Kind war Der Zauberer von Oz ihr Lieblingsfilm gewesen und ihre Lieblingsszene die, in der Dorothy die Tür des schwarz-weißen Farmhauses aufgestoßen hatte und hinaus in ein seltsames und wundervolles Land getreten war.

Dorothy hatte es gut. Charlotte tauchte erneut den Pinsel ein und stellte sich nicht zum ersten Mal vor, wie sich ein Wirbelsturm vom Himmel herabsenkte und sie weit weg von hier trug, in eine Welt voller Farben.

3

Sonnenlicht kroch langsam über Guidry hinweg, und der Traum, den er gerade träumte, ruckelte und wurde unscharf wie ein Film, der aus den Transportrollen eines Kinoprojektors gesprungen war. Fünf Sekunden später konnte er sich kaum noch an Einzelheiten des Traumes erinnern. Eine Brücke. Ein Haus mitten auf der Brücke, wo gar keins hingehörte. Guidry hatte an einem Fenster dieses Hauses gestanden, vielleicht auch auf einem Balkon, und angestrengt hinunter ins Wasser geblickt und versucht, eine Stelle zu finden, an der es sich kräuselte.

Er ließ sich aus dem Bett plumpsen. Sein Kopf fühlte sich so geschwollen und empfindlich an wie ein verrottender Kürbis. Aspirin. Zwei Glas Wasser. Jetzt fühlte er sich mehr oder weniger in der Lage, seine Hose überzustreifen und den Flur in Angriff zu nehmen. Art Pepper. Guidrys bevorzugte Katermedizin. Vorsichtig ließ er Smack Up aus der Plattenhülle aus Karton gleiten und legte die Scheibe auf den Plattenspieler. »How Can You Lose?« war der beste Song auf dem Album. Jetzt ging es ihm schon viel besser.

Es war zwei Uhr nachmittags – oder das Morgengrauen, wie es die Anwohner des French Quarter nannten. Guidry machte eine Kanne siedend heißen Kaffee und füllte zwei Becher; in seinen gab er einen ordentlichen Schuss Macallan. Scotch war noch eine Medizin gegen Kater, die er sehr schätzte. Er nahm einen großen Schluck und hörte Peppers Saxofon zu, das sich elegant der Melodie annäherte und wieder zurücktänzelte wie ein sich durch den Verkehr schlängelnder Hund.

Die Rothaarige war immer noch vollkommen weggetreten; die Decke auf ihrer Seite des Bettes hatte sie zur Seite gestrampelt, ein Arm war hoch neben dem Kopf ausgestreckt. Aber Moment. Jetzt war sie eine Brünette, keine Rothaarige mehr. Die Lippen waren auch voller, und sie hatte keine Sommersprossen. Wie war das denn passiert? Er konnte sich keinen Reim darauf machen – träumte er vielleicht noch? –, bis ihm einfiel, dass heute Freitag war und nicht Donnerstag und die Rothaarige vorgestern Abend gewesen war.

Schade. Aus der Geschichte hätte er noch wochenlang Kapital schlagen können – dass er so gut in der Kiste war, dass er einem Mädchen doch glatt die Sommersprossen weggevögelt hatte.

Jane? Jennifer? Guidry hatte den Namen der Brünetten vergessen. Sie arbeitete jedenfalls für TWA. Aber vielleicht war das auch die Rothaarige davor gewesen. Julia?

»Raus aus den Federn, Zuckerpuppe«, sagte er stattdessen.

Sie drehte sich um und lächelte ihn verschlafen an; ihr Lippenstift blätterte langsam ab. »Wie spät ist es?«

Er reichte ihr einen Becher. »Zeit, die Fliege zu machen.«

In der Dusche seifte er sich ein und plante seinen Tag. Zuerst Seraphine, mal hören, was sie für ihn hatte. Danach wollte er sich den Deal vornehmen, den Sam Saias Junge ihm neulich Abend im Carousel vorgeschlagen hatte. Konnte man sich auf den Kerl verlassen? Alles, was Guidry über ihn gehört hatte, sprach dafür, aber es war besser, sich umzuhören und auf Nummer sicher zu gehen, bevor er zusagte.

Was noch? In der Bar gegenüber vom Gericht vorbeischauen, ein paar Runden spendieren und sich den neuesten Klatsch anhören. Abendessen mit Al LaBruzzo. Gott steh uns bei. LaBruzzo hatte es sich in den Kopf gesetzt, einen Go-go-Schuppen zu kaufen. Guidry würde behutsam mit ihm umgehen müssen – er war Sams Bruder, und Sam war Carlos’ Fahrer. Bis sie mit dem Essen fertig waren, musste Guidry Al überzeugt haben, dass er Guidrys Geld doch nicht wollte, und zwar unter gar keinen Umständen, noch nicht mal, wenn Guidry ihn auf Knien darum bitten sollte.

Guidry rasierte sich, schnitt sich die Nägel und durchforstete seinen Kleiderschrank. Er wählte einen großkarierten braunen Anzug im europäischen Stil mit schmalem fallendem Revers. Cremefarbenes Hemd, grüne Krawatte. Grüne Krawatte? Nein. In weniger als einer Woche war Thanksgiving, und er wollte sich optisch schon mal auf das Fest einstimmen. Er tauschte die grüne Krawatte gegen eine in einem an einen Sonnenuntergang im Herbst erinnernden pudrigen Dunkelorange.

Als er zurück ins Wohnzimmer kam, sah er, dass die Brünette immer noch da war. Jetzt hatte sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht – Herr des Himmels, sie war ja noch nicht mal angezogen – und sah fern.

Er ging zum Fenster und fand ihren Rock und die Bluse auf dem Boden, wo sie letzte Nacht gelandet waren; der BH hing am Barwagen. Er warf ihr die Sachen zu.

»Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Ich zähle bis fünf.«

»Er ist tot.« Sie sah Guidry noch nicht mal an. »Ich kann’s nicht fassen.«

Guidry stellte fest, dass sie weinte. »Wer?«

»Sie haben ihn erschossen«, antwortete sie.

»Wen erschossen?«

Er sah zum Fernseher. Auf dem Schirm saß ein Nachrichtensprecher an einem Schreibtisch und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er sah in sich zusammengesunken und benommen aus, als habe ihm gerade jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

»Die Wagenkolonne hatte gerade das Texas School Book Depository im Zentrum von Dallas passiert«, verkündete der Nachrichtensprecher. »Senator Ralph Yarborough berichtete unserem Reporter, dass er sich drei Wagen hinter dem des Präsidenten befand, als er deutlich die drei Gewehrschüsse hörte.«

Der Präsident wovon, war Guidrys erster Gedanke. Der Präsident irgendeiner Ölfirma? Irgendeiner Bananenrepublik, von der kein Mensch je gehört hatte? Er konnte nicht nachvollziehen, warum die Brünette derart aus der Fassung geraten war.

Dann fiel der Groschen. Er ließ sich neben sie auf das Sofa sinken und sah zu, wie der Nachrichtensprecher etwas von einem Blatt Papier ablas. Ein Scharfschütze hatte die Schüsse aus dem fünften Stock eines Gebäudes an der Dealey Plaza abgegeben. Kennedy, der sich auf dem Rücksitz eines offenen Lincoln Continental befunden hatte, war getroffen worden. Man hatte ihn ins Parkland Hospital gebracht. Dort hatte ihm ein katholischer Priester die Sterbesakramente gespendet. Um 1:30 Uhr am Nachmittag, also vor eineinhalb Stunden, war der Präsident von den Ärzten für tot erklärt worden.

Der Scharfschütze befand sich laut Nachrichtensprecher in Gewahrsam. Irgendein Idiot, der im Schulbuchdepot arbeitete.

»Ich kann’s nicht glauben«, sagte die Brünette wieder. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er tot ist.«

Einen kurzen Moment lang war Guidry unfähig, sich zu rühren. Konnte nicht atmen. Die Brünette griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie dachte, er könnte es ebenfalls nicht fassen, dass eine Kugel John F. Kennedy, genannt Jack, den Schädel gesprengt hatte.

»Zieh dich an.« Guidry stand auf und zog sie auf die Füße. »Zieh dich an und verschwinde.«

Sie starrte ihn nur an, also stopfte er ihren Arm in den Ärmel ihrer Bluse. Dann eben ohne BH. Er hätte sie auch nackt vor die Tür gesetzt, hätte er nicht befürchtet, sie könnte eine Szene machen oder sich bei den Bullen ausheulen.

Jetzt den anderen Arm, der sich ganz schlaff und gummiartig anfühlte. Mittlerweile schluchzte sie. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben, ganz ruhig. Guidry hatte hier in der Stadt einen bestimmten Ruf: der Typ, den nichts aus der Fassung bringen konnte, egal, was passierte. Also reiß dich jetzt zusammen, Junge.

»He, Kleine.« Er streichelte ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Tut mir leid. Ich kann’s auch nicht glauben. Ich kann auch nicht glauben, dass er tot ist.«

»Ich weiß«, schluchzte sie. »Ich weiß.«

Gar nichts wusste sie. Der Sprecher im Fernsehen erläuterte gerade, dass Dealey Plaza in Dallas im Dreieck zwischen Houston, Elm und Commerce Street lag. Guidry wusste verdammt noch mal ganz genau, wo das war. Erst vor einer Woche war er nämlich dort gewesen und hatte einen himmelblauen 59er Cadillac Eldorado zwei Blocks entfernt in einem Parkhaus auf der Commerce Street abgestellt.

Normalerweise bat Seraphine ihn nicht um diese Art von Arbeit. Das war sozusagen unter der Würde seiner hochrangigen Position. Aber da Guidry ohnehin gerade in der Stadt war, um einen plötzlich nervös gewordenen Deputy Chief, den Carlos unbedingt auf der Schmierliste behalten musste, fürstlich zu bewirten und zu beruhigen … warum denn nicht? Na klar, gar kein Problem, alle für einen und einer für alle.

Ach, da fällt mir ein, mon cher, es gibt eine kleine Sache, die du für mich erledigen könntest, wenn du in Dallas bist …

O Scheiße, o Scheiße. Ein zweiter Fluchtwagen war Standardverfahren bei vielen von Carlos’ Attentaten auf hochkarätige Zielpersonen. Wenn der Killer den Auftrag erledigt hatte, würde er sich schnurstracks zu dem irgendwo ganz in der Nähe versteckten Wagen begeben und könnte sich mit einem Auto aus dem Staub machen, das garantiert nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnte.

Als Guidry den himmelblauen Eldorado zwei Blocks entfernt von der Dealey Plaza abgestellt hatte, hatte er für irgendein armes Schwein schon das Schlimmste befürchtet – einen gefeuerten Buchmacher, dessen Zahlen nicht gestimmt hatten, oder auch den nervösen Deputy Chief, falls Guidrys Beruhigungsversuch fehlgeschlagen war.

Aber der Präsident der Vereinigten Staaten …

»Geh nach Hause«, sagte er zu der Brünetten. »In Ordnung? Mach dich frisch und dann lass uns … Worauf hast du Lust? Keiner von uns beiden sollte momentan allein sein.«

»Nein«, stimmte sie ihm zu. »Ich will … keine Ahnung. Wir könnten einfach …«

»Geh nach Hause, mach dich frisch, und dann essen wir irgendwo schön zu Mittag«, setzte er erneut an. »Einverstanden? Wo wohnst du? In einer Stunde hole ich dich ab. Nach dem Mittagessen suchen wir uns eine Kirche und zünden eine Kerze für ihn an.«

Guidry nickte ihr in einer Tour aufmunternd zu, bis sie zurücknickte. Dann half er ihr, sich den Rock anzuziehen, und hielt nach ihren Schuhen Ausschau.

Vielleicht war es nur Zufall, sagte er sich, dass er das Fluchtauto zwei Blocks von der Dealey Plaza entfernt abgestellt hatte. Vielleicht war es auch nur Zufall, dass Carlos die beiden Kennedy-Brüder hasste wie niemand sonst auf Gottes Erdboden. Jack und Robert, genannt Bobby, hatten Carlos nämlich vor den Senat gezerrt und ihm vor den Augen ganz Amerikas ans Bein gepinkelt. Ein paar Jahre darauf hatten sie versucht, ihn nach Guatemala abzuschieben.

Vielleicht hatte Carlos ja vergeben und vergessen. Klar. Und vielleicht hatte auch irgend so ein Idiot, der beruflich Kisten mit Büchern durch ein Lagerhaus schleppte, einen solchen Treffer landen können – aus dem fünften Stock, auf ein sich bewegendes Ziel, bei Wind und durch Bäume, die im Weg standen.

Guidry bugsierte die Brünette vorsichtig in den Aufzug, dann wieder heraus, durch die Lobby seines Gebäudes und auf den Rücksitz eines Taxis. Er musste vor dem Gesicht des Taxifahrers mit den Fingern schnippen, der sich über sein Radio gebeugt die Nachrichten anhörte und sie überhaupt nicht bemerkt hatte.

»Ab nach Hause und hübsch machen.« Guidry gab ihr einen Kuss auf die Wange. »In einer Stunde hole ich dich ab.«

Im Quarter standen erwachsene Männer auf dem Bürgersteig und flennten. Frauen irrten die Straße herunter, als seien sie plötzlich mit Blindheit geschlagen. Ein Lucky-Dog-Hotdog-Verkäufer ließ den Schuhputzjungen bei seinem Radio mithören. Wann in der Geschichte der Menschheit war so etwas je vorgekommen? Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. Die Parder werden bei den Böcken liegen.

Guidry hatte noch fünfzehn Minuten Zeit, also schlüpfte er rasch durch die Tür des Gaspar’s. Tagsüber war er noch nie hier drin gewesen. Bei voller Beleuchtung war es ein ziemlich trostloser Schuppen. Man konnte die Flecken auf dem Fußboden sehen, die Flecken an der Decke und dass der Samtvorhang mit Isolierband geflickt war.

An der Bar hatte sich ein Grüppchen Leute zusammengefunden, die wie Guidry vom blauen Flackern des Fernsehers hineingelockt worden waren. Der Sprecher – ein anderer als vorhin, aber genauso durcheinander – verlas eine Erklärung von Johnson. Jetzt offenbar Präsident Johnson.

»Ich weiß, dass die Welt die Trauer von Mrs. Kennedy und ihrer Familie teilt«, verkündete Johnson. »Ich werde mein Bestes geben. Das ist alles, was ich tun kann. Ich bitte um Ihre Hilfe – und um die Gottes.«

Der Barmann verteilte Whiskey – aufs Haus. Die Dame neben Guidry, so eine richtige kleine Witwe aus dem Garden District, steinalt und zerbrechlich wie eine Schneeflocke, nahm sich ein Glas und leerte es in einem Zug.

Im Fernsehen wurde jetzt das Polizeirevier von Dallas gezeigt. Bullen in Anzügen und weißen Cowboyhüten, Reporter, Gaffer, ein riesiges Gedränge und Geschiebe. Und mittendrin stand der Idiot und wurde hin und her geschubst. Ein mickriger Typ, Gesicht wie eine Ratte, ein Auge zugeschwollen. Lee Harvey Oswald hieß er, so der Sprecher. Er sah benommen und verwirrt aus, wie ein kleiner Junge, der mitten in der Nacht aus dem Bett gezerrt worden war und hoffte, das Ganze war vielleicht nur ein schlechter Traum.

Als die Bullen Oswald in ein Zimmer stießen, schrie ein Reporter eine Frage, die Guidry nicht richtig verstehen konnte. Ein anderer Reporter kam ins Bild und sprach in die Kamera.

»Er behauptet, nichts gegen irgendjemanden zu haben und keine Gewalttat verübt zu haben«, berichtete der Reporter.

Die Garden-District-Witwe kippte einen zweiten Whiskey. Sie sah so wütend aus, als ob sie gleich platzte. »Wie konnte das nur passieren?«, murmelte sie immer wieder vor sich hin. »Wie konnte das nur passieren?«

Guidry konnte es natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber er hatte eine wohlbegründete Vermutung. Ein professioneller Scharfschütze, jemand Externes, den Carlos für diesen Auftrag hinzugezogen hatte. Vom fünften Stock des Texas School Book Depository aus oder einen Stock tiefer, um die Sache Oswald in die Schuhe schieben zu können, oder vielleicht von irgendwo auf der anderen Seite der Plaza, hoch oben und weit weg von den Menschenmassen. Nachdem der echte Scharfschütze sein Ziel getroffen hatte, hatte er sein Gewehr wieder verpackt und war die Commerce Street hinuntergeschlendert, zu dem himmelblauen Eldorado, der bereits auf ihn wartete.

Guidry verließ das Gaspar’s und lief Richtung Jackson Square. Auf den Stufen vor der Kathedrale spendete ein Priester seinen Schäfchen Trost. Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit. Der übliche Dumpfsinn.

Guidry ging viel zu schnell. Ruhig bleiben, Junge.

Falls die Bullen den Scharfschützen schnappen sollten und mit dem Eldorado in Verbindung brachten, würde der sie direkt zu Guidry führen. Guidry hatte sich den Wagen von einem Supermarktparkplatz in einem Schwarzenviertel von Dallas besorgt. Praktischerweise war er unverschlossen gewesen, Schlüssel hinter der Sonnenblende. Guidry hatte keine Fingerabdrücke im Wagen hinterlassen – er war schließlich nicht blöd und hatte seine Autofahrerhandschuhe getragen –, aber jemand könnte sich an ihn erinnern. Ein himmelblauer Cadillac Eldorado mit einem Weißen am Steuer, in einem Schwarzenviertel. Ganz sicher würde sich jemand an ihn erinnern.

Denn dies war nicht einfach ein weiterer Mord, der keinen kümmerte, irgendein kleines Licht bei der Mafia, das tot in einer Gasse lag, die Detectives und der Staatsanwalt längst bei Carlos auf der Gehaltsliste. Das hier war der Präsident der Vereinigten Staaten. Bobby Kennedy und das FBI würden nicht eher Ruhe geben, bis sie jeden verdammten Stein umgedreht hatten.

Der Wind vertrieb einen klebrigen Nieselregen, und die Sonne lugte durch die Wolken. Seraphine stand neben dem Standbild von Old Hickory. Das steigende Pferd. Andrew Jackson, der seinen Hut wie ein Schwert gen Himmel reckte. Der Schatten des Standbilds fiel genau mittig über Seraphine und unterteilte sie der Länge nach in eine helle und eine dunkle Hälfte. Sie sah lächelnd zu Guidry hoch, das eine Auge strahlte klar und schelmisch, das andere dunkelgrün und ausdruckslos wie ein Stein.

Am liebsten hätte er sie gepackt, an den Sockel des Standbilds gedrückt und verlangt zu wissen, wieso sie ihn mitten in diese Sache hineingezogen hatte, in das Verbrechen des Jahrhunderts. Stattdessen lächelte er wohlweislich nur zurück. Bei Seraphine musste man vorsichtig vorgehen, ansonsten war man bald weg vom Fenster.

»Hallo, kleiner Junge«, begrüßte sie ihn. »Der Wald ist finster, und die Wölfe heulen. Nimm meine Hand, und ich helfe dir, nach Hause zu finden.«

»Ich riskier’s lieber mit den Wölfen, danke«, antwortete Guidry.

Sie machte einen Schmollmund. Denkst du etwa so über mich? Aber dann musste sie lachen. Natürlich dachte er so über sie. Guidry wäre dumm, wenn er es nicht täte.

»Ich liebe den Herbst«, sagte sie. »Du nicht auch? Die Luft ist so frisch und klar. Dieser melancholische Geruch. Der Herbst verrät uns die Wahrheit über die Welt.«

Hübsch würde man Seraphine nicht nennen. Eher königlich. Mit einer hohen, breiten Stirn und einer dramatisch geschwungenen Nase, die dunklen Haare onduliert und seitlich gescheitelt. Eine Hautfarbe, die nur einen Ton dunkler war als Guidrys eigene. Überall außer in New Orleans hätte sie vielleicht als weiß durchgehen können.

Sie kleidete sich so sittsam wie eine Grundschullehrerin. Heute trug sie ein Twinset aus Mohair und einen Bleistiftrock, dazu makellos weiße Handschuhe. Ihr ganz privater Scherz vielleicht. Auf jeden Fall schien sie sich die ganze Zeit über einen zu amüsieren.

Autor

Video