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Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Tractatus logico-suicidalis

Als Buch hier erhältlich:

Hermann Burger war, allem voran in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung, ein wortreicher Erläuterer des eigenen schriftstellerischen Werks. Minutiös und erhellend berichtet er über seine Arbeitsmethoden, seine An- und Einsichten zur Schweiz und über die Recherchen zu seinen literarischen Texten, er reflektiert die Existenzform des Schreibens und schließlich, in seinem berühmten Traktat, das in Form von Aphorismen aufgebaut ist, über das Verhältnis von Kunst, Tod und Leben.
  • Erscheinungstag: 03.02.2014
  • Seitenanzahl: 392
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006205
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

 

den Kanton Aargau

 

 

 

sowie der Unterstützung durch

 

die UBS Kulturstiftung

 

die STEO-Stiftung Zürich

 

die Stadt Zürich Kultur

 

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

 

 

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Porträtfoto Hermann Burger: 1988, © Yvonne Böhler

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN Band 8: 978-3-312-00620-5

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALTSVERZEICHNIS

ESSAYS

 

«Warum und für wen schreiben Sie?»   Brief des Autors an den Leser   Eine Philippika wider den «Literaturbetrieb»   Im Gespräch sein

Erstlinge   Das vorläufige Ende der Wörter: Beim Abschluss eines Manuskriptes und vor Eröffnung der Buchmesse in Frankfurt   Was mir die Rüebliländer Metropole bedeutet: Ein lokalpolitisches Feuilleton

 

 

PREIS-REDEN

 

Verfremdung zur Kenntlichkeit: Hölderlin-Preis-Rede

Schreiben als Existenzform: Aargauer Literaturpreis-Rede

 

 

DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG

DER IDEE BEIM SCHREIBEN

Frankfurter Poetik-Vorlesung

 

Vorstudien   Schilten   Diabelli

Die Künstliche Mutter

 

 

TRACTATUS LOGICO-SUICIDALIS

 

Tractatus logico-suicidalis: Über die Selbsttötung

 

 

ANHANG

 

Editorische Notizen   Herausgeberbericht

Zeittafel zu Burgers Leben und Werk

Fragebogen   Nachwort von Ulrich Horstmann

Alphabetisches Register der Werke in acht Bänden

«WARUM UND FÜR WEN
SCHREIBEN SIE?»

 

Welcher Schriftsteller quält sich nicht immer wieder mit dieser Frage ab, auch wenn sie ihm nicht von außen gestellt wird! Die «Gretchenfrage» muss ihn beschäftigen wie alle Fragen, auf die sich keine präzisen und schon gar keine endgültigen Antworten geben lassen. Es gibt die bekannte Ausflucht in die überspitzte Originalität. (Ich schreibe für alle, die lesen können!) Oder aber das ehrliche Geständnis: Man schreibt zunächst nur für sich selbst. Aus Eitelkeit, aus Geltungsdrang, vielleicht aus der Einsamkeit heraus, die von der ständigen Kluft zwischen Innenwelt und Außenwelt herrührt. Schreiben als Selbstentwurf.

Ich schreibe; zunächst, um mich kennenzulernen, um meine Umwelt in der Fiktion erträglich zu gestalten; ich schreibe, um meinen Gedanken, Gefühlen und Träumen jene Gestalt zu geben, die sie in der sogenannten Wirklichkeit nicht annehmen können. Ich schreibe, um zu existieren. Oft betrachte ich das alltägliche Leben nur als Rohstoff, ja sogar als Traumstoff, der einen geringeren Wirklichkeitsgrad besitzt als alles Geschriebene. Dabei muss ein Missverständnis ausgeschaltet werden: Der Glaube an die Veränderung der Welt durch Literatur ist sehr gering. Verändern lässt sie sich nur durch große Realisten. Der Schriftsteller kennt im Allgemeinen die Welt viel zu wenig, um sie zum Beispiel politisch verändern zu können.

Indessen suche ich, sobald ich veröffentliche, die Begegnung mit dem Leser. Denn nur die Aktivität der Leser kann die Literatur lebensfähig machen. Eine Literatur für Literaten ist eine tote Literatur. Die Begegnung ist möglich im Rahmen der Fiktion. Wir treffen uns als Leser und als Autor in der Frage: Was würde geschehen, wenn? Die Ebene der Möglichkeiten ist für mich viel spannender und menschlich viel ergiebiger als das harte Pflaster der Realität. Ein Mensch, der mir einen seiner Träume erzählt, zeigt mir mehr von seinem Wesen, als wenn er seinen Beruf schildern würde. Er redet, wenn auch in verschlüsselten Bildern, vom Unbewussten, von der Quelle seiner unausgeschöpften Möglichkeiten, von dem, was er sein könnte. Ich lerne ihn kennen, nicht in seiner Rolle, sondern in seinen Ausbruchsversuchen. Schreiben ist ein Ausbruchsversuch, ein ständiges Ringen um neue Möglichkeiten. Lesen ist das Entdecken und Mitgestalten dieser Möglichkeiten. Schon immer hat der Möglichkeitssinn in der Literatur eine große Rolle gespielt, vom Mann ohne Eigenschaften bis zum Gantenbein.

Was bewirken diese Fiktionen? Sie entlarven nichts, dafür sind sie viel zu harmlos. Sie bringen im Glücksfall die Begegnung, das Zwiegespräch ohne Worte. Jeder Mensch kennt das Bedürfnis, gelesen, das heißt: im Tiefsten erkannt zu werden. Der Autor ist einer, der dieses Bedürfnis zu seinem Beruf macht. Er nimmt die mühselige und nervenaufreibende Arbeit des Tippens auf sich, um vielleicht von einem Leser, den er kaum zu Gesicht bekommt, erkannt zu werden. Und der Leser? Er findet da und dort Gedanken formuliert, die ihn beschäftigen, findet Gefühle bestätigt, die ihm wichtig sind. Er entdeckt durch die Lektüre eigene, neue Schichten, er liest, um sein Wesen herauszuschälen.

Ich schreibe also nicht für den Leser, um seine Probleme zu lösen (daran wage ich gar nicht zu denken bei so viel eigenen), vielmehr für denjenigen Leser, der Probleme entdecken möchte, der gewillt ist, das Risiko einer Begegnung einzugehen, indem er meine Fiktion teilt und mit seinem Leben vermischt. Der Wunschtraum jedes Autors ist der mitschöpferische, aktive Leser, der im Idealfall sogar einen Bericht über die Lektüre eines Buches schreiben könnte. Ein Leser, der zugleich kritisch und wachsam bleibt, sich nichts vorschwatzen lässt.

Der Einfluss des Lesers, schon des imaginären Lesers, den man ja immer vor sich hat, ist auf mein Schreiben sehr groß. Ich schreibe nie etwas, ohne dabei zu denken: Wie wird das der oder der Leser aufnehmen? Denn die Bücher, so scheint mir, sollten in erster Linie für Leser, nicht für Kritiker geschrieben werden. Es gibt keine bessere Instanz als die des unbeeinflussten Lesers. Ihm gilt meine ganze Aufmerksamkeit. Sein Urteil wäre wichtiger als das Echo im Literaturgespräch. Denn dieses Gespräch bleibt immer abstrakt, formelhaft, seinerseits eine papierene Fiktion.

Jeder Schriftsteller hofft (er kann dies nur hoffen), dass seine subjektive Art, die Welt zu sehen, durch das Medium der Sprache objektive Gültigkeit für andere Menschen erreicht. In diesen seltenen Glücksfällen kann man sagen: Er hat nicht nur für den Leser geschrieben, sondern auch etwas für den Leser geleistet.

BRIEF DES AUTORS AN DEN LESER

 

Meine Erzählung ‹Die Leser auf der Stör›

ist leider keine Utopie

 

Der Autor sucht immer wieder das Gespräch mit dem kritischen Leser, weil er nie aus seiner Haut schlüpfen und sein Werk von außen prüfen kann. Ich bin dem Leser ausgeliefert, das Geschriebene lebt nur durch ihn. Mir fehlt die objektive Distanz. Meine Phantasie ergänzt, was dasteht, zu dem, was dastehen sollte. Der Autor ist der Einzige, der sein Buch nicht kaufen und lesen kann, weil er es schon im Kopf hat. Er erfährt seinen Text im Gespräch, und deshalb ist dieses Gespräch, das öffentliche wie das private, sein wertvollstes Instrument. Die Verantwortung des Lesers wäre sehr groß, doch wer nimmt sich Zeit für Verantwortung! Eine Studentin entgegnete auf die Frage, weshalb sie das Buch eines bekannten Schweizer Autors lese: Weil man nicht alle Gehirnzellen mobilisieren muss und dennoch in kurzer Zeit ein Stück moderner Literatur bewältigt hat, so dass man mitreden kann. Mitreden, im Gespräch sein, etwas für die Kultur tun, auf Echo stoßen, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten: alles Formeln als Ersatz für die wirkliche Auseinandersetzung. Man liest sich ein Buch vom Leibe, man frisst sich durch den Bücherberg; warum bestellen wir nicht gleich die Leser auf die Stör?

Das Vorbild des Lesers sollte der Kritiker sein. Er setzt seine Erfahrungen mit einem Buch in Worte um, er knüpft das Gespräch mit dem Autor an. Sind wir als Rezensenten bescheiden genug, um diese Verantwortung auf uns zu nehmen? Ich glaube, der bescheidene Kritiker ist noch viel seltener als der bescheidene Schriftsteller. An Stelle der Vermittlerrolle spielt er allzu gerne diejenige eines Deutschlehrers mit erhobenem Zeigefinger: So kann man doch heute nicht mehr schreiben. Gestern vielleicht und morgen wieder, aber heute nicht! Da der Kritiker meistens sehr genau weiß, wie man nicht schreiben kann, selber aber weit davon entfernt ist, so zu schreiben, wie man schreiben müsste, liegt der Verdacht nahe, er lasse die Autoren in seinen Plädoyers vor dem hohen Gerichtshof der Weltliteratur dafür büßen, dass ihm der künstlerische Durchbruch nicht gelungen ist. Er hat eine Theorie, wie Literatur auszusehen habe, und bespricht dankbar die lebendigen Beispiele, die sie bestätigen.

Diese Haltung färbt auf das Publikum ab. Wir haben jedes mögliche Verhältnis zu den Schriftstellern, nur kein menschliches. Im Extremfall betteln wir vor den Türen der Kultur oder schlagen den Bettlern die Türe vor der Nase zu. An Autorenabenden sitzen wir dem Dichter gegenüber wie schlecht vorbereitete Schüler im Examen und zucken zusammen, wenn einer von uns in der obligatorischen Diskussion etwas ganz Dummes fragt, zum Beispiel: Warum schreiben Sie? Man hat uns doch längst beigebracht, dass diese Frage unanständig ist, weil sie heute meistens im Sinne von «Warum schreiben auch Sie noch?» gestellt wird. Ist diese Stunde, wenn schon Examenstimmung, nicht eher eine Prüfung für den Autor? Nur die Auseinandersetzung, die frei ist von Untertänigkeit und Überheblichkeit, hilft ihm einen Schritt weiter.

Man darf das Cliché des bösen Kritikers nicht übertreiben, umso weniger, als es sehr schwierig ist, innerhalb der Literaturkritik eine Persönlichkeit zu werden. Der integre Kritiker, dessen Größe darin besteht, klein zu bleiben, schreibt weder Verrisse noch Lobhudeleien, sondern führt ein sorgfältiges Gespräch, aus dem der Autor lernen kann, weil er sich nicht ducken und nicht strecken muss. Und er zeigt dem Leser, dass Lesen ein ebenso ernsthafter kultureller Akt ist wie Schreiben, wenn der Leser ein Gewicht in die Schale wirft und nicht nur der Nehmende, sondern auch der Gebende ist. Ich weiß, diese Arbeit ist mühsamer als Beifall klatschen. Doch sie muss geleistet werden, wenn wir verantwortlich sein wollen für die Tauglichkeit unserer Literatur und keine Kultur der Leser auf der Stör dulden.

«Aber er hat ja gar nichts an!», rief das Kind im Märchen Des Kaisers neue Kleider. Und hätte er wirklich Gold getragen, wäre es für die Kammerherren unsichtbar gewesen. Solche Leser brauchen wir.

EINE PHILIPPIKA
WIDER DEN «LITERATURBETRIEB»

 

«Der sogenannte freie Schriftsteller»

 

Es gibt viele Einflüsse, die einen Schriftsteller an seiner freien Entfaltung hindern können. Von den politischen, die zu den schlimmsten zu zählen wären, will ich einmal absehen und bloß andeuten, dass der selbstauferlegte Zwang zur obligatorischen Opposition in Unfreiheit münden kann. Der engagierte Schriftsteller gibt sich selten Rechenschaft darüber, wie rasch er, sofern man seine Meinung abonnieren kann, zum Sklaven der Publizität wird. Die Angst, nicht mehr im Gespräch zu sein und aus der Mode zu geraten, wächst sich rasch zu einem Trauma aus, dem wir ein schönes Stück Gegenwartsliteratur verdanken. Die Kritiker tragen das Ihrige zur hektischen Produktionswut bei, indem sie etwa erklären: Er hat seinen Stil noch nicht gefunden, man darf auf das nächste Buch gespannt sein. Das Schreiben eines Buches hat offenbar längst nichts mehr mit einem zwingenden Befreiungsakt zu tun, sondern eher mit Leistungssport. Wer bringt zuerst das neue Mundartgedicht, wer schreibt endlich den schweizerischen Militärroman, wo hält sich der Mann versteckt, der wieder Novellen drechseln kann? Autoren werden transferiert, fallengelassen, hochgespielt. Im Fußballgeschäft, glaube ich, geht es menschlicher zu.

Ein Autor, der zuerst arbeiten will, bevor er als «Entdeckung» auftritt, muss sich buchstäblich verkriechen. Umgekehrt kann einer, der um kein Haar besser schreibt als Herr Müller und Frau Meier, ohne weiteres als Autor auftreten, sofern es ihm gelingt, die richtigen Leute für sein Image einzuspannen. Angenommen, der Luchterhand Verlag bringt morgen die Protokolle eines Gerichtsschreibers oder die Fresszettelchen einer Hausfrau als großen Schlager heraus (Werbung: 100 000 Mark), wird sich todsicher ein namhafter Kritiker finden, der dieses Ereignis stürmisch feiert. Und bis alle, die von Berufs wegen auf dem Laufenden sein müssen, gemerkt haben, dass nichts dahintersteckt, ist die erste Auflage bereits ausverkauft. Der Leser, der wird ja nicht gefragt, er ist auf gut Deutsch einfach der Affe im Umzug. Ihm hat man längst vorgerechnet, wie groß die Kluft zwischen dem durchschnittlichen Leserbedürfnis und der modernen Literatur sein müsse.

Ich will mit diesem übertriebenen Beispiel andeuten, dass sich jeder Autor, bewusst oder unbewusst, in einem literarischen Klima oder in einer Landschaft befindet, von der er mitbestimmt und – je nachdem – eingeschränkt oder gefördert wird. Die Wellen können tragen oder begraben. Keiner schreibt jemals so, wie er eigentlich gern möchte, immer sind da Widerstände und Einflüsse im Spiel, die ihn hemmen, ankurbeln, festnageln oder töten. Drei wesentliche Kriterien möchte ich nennen: die Tradition; die herrschende Theorie, wie man glaubt, dass geschrieben werden müsse, und das eigene Ideal, wie man schreiben möchte. Das Kräftespiel dieser Einflüsse lässt sich an einem einfachen Beispiel zeigen.

Ein Lyriker X. liebt Trakl. Er wächst in einer Landschaft auf, die mit Trakls Gedichtlandschaft verwandt ist: Wälder, einsame Weiler, Bauerndörfer und Weiher. Er schreibt Gedichte, in denen diese Elemente vorkommen, vielleicht sogar noch mit Assonanzen und Alliterationen. Das Ideal dieser Gedichte wäre eine Mischung aus Trakl und dem Lyriker X., aus literarischer und realer Landschaft, aus Expressionismus und Neoromantik. Das schwebt ihm vor, das will er erreichen. Nun meldet sich ein Kritiker und sagt: «Halt, so kann man heute nicht mehr schreiben. Alliterationen gehören der Vergangenheit an, und das Weiher-Motiv hat Georg Trakl ausgeschöpft.» Er sieht nicht ein, dass der junge Mann auf dem Umweg über Trakl zu sich selbst gelangen muss. Der Lyriker wird kopfscheu und schreibt aus purem Trotz, um zu zeigen, dass er auch anders kann, Silbenstenogramme. Wieder meldet sich der Kritiker: «Der vielversprechende junge Lyriker X. wird sich selber untreu.» Seine Gedichte werden vom Verlag zurückgewiesen mit dem Vermerk: «Sie sind in einer Gegend aufgewachsen, in der man eine seltene Mundart spricht. Schreiben Sie Mundartgedichte nach Schema F, und wir bringen sie ganz groß raus.» Nun wird der Lyriker unsicher. Was wollte er eigentlich? Trakl verehren, sein Gedicht suchen oder ein berühmter Schriftsteller werden? Am besten alles zusammen, denkt er. Wenn ich bekannt bin, kann ich immer noch so schreiben, wie ich ursprünglich wollte. Wenn er einen guten Tag hat, legt er die Feder weg für immer, hat er einen schwarzen Tag, wird er einer der drei Schweizer Autoren, die es gibt.

In diesem Spannungsfeld steht jeder Schreibende. Er hat primär die Wahl zwischen Form und Formalismus. Wenn er finanziell unabhängig ist vom Geschäft, kann er sich’s leisten, jahrelang an seiner Form zu arbeiten. Niemals aber – so paradox es tönt – als freier Schriftsteller. Das beste Buch setzt sich nicht durch, wenn ihm nicht eine Theorie vorangeht, die es bestätigt. Gute, anspruchsvolle Literatur bleibt Liebhabersache. Was nicht heißt, dass ein gutes Buch nicht auch einmal ein Bestseller werden kann. Doch vorherrschend ist der Reklame-Bestseller, das gemachte Buch. Man liest es, begeistert darüber, dass wirklich drinsteht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen, und verwechselt diese Eigenschaft mit literarischer Qualität. Es gibt eine anonyme Leserschaft, deren Urteil ganz anders lautet als dasjenige des individuellen Durchschnittslesers. Alle finden das Buch mittelmäßig, aber 50 000 kaufen es. Handkehrum findet der Einzelne ein Buch großartig, aber nur 500 kaufen es. Woran liegt es?

Ob er sich nun um diese Marktgesetze kümmert oder nicht, jeder Autor wird geprägt von dem, was andere um ihn herum schreiben. Was er aufschnappt in Kritiken und in den Büchern seiner Kollegen, das ergibt einen Grundakkord, einen harmonischen oder dissonanten, auf dem er aufbauen muss, und auch sein Werk wird immer betrachtet im Spiegel anderer Werke. Setzt er seinen Rotklang in eine graue Landschaft, wird der Erfolg ganz anders sein, als wenn sein Rot eines unter Tausenden ist. Vom Konkurrenzkampf her wird seine Freiheit am stärksten beschnitten. Und deshalb finde ich es einen Witz, wenn «engagierte» Autoren immer wieder die Manipulation anprangern, während sie stillschweigend die Diktatur im eigenen Verlag akzeptieren, um im Geschäft zu bleiben. Es gibt eine Manipulation von Seiten der Formalisten, die ebenso schwierig durchschaubar ist wie die politische Beeinflussung. Man schreibt nicht, was der Staat will, aber so, wie er will, der mächtige Kulturstaat, der sich zusammensetzt aus Verlegern, Lektoren, Kritikern und Bestseller-Autoren.

Ich betrachte es als wichtige Aufgabe eines jungen Autors, dass er beharrlich seinen Weg geht, auch wenn es ein Umweg ist, und dass er sich weder vorbeten lässt, was, noch wie er zu schreiben hat. Heute, da in der Lyrik und in der Prosa jedes Gefühl, jede Reflexion und jede Psychologisierung verpönt sind, sollte man sich nicht scheuen, das Wort ‹Herz› zu brauchen. Möglichst so schreiben, wie «man nicht mehr schreiben kann», doch nicht aus Trotz, sondern aus Überzeugung. Ich bewundere jeden Autor, der auf Kosten seiner Publizität schwierig, schwerblütig und subtil bleibt, der im Zeitalter der Dummerchen-Prosa die verrücktesten Sätze bastelt und mitten in die esoterische Kühlschrank-Lyrik eine dickflüssige Elegie fallen lässt, der meinetwegen sogar reimt und immer noch an den Schlüsselroman glaubt. In einer Rezension meiner Gedichte las ich den erstaunlichen Satz: «Auch in seine weniger von Reflexionen durchsetzten Landschafts- und Naturgedichte ist der Zweifel an der Sprache nicht eingedrungen.» Das «Auch» bezieht sich auf die Reflexionslyrik, von der es kurz vorher hieß: «Andere Verse gelten der Problematik des Dichters selbst, der Ohnmacht der Sprache und des Wortes (eine Thematik, die ja seit langem zum Repertoire moderner Lyrik gehört).» Was also leider überflüssigerweise auch zu meinem Repertoire gehört, ist auch in die Landschaftsgedichte nicht eingedrungen. Etwa so sieht die Logik gewisser Rezensenten aus. Ich habe mich darauf um Aufnahme im Lord-Chandos-Club beworben. Max Frisch schreibt zu dieser Methode im Tagebuch: «Nichts leichter als das: man schneidet eine Kartoffel zurecht, bis sie wie eine Birne aussieht, dann beißt man hinein und empört sich vor aller Öffentlichkeit, daß es nicht nach Birne schmeckt, ganz und gar nicht!»

Man könnte nun sagen: Schert euch nicht um die Kritiker. Doch das wäre falsch. Es gibt sehr gute Kritiker, und die Aufgabe des Kritikers ist nicht zu unterschätzen. Der Kritiker sollte der aufmerksamste Leser eines Autors sein, der obendrein das Talent besitzt, seine Erfahrungen mit einem Buch in Worte umzusetzen. Er sollte dem Leser, der gar nicht mehr Zeit hat, sich über alles zu informieren, das Buch zeigen. Indessen wird diese Macht zu oft missbraucht. Man bevormundet den Leser. Und wenn er sich auch dagegen wehrt, gegen einen katastrophalen Verriss zum Beispiel, so liest er das Buch nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus Trotz «erst recht».

Wir müssen wieder lesen lernen, dann sähe unsere Literatur anders aus.

IM GESPRÄCH SEIN

 

Wie oft hört man doch, ein Autor müsse, um Erfolg zu haben, «ins Gespräch kommen». Viele haben Angst, «aus dem Gespräch zu geraten». Wie stellt man sich dieses Gespräch eigentlich vor? Wer führt es? Ist es das Kritiker-Gespräch, das Buchmesse-Gespräch, das Hausfrauen-Gespräch, das Studenten-Gespräch, das Kaminfeuer-Gespräch? Was wird herumgeboten: der Name eines Autors, die Auflageziffer seines letzten Buches, die Summe seines Werkjahres, das jüngste Gerücht über seinen neuen Roman? Es gibt Buchhändler, welche junge Autoren mit den Worten begrüßen: «Man redet von Ihnen», oder: «Sie sind diesen Herbst leider noch nicht richtig ins Gespräch gekommen.»

Im Gespräch zu sein stelle ich mir etwa so vor, dass man in einer Badewanne voller Schaum und ohne Wasser sitzt. Leise knisternd dringt es an die Ohren. Überall, wo der Autor mit hochgeschlagenem Mantelkragen durchgeht, hat man gerade von ihm gesprochen. Betritt er eine Buchhandlung, gehen die Verkäuferinnen auf Zehenspitzen herum, um ja die Bücher nicht zu stören, die sich den Namen zuflüstern. An keiner Party kann er teilnehmen, ohne dass das anonyme Gespräch ihn einholt. Nie sprechen die Leute zu ihm, alle sprechen über ihn. So paradox es tönt, das «Gespräch» klammert den Autor aus. Die vielen Leser führen es, die das «Man» ausmachen in der Literatur. Buch und Autor sind eine Gesprächsware, die «man» austauscht, wenn es gilt, mit Kenntnissen zu brillieren. Von Toten und Lebendigen wird dabei gleichermaßen feierlich oder rücksichtslos gesprochen. Ein Gespräch ohne Partnerschaft, nicht Blabla, ganz und gar nicht, aber unwirklich für den Autor: das Gespenst seiner Popularität.

 

Dagegenzuhalten wäre der Dialog – im «Gespräch» reden immer alle auf einmal – zwischen Leser und Autor, nicht über das Buch, sondern aufgrund des Buches. Das Werk als Instrument, um etwas zu erfahren von andern Menschen, um etwas von sich preiszugeben, was man gesprächsweise niemals preisgeben könnte. Es gehört indessen zur Einsamkeit des Autors inmitten seiner großen oder kleinen Popularität, dass dieser Dialog selten zustande kommt, und vom stummen Zwiegespräch zwischen Buch und Leser erfährt er ohnehin nichts. Günter Eich hat seine Erfahrung im lakonischen Vierzeiler ‹Zuversicht› formuliert: «In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim. / Das sind schon zwei.» (Ich wüsste auch noch einen dritten.)

Wie kommt man ins Gespräch, ohne «ins Gespräch zu kommen»? Am ehesten, scheint mir, gelingt der Dialog, wenn Leser und Autor ihre Rollen vergessen oder gar vertauschen. Novalis schreibt: «Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält.» Würde das nicht heißen, dass man als Autor, sozusagen inkognito, versuchen müsste, dem Leser diese Instanz bewusst zu machen? Vielleicht sollte man sich einmal dazu bequemen, Fragen zu stellen, statt immer nur Fragen zu beantworten, und zwar solche, auf die man die Antwort nicht bereits in der Tasche hat. Die große Kunst des Fragens haben viele Schriftsteller, welche in ihrem Beruf gewohnt sind, alles in Frage zu stellen, im privaten Gespräch verlernt. Sie blicken nicht in Gesichter, sondern in Spiegel. Alles dreht sich um die Achse ihrer Person und ihres Werks; und wenn ein Leser von seinem eigenen Leben anfängt und länger spricht als zwei Minuten, sind sie beleidigt, dass es so viel Leben überhaupt noch gibt, außerhalb ihrer Phantasie. Ja, der Autor hat etwas von einem Pfarrer, wenn er so dasitzt mit meisterhaft gemimter Aufmerksamkeit und zuhört, ohne zuzuhören, ohne dem Gespräch die geringste Chance zu geben, dass es sein Weltbild aus den Fugen bringen könnte.

Falls der Dialog tatsächlich wünschenswert erscheint, muss auch der Autor ein erweiterter Leser sein. Ein Leser vor allem, der Augen hat für das, was sich nicht in Literatur ummünzen lässt, der Gesichter und Gebärden zu lesen versteht, ohne an eine Nebenfigur seines Romans zu denken. Dieses Gespräch, meine ich, wäre für beide Teile hygienischer als das große Schaumbad des Kulturgeflüsters.

ERSTLINGE

 

Ich habe in den Jahren 1962 und 1963 – vor den Gedichten – eine Reihe von Prosatexten geschrieben, die man heute als «Fingerübungen» bezeichnen würde. Zwar gibt es keinen Czerny der Literatur, aber man stellt sich, wenn man diesen Ausdruck gebraucht, doch vor, dass sich die Sprache an sich trainieren lasse. Man hat das Bild eines jungen Schreibers vor sich, der über seinem Leben das Zielband «Schriftsteller» aufgespannt hat und sich nun täglich an die Schreibmaschine setzt, um Wörter und Sätze zu üben, in der Hoffnung, dass er bis in ein paar Jahren etwas zu sagen haben werde. Dazu zwei persönliche Bemerkungen.

Es erstaunt mich bei der Durchsicht dieser frühen Texte selber, dass ich zum Teil so gearbeitet habe. Da gibt es folgende Passage aus einer Zirkusgeschichte:

«Der Blick siegte, und noch ehe ich Gelegenheit gehabt hätte, den Geruch von Schminke, Magnesium, Sägemehl, Pferden, Futterfischen und das süßliche Parfüm verwelkender Artistinnen zu einem Bild zusammenströmen zu lassen, war ich schon drinnen im Zelt, schon bei der Strickleiter, stieg schon, mit der rechten Hand vorgreifend, den Rumpf nachziehend, erreichte die ersten Scheinwerfer, zog mich höher, ließ die Trapeze mit den sorgfältig ausgeklügelten Aufhängungen hinter mir, warf beim weiteren Aufstieg einen Blick in das sandgelbe, verjüngte Oval der Manege, schätzte die Höhe ab, scheuchte Nachtfalter auf …»

Dieser Abschnitt erinnert den Leser an etwas, und ich kann ihm genau sagen, an was: an die Blechtrommel, das Kapitel «Fernwirkender Gesang vom Stockturm aus gesungen». Der Aufstieg Oskars auf den Stockturm wird wie folgt geschildert: «… die Tür gab nach, und Oskar war, ehe er sie ganz aufgestoßen hatte, schon drinnen im Turm, schon auf der Wendeltreppe, stieg schon, immer das rechte Bein vorsetzend, das linke nachziehend, erreichte die ersten vergitterten Verliese, schraubte sich höher, ließ die Folterkammer mit ihren sorgfältig gepflegten und unterweisend beschrifteten Instrumenten hinter sich, warf beim weiteren Aufstieg – er setzte jetzt das linke Bein vor, zog das rechte nach – einen Blick durch ein schmal vergittertes Fenster …»

Ich habe auf diese Weise ganze Kapitel abgeschrieben, indem ich das syntaktische Muster von Grass übernahm und mit eigenen Wörtern füllte. Was ist der Sinn einer solchen Übung?

Man muss unterscheiden zwischen Stil und Sprachbewusstsein, Sprachkenntnis. Ein Stil lässt sich mit einem solchen Verfahren nie heranbilden, und das ist gut so. Der Stil kann sich erst aus einer Perspektive, aus einer bestimmten Anschauungs- und Interpretationsweise des Lebens entwickeln, wobei ich schon als Interpretation bezeichnen würde, was sich meinem Erleben erschließt und was nicht. Wenn ich sage: Dieser Mensch hat Stil, so meine ich, dass alles, was sein Leben ausmacht, zusammenpasst, und dass er sich mit sich selbst geeinigt hat über die adäquate Ausdrucksform. Es wäre also Unsinn, einen syntaktischen Stil von Grass oder einem andern Satzkünstler übernehmen zu wollen. Aber ich kann mein Konstruktionsvermögen schulen, erweitern, ich kann sehen, was passiert, wenn ich in einen Nebensatz dritten Grades einen selbständigen Hauptsatz einschiebe, durch Gedankenstriche aus der Abhängigkeit herausgelöst. In dieser Hinsicht kann ein Schriftsteller nie zu viel tun, nie weit genug gehen. Es gibt das schöne Gedicht von Gottfried Benn, oft zitiert:

«‹Die wenigen, die was davon erkannt› – (Goethe) – / wovon eigentlich? / Ich nehme an: vom Satzbau.» (‹Satzbau›)

Ich habe mal einen namhaften Literatursachverständigen gefragt, ob ich ihm ein Gedicht von 8 Zeilen zeigen dürfe. Er sagte: Es hat keinen Sinn, dass ich ein Gedicht von 8 Zeilen beurteile, bevor ich 80 Seiten Prosa von Ihnen gelesen habe. Ich darauf entrüstet: Aber die Lyrik, das ist doch etwas anderes! Er: Ja, gerade weil die Lyrik etwas anderes ist, muss man Deutsch können, und ob Sie Deutsch können, sehe ich nicht an ein paar Substantiven, Adjektiven und Partizipien. Ich will wissen, ob Sie die Mittel beherrschen, die Sie nicht einsetzen, ob Sie sie also mit gutem Grund nicht einsetzen. Ich habe mich als junger Lyriker entschieden gegen diese Ansicht gewehrt und mich auf meinen Weltschmerz berufen. Heute gebe ich ihm recht. Die Sprache ist ihrem Wesen nach «mangelhaft», und wenn man Fehler zu beabsichtigten Fehlern machen und sie in ein System bringen will, muss man – unter anderem – Perioden bauen, gewollte Schachtelsätze konstruieren können. Ich richte diese Mahnung zuallererst an mich selbst, denn wenn ich mir nicht auf die Finger schaue, wird jeder zweite Satz ein Dass-Satz. Die Erstlinge, über die ich hier spreche, lassen wenigstens den Versuch erkennen, aus der Satz-Armut auszubrechen.

Autor