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Die andere Seite des Tages

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

»Ein exquisiter, melancholischer und kritischer Roman der Arbeiterklasse.« Politiken

Um über den plötzlichen Tod ihres Bruders hinwegzukommen, reist Anna nach Paris und arbeitet in den darauffolgenden Jahren bei verschiedenen Familien als Au-pair. Die Beziehung zu ihren Arbeitgebern ist zugleich intim und distanziert. Sie muss eine Bindung zu den Kindern herstellen, bleibt als Angestellte aber immer eine Außenstehende. Auch der ständige Wechsel in neue Familien hinterlässt Spuren. Selbst privat schafft Anna es irgendwann nicht mehr, Nähe zuzulassen.

Ein feinfühliger Roman darüber, wie es ist, bei einer Familie zu leben und dennoch nicht zu ihr zu gehören. Über Grenzen und Rollen, die sich verändern und bröckeln. Und über das Kochen von Mahlzeiten, von denen man selbst nicht essen darf.


»Zart und präzise. Emeli Bergman ... schreibt selten direkt darüber, wie es Anna geht, aber es gelingt ihr unglaublich gut, die Stimmungen von Anna und ihrer Familie auf den Seiten einzufangen.« Information

»Beschreibt die Machtverhältnisse in der Kinderbetreuung, ohne zu urteilen. Gekonnt, leise und mit viel Feingefühl ... Feine sinnliche Szenen ... Ein bisschen häuslicher Horror ... Das Buch lässt einen erschauern wie ein Schatten, der inmitten eines biedermeierlichen Motivs flackert.« Weekendavisen

»Ich bin sehr begeistert von Emeli Bergmans zeitlosem Roman ... Elegant und makellos.« Litteratouren

»Ein poetischer Hochgenuss.« Bogvægten

»Es war eine sehr schöne, sinnliche und poetische Erfahrung, Die anderen Seiten der Tage von Emeli Bergman zu lesen ... Es ist die Art von Geschichte, in der man sich beim Lesen mit allen Sinnen verliert.« Fuglsangforoven

»Ein Buch, das einem lange Zeit im Gedächtnis bleibt. So viele Details, Stimmungen und Denkanstöße ... Es ist poetisch, ergreifend und voller Emotionen, und setzt tausend Gedanken in Gang.« Etkapitelomdagen

»Schön, dicht und gut komponiert.« Bogsyn

»Einfühlsamer psychologischer Realismus darüber, für die Betreuung von Kindern angestellt zu sein und die Notwendigkeit, eine Beziehung zu einer Familie aufzubauen, ohne die Grenzen zu überschreiten, die die Bezeichnung ›Kindermädchen‹ vorgibt.« Litteratursiden


  • Erscheinungstag: 23.08.2022
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000695
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FÜR SAMUEL

DANKE, ELIE. DANKE, LEA.

Eine Kinderfrau verspeist ein großes Eis, anschließend lässt sie sich von den Zwillingen die Hände sauber lecken. Die eifrigen Tiermünder, die vier Hände verkrampft um die Metallstange des Buggys, die sie zurückhalten soll.

In mein Notizbuch zeichne ich ein Mädchen, das Tennis spielt, die Arme sind schwierig zu zeichnen, sie drehen sich in die falsche Richtung, geraten zu lang und zu dünn. Ponys sind einfacher. Pferdekörper kenne ich schon seit meiner frühen Kindheit. Gestern habe ich gesehen, dass eines der Ponys eine Wunde hat, und den Besitzer gefragt, was passiert ist. Nichts, sagte er, nur ein kleines Missgeschick. Ich berührte die Wunde und versah meine Zeichnung vorsichtig mit etwas Blut. Das Pony schüttelte den Kopf und schnaubte, Fliegen hatten sich in seine Augen und die Wunde gesetzt. Der Mann hockte an einen Baumstamm gelehnt, er holte eine Dose mit Fett hervor und begann, seine Schuhe zu putzen, altmodische, schöne Schuhe, die vorne eckig waren. Nur ein kleines Missgeschick, wiederholte er zerstreut, ohne zu mir aufzusehen. Die Schatten der Bäume lagen in Flecken auf ihm und den Rücken der Ponys, wie auf einem alten Gemälde.

ANGEKOMMEN

und ich träume zweimal

Das ist unsere Anastasia fürs Sommerhaus!, rief Aude. Während der Autofahrt hatte sie mir das Haus beschrieben, von der großen Terrasse erzählt, auf der die Kinder jetzt die meiste Zeit verbrachten, die letzten Wochen der Sommerferien.

Ich war hauptsächlich Kindermädchen, das hatte ich auch gesagt, aber ihre Kinder waren schon groß. So war es einfach. Zwei Jungs, vielleicht Anfang zwanzig, sie waren älter als ich. Ihre Freundinnen hatten dichte Ponys, die sie sich aus den Augen strichen, als sie zu mir hochblinzelten. So lange Beine, so große Augen, die allerersten Tage im Leben der Fohlen: Weg mit dir, dichte Mähne, weg! Vier Paar sonnengebräunte Beine zwischen uns und den vier großen Kindern.

Anastasia war das Hausmädchen, das sie in Paris gehabt hatten, und meine beste Freundin in den vergangenen drei Monaten; ihren Job sollte ich übernehmen. Ich würde zwei Monate hier mit der Familie zusammenwohnen und danach auch in Paris für sie weiterarbeiten, weil Anastasia bei einer jüngeren Familie anfing, die ein Kind erwartete.

Kommst du aus der Ukraine?, fragte die blasseste Freundin. Ich verneinte es. Ich nämlich schon, sagte sie. Aber ihr Großvater war Franzose, erklärte Aude und stellte uns einander vor. Das sind: Esther, Julia und meine Söhne: Pierre und Jules. Völlig unmöglich, aber hochintelligent, man weiß nie, woran man bei ihnen ist, aber so war ich in jungen Jahren auch, völlig unmöglich. Esther fuhr fort: Es ist schön in der Ukraine, ich komme von der Küste, wenn du noch nicht da warst, solltest du mal hinfahren. Inzwischen suchen dort auch viele nach einer Haushaltshilfe, dem Land geht es gut, das wissen viele nicht, oder sie machen sich keine Gedanken darüber.

Das Licht wurde von ihren langen Wimpern gefiltert. In der Ukraine hat man auch zuerst damit angefangen, Wildpferde zu zähmen, sagte Jules und sah mich mit einem Lächeln an, das freundlich war, möglicherweise intelligent, und nachsichtig. Die jungen Menschen betrachteten mich prüfend, ehe sie lachten. Ich lächelte, ich durchschaute nicht, ob ich das mit den Pferden hätte wissen müssen und wie sie erkannt hatten, dass ich es nicht wusste. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob ich ukrainisch aussehe oder ob es dort schöne Strände gab. Die Augustsonne wärmte meinen und Audes Rücken, und unsere Schatten fielen auf die halb liegenden Körper von Pierre, Julia, Jules und Esther. Hinter uns war der Pool.

Auf dem Weg vom Bahnhof hierher hatte Aude mir ihre Familiengeschichte erzählt, ihr Großvater mütterlicherseits war auf einem Schloss aufgewachsen, obwohl er Sozialist war. Sie hatte eine beindruckende Familie, der Großvater war ein Kriegsheld und späterer Minister. Auf der Autobahn kreuzte sie zwischen den anderen Fahrzeugen hin und her und sah mich oft an, während sie wild gestikulierend erzählte. Weingärten und noch mehr Weingärten, hohe Berge, ein weiter Himmel, eine weite Landschaft. Aude war eine sehr gute Autofahrerin. Ihre Mutter sei früher unglaublich schön gewesen, sie sei es bis heute, trotz ihres hohen Alters. Sander werde noch am selben Abend aus Hongkong zurückkommen, erklärte sie, er werde sehr müde sein, aber morgen werde er nicht mehr müde sein.

Kannst du reiten?, fragte Esther. Es machte die vier rastlos, dass wir immer noch dort standen. Jules ist fast ein Profi. Und im Frühjahr haben wir ihm ein neues Pferd gekauft, sagte Aude. Jules betrachtete mich und seine Mutter unter seiner Mütze hervor, sein Körper war glatt und weiß wie der einer Puppe.

Ich antwortete, ich könne reiten und hätte es als Kind viel getan, aber das sei jetzt lange her. Ach wirklich?, sagte Aude und sah mich übertrieben überrascht an, ehe sie zu ihren Kindern blickte. Jules kann dir übrigens dein Haus zeigen, fuhr sie fort, ja, du bekommst ein eigenes Haus, unser Gästehaus. Mit einem Doppelbett. Jules zog sich die Mütze über die Augen und stieß einen unzufriedenen Laut aus. Och nee, ich lieg hier gerade so gut, Mama, sagte er. Aude verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern. Habe ich es nicht gesagt: unmöglich! Ich sah sie an, konnte mir aber kein Lächeln oder Ähnliches abringen. Ich fand es nicht lustig, dass er keine Lust hatte, für mich aufzustehen, und wenn man sein Kind wahlweise als unmöglich oder genial bezeichnete, erschien mir das nur wie ein Vorwand, um es nicht kennenlernen zu müssen.

Aude steuerte ein Haus in einer Ecke des Gartens an, und ich folgte ihr. Die anderen unterhielten sich weiter.

Im Gästehaus gab es eine Dusche und eine Toilette und ein großes, hohes Doppelbett. Meine Eltern übernachten hier, wenn sie uns besuchen, sagte Aude. Sie zeigte mir das Badezimmer. Es wurde ganz neu gemacht, sagte sie, sollte der Boden nass werden, kannst du ihn damit trocken wischen. Sie hielt mir einen Duschabzieher vor die Nase. Mache ich, sagte ich, wie schön, ein eigenes Haus zu haben. Ihr kleines eckiges Gesicht leuchtete auf wie eine Sonne, und sie strich mit einer schnellen Bewegung ihre langen, sehr glatten Haare zurück, sie stand jetzt über das Bett gebeugt, und sie waren ihr ins Gesicht gefallen. Ich habe es gerade mit schöner frischer Bettwäsche bezogen, erklärte sie, sie hat zum Trocknen draußen im Garten auf der Leine gehangen. Sie ging an mir vorbei zur Tür hinaus. Jules bringt dir deinen Koffer, sagte sie, er holt ihn aus dem Auto, jetzt kannst du dich ein bisschen ausruhen. Morgen brauchst du dich nicht um das Frühstück zu kümmern, die Kinder wollen ausreiten. Wir können in einer Stunde mit dem Kochen anfangen. Auf der Treppe drehte sie sich um: Das sind ja auch für dich Ferien!

Ich legte mich auf das Bett und ging im Kopf meine Möglichkeiten durch, ich konnte das Grundstück nicht verlassen, weil die eine Hälfte von einer großen Steinmauer umgeben war und die andere von einer noch höheren Hecke aus Thujen und Bambus. Ich konnte nicht zu Hause anrufen, weil ich meinen Eltern die Schuld am Tod meines Bruders gab und ihnen deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Ich durfte nicht darüber nachdenken, denn der Sinn des Ganzen hier war ein neues Leben. Ich konnte nicht lesen, weil ich keine Bücher mitgenommen hatte, ich hätte duschen können, wollte es aber nicht, weil ich mich sauber fühlte. Es gab einige Menschen, die ich unbedingt vergessen wollte, und sie alle hätte ich gern angerufen. Jedes Wort, das Aude an mich gerichtet hatte, war glatt, kalt, beschreibend und positionierend gewesen, ich konnte nicht erkennen, ob sie sich mit mir verbünden oder von mir distanzieren wollte. Vielleicht keins von beidem.

Von innen erinnerte das Gästehaus an eine Alpenhütte, die Astlöcher in den Holzwänden glichen Tier- oder Menschengesichtern, wenn ich sie konzentriert betrachtete. Nach einiger Zeit befielen mich Kopfweh und Übelkeit, ich vertrage kein schummeriges Licht, und ich beschloss, mich auf die Treppe vor dem Haus zu setzen.

Auf beiden Seiten des Gästehauses wuchsen Hibiskusbüsche, die relativ neu gepflanzt waren, und nur einer von ihnen blühte, eine einzelne, saftige rosa Blüte, deren Ränder welk geworden waren, weil sie bald abfallen würde, ich zwickte den Stiel ab, rollte sie zwischen meinen Fingern und schloss die Augen, in der Ferne hörte ich die beiden jungen Paare über die Aufnahmeprüfungen an bestimmten Kunstschulen und den Numerus clausus an den Universitäten sprechen. Einige wenige vollständige Sätze erreichten mich: Es ist so, als müsste man sich zwischen der Zukunft und der Kunst entscheiden, dabei ist die Kunst doch die Zukunft. Wenn Pierre nach Cannes zieht, gehe ich auch dorthin. Er möchte nicht, dass wir zusammenwohnen, aber er hätte gerne, dass wir in derselben Stadt leben. Wenn man nicht zugelassen wird, hat man ein ganzes Jahr verloren. Ich sah die beiden vor mir, Esther und Julia, ihre Gesichter, ihre großen Augen, die ich für dunkel gehalten hatte, aber jetzt kamen mir Zweifel, waren sie nicht hell? Blau oder grün. Es erschien mir undenkbar, dass die eine dunkle und die andere helle Augen hatte. Ich überlegte, ob Anastasia bei ihrer neuen Familie angekommen war, in den letzten Tagen hatte eine schlechte Stimmung zwischen uns geherrscht, vielleicht den ganzen letzten Monat, und wir waren beide erleichtert, künftig nicht mehr zusammenzuwohnen. Sie schuldete mir eine Monatsmiete, weshalb ich die Wohnung, die wir geteilt hatten, verdreckt und mit alten Klamotten und wertlosem Plunder auf dem Boden verstreut hinterlassen hatte. Jetzt vermisste ich sie und wollte sie um Verzeihung bitten, ich brauchte das Geld nicht mal, weil ich lange bei dieser Familie wohnen würde und währenddessen etwas sparen konnte. Ich presste die zerstörte Blüte in den Spalt zwischen zwei Treppendielen. Sie würde mir nie verzeihen, da war ich mir sicher, sie würde es einfach nicht tun.

Ich ging hinein, um mich eine Weile aufs Bett zu legen, kehrte aber schnell wieder zurück auf die Treppe, in die Sonne. Aude kam über den Rasen auf mich zu. Hat es gutgetan, sich ein bisschen auszuruhen?, fragte sie. Ja, antwortete ich. Anastasia hatte mir beigebracht, immer mit Ja zu antworten, wenn es keinen wirklich triftigen Anlass gab, der dagegensprach. Ja war besser als nachzudenken, was verdächtig erschien, und besser als Nein, aus augenscheinlichen Gründen, hatte sie gesagt.

Dann können wir jetzt mit dem Kochen anfangen? Ja, antwortete ich.

Die Küche war klein und kühl und ein bisschen dunkel, mit Fliesen auf dem Boden und an den Wänden, ein stiller, verheißungsvoller Raum. Sie wünschte sich Fleisch und ein Gratin. In einer halben Stunde würde ich das Gratin in den Ofen stellen, dachte ich, und anschließend das Fleisch vorbereiten. Bis dahin wird die Küche vom Ofen aufgewärmt sein. Und in ein paar Stunden würde es immer noch warm sein, aber genauso still und sauber wie jetzt.

Ein Gratin besteht aus geschnittenem Gemüse mit Sahne und Käse und wird bei mittlerer Temperatur im Ofen gegart, bis alles weich geworden und miteinander verschmolzen ist, ich lauschte Audes Stimme und konnte den Blick nicht von ihrem Mund abwenden, wenn sie sprach. Der Vater und die Jungen bevorzugten das Fleisch blutig. Aude fragte, wo und wie ich in Paris untergekommen sei, und ich erzählte, dass ich mit Anastasia zusammengewohnt hatte, seit ich vor drei Monaten in die Stadt gekommen war. Sie fragte, ob mir Paris gefalle, und ich bejahte es. Es war noch schöner, als ich jung war, sagte sie. Inwiefern?, fragte ich. Sie sagte, es habe weniger Autos gegeben und es sei grüner gewesen.

Ich schälte Kartoffeln und legte sie in eine große Auflaufform, die sie auf den Küchentisch gestellt hatte. Einige Minuten stand Aude nur stumm neben mir, dann sagte sie: Letztes Jahr haben wir Urlaub auf den Philippinen gemacht. Du weißt, dass Anastasia von den Philippinen kommt? Ja, antwortete ich. Und weißt du was, fuhr sie fort, Jules ist mit einem Mongolenfleck auf die Welt gekommen. Aha, sagte ich. Also muss unsere Familie Vorfahren in Asien oder in der Karibik haben. Und bei ihm ist es einfach mehr durchgeschlagen. Es war, als wäre er ganz in seinem Element, als er dort im Dschungel umherging. Und vielleicht ist das auch gar nicht weiter verwunderlich. Er hat uns alle herumgeführt, als wäre er schon einmal dort gewesen. Sie sah mich erwartungsvoll an. Dann drehte sie sich um, öffnete energisch mehrere Schränke und schloss sie wieder, bis sie eine bestimmte Gewürzmischung fand, die sie mir hinstellte. Aber glauben Sie wirklich, dass das so funktioniert?, fragte ich. Sie zuckte die Achseln. Ja, antwortete sie. Und wo kommst du her? Von einer Insel, sagte ich, ich komme so richtig vom Land, mütterlicher- und väterlicherseits. Ich zeichnete eine Karte in die Luft, die Insel liegt auf dieser Seite, im Osten. Aude lachte ein wenig, als wäre das eine Erklärung dafür, wie ich auf die Idee kam, ihr zu widersprechen. Sie betrachtete meine Hände zwischen den Kartoffeln und nickte: Du scheinst eine erfahrene Köchin zu sein. Ja, sagte ich erstaunt, denn das war einer der Gründe dafür gewesen, warum sie mich eingestellt hatte, so hatte sie es jedenfalls vor einer Woche in Paris bei meinem kurzen Vorstellungsgespräch gesagt. Auf die Kinder aufpassen, putzen und kochen, Geduld und Sorgfalt. Von alledem verstehe ich nichts, hatte sie erklärt, ich bin nicht häuslich. Während ich die Karotten schnitt, verschwand sie im Garten. Ich wusste nicht, was ein Mongolenfleck war.

Aude erinnerte mich stark an jemanden. Bald fiel mir auch ein, an wen: Katjas Mutter Elisabeth. Katja war meine beste Freundin in der zweiten und dritten Klasse gewesen. Die Familie war auf die Insel gezogen, um der Natur näher zu sein, und weil die Mutter neben ihrem eigentlichen Beruf als Zahnärztin auch ihr künstlerisches Talent entwickeln wollte. Der Vater arbeitete immer noch als Arzt an einer großen Klinik in Stockholm und war, genau wie Audes Mann, nur selten zu Hause. Ich hatte noch nie einen so alten Vater gesehen. Katja und ich besuchten uns oft gegenseitig zum Spielen, eines Nachmittags war meine Mutter gekommen, um mich abzuholen, und unterhielt sich mit Elisabeth an der Tür des großen blauen Hauses, das die Familie gekauft hatte. Meine Mutter muss mindestens fünfzehn Jahre jünger gewesen sein und blickte zu ihr auf, auch weil sie einige Stufen weiter unten auf der Treppe stand. Sie erkundigte sich nach Elisabeths Hintergrund und ihren Zukunftsplänen und erhielt lange und ausführliche Antworten, aber keine Fragen zurück. Das Gespräch endete damit, dass meine Mutter fragte, ob sie Elisabeths Kunstwerke sehen dürfe. Elisabeth zögerte ein wenig, doch dann deutete sie auf die Scheune, die zu einem Atelier umgestaltet worden war. Sie können da hineingehen, sagte sie, aber fassen Sie nichts an. Und könnten Sie mir meine Zigaretten mitbringen?

Nachdem sie wieder nach Stockholm gezogen waren, bekam ich einen Brief von Katja, der mit den Worten begann: Jetzt haben wir uns endlich in der schönen großen Backsteinvilla eingerichtet, die ab sofort unser Zuhause sein wird! Im selben Sommer ließen meine Eltern sich scheiden, und meine Mutter kaufte ein Sommerhaus nur wenige Kilometer vom früheren blauen Zuhause der Familie.

Ich hatte angefangen, Gedichte zu schreiben, wenn ich nachmittags aus der Schule nach Hause kam, sie bestanden alle aus einem Satz mit zwei Teilen. An diesen erinnere ich mich: Die Katze lief in den Wald / Und ein Mädchen mit vielen Zähnen ging vorbei. Später im selben Jahr legte meine Mutter sich eine Tunika zu, die an jene erinnerte, die Elisabeth immer getragen hatte, sie hatte ein großflächiges, abstraktes Muster, darunter trug sie schwarze Leggings, obwohl sie mir einmal gesagt hatte, blonden und hellhäutigen Menschen würde Schwarz nicht gut stehen, es sei zu hart. All das erfüllte mich mit Zorn, Katjas oberflächlicher Brief, und dass meine Mutter mir etwas Falsches über Schwarz beigebracht hatte. Jetzt, allein in der französischen Küche, überlegte ich, ob es nicht heißen sollte: Und ein Mädchen mit vielen Zähnen ging leise vorbei. Leise war gut.

Aude kehrte mit zwei gerahmten Fotografien in die Küche zurück. In den Sechzigerjahren galt Rosalie unter vielen berühmten Chansonniers als die schönste Frau in ganz Paris, sagte sie. Die erste Aufnahme zeigte Rosalie an einem Strand in einem sommerlichen Kostüm, sie war schätzungsweise dreißig. Die zweite zeigte Rosalie und ihre Mutter in identischen beigefarbenen Pelzen, sie saßen in einer Kirche, die mit weißen Blumen geschmückt war, vielleicht bei einer Winterhochzeit. Ihre Mutter hieß Aude, wie ich, erklärte Aude. Ich betrachtete die Bilder, sie besaßen eine große Anziehungskraft, man wünschte, man wäre damals dabei gewesen. Wäre Rosalie gewesen.

Aude seufzte. Ich wollte sie dir nur zeigen, ich dachte, sie würden dich vielleicht interessieren, aber … Sie zuckte mit den Schultern. Hat sie denn auch gesungen?, fragte ich schnell. Ich meine, wenn sie all diese Chansonniers kannte. Nein, nein, ihr Bruder verkehrte in diesen Kreisen, er war Musikjournalist. Er schrieb Kritiken für ein Jazzmagazin. Sie hat nie gearbeitet! Aude drehte sich um und ging, sie hielt die Fotos vor sich, während sie durch das Wohnzimmer und zu dem Schrank ging, wo sie gestanden hatten.

Ich öffnete den Kühlschrank und sah hinein. Fenchel. Granatäpfel. Mango … Dieselben Gemüse- und Obstsorten wie in Elisabeths Salaten, die einen nicht satt machten, sondern nur hungriger, von denen man Lust auf mehr und mehr bekam. Bei diesem Anblick spürte ich das Glück in meinem Blut brausen. Das Gratin begann aus dem Ofen nach Sahne zu duften. Die Schwere des Fleischs in der Hand, die Kälte des Kühlschranks. Ich musste daran denken, was Mateo über die Übungsleichen im Medizinstudium erzählt hatte. Man entleerte das Blut aus ihnen, aber die Studenten trafen trotzdem manchmal eine Ansammlung, und das kalte Blut spritzte. War er einer von denen, die ich nicht anrufen durfte? Ja.

Sanders Auto brummte regelmäßig und dumpf wie eine Maschine in einem Krankenhaus, eine so avancierte Maschine, dass die Ärzte einen auffordern konnten, das Zimmer zu verlassen, wenn sie zum Einsatz kam, nicht wegen der Strahlung, sondern weil sie einem so viel Konzentration abverlangte. Man möchte nicht die falschen Nerven durchtrennen, die falschen Gefäße treffen. Sander trug ein Hemd, das ihm locker über den breiten, knochigen Schultern hing, und er hatte einen Blick, der das Nicht-Lebendige, Nicht-Denkende schätzte. Er lächelte mich hastig an, als wäre ich eine fremde Passantin. Ich ging an der Außenseite des Hauses entlang und hörte Esther oder Julia sagen: Wo ist er? Und einer der Jungen antwortete: Auf der Toilette, was glaubst du denn? Beide Söhne lachten.

Zufällig trafen sich Audes und mein Blick in der Küche genau in der Sekunde, die der Willkommenskuss dauerte, unmittelbar danach gab sie mir eine weitere Anweisung, ehe sie Sander auf die Terrasse zu den Kindern folgte. Aude und Sander ähneln sich, sie haben die gleiche Haarfarbe, die gleiche kantige Figur und den gleichen Gesichtsausdruck, von neutral über neugierig, misstrauisch, kontrolliert, liebevoll.

In dieser Nacht träume ich deutlich. Ich träume, Aude würde arrangieren, dass ihre Söhne und ihr Mann Sex mit mir haben, einer nach dem anderen. Sander, also der Älteste, als Erster, während die anderen zusehen, weil er die meiste Erfahrung hat, denke ich. Ich leiste keinen Widerstand und spüre auch keinen Schmerz. Die Freundinnen sind im Traum präsenter als in Wirklichkeit. Im Traum kommt es mir so vor, als würde ich sie alle schon lange kennen. Der Vater ähnelt den Söhnen, aber er ist größer als sie, viel größer, es ist nicht der Sander, den ich abends getroffen habe, sondern ein ganz anderer Mann, und doch ist er es. Nichts am Akt ist überraschend, wir stehen wieder auf, und Aude verkündet knapp: So, und jetzt ist der kleine Bruder dran. Ich verstehe, dass sie ihnen mit mir ein Geschenk machen will. In dem Augenblick, bevor ich aufwache, denke ich: Wer liebt hier wen nicht?

Als es an der Tür klopfte, war ich schon seit einiger Zeit wach und dachte, es wäre Aude. Doch als ich aufmachte, stand Julia auf der Treppe, ihre Augen waren braun, aber so hell, dass man die Pupillen klar erkennen konnte. Esther hat mich gebeten, dir zu sagen, oder eigentlich hat Aude sie gebeten, und die hat mich gebeten, dir zu sagen, dass wir jetzt doch nicht ausreiten, deshalb müsstest du Frühstück machen, sagte sie.

Die Astlöcher an den Wänden erinnerten am ehesten an Windhunde mit runden Augen, langen Köpfen und einer schwarzen Schnauze. Als ich klein war, hatten meine Großeltern einen Greyhound, der schwebte, wenn er ging, man spürte ihn gar nicht an der Leine, es war, als hielte man ein Band, das einfach so in der Luft hing, nach vorn oder seitwärts, er bewegte sich niemals zurück, weil er immer genau wusste, wohin man unterwegs war, noch bevor man es sich selbst überlegt hatte.

Der Tag verging wie im Flug. Am nächsten Vormittag liefen Pierre und Julia im Garten umher, als suchten sie etwas, und im Küchenfenster konnte ich bereits Audes Kopf erahnen, ich eilte hinein. Die Klimaanlage im Wohnzimmer war eingeschaltet, Sander saß auf dem beigefarbenen Sofa vor dem Fernseher. Aude sprach mit sanfter Stimme, sie wirkte sehr müde. Er hat seine Müdigkeit an sie weitergegeben, dachte ich. Sie stellte Dorsch, Avocado, rote Zwiebeln, Koriander, Zitrone, Limette, Knoblauch und Nektarinen auf den Küchentisch und erklärte mir langsam, was Ceviche war. Jules kam in die Küche, sie kontrollierte, was er aus dem Kühlschrank mitnahm – eine Schale Himbeeren –, ignorierte ihn jedoch ansonsten. Eine Weile stand sie schweigend da und betrachtete die Lebensmittel, und ich überlegte, ob sie auch fand, dass es nach wenig aussah. Doch sie sagte nichts, entfernte sich lediglich, und ich sah ihrem Rücken nach, der bereits so vertraut wirkte, von mir verinnerlicht. Sie war diejenige, an die ich mich band. Marinierter roher Fisch und Salat … Avocado und Nektarinenstücke. Ich wollte sie vor Sander und den großen dummen Jungen beschützen, vor deren Freundinnen. Plötzlich stand Esther in der Tür, die von der Küche in den Garten führte. Hast du einen Autoschlüssel gesehen?, fragte sie. Wir wissen nicht, wo er ist. Sie sah gequält aus, ganz anders als noch vor zwei Tagen, als sie mich gefragt hatte, ob ich auch aus der Ukraine sei. Der Schlüssel von Sanders Auto war verschwunden, nachdem Jules und sie es sich ausgeliehen hatten. Ich werde die Augen danach offen halten, sagte ich. Sie blickte auf meine Hände, das Gemüse, den Fisch und das Messer auf dem Schneidebrett. Was gibt es eigentlich zum Mittagessen?, fragte sie. Ceviche, antwortete ich. Dorsch.

Während der Fisch zog, ging ich zurück ins Gästehaus und schlief auf dem Bett ein. Ich träume erneut, träume, dass ich im Pool bin, zum Gästehaus aufblicke und sehe, wie sich Menschen darin bewegen, und ich verstehe, dass die ganze Familie dort ist. Ich schwimme zum Beckenrand und spähe darüber hinweg, versuche zu erkennen, was sie machen, und gleichzeitig so unsichtbar wie möglich zu sein. Dann kommen sie der Reihe nach heraus, Aude, Julia, Pierre, Sander, Jules … alle bis auf Esther. Vielleicht ist sie nie dabei.

Als ich im Gästehaus wieder aufwachte, fühlte es sich falsch an, als wäre ich im Schlaf an einen anderen Ort versetzt worden. Weil Aude es sich wünschte, präsentierte ich das Mittagessen, erklärte, wie sie es zuvor mir erklärt hatte, dass es ein peruanisches Gericht sei, aber in ganz Südamerika und auch in den USA und in Asien beliebt, der Fisch werde nicht erhitzt, sondern im Limettensaft gegart. Anschließend ging ich auf die Treppe hinaus und aß Müsli mit Vollmilch aus einer neuen Flasche, die ich unter dem Küchentisch gefunden hatte. Sie schmeckte sonnenwarm, obwohl sie dort drinnen unter dem Tisch gestanden hatte. Aude hatte gesagt, ich könne mir alles nehmen, was ich wolle. Ich legte die angebrochene Flasche in den Kühlschrank neben die Hähnchen, die ich zum Abendessen zubereiten sollte, ihr Fleisch war so hell wie eine helle Zitrusfrucht. Ich schämte mich, alles darüber zu wissen, wie die Tiere von innen aussehen.

Der Schlüssel lag im Hibiskus links von der Treppe, er hing ganz unten im Stamm fest, dort, wo dieser sich zum ersten Mal verzweigte, und genauso hoch, dass das kleine Lederstück des Schlüsselrings nicht den Boden berührte. Er musste mit einem diskreten Flattergeräusch durch die Blätter gefallen sein, kein Wunder, dass sie es nicht bemerkt hatten, dachte ich. Weder Jules noch Esther. Ich steckte den Zeigefinger durch den Ring und ließ den Schlüssel leicht in meiner Hand ruhen, eigentlich war es gar kein richtiger Schlüssel, sondern nur eine schwarze Plastikkapsel mit zwei Knöpfen zum Auf- und Zuschließen.

Mein eigener Vater mochte Autos ebenfalls. Er hatte sogar selbst eins aus verschiedenen alten Wracks zusammengebaut. Ich dachte darüber nach, wie Sander reagieren würde, wenn er den Schlüssel zurückbekäme – würde er sich freuen, würde er erleichtert sein –, vermutlich gab es mehrere Schlüssel. Würde er mir danken und Jules warnen: Wenn dieser Schlüssel noch einmal verschwindet, wirst du nie wieder mit meinem Auto durch die Gegend fahren …!

Ich gab Esther den Schlüssel, als sie an der Küche vorbeikam, wo ich gerade stand und die Hähnchen mit Kräutern und Knoblauch füllte, und ich sagte, ich hätte ihn im Gras gefunden. Sie blieb stehen, als würde sie überlegen, was sie außer einem Dank noch äußern könnte, eine Erklärung oder einen freundschaftlichen oder professionellen Kommentar, ihre Hände ähnelten jenen in meiner Familie väterlicherseits, breit, sehr beweglich, mit großem Abstand zwischen den Knöcheln.

Der Schlüssel lag neben Sanders Teller auf dem beigefarbenen Tischset, das konnte ich von der Küche aus sehen. Er aß die Kartoffeln in großen Bissen und kaute unermüdlich das Hähnchen, ihn konnte ich am besten sehen, nur leicht verdeckt von Esthers Nacken mit dem hochgesteckten Haar, aus dem im Laufe des Essens immer mehr Strähnen herabfielen. Sie stopften sich die Salatblätter in den Mund, bis ihnen die Vinaigrette an Wangen und Kinn herablief. Ich hatte sie zubereitet. Mit meinen Händen hatte ich die Kartoffeln vorbereitet, den Sud vom Hähnchen darübergegeben und alles hineingetragen. Ich blinzelte, betrachtete die Familie. Die großen Jungen an den beiden Tischenden, sie rekelten sich auf den Stühlen und lachten beim Reden. Die Freundinnen, die entweder zu lachen oder zu reden schienen. Ich hatte bereits das Gefühl, sie wären klein, sie wären meine Verantwortung. Die Dunkelheit der Küche umschloss mich, und ich lauschte meinem eigenen Atem, stellte mir das große Haus der Lunge vor, mit kleinen weichen Zimmern. Die gerillten Röhren, die zu ihnen führen, und von ihnen weg; ihre, meine.

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