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Die Befragung der Zeit

Als Buch hier erhältlich:

1949 wird der Arzt Julius Brunner der gewerbsmäßigen Abtreibung angeklagt. Er hat es als seine Lebensaufgabe betrachtet, anderen Menschen zu helfen. Auch der jungen Kellnerin, die schwanger wurde von einem Mann, der längst mit einer anderen verlobt war. Mit 74 Jahren muss Julius Brunner monatelang zur Abklärung in die Heilanstalt und rettet sich dort mit imaginären Fahrten in einem Heißluftballon und mit Abenteuergeschichten, die er für seine Enkelin erfindet. Verena Stefan hat einen berührenden und humorvollen Roman über ihren Großvater geschrieben. Gestützt auf ihre Erinnerung sowie Originalzitate der Justiz und Psychiatrie, erzählt sie von seinem ungewöhnlichen Leben und ihrer wunderbaren Zuneigung.
  • Erscheinungstag: 03.02.2014
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006229
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

MAI 1950

Die Welt ist blaugrün.

Sie stehen zwischen den Apfelbäumen in der Obstwiese und schauen in den Himmel hinauf. Das Summen der Bienen zittert in der Luft.

Mein Herz ist viel zu groß geworden, sagt der Großvater. Hoffentlich wird der Sommer nicht wieder so unsinnig heiß.

Rosa versucht blinzelnd, die Augen gegen die Sonne offen zu halten, dann lässt sie sie wieder zufallen.

Wenn er den Atem einzieht, hört sie es pfeifen. Manchmal nimmt er zwei-, dreimal Anlauf, um Atem zu holen, dann pfeift er keuchend. Er kann nicht mehr gleichzeitig sprechen und atmen, nur noch separat. Wenn er atmet, spricht er nicht, wenn er spricht, beginnt er zu rasseln.

Vormittags darf sie schnell zum Grüßen ins Parterre hinunter. Das Radio spielt Handorgelmusik, Großmutter Lina hält die hölzerne Kaffeemühle zwischen den Knien und mahlt Kaffee, Julius schreit durch die offene Schlafzimmertür: Himmelherrgottzuckerbäcker! Wo sind meine Manschettenknöpfe!

Wo du sie hingelegt hast!, schreit Lina und dreht die Kurbel der Kaffeemühle weiter.

Der Großvater braucht lange, bis er angezogen ist, immer tadellos, sagt Rosas Vater, eine abgetragene hellgraue Anzugshose, die dazupassende Jacke, ein weißes Hemd und polierte schwarze Halbschuhe. Nur eine Krawatte trägt er nicht mehr, und nachmittags, wenn er die Jacke auszieht, kommen Hosenträger zum Vorschein, die die Hose an ihm festhalten. Am Bund steht sie ein wenig ab, als stünde sie um ihn herum.

Enger geht es nicht, sagt er, und mit Gürtel schon gar nicht. Nichts, was drücken könnte. Nachts muss er aufstehen und umhergehen oder auf dem grünen Kanapee sitzen, weil er im Liegen nicht schlafen kann.

Rosa öffnet die Augen und schaut in den Schaum der Apfelblüten hoch, die das Sonnenlicht filtern. Es mischt sich in der Wärme mit ihrem Duft, dem Summen der Bienen und breitet sich in ihr aus.

Die Welt ist blaugrün, wiederholt er.

Sie greift mit beiden Händen nach seiner Hand und zieht daran. Dieser Tag ist ein Bilderbuch, in dem der Sommerwind eine Seite umblättert. Die Welt hat zu ihrem Zentrum zurückgefunden, sie ist blau und grün.

Das schönste Blumenbouquet, so ein blühender Apfelbaum!

Der Großvater seufzt tief auf, dann beginnt er zu rasseln. Ein Pfropf sitzt in seiner Kehle, hastig zieht er ein großes, weißes Taschentuch aus der Hosentasche und spuckt hinein. Rosa beginnt es im Hals zu würgen.

Tut mir leid, sagt er zu ihr, das ist nicht schön, ich weiß. Meine Lungen sind voll Schleim. Er schaut auf ihren weißblonden Schopf hinab. Das fisselige Haar fliegt nach allen Seiten auseinander.

Wo wäre er besser aufgehoben als in einer Löwenzahnwiese unter blühenden Apfelbäumen? Er hat den Winter überlebt, vielleicht wird ihm auch noch ein Sommer vergönnt sein.

Rosa hält sich an ihn, sein Name steht auf einem goldenen Schild neben der Haustür. Das Haus ist groß genug, um für alle Platz zu bieten, ihre Großeltern, Eltern und Frieder, ihren Bruder. Siebzehn Türen kann sie aufschieben, aus einundzwanzig Fenstern schauen, vier Treppen auf- und abstapfen. Man weiß nie, woher der Wind weht.

Der Wind ist eine große Macht.

Der Großvater fasst sich mit beiden Händen an die Seiten und holt tief Luft.

Der Wind ballt die Luftmassen zusammen und zieht sie wieder auseinander, er schiebt Wolken am ganzen Himmel umher, schüttelt sie, beutelt sie, so groß ist seine Macht. Wenn man die Winde kennt, weiß man einen Weg.

Wenn sie draußen sind, spricht er über die Luft und die Fahrt im Ballon. Nachts sei es am schönsten, am allerschönsten zwischen Tag und Nacht. Der Ballon sei so groß gewesen wie ihr Haus, eine riesige, prallgefüllte Kugel. Dreißig Männer seien nötig gewesen, um die Seile zu lösen, damit der Ballon in den Himmel aufsteigen konnte.

Wie ein Höhenfeuer!, sagt er, wenn die Sonne untergeht, flammt der Himmel wie ein Höhenfeuer auf. Bevor die Farben ganz verlöschen, taucht sie alles in Gold. Dann sinkt sie unter den Horizont. Weit unten sieht man glitzernde Streifen und Schlangenlinien von Flüssen und Kanälen. Die abertausend Lichter in den Dörfern und Städten funkeln, als sei auch die Erde, nicht nur der Himmel mit Sternen bestickt.

Der Großvater ist groß und schwer, aber er tritt langsam und vorsichtig auf, als habe er sich einen Splitter in den Fuß getreten. Außer seinem Herzen gibt es noch etwas in ihm, was zu groß ist. Es drückt alles zur Seite. In Frieders Aquarium lebt ein Räuberfisch, der alle kleinen Fische aufgefressen hat. Jetzt schwimmt er allein im Leeren umher und starrt einen mit seinen Glubschaugen an.

Rosa zieht Julius an der Hand. Ist es leer oder schwer?, fragt sie.

Wie meinst du das?

Innen drin.

Er bleibt stehen, um Luft zu holen, dann neigt er seinen Oberkörper nach vorn, um ihr in die Augen sehen zu können.

Schwer, sagt er nach einer Weile, sehr schwer. Man müsste lernen, rechtzeitig Ballast abzuwerfen.

In Rosas Universum ist alles Kind wie sie, Grün und Blau, der Himmel, das Wasser, die Luft und ein alter Mann, der kaum noch Luft bekommt. Selten sagt sie Großvater zu ihm. Als Julius nimmt sie ihn unter ihre Fittiche, ein Erwachsener, den die anderen in ihre Richtung schieben, eine Mischung aus Mensch und einem Tier, das sie nicht haben darf. Ihre Eltern wollen nichts von Hunden und Katzen wissen, um die sie sich kümmern müssten.

Seit langem wünscht sie sich ein Geschöpf, das in ihre Obhut gehört, etwas, das sie allein hat, niemand sonst in der Familie. Die Eltern und Frieder haben den Krieg, Frieder hat außerdem Albträume.

Julius ist gleichzeitig erwachsen und anhänglich. Mit ihm gibt es keinen Streit darüber, wem was gehört, wer etwas besser weiß, wie man etwas tut, wer wem gehorchen muss. Er gehört ihr mehr als Vater und Mutter, ein anderes Kind oder eine Puppe. Puppen sind ihr langweilig geworden, seit er wieder da ist und ihre Gesellschaft braucht. Er sucht nach ihr, um Zeit mit ihr zu verbringen, mit ihr zu plaudern und ihr zuzuhören.

Sie ist die Einzige im Haus, die nicht betreten an ihm vorbeisieht, sich nicht seinetwegen schlaflos durch die Nacht wälzt.

Der Umgang mit ihm ändert ihr Verhältnis zu den andern Erwachsenen. Ohne dass jemand sagen kann, wie es dazu gekommen ist, macht Rosa es sich zur Gewohnheit, die Erwachsenen ihrer Familie beim Vornamen zu nennen. Ihre Mutter bemerkt hin und wieder seufzend, sie würde es vorziehen, wenn Rosa Mama statt Alice zu ihr sagte, worauf sich Rosa einige Tage lang bemüht, dies zu tun, weil sie das Gefühl hat, ihrer Mutter etwas wegzunehmen, obwohl sie nicht weiß, was es ist. Über kurz oder lang vergisst sie es jedoch wieder.

Wenn ich groß bin, fliegen wir zusammen im Ballon, und du wirst wieder gesund!, ruft sie Julius zu.

Er lacht. Wenn du groß bist, werde ich nicht mehr da sein. Man lebt nicht ewig.

Alice steht auf der Terrasse im ersten Stock und schaut in den Garten hinab. Die Obstwiese dahinter leuchtet ihr als schneeiges Blütenmeer entgegen, eine Verheißung, als könnten an so einem Tag alle noch einmal von vorn anfangen oder, was ihren Vater betraf, Dinge ungeschehen machen.

Rosa kümmert sich rührend um ihn, sie hat ihre Rolle perfekt begriffen. Was für ein herzerwärmendes Bild die beiden darstellen; Lebensanfang und Lebensende in einer Obstwiese, ein allerliebstes Motiv! Am liebsten würde sie sich mit dem Fotoapparat anschleichen, aber sie will nicht stören.

SPÄTSOMMER 1949

Nach dem Test geht er im Garten der Anstalt spazieren. Nachmittags sieht man ihn öfter die Kieswege entlanggehen. Ein Wärter läuft hinter dem blöden Walter her, der eine Schubkarre ergattert hat und im Rückwärtsgang schreiend im Hof umhermanövriert, ein junger Kerl, der die Zunge aus dem Mund hängen lässt und sabbert. Ein paarmal sieht der alte Brunner sich um, als könne ihn jemand beobachten, Nachbarn oder einer seiner Stammtischbrüder, die ihn hier sehen würden, ihren Dorfarzt, von Mauern und Idioten umgeben. Was hat er hier unter Tollhäuslern, die lallend und gestikulierend umhertrotten, verloren? Langsam geht er bis zu den Kastanien am andern Ende des Gartens, wo niemand sitzt. Zum Kartenspielen hat er heute keine Lust.

Die rote Katze ist wieder da und streicht um seine Beine. Er lässt sich in einem Korbstuhl nieder, um sie auf den Schoß zu nehmen. Seit Tagen hängt eine satte Spätsommerwärme zwischen den Bäumen, der er nachmittags den Rücken hinhalten kann, ohne wie in den Wochen davor unter der Bruthitze zu leiden. Der Brief, den ihm der Pfleger nach dem Mittagessen ausgehändigt hat, knistert in seiner Jackentasche; er zieht das Kuvert hervor und öffnet es. Eine kurze Mitteilung seiner Tochter Alice, sie habe für Sonntag mit Lina und Rosa eine Besuchsbewilligung bekommen.

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