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Die besten Schweizer Reportagen

Als Buch hier erhältlich:

Die Reportage ist die Kunst, der Wirklichkeit eine spannende Erzählung zu entlocken. Und die vielfältige Schweizer Presse bringt aufsehenerregende Reportagen hervor. Zum 5-jährigen Jubiläum von "Reportagen" und zu 25 Jahren "NZZ Folio" haben Daniel Puntas Bernet und Daniel Weber die besten der letzten Jahre ausgewählt. Es sind Glanzstücke von Könnern wie Margrit Sprecher, Erwin Koch, Peter Haffner oder Constantin Seibt, daneben vielversprechende junge Stimmen wie Florian Leu und Sasha Batthyany. Ob über liebe und böse Reiche in Basel, Scheinehen und Zwangsprostituierte, Staranwälte in Genf: diese Texte produzieren starke Bilder von der Zeit, in der wir leben.
  • Erscheinungstag: 22.08.2016
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010028

Leseprobe

INHALT

 

 

Vorwort

Guido Mingels  Die Heimatmaschine

Margrit Sprecher  Eine Frau unter Dauerbeschuss

Andreas Dietrich  Im Sog der Mitte

Florian Leu  Dulliken

Sacha Batthyany  Der Name hinter der Rose

Samuel Tanner  Enge Linie

Jean-Martin Büttner  Die Kunst der Grausamkeit

Martin Beglinger  Die Stadt der lieben und der bösen Reichen

Erwin Koch  Sarah

Urs Paul Engeler  Beruhigungszone Bern

Cornelia Kazis  Erschreckende Nähe

Simone Rau  Die Krankpflegerin

Sibylle Berg  Heilsarmee

Christian Schmidt  Käufliche Freiheit

Constantin Seibt  Mehr Punk, weniger Hölle!

Reto U. Schneider  Im goldenen Käfig

Peter Haffner  Kutno für immer

Christoph Zürcher  Im Reich der Frauen

Michèle Roten  Heiliger Wahnsinn

Karin Wenger  Salsa in Kandahar

Lilli Binzegger  GNBCKS! – Bericht von der Front

Autoren und Quellen

VORWORT

 

 

Die Reportage hatte in den letzten Jahren einen schweren Stand. Die Reporter, die als Kundschafter für ihre Leser in unbekannten Welten unterwegs gewesen waren, bekamen mächtige Konkurrenz: allen voran das Fernsehen, dessen Bilder allgegenwärtig geworden sind. Und die zunehmende Mobilität, die das Reisen für viele erschwinglich gemacht hat, führte dazu, dass man nun selber erleben konnte, worüber man früher nur staunend las. Aber vor allem das Internet hat die Welt und den Journalismus verändert. Newsportale, Youtube, Twitter und Social Media haben sich als unschlagbar schnelle Informationskanäle etabliert. Was wollen Leserinnen und Leser da noch mit klassischen, um nicht zu sagen: altmodischen Reportagen? Was sollen umständliche Recherchen vor Ort, wenn man mit Google Streetview um jede Hausecke auf dieser Welt spähen kann? Und nicht zuletzt bekommen die «Edelfedern», wie die Reporter von den «gewöhnlichen» Journalisten oft despektierlich genannt werden, den Kostendruck zu spüren, unter dem heute die Redaktionen leiden. Ist die Reportage, einst die Königsdisziplin des Journalismus, also eine vom Aussterben bedrohte Gattung?

Nein, im Gegenteil. Im Mediengeschäft bleibt zwar kein Stein auf dem anderen, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen ändern sich gerade fundamental, aber die Reportage lebt. Vielleicht mehr denn je begeistern sich Leserinnen und Leser für gut erzählte Geschichten aus der Wirklichkeit. Hingehen, anschauen, aufschreiben: Das ist auch heute noch das Motto der Reporter. Sie müssen ihr Thema finden, sauber recherchieren und anschaulich erzählen. Denn wie immer schon wollen jene, die ihre Geschichten lesen, das Gefühl haben, sie seien als Augenzeugen dabei. Oft sitzen sie heute wohl nicht mehr im Lehnstuhl und blättern gespannt Seite um Seite um. Aber die Digitalisierung hat der Leidenschaft für fesselnde Geschichten keinen Abbruch getan. Für den auch bei Online-Lesern beliebten Erzähljournalismus hat man sogar einen eigenen Begriff geprägt: Longread. Was natürlich ein völliger Unsinn ist; Länge ist kein Qualitätskriterium. Die Leserinnen und Leser werden das anhand der kürzeren Texte, die wir in diesen Band aufgenommen haben, leicht selber feststellen.

«Die besten Schweizer Reportagen»? Der Superlativ des Buchtitels ist eine Behauptung, die sich anfechten lässt. Jede Leserin und jeder Leser wird Namen vermissen, die zwingend in eine solche Sammlung gehört hätten. Dass manche große Reporter fehlen, Niklaus Meienberg etwa, liegt daran, dass wir unsere Auswahl auf die jüngere Vergangenheit beschränkten: Die hier versammelten Texte stammen alle aus den letzten fünfzehn Jahren. Sie spiegeln die Vielfalt der großen und kleinen Themen, die uns in diesem noch jungen Jahrtausend beschäftigen. Auf dem so abgesteckten Spielfeld haben wir uns für exemplarische Texte entschieden, die zeigen, mit welch unterschiedlichen Methoden und Herangehensweisen Schweizer Reporterinnen und Reporter arbeiten.

Die Auswahl folgt nicht «wissenschaftlichen» Kriterien; trennscharf war das Genre der Reportage ohnehin nie, darum haben wir es mit Bedacht weit gefasst. Dass man den einen und anderen Text ebenso dem Porträt oder dem Feature zurechnen könnte, hat uns nicht daran gehindert, ihn aufzunehmen. Wer schafft den besten Einstieg? Wer verknüpft Szenisches und Gedankliches am intelligentesten? Wer trägt die harten Fakten sprachlich im schönsten Kleid vor? Warum weinen wir bei einem Text und empfinden Glück bei einem anderen? Diese Fragen sind nur subjektiv zu beantworten, und genau das haben wir getan: Wir entschieden uns für 21 Texte, die uns alle auf die eine oder andere Art berührt haben und die in ihrer Gesamtheit ein Abbild der Schweizer Reportage des noch jungen 21. Jahrhunderts sein sollen.

Was uns an der Arbeit am meisten gefreut hat, ist die Entdeckung, dass sich das heimische Schaffen in der Königsdisziplin nicht zu verstecken braucht. Es gibt die etablierten Größen: Margrit Sprecher etwa, die auf ein halbes Jahrhundert Schaffenszeit zurückblickt und mit ihrer Beobachtungsgabe bis heute präzise Stiche zu setzen vermag, wenn sie es für nötig hält. In ihrer Reportage über Eveline Widmer-Schlumpf geht sie damit für einmal sparsam um und schafft am Ende der Karriere der Bündner Bundesrätin ein spannendes Porträt, das nie anbiedernd wird. Erwin Koch, der mit seinem unnachahmlichen Telegrammstil Randfiguren zu Helden des Alltags erhebt. Sein bewegender Text über den Luzerner Teenager Sarah, die mit siebzehn an Leukämie stirbt, ist ein Musterbeispiel an radikaler Verknappung und Fokussierung. Oder Constantin Seibt, der komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge gnadenlos seziert und auf den Punkt bringt. Dass die Geschichte des anarchistischen Komikers Jon Gnarr, der zum Bürgermeister von Reykjavik gewählt wurde, für diesen Reporter wie gerufen kam, spürt man in jeder Zeile.

Und es gibt die Nachwuchstalente, die mit ihrem originellen Zugang zu Themen und ihrer stilistischen Brillanz herausragende Reportagen schaffen: Florian Leu schreibt mit seiner Dorfreportage aus dem solothurnischen Dulliken, einem eigentlichen Unort im Niemandsland der Schweizer Mitte, eine Liebeserklärung, die dem Gemeindepräsidenten eine Träne entlockt haben muss. Simone Rau erzählt von einer Frau, die am Münchhausen-Stellvertretersyndrom leidet und ihrer kleinen Tochter jahrelang Leiden zufügt, um sie pflegen zu können; aus einer nüchtern rapportierten Krankengeschichte macht die Autorin eine packende Kriminalgeschichte. Samuel Tanner besucht Matthias Hüppi und Bernhard Russi, die schon gemeinsam Skirennen kommentierten, als der Journalist noch nicht auf der Welt war; mit frischem Blick gelingt ihm ein einfühlsames Doppelporträt, in dem man zwei alte Bekannte neu kennenlernt.

Die erwähnten Beispiele zeugen von der thematischen Vielfalt der ausgewählten Texte. Und lassen sie sich auf ein vergleichbares Thema ein – eine Stadt etwa –, tun sie es auf völlig verschiedene Weise. Wenn Martin Beglinger sich nach Basel begibt, um dem diskreten Daig auf die Spur zu kommen, kreist er das Objekt seiner Recherche behutsam ein, trägt geduldig Aussagen und Fakten zusammen, bis sie sich zu einem Gesamtbild fügen. Der langjährige Bundeshauskorrespondent Urs Paul Engeler setzt dagegen voll auf Konfrontation, wenn er sich die rot-grüne Stadtregierung von Bern vorknöpft; seine Attacke ist ein polemisches Glanzstück. Und wie kommt man journalistisch dem wohl schweizerischsten aller Schweizer Orte bei, dem Bahnhofbuffet Olten? Andreas Dietrich schafft es mit Sprachwitz und einem feinen Gespür für Ironie, die es nicht nötig hat, etwas oder jemanden ins Lächerliche zu ziehen. Gegensätzlicher könnten auch die beiden Reportagen aus der Arbeitswelt nicht sein, die wir ausgewählt haben: Jean-Martin Büttner besucht die renommiertesten Anwälte von Genf, und deren wichtigste Waffe, die geschliffene Rhetorik, macht sich der Reporter als Stilmittel für seinen eigenen Text zu eigen. Während Cornelia Kazis sorgsam zur Sprache bringt, was gemeinhin tabuisiert und verschwiegen wird: wie Krankenpfleger mit Ekel und Scham umgehen.

Von jeher hatten Reporter ein Flair für die Menschen am Rande der Gesellschaft. Seit der legendäre Egon Erwin Kisch in den 1920er Jahren über seine Erfahrungen «Unter den Obdachlosen von Whitechapel» berichtete, hat die Sozialreportage, die denjenigen eine Stimme gibt, die sonst keine haben, nichts an Beliebtheit eingebüßt. In unserer Auswahl ist sie mit einem klassischen Beispiel vertreten: Sacha Batthyany schildert die Wochen und Tage eines türkischen Rosenverkäufers vor seiner Ausschaffung; nach über zwanzig Jahren in der Schweiz muss er, trotz Sympathiebekundungen von allen Seiten, zurück in die einstige Heimat. Eine eher ungewöhnliche Sozialreportage ist Christian Schmidts Text über die Beziehung eines einstigen Schulfreundes zu einer afrikanischen Prostituierten; die Reportage wirft ein neues Licht auf ein altes Problem, indem sie die Mechanismen des Menschenhandels sichtbar macht. In Sibylle Bergs Minireportage geht es um das gleiche Thema. Zusammen mit freiwilligen Helferinnen der Heilsarmee besucht sie Prostituierte an der Zürcher Langstrasse. Gesellschaftskritik paart sich mit einem liebevollen Blick auf eine Organisation, die so in den Medien selten vorkommt. Reto U. Schneider schließlich hat ein Altersheim besucht, dessen Bewohner zum Glück nicht erzählen können, was ihnen widerfuhr, bevor sie hierherkamen: Es sind Laboraffen, die nach dem Ende ihrer leidvollen Karriere wenigstens einen friedlichen Lebensabend genießen.

Die Tradition der Auslandsreportage hat im kleinen Land Schweiz einen hohen Stellenwert. Unsere Wahl fiel auf Texte zu Themen, die typisch dafür sind, wieso Schweizer Reporter ins Ausland reisen: Krieg, Anthropologie und Tourismus. Karin Wenger besuchte als «embedded journalist» den US-Stützpunkt Camp Nathan Smith in Kandahar, Afghanistan. Gerade weil kein Schuss fällt und sie sich in sicherer Distanz zur Front befindet, gelingt ihr anhand des Lageralltags ein ungewöhnlicher Einblick in den Krieg. Christoph Zürcher, der Abenteurer unter den Schweizer Reportern, findet auch in unserer längst vermessenen Welt noch weiße Flecken auf der Landkarte; zum Beispiel ein Dorf in China, in dem bis heute das Matriarchat das Leben der Bewohner bestimmt. Und Michèle Roten beweist mit ihren Beschreibungen hinduistischer Begräbniszeremonien in Varanasi und den Gedanken, die ihr dabei durch den Kopf gehen, dass die etwas aus der Mode geratene Reisereportage auch im 21. Jahrhundert Potential hat.

Reportagen müssen nicht grandiose Geschichten über weltbewegende Dinge erzählen. Es gibt welche, die aus Nebensächlichem die schönsten poetischen Funken schlagen. Peter Haffner gelingt das mit seiner Betrachtung über einen polnischen Bahnhof, an dem keiner ankommen will, nur umsteigen; das gilt auch für den reisenden Reporter, der mehrmals in der Bahnhofshalle von Kutno stranden muss, bis er erkennt, dass er seinen Sehnsuchtsort gefunden hat. Die erste und die letzte Reportage in unserem Sammelband sind dem Sport gewidmet. Während Guido Mingels anhand des «Donnschtig-Jass» ein Schweiz-Porträt gelingt, das augenzwinkernd aufs Land blickt und trotzdem jedem Patrioten das Herz wärmt, widmet sich Lilli Binzegger dem Fußball. Genauer, David Beckham. Ihr hinreißend komischer und selbstironischer Matchbericht vom Spiel Manchester United gegen Chelsea beweist aufs Schönste, warum man sich um die Reportage keine Sorgen machen muss: Wer mit solcher Lust an der Sprache erzählt, wird immer Leserinnen und Leser finden.

DIE HEIMATMASCHINE

Von Guido Mingels

 

Noch 5 Sekunden!, sagt die Regie.

Vier, drei, zwei, eins und Cut!

Ländlermusik klingt.

Kamera drei, schwenken!

«Donnschtig-Jass! Heute direkt aus Diemtigen.»

Achtung, Kamera eins … Cut!

«Und wird Ihnen präsentiert von …»

Kamera zwei auf den Applaus!

«… Monika Fasnacht.»

«Grüezi miteinander und ein herzliches Willkommen aus dem Berner Oberland», sagt Monika Fasnacht, rotes Kleid, weißes Hüfttuch, himmelblaue Augen, leibhaftige Helvetia, Spickzettel in der Hand. Sie schreitet einem Gartenzaun entlang, dahinter Blumen, Astern und Zinnia, dahinter das Postamt, 3754 Diemtigen im Diemtigtal. 3000 Menschen sind live dabei, Hunderttausende schauen zu Hause zu, Monika lächelt, alle Augen auf ihr. «Über sechzehn Kilometer Länge», sagt sie ins Ansteckmikrophon, «streckt sich das Diemtigtal», über 34 Jahre strecken sich die Jasssendungen im Schweizer Fernsehen, «das ist das längste Seitental vom Simmental», länger läuft keine Unterhaltungssendung im deutschsprachigen Raum. 627.000 Zuschauer im Durchschnitt in diesem Jahr, eine Quote von 45 Prozent, die beste Kuh im Stall von Leutschenbach, Heimatmaschine für die Massen, Trost für alle Menschen jenseits der werberelevanten Zielgruppen. «Wir haben heute ein Duell zwischen zwei Entlebucher Nachbargemeinden, Marbach und Escholzmatt», sagt Monika Fasnacht, Schwenk auf den Applaus, auf ein altes Bauernhaus, auf eine weißgetünchte Kapelle, Blick in die Berge, willkommen in der Schweiz.

Anno 1969: Kurt Felix, kein Geringerer, hatte die Idee. Politisch zitterten Zeit und Gesellschaft, doch Felix verstand Spaß und sagte: Die Leute jassen gern, wir müssen mal was mit Jassen machen. Aber wie zeigt man es am Bildschirm, dieses furchtbar statische Kartenspiel, diesen verschwiegenen Stammtischhandel, diese eidgenössischste aller Vergnügungen? Notgedrungen entstand ein konsequent telefeindliches Sendeformat, dem alle natürlichen Vorteile seines Mediums gleichgültig zu sein schienen. Die Sendung, zunächst unter dem Namen «Stöck, Wys, Stich» lanciert, mit Kurt Felix als Moderator und Göpf Egg als Schiedsrichter, war arm an Bewegung, arm an Dialogen, arm an Bildern, arm an Spannung: eine Art Antifernsehen. Das änderte sich auch nicht, als die Studiosendung 1972 zum «Samschtig-Jass» wurde und auch nicht, als 1984 die Sommer-Live-Variante «Mittwoch-Jass» hinzukam, die seit 1992 «Donnschtig-Jass» heißt und zunächst aus einem Eisenbahnwagen, später aus einem Postauto ausgestrahlt wurde und dabei schon mehrere legendäre Moderatoren überlebt hat: Jürg Randegger, Werni von Aesch, Urs Kliby.

Weil aber mit den Jahrzehnten die Schnittfolgen in der TV-Kultur immer schneller, die Worte immer mehr und die Bilder immer greller wurden, erscheint das unveränderte Herzstück der Sendung, der Jasswettkampf, dem uneingeweihten Zuschauer im dritten Jahrtausend wie ein Besuch der Geschichte in der Gegenwart. Vier Spieler sitzen um einen Tisch und sprechen eine ganze Sendestunde lang praktisch kein Wort. Die Moderatorin sagt wenig mehr. Wenn die fest montierte Deckenkamera den Jasstisch für eine Spielrunde ins Bild gerückt hat, kann es acht Minuten dauern bis zum nächsten Schnitt. Acht Minuten! Die durchschnittliche Menge an Cuts pro Minute in einem Videoclip auf MTV beträgt 42, und noch in der «Tagesschau» sind es rund zehn. Im «Donnschtig-Jass» aber steht die Zeit still.

Kamera vier auf Monika! Achtung, Kamera vier! Cut!

«Und das ist der Josef Felder, herzlich willkommen bei uns, Josef, du bist der Jasskönig von Marbach, was machst du so im Leben?»

«Ja, ich führe seit rund dreißig Jahren ein Geschäft, meine Hauptarbeiten sind Heubelüftungen, Heukrananlagen, Verkauf, Beratung, Service.»

«Und so Hobbys?»

«Hobbys habe ich mehrere. Im Winter Ski fahren und nebenbei bin ich Rettungspatrouilleur, dann spiele ich gerne Theater, fahre Velo und trinke gerne einen guten Kaffee mit Schnaps.»

«Ah, der Entlebucher Kaffee, der ist ja legendär, niemand weiß, wie man ihn macht. Kannst du es mir verraten?»

«Das kann ich dir selbstverständlich verraten, falls der Jass nach Marbach kommt.»

Ja: Falls er kommt. Und nicht etwa nach Escholzmatt geht. Dorf jasst gegen Dorf, spannungsfördernde Maßnahme im Sendekonzept, und wer gewinnt, darf, fast wie beim Grand Prix de la Chanson, die nächste Sendung ausrichten. So macht der «Donnschtig-Jass» Nachbarorte zu Konkurrenten und Freunde zu Feinden. Diemtigen, wo der Jass diesmal stattfindet, hatte in Bischofszell gegen Zweisimmen gewonnen, heute aber heißt es Escholzmatt (3400 Einwohner, 272 Bauernhöfe) gegen Marbach (1265 Einwohner, 124 Bauernhöfe), zwei Gemeinden im hintersten Entlebuch, Kanton Luzern. Natürlich hat der Gemeindepräsident von Escholzmatt gesagt: Ihr Marbacher seid auch rechte Leute. Natürlich hat der Gemeindepräsident von Marbach gesagt: Und wenn ihr gewinnt, Kollegen, wir gönnen es euch. Aber die Wahrheit ist, dass es nichts Schlimmeres gibt, als gegen das Nachbardorf zu verlieren, dabei das ganze Land zum Zeugen.

Denn beide haben sich monatelang vorbereitet, haben ein Organisationskomitee gebildet mit einem OK-Präsidenten, einem OK-Vizepräsidenten, einem Unterhaltungschef und einem Festwirt, haben, wie im «Pflichtenheft für die Durchführung der Sendung Donnschtig-Jass» vorgesehen, in einem Dorfjassturnier je einen Jasskönig und einen Telefonjasser ermittelt, haben Verkehrskonzepte erstellt für den großen Tag, haben je 40 Hotelzimmer reserviert für die Fernsehequipe, haben je drei Musikdarbietungen für die Sendung vorgeschlagen, «nicht nur volkstümliche», wie das Pflichtenheft verlangt, haben eine Open-Air-Festwirtschaft organisiert, je 1200 Liter Bier, 600 Steaks und 500 Bratwürste auf Abruf vorbestellt, haben je fünf Polizisten und Feuerwehrleute auf Pikett gesetzt und haben beide ihre Gemeinde für ein Fernseh-Ortsporträt von 3 Minuten und 30 Sekunden Sendelänge von der besten Seite gezeigt, aber gesendet, und das ist das Bitterste, wird am Ende nur das vom Sieger.

Man sitzt jetzt am Jasstisch, erste Spielrunde von vieren. König Josef aus Marbach spielt gegen Beat aus Escholzmatt, dazu zwei einheimische Mitjasser. Monika heißt alle willkommen. Immer heißt sie irgendjemanden willkommen. Immer fragt sie nach Beruf, Familie und Hobby, der Trias des Lebens. Herzlich willkommen René Boss aus Oey, ledig, Lokführer, keine Zeit für Hobbys. Herzlich willkommen Telefonjasser Beat Glanzmann, zwei Kinder, Gastwirt, Tennis. Und herzlich willkommen Ernst Kneubühler aus Zwischenflüh, Rentner, Großvater, Schnitzen. Sein Hobby ist sehr speziell. Er schnitzt Äste zu Ketten. Aus einem einzigen Holzstück macht er Dutzende ineinander verschränkte Kettenglieder. «Die längste war drei Meter sechzig», sagt er, lässt die Holzschnur vor der Kamera baumeln: Ahorn. Achtzig Stunden hat er dafür gebraucht. «Danke für das super Hobby, Ernst», sagt Monika. Schellen ist Trumpf.

Bedenkzeit. Standbild. Dazu Gitarrenfröhlichkeit ab Band. Die Spieler sagen an, wie viele Punkte sie machen wollen, der Schiedsrichter notiert sich das.

Monika, rück den Rosen-Banner besser ins Bild!, sagt Regisseur Anton Reichlin seiner Moderatorin ins Ohr, um dann wieder seine Kameraleute zu dirigieren: Achtung, Kamera drei, Cut! Reichlin sitzt im Regiewagen, fensterlos, schalldicht, und hat ein Dutzend Bildschirme vor sich und eine seltsame Mütze mit einem aufgenähten Papagei auf dem Kopf. Die schnittlose Zeit der ersten Spielrunde nutzt er für einen Versuch, Regeln und Sendung zu erklären. Also: Man spiele nur den Differenzler-Jass, nie einen Schieber, nie einen Sidi-Barrani, nie einen Guggitaler. Beim Differenzler gehe es darum, sich selbst eine Punktzahl vorherzusagen und diese so genau wie möglich herauszujassen, je mehr Differenzpunkte, desto schlechter, verstehst? Der Telefonjasser sitze zu Hause und sehe seine Karten am Bildschirm, das ist interaktives Fernsehen, oder?, damit die Zuschauer einem der Spieler in die Karten schauen können und auch was davon haben, gecheckt? Was? Nicht? Ach so, warum der Erfolg? Der Regisseur sinkt in seinen Stuhl. Wir haben alle Altersheime, sagt er. Das bringt Quote. Der Jasszuschauer sei, ähnlich wie der Tagesschau-Schauer, ein Gewohnheitstier: Als Kind hat er’s schon mit den Eltern geschaut, jetzt schaut er’s mit seinen Kindern, Fernsehen als Naturgesetz.

König Josef aus Marbach gibt aus: Eicheln-König. Kneubühler gibt die Eicheln-Neun. Boss das Eicheln-Ass. Glanzmann den Eicheln-Banner. Der Schiedsrichter sagt: «Ein Stich für René Boss mit dem Eicheln-Ass.» Dann gibt Boss aus, Trumpf-Sechs. Glanzmann gibt den Trumpf-Ober. Felder sticht mit dem Trumpf-Ass. Kneubühler schmiert den Trumpf-Banner. Der Schiedsrichter sagt: «Da haben wir das Trumpf-Ass vom Jasskönig aus Marbach.» Felder macht weiter mit dem Eicheln-Ober. Kneubühler folgt mit Eicheln-Acht. Boss gibt den Rosen-König. Glanzmann hat noch den Eicheln-Unter. Der Schiedsrichter sagt: «Der Eicheln-Ober gehört ebenfalls dem Jasskönig aus Marbach.»

Langweilig? So geht das Spiel. Vier Karten pro Stich, neun Stiche pro Runde, vier Runden pro Sendung. Aber, wer die Schweiz verstehen will, muss das Jassen verstehen, den Differenzler vor allem. Jeder, jedes Dorf kämpft für sich. Und doch, man sitzt mit dem Gegner an einem Tisch. Ein Ziel ist zu wählen, bevor man handelt. Das Ziel bleibt jederzeit klar vor Augen, man verschweigt es aber dem andern. Wähle dein Ziel realistisch, nicht zu hochtrabend, nicht zu bescheiden. Denn Abweichung wird in jedem Fall bestraft, egal, ob einer zu viel Erfolg hat oder zu wenig. Der Standpunkt ist von Anfang an festgelegt, die Karten verteilt, der Spielraum gering. Diskutiert wird nicht, respektive erst, nachdem alles entschieden ist, bei einem Glas Bier. So macht man das hier.

Kamera drei, Cut!

«Das war die erste Runde, und man kann sagen, es haben alle etwa gleich schlecht gejasst», sagt Monika Fasnacht, und Schiedsrichter Ernst Marti, eine angenehm humorfreie Fernsehautorität, dessen Gerechtigkeitssinn so felsenfest scheint wie seine Föhnfrisur, notiert mit strengem Blick und weißer Kreide die Zwischenresultate auf einer Schulzimmerwandtafel. Marbach hat fünfzehn Strafpunkte, Escholzmatt achtzehn, fürwahr ein Jammerergebnis, doch alles noch offen.

Wenn Escholzmatt gewinnen würde, hat der Löwen-Wirt drei Monate vor der Sendung gesagt, dann würden wir hier die Heineken-Avenue sperren und bestuhlen, das wäre kein Problem. Zehn Leute vom Fernsehen sind aus Zürich ins Entlebuch gereist, um zu rekognoszieren. Was ist die Heineken-Avenue?, fragt einer vom Fernsehen. Die Heineken-Avenue ist meine Erfindung, sagt grinsend der Löwen-Wirt, ein kurzer Herr mit Glatze. Die Straße, die zum Festplatz führt, heiße eigentlich Schmiedgasse, aber er habe sie umgetauft und neue Straßentafeln aufgehängt, erstens, weil er im Löwen Heineken ausschenkt, und zweitens, weil er damit dem Escholzmatter Posthalter, diesem Spinncheib, so richtig eins auf den Deckel geben kann. Wenn der dann Briefe verteilen muss, wo drauf steht: an Herrn Soundso, Heineken-Avenue XY, 6182 Escholzmatt – dann ist das ein Glücksmoment im Löwenwirt-Leben. Stellt euch vor, lacht der Wirt, die Kamera zeigt das Heineken-Straßenschild im Fernsehen, der Posthalter wird toben.

Wenn Marbach gewinnen würde, hat der Lichtchef zum Marbacher OK-Präsidenten gesagt, dann müssten wir die Lichtanlage hierhin stellen, dann wäre diese Einfahrt versperrt, ist euch das klar? Da hinten, wendet darauf der OK-Präsident ein, ist aber das Leichenhaus. Schön blöd!, sagt der Regisseur, aber dann sagt euren Leuten im Dorf halt, sie sollen bitte schön an diesen zwei Tagen nicht sterben, dem «Donnschtig-Jass» zuliebe. Jetzt lachen alle, der OK-Präsident am lautesten, ja, wiederholt er, atemlos, dem «Donnschtig-Jass» zuliebe!

Und was, fragt nun ein anderer, was ist jetzt mit der Musik? Wer vom Dorf dürfte, wenn Marbach gewänne, musizieren in der Sendung? Die Marbacher Trachtengruppe mit dem Stück «Bim Mosttrog», das Jagdhornbläserkorps Birkhahn mit dem «Schützenmarsch» oder die Harmoniemusik? Für die Trachtengruppe, sagt der Fernsehzimmermann, müssten wir extra eine Tanzbühne aufbauen, das ist bei dem schräg abfallenden Dorfplatz ziemlich schwierig. Und die Harmoniemusik ist sechzig Mann stark, für die haben wir unmöglich Platz. Bleiben die Bläser. Jagdhörner hatten wir schon bei der Sendung im Engadin, wirft der Fernsehredaktor ein. Jagdhörner sind immer ein Bremser, sagt der Tonchef, nicht fetzig genug, da zappen die Leute weg. Bloß keine Jagdhörner.

Dann stößt der Marbacher Metzger zur Gruppe, interessiert, seine Bratwürste zu liefern fürs Fest, und er sagt, ja wisst ihr’s denn nicht?, die Escholzmatter, die wollen den Jass gar nicht haben. Was soll das heißen? Aber sicher, sagt der Metzger, es heißt, der Studer Godi, also der Präsident von Escholzmatt, habe gesagt, man hätte heuer schon genug Festivitäten, das Landschaftstheater Bauernkrieg 1653 zum Beispiel, bei dem das halbe Dorf mitmacht, und dann der Schybischwinget und das Äschlismatter Sommerfest. Und tatsächlich, der Studer Godi hatte sich in diesem Jahr gar nicht beworben beim Fernsehen, sieben-, achtmal hatte er schon nach Zürich geschrieben, sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, jedes Jahr wieder, aber dieses Jahr eben nicht, und ausgerechnet dieses Jahr bewerben sich die Marbacher und kriegen den Zuspruch, und da hat man ihn gefragt, ob Escholzmatt denn nicht auch gleich wolle, man brauche ja einen Gegner, und was sollte er da sagen? Etwa nein danke?

Cut!

Escholzmatt liegt 5 Punkte zurück, «das gibt noch eine ganz spannende Sache», sagt Monika Fasnacht, zwei Runden sind um, «und ich finde, unsere Spieler haben einen Applaus verdient», und jetzt klatschen die Menschen, und die Kinder kreischen, und die Treichler treicheln, und die Escholzmatter jutzen, und die Fans von Marbach geussen, und die Kamera schwenkt über das wogende Publikum hinweg auf ein altes Bauernhaus, eine weißgetünchte Kapelle, gibt den Blick frei in die Berge, in die Schweiz, in die Heimat, und Cut!, jetzt lächelt wieder Monikas Gesicht.

Meine Sendungen reflektieren die Schweiz, sagt Monika Fasnacht.

Ich darf nicht zu viel sagen über Monika, sonst komme ich ins Schwärmen, sagt Toni.

Im Publikum sitzt der harte Kern vom «Donnschtig-Jass»-Fan-Club Sumiswald, einmal Toni und zweimal Fritz, und Toni, Papeterist von Beruf, ist der Präsident, weil er die Website betreut. Die drei reisen zu jeder Sendung, mehr als hundert, meint einer der Fritzen, habe er schon live erlebt. Zu Tonis Füßen liegt Simba, Fasnachts Sennenhundmischling, mit dem sie auf ihrer Autogrammkarte posiert und den sie jeweils während der Sendung ihrem Fan-Club anvertraut. Dann passt man halt auf den Hund auf, sagt Fritz. Dann geht man mit ihm brunzen, sagt Toni. Das machen wir doch gern, sagt Fritz. Wenn er Monika zu Hause am Bildschirm sehe, sagt Toni, dann grüße er sie immer laut mit «Hallo, liebe Monika». Obwohl, am Anfang, 1996, als das Fernsehen ihnen den Moderator Urs Kliby, der mit der Caroline, weggenommen hat, da waren sie kritisch. Eine Frau im «Donnschtig-Jass»! Wir hatten das Gefühl, jetzt ist es wohl vorbei mit der Herrlichkeit, sagt Toni. Aber dann war das so eine super Frau. So natürlich, sagt Fritz. Null Starallüren, sagt Toni. Und eine Hübsche ist sie auch. Ja, eine Rassige. Pfiffig. Sie kann’s einfach.

Das Besondere an Monika Fasnacht ist ihre radikale Normalität. Sie ist nicht klüger, nicht besser, nicht schöner als die, die ihr zusehen, und alles an ihr scheint zu sagen: Ich bin eine von euch. Bei ihrem Publikum genießt sie deshalb ein fast beängstigendes Maß an Glaubwürdigkeit, und wenn aus der Schweiz je eine Monarchie werden sollte, die Fasnacht würde zur Königin gewählt. Obwohl sie weder bewundert noch vergöttert wird, sondern vielmehr: gemocht, geschätzt. Gerngehabt. Weder Glamour noch Charisma entfernen sie von ihrer Gemeinde. Denn das Grundprinzip des Starseins und der Prominenz, nämlich die Unnahbarkeit, die Inszenierung der Differenz zwischen Fan und Idol, die ständige Betonung der Fallhöhe, die erst das Hochblicken erlaubt, es gilt bei ihr nicht: Fasnacht wird zum Star durch ihre maximale Erreichbarkeit. Die Männer, die ihr zuschauen, denken, nicht zu Unrecht: So eine hätte ich auch haben können. Und die Frauen sehen in ihr, vielleicht zu Unrecht, keine Konkurrenz.

Film ab!

Das Ortsporträt von Diemtigen läuft, «Diemtigtal, erhol dich mal», sagt eine Stimme, denn der «Donnschtig-Jass» ist auch ein Reisemagazin, beste Werbung für die Gastgebergemeinden, weil die Fernsehkameras notfalls selbst aus autobahndominierten Städtchen idyllisches Wohn- und Ausflugsgebiet zaubern. Im Fall von Diemtigen ist das nicht nötig. Man sieht im Film kleine Kinder Käse essen, man sieht die Miss Schöneuter, eine ortsansässige Simmentalerkuh, man sieht eine Wiese, in hundert Quadrate unterteilt: Kuhfladen-Bingo heißt das Spiel, und es gewinnt, wer auf jenes Feld setzt, in das die Kuh sich zu scheißen entschließt. Man sieht aber auch die Moderne im Tal: in Gestalt eines Bauern, der seine Kühe mit einem Trial-Motorrad zusammentreibt. Bilder einer Heimat, wöchentlich neu reproduziert, damit das Volk weiß, wo es daheim ist.

Dritte Spielrunde, diesmal mit französischen Karten. Jetzt ist Hedy Krummenacher an der Reihe, Jasskönigin aus Escholzmatt, das erste Make-up ihres Lebens im Gesicht. Und Königin Hedy, Bäuerin, vier Kinder, Hobby: jassen, legt die Kreuz-Zehn auf den Tisch. Totenstille in Diemtigen, Totenstille in allen Fernsehern. Erst später, als ihrem Gegner, Telefonjasser Josef Thalmann aus Marbach, Schulbusfahrer, drei Kinder, Hobby: Harmoniemusikeuphonist, der vierte Stich am Ecken-König hängen bleibt, viel zu viel Punkte für ihn, geht wieder ein Geräusch durchs Publikum, ein Raunen, und am Fan-Tisch der Marbacher treffen Blicke aufeinander: War’s das? «Die Runde geht an Escholzmatt», sagt Fasnacht.

Schwenk auf ein Sonnenblumenarrangement, auf den Applaus, in die heitere Menge. Es sind alle glücklich heute. Vor der Sendung haben sie für das Fernsehen gesungen, weil der Produktionsleiter sie darum gebeten hat, Happy birthday SF DRS, Happy birthday to you, denn das Fernsehen ist fünfzig Jahre alt geworden dieses Jahr. Sie haben gelacht, als der Produktionsleiter durch sein Megaphon gesagt hat: Die spontanen Appläuse, die müssen wir noch ein bisschen üben, gell. Sie haben gelacht, als er ihnen sagte, bitte, winkt nicht in die Kamera, das sieht furchtbar aus am Bildschirm, aber Bier saufen, Leute, das sieht gut aus. Daran halten sie sich noch immer, jetzt, da die Sendung ihrem Ende zugeht. Und flüsternd fragt eine Tochter ihre Mutter: Was ist jetzt Trumpf, Muetti?

Schellen.

Letzte Runde. Marbach liegt sechs Punkte zurück. Noch ist nichts verloren. Noch dürfen die Jagdhornbläser, der Metzger und alle Marbacher hoffen. Escholzmatt will den Jass ja gar nicht haben. Königin Hedy sticht mit dem Rosen-Ass. Dann haben alle nur noch eine Karte. Der Trumpf-Bauer ist noch nicht gegangen. Wer hat den Bauer? Der zwanzig Punkte aufbürdet, der alles schlägt? Totenstille in Diemtigen, Totenstille in der Fernsehnation. Ach herrje, der Mann aus Marbach hat ihn, Josef Thalmann, Telefonjasser und Harmoniemusikeuphonist, gottergeben legt er die Karte vorhand auf den Tisch. Er weiß es, alle wissen es, wenn jetzt noch geschmiert wird, wenn jetzt noch viele Punkte dazukommen, dann hat Marbach verloren, dann hat der Nachbar gewonnen, der den Jass gar nicht haben will, der schon das Landschaftstheater hat und das Schwingfest. Einer gibt die Schellen-Sechs dazu, wertlos. Dann aber kommt das Schilten-Ass, elf Punkte, Himmelherrgott, und hinterher, kann das sein?, grad noch mal ein Ass drauf, ja Heilandsack –

Aus, aus, aus, aus, das Spiel ist aus.

Escholzmatt ist Weltmeister.

Marbach ist tot.

Hedy ist Königin, Josef entthront.

Monika Fasnacht lächelt und sagt: «Wir hören jetzt die Familienkapelle Ländlerfreunde Bächlergruss mit dem Titel ‹Jetzt wird gefeiert›.»

Später, wenn die Fernsehleute die Bühne abbauen werden, wird Josef Felder mit seinen Marbacher Freunden an einem Tisch sitzen, und sie werden zueinander Sätze sagen wie diese:

So kann’s gehen.

Wir gönnen es ihnen.

Aber was willst du machen?

Wir hatten himmeltraurige Karten.

Wenn du halt nur solche verdammten Stinkböcke in der Hand hast! Lauter verfluchte Könige und Obern, da weißt du nie, ob dir nicht noch einer einen Banner schmiert!

Hurenverdammte Stinkböcke!

Da kannst du nichts machen.

Da kannst du gar nichts machen.

Vielleicht hätte ich, sagt jetzt Josef Felder, vielleicht hätte ich den Trumpf-König doch früher ausspielen sollen.

Kamera vier aufs Schlussbild!, sagt der Regisseur, Cut!, und da stehen sie noch mal alle auf der Bühne, Josef und Josef aus Marbach und Hedy und Beat aus Escholzmatt und die Mitjasser aus dem Diemtigtal, und Monika Fasnacht lächelt aus der Mitte und spricht zur Nation, sagt «das war’s für heute, wir sehen uns wieder in einer Woche in Escholzmatt, und ich hoffe, Sie sind dann wieder dabei», ganz bestimmt sind wir wieder dabei, «wenn es heißt: Donnschtig-Jass», und jetzt spielt das Trio Ländlerfreunde Bächlergruss noch mal auf, und die Kamera zeigt das alte Bauernhaus, zeigt die weißgetünchte Kapelle, zeigt die Berge, zeigt die Schweiz.

Cut.

EINE FRAU UNTER DAUERBESCHUSS

Von Margrit Sprecher

 

Es ist wie immer: Niemand bemerkt ihr Kommen. Chinesen, die bereits am Konferenztisch sitzen, bleiben sitzen. Andere schwatzen oder drehen ihr den Rücken zu. Erst als sie zügig ihre Reihen abzuschreiten beginnt, springen die Wirtschaftsdelegierten auf. Der Blick der Bundesrätin ist freundlich, ihr Händedruck fest und genau bemessen. Niemand wird bevorzugt. Niemand wird vergessen.

Eveline Widmer-Schlumpf tut nichts, um größer zu wirken. Im Gegenteil. Sie trägt Schuhe ohne Absatz; schmal Geschnittenes unterstreicht ihren Kinderkörper. Diese Zierlichkeit weckt in andern sowohl Beschützer- wie Bevormundungsinstinkte. Frauen erteilen ihr ungefragt Ratschläge in Sachen Garderobe und Haarfarbe. In Männern verstärkt sie das patriarchalische Gehabe. 1985 hielt es die Schweizerische Volkspartei nicht für nötig, ihr mitzuteilen, dass sie sie als Kandidatin für das Richteramt Trun aufgestellt hatte. 2007 versicherte Bundesrat Ueli Maurer den Journalisten: «Ich habe sie im Griff.» Gemeint war: Sie wird sich dem Parteiwillen unterwerfen und auf das Bundesratsamt verzichten.

Weibliche Fügsamkeit garantiert auch ihre Herkunft. In Graubünden haben noch immer die Männer Sagen und Beruf und die Frauen Haushalt und Kinder. Evelines Mutter, eine der ersten diplomierten Bündner Kinderkrankenschwestern, dachte nie daran, nach dem Auszug ihrer drei Töchter wieder berufstätig zu werden. Evelines Großmutter wusste nach dem Tod ihres Mannes nicht, wie man einen Einzahlungsschein ausfüllt. Geschweige denn einen Stimmzettel: Die letzten Bündnerinnen wurden 1983 wahlberechtigt. An Gemeindeversammlungen wünschte man keine «allzu redegewandten und in politischen Dingen zu impulsiven Damen».

Eveline Widmer-Schlumpf war weder impulsiv noch fiel sie anderen ins Wort. Sie trumpfte auch nie mit ihrem juristischen Wissen auf. Hielt Distanz zu «Spinnern», wie Feministinnen und Grüne im Kanton bis heute heißen. Und war die Tochter eines ehemaligen Bundesrats, Leon Schlumpf. Damit nicht genug: In Felsberg aufgewachsen, kannte sie den Druck des Dorfes. Wusste, dass auf dem Land jede Neuerung erst mal abgelehnt wird. Dass man sich anpassen und Gemeindeautoritäten respektieren musste. Ohne zu revoltieren, ließ sich die Linkshänderin vom Lehrer die linke Hand auf den Rücken binden.

Selbst Bündner Machos kapitulierten vor dieser für Graubünden maßgeschneiderten Politikerin: Wenn schon eine Frau, dann diese. Zumal es immer schwieriger wurde, für alle Ämter Männer mit vorzeigbarem Schulabschluss zu finden. Dass sie so flink die Karriereleiter hochklettern würde, damit hatten sie freilich nicht gerechnet. Eveline Widmer-Schlumpf wurde nicht nur erste Bündner Notarin und erste Bündner Kreispräsidentin. 1999 übernahm sie auch als erste Bündner Regierungsrätin das tief verschuldete Finanzdepartement. Sieben Jahre später präsentierte sie einen Überschuss von 121 Millionen Franken, den besten Abschluss in der Geschichte des Kantons.

Auch der Bündner SVP-Parteispitze bereitete sie Freude. Anders gesagt: keine Schwierigkeiten. Eigentlich hätte sie gern eine Karriere im Kantonsgericht gemacht. Doch die SVP wollte sie in der Politik: Ihr Fleiß und ihre Dossierfestigkeit waren unentbehrlich in einer Partei, wo man es gern «patschifig» nahm. Dass sie sich an Sitzungen vor dem gemütlichen Teil verabschiedete, war den Männern ganz recht. «Frauen und Hühner lässt man zu Hause», heißt ein Bündner Sprichwort. Zudem passte ihr Entschuldigungsgrund zum Parteiprogramm: Die Familie – Mann, zwei Töchter, ein Sohn – waren ihr wichtiger. Gut, manchmal sorgte sich der eine oder andere Parteifreund über ihr Image als Streberin, Technokratin und Musterschülerin. Und triumphierte, kippte sie mal öffentlich einen Schnaps: «Sie kann auch das, wenn sie will.»

«Sie ist ja so tüchtig», sagt eine Bündner Politikerin und dehnt das Ü auf eine Weise, dass klar wird: So tüüchtig muss halt werden, wer sonst nirgendwo brilliert. Sie trägt der ehemaligen Regierungsrätin auch nach, dass sie sich, obwohl verantwortlich für das Bündner Gleichstellungsbüro, nie sonderlich für Frauenanliegen einsetzte. Eveline Widmer-Schlumpf kontert: «Jede Frau, die will und kann, hat heute die Möglichkeit, ihren Weg zu gehen.» Bitte, sie hat es ja vorgemacht. Tagsüber drei Kinder großgezogen, von denen eines mit einem schweren Herzfehler zur Welt kam. Und nachts für die Notarprüfung gebüffelt. «Die Erfahrung der Angst um das Leben meines Kindes hilft mir bis heute, Problemen gegenüber eine gewisse Gelassenheit zu entwickeln.»

Herbst 2015. Bern ist aus dem Sommerschlaf erwacht, Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf wirkt entspannt. Sie eröffnet Ausstellungen, spricht bei der Pro Rätia in Splügen, bei der Distisuisse in Bern und fährt nach Münchenstein an einen Anlass der Wirtschaftsförderung Baselland. Im feierabendlich überfüllten Basler Tram vermutet niemand die Finanzministerin unter den Stehpassagieren. Am Bügel neben ihr hängt ihre Kommunikationsleiterin Brigitte Hauser-Süess: «Wir kommen immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln.» Die Bundesrätin trägt eine weiße, kreisrunde Retrosonnenbrille, laut Gravur ein Werbegeschenk aus Zermatt. Das Ding verfremdet sie stärker als jede Perücke. Manchmal wird sie trotzdem erkannt. Die meisten sagen etwas Nettes. «Die andern schreiben anonyme Briefe», ergänzt Hauser-Süess. Die Walliserin macht, auch im übertragenen Sinn, einen überaus trittsicheren, geländegängigen Eindruck. Zudem kann sie mit ihrer großen Tasche ihre fragile Chefin jederzeit vor Zumutungen jeglicher Art schützen.

In Münchenstein warten die Veranstalter vor dem Hauptportal, dort, wo Prominente in ihren schwarzen Limousinen vorzufahren pflegen. Doch die Finanzministerin kommt zu Fuß und durch einen Nebeneingang. Im Vortragssaal biegt sie mit geübtem Griff das Mikrophon auf ihre Höhe herunter, dann beginnt sie unverzüglich mit ihrer Rede über die Unternehmenssteuerreform III. Ihr Manuskript besteht ausschließlich aus Zahlen. Den dazugehörigen Text, das Hintergrundwissen, kann sie jederzeit im Gedächtnis abrufen. «Zahlen sind kompakt und präzis. Man erkennt in kurzer Zeit sehr viel. Eine Bilanz sagt mehr als ein ganzes Buch.» Zahlen sind ihre Geheimwaffe; mit Zahlen munitioniert, zieht sie vertrauensvoll in jede Schlacht. Mit Zahlen schlug sie schon manchen schlampig vorbereiteten Gegner k.o., bevor er wusste, wie ihm geschah. Das verzeihen ihr viele nicht.

Für die Wirtschaftsprofis im Saal ist die Reform so klar wie ein Migros-Kassabon. Laien sind hoffnungslos überfordert. Bereits verlangte der Ständerat mehr Zeit zum Studium. Sie versteht’s ja. Doch die Zeit drängt: «Internationale Unternehmen scheuen die Schweiz, solange zu viel Steuerunsicherheit besteht.» Die Umstellung wird vermutlich zu Steuerausfällen von 1,7 Milliarden Franken führen. «Doch die Alternativen kosten mehr.»

Es ist ihr altes Problem: Hoffnungslos hinkt die schwerfällige Demokratie den internationalen Entwicklungen hintennach. «Natürlich», sagt sie, «kann man zehn Jahre lang eine Sache prüfen. Aber es geht jetzt darum, bald einen machbaren Weg zu finden.» Das Tempo, das sie dabei vorlegt, irritiert viele. Sie wiederum, getrieben von der Ungeduld der Klassenbesten, tut sich schwer mit der Begriffsstutzigkeit der Hinterbänkler. Um ihre Anliegen zu beschleunigen, sucht sie gerne Verbündete, um den mühseligen Instanzenweg zu umgehen.

Doch an Verbündeten fehlt es häufig. Weder hat sie eine Hausmacht noch ist sie sozial vernetzt. Wenn zu später Stunde in Bars oder Hinterstübli die Fäden gezogen werden, ist sie nicht dabei. Auch im Ausland gehört sie als Finanzministerin eines Landes, das sich von internationalen Organisationen fernhält, nirgends dazu. «Ich brauchte viel Zeit, um mich vorzustellen.» Inzwischen kommt es, ob in Washington oder Berlin, Rom oder Brüssel, rasch zu unkomplizierten Treffen.

Viel Ausland für eine Frau, deren Leben sich fünfzig Jahre lang auf den paar Kilometern zwischen Felsberg und Chur abgespielt hatte. Nie wollte Widmer-Schlumpf ins Unterland ziehen, geschweige denn noch weiter weg. Selbst das Juspraktikum absolvierte sie in der Kantonshauptstadt. Ebenso viel Beständigkeit zeigt ihr Privatleben. Ihr Mann war schon ihr Schulschatz. Ihr Geburtsort Felsberg ist noch immer ihr Wohnsitz. Ihre im Kindergarten geschlossenen Freundschaften halten bis heute. «Mein Umfeld bleibt immer gleich. Es ist immer alles wie immer. Ich bin für sie die Gleiche und umgekehrt.»

Am 12. Dezember 2007 überraschte die überraschungsärmste Politikerin der Schweiz die ganze Nation. Wie es dazu kam, darüber gibt es so viele Versionen wie Akteure. Sicher ist: Ausgeheckt hat den Plan der damalige SP-Nationalrat Andrea Hämmerle; Mitverschwörer kamen aus der CVP und der Grünliberalen Partei. Gemeinsam wollten sie mit Sprengkandidatin Widmer-Schlumpf den verhassten Christoph Blocher aus dem Bundesrat hebeln. Der Coup gelang. Widmer-Schlumpf wurde mit zehn Stimmen Vorsprung auf Blocher zur neuen Bundesrätin gewählt.

Später werden, wie in einem Krimi, Beweise gesammelt, Telefonanrufe und SMS gezählt. Hat die Neobundesrätin vorher in den Machtpoker eingewilligt? Andrea Hämmerle sagte: «Sie hat es nie ausgeschlossen.» Ueli Maurer dagegen hörte den sicheren Verzicht aus ihrem Satz, sie könne sich nicht vorstellen, ohne Fraktion zu politisieren. Sie selbst sagt, erst die nächtliche Familientelefonkonferenz mit den zugeschalteten Töchtern und deren «Probier’s!» hätten den Ausschlag gegeben. «Mit der Wahlannahme wollte ich zeigen, dass es in der SVP auch Leute gibt, die andere Auffassungen respektieren.» Die überrumpelten Volkspartei-Strategen rufen «Sauerei!» durch die Hallen des Bundeshauses. Der Bundessicherheitsdienst findet es besser, die Neugewählte im Auto nach Felsberg zurückzufahren.

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