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Die Blackwell-Schwestern

Als Buch hier erhältlich:

Elizabeth Blackwell glaubte von klein auf, dass sie für eine Aufgabe bestimmt war, die über den Rahmen des »normalen« Frauseins hinausging. Mit großer Hartnäckigkeit überwand sie viele Hürden, um schließlich als erste Frau in Amerika Medizin zu studieren. So erhielt sie, ebenfalls als erste Frau in Amerika, im Jahr 1849 einen Doktortitel. Ihre jüngere Schwester Emily schloss sich ihr bald an. Gemeinsam gründeten die Blackwell-Schwestern 1857 in New York das erste Krankenhaus, das ausschließlich von Frauen geleitet wurde.
Janice P. Nimura schildert ihre dauerhafte Partnerschaft und erzählt von den Verbündeten und den Feinden der Schwestern. Beide Schwestern waren beharrlich und visionär. Ihre Überzeugungen deckten sich nicht immer mit denen der Frauenrechtlerinnen – oder der jeweils anderen Schwester: Janice P. Nimuras Biografie feiert zwei komplexe Charaktere.


Elizabeth und Emily Blackwell: Zwei Pionierinnen, die die Grenzen der Möglichkeiten für Frauen in der Medizin sprengten. Bristol, Paris, Edinburgh und die aufstrebenden Städte des nordamerikanischen Kontinents in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg bilden die Kulisse für den besonderen Lebensweg dieser beiden Frauen.
  • Erscheinungstag: 25.10.2021
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312012558
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Clare und David

Für Wissenschaft und Feminismus

Prolog

Am 14. Mai 2018 blockierte eine begeisterte Menge engagierter New Yorker den Gehweg an der Ecke Bleecker und Crosby Street in New York. Sie standen vor einem in die Jahre gekommenen, wenig bemerkenswerten Ziegelgebäude: drei Stockwerke, darüber ein Dachgeschoss mit zwei Gauben und Feuerleiter, im Erdgeschoss eine einfache, ­bodenständige Kneipe. Nach etlichen Reden, von denen alle bis auf eine von Frauen gehalten wurden, enthüllte die »Greenwich Village Society for Historic Preservation« eine Gedenktafel an der Fassade der neuesten Station auf ihrer »Karte bedeutender Orte im Kampf für Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit«. »In diesem Gebäude«, war darauf zu lesen, »etablierte Elizabeth Blackwell, die erste Ärztin Amerikas, das erste von Frauen geleitete und ausschließlich mit weiblichem Personal besetzte Krankenhaus für Frauen.«

Applaus brandete auf, VIPs lächelten, Kameras klickten. Ein Gefühl des Triumphs lag in der Luft: Eine Heldin war zurückgewonnen, die Geschichte weiblicher Handlungsmacht erneuert und, wenn auch nur für einen kurzen Moment, die düstere politische Stimmung aufgehellt. Jemand verkaufte T-Shirts, deren Aufdruck, Schwarz und Pink auf Weiß, die Blicke auf sich zog: »Elizabeth Blackwell: OG MD«. Dann zerstreuten sich die Zelebranten in den lauen Abend, im Kopf das Bild der ersten Ärztin: eine sepiafarbene Heilige, die sich besorgt über ihre dankbaren Patientinnen beugt. Oder vielleicht eine leidenschaftlichere Version, Eliza­beth Blackwell – Original Gangsta der Medizinerinnen, feministische Kämpferin. Beide Vorstellungen hatten etwas für sich. Keine stimmte.

Am 12. Mai 1857 trat in einem Raum, dessen Fenster auf eben diese Straßenecke hinunterblickten, Dr. Elizabeth Blackwell – von zierlicher Statur, nüchtern gekleidet, ernste Miene – in das Sonnenlicht, das in Streifen durch die hohen, schmalen Schiebefenster fiel, um zu einem kleinen Publikum aus Damen und vereinzelten Herren zu sprechen. Den Raum füllten zwei Reihen eiserner Bettgestelle, die mit nicht zu­einander passendem, jedoch sorgfältig geglättetem weißem Bettzeug ausgestattet waren. Die versammelten Gäste hatten sich nicht ohne das eine oder andere schelmische Kichern niedergelassen. Immerhin befand sich die gemischtgeschlechtliche Gesellschaft unziemlicherweise in einem Raum, bei dem es sich genau genommen um einen Schlafsaal für Damen handelte. So makellos wie heute würde er nie wieder sein, doch einstweilen war von Stethoskopen und Skalpellen, Opium und Quecksilber, Blut und Pisse und all den unaussprechlichen Schweinereien im Zusammenhang mit Krankheit und Geburt und Tod nirgendwo etwas zu ­sehen.

Elizabeth räusperte sich, um sich inmitten des Hufgetrappels und Geratters, die vom nahe gelegenen geschäftigen Broadway herüberdrangen, Gehör zu verschaffen. Dann verlas sie steif und feierlich das Dokument, das sie in Händen hielt: »Bei dieser Institution, die heute offiziell eröffnet wird, handelt es sich um ein Krankenhaus für arme Frauen und Kinder mit angeschlossener Apotheke.«[1]

Der Zweck dieser bisher beispiellosen Einrichtung, fuhr sie fort, sei ein dreifacher: Frauen die Möglichkeit zu geben, sich Rat bei Angehörigen ihres eigenen Geschlechts zu holen, und zwar kostenlos; der wachsenden Anzahl weiblichen Medizinstudenten jene praktischen Erfahrungen zu verschaffen, die ihnen von den etablierten Krankenhäusern verweigert würden; und Krankenschwestern auszubilden. Ihr Ton war unaufgeregt und geschäftsmäßig und ließ an keiner Stelle erkennen, dass die meisten New Yorker Bürger – von deren Ehefrauen ganz zu schweigen – die Vorstellung von einer Frau als Arzt ganz ungeheuerlich fanden. Sie sprach weder von der Einsamkeit, noch von den Mühen und Qualen, die sie hatte erdulden müssen, um 1849 als erste Frau in Amerika einen Abschluss in Medizin zu erhalten. Ebenso wenig würdigte sie die etwas größere, jedoch gleichermaßen ernste Frau an ihrer Seite, deren direkter Blick und entschlossener Gesichtsausdruck ihrem eigenen ähnelten: ihre Schwester Emily, die sich ihren Abschluss 1854 genauso hart erkämpft hatte wie sie selbst und ohne die dieser Moment womöglich niemals gekommen wäre.

Die Kuratoren des neu eingerichteten »New York Infirmary for Indigent Women and Children«, dreizehn Männer und vier Frauen, hatten den Vorschlag, eine der beiden Ärztinnen solle an diesem Tag ihre Geschichte erzählen, abgelehnt. Sie fürchteten wohl, dies könnte abschreckend wirken und die Rednerin wie eine Agitatorin für Frauenrechte erscheinen lassen. Doch Elizabeth, so radikal ihre Wahl, Medizin zu studieren, auch scheinen mochte, war keine Radikale. »Die gründliche, umfassende Ausbildung von Frauen auf dem Gebiet der Medizin ist eine neue Idee und braucht, wie alle anderen Wahrheiten auch, genügend Zeit, ihren Wert unter Beweis zu stellen«, fuhr sie fort. »Frauen müssen, mehr noch als der Öffentlichkeit, den Männern in der Medizin beweisen, dass sie imstande sind, als Ärztinnen tätig zu sein und das Studium der Medizin mit Ernsthaftigkeit zu betreiben. Erst dann werden ihnen die bestehenden Institutionen mit ihren großen Vorteilen der Praxis und vollständigen Organisation geöffnet werden.«[2] Dann übergab sie das Wort an einen Redner: Henry Ward Beecher, den stets etwas müde dreinblickenden, eloquenten, unbändig libidinösen Pastor der Plymouth Church in Brooklyn und wohl berühmtesten Mann New Yorks.

»Niemand auf dieser Welt ist weniger in der Lage, Vorsorge für sich selbst zu treffen, als Frauen und Kinder«, psalmodierte er, um anschließend schwungvoll-begeistert, wenn auch etwas zusammenhanglos, zu verkünden, er glaube »voll und ganz an die Fähigkeiten der Frau«. Die Frau sei vielleicht gar besser für die Medizin geeignet als der Mann. »Ihre Intuition, ihr Empfindungsvermögen und ihr Mutterwitz statten sie dafür aus«, erläuterte er, wobei er sich den gängigen Stereotypen ergab und die Wissenschaft völlig beiseiteließ. »Der Auftritt einer Frau am Krankenbett ist selbst schon Gegenmittel.« Die Blackwell-Schwestern stimmten mit ausdrucksloser Miene in den Beifall der übrigen Zuhörer ein. Diesem gönnerhaften, charismatischen Mann, den sie schon gekannt hatten, bevor er es zu öffentlicher Berühmtheit brachte, die Verkündigung zu gestatten, dass »die Frau von Gott zur Ärztin bestimmt worden«[3] sei, war die beste vorstellbare öffentliche Werbung.

Etliche Jahre früher, im Alter von vierundzwanzig, hatte Elizabeth Blackwell Medizin als Mittel auserkoren, um eine ihrer Überzeugung nach von Gott sanktionierte Wahrheit zu beweisen: dass Frauen, abgesehen von den Beschränkungen, die individuelle Begabung und aufgewendete Mühen ihnen auferlegten, alles sein konnten, was sie wollten, und sie, indem sie ihr volles Potenzial ausschöpften, die Menschheit ihrem Ideal näherbringen würden. Für eine junge Frau, die Krankheit mit Schwäche gleichsetzte, sich kaum für Menschen außerhalb des Kreises ihrer acht Geschwister interessierte und das Geistesleben den Funktionen des Körpers – die sie, offen gesagt, abscheulich fand – bei Weitem vorzog, nicht gerade die naheliegendste Wahl. Doch Gott, so glaubte sie, hatte sie auserwählt, diesen mühsamen Pfad zu beschreiten, und sie wiederum hatte Emily, fünf Jahre jünger und die begabteste unter den Geschwistern, auserwählt, ihr zu folgen.

In den kommenden Jahrzehnten sollte Elizabeth weitaus häufigeren Gebrauch von ihren Schreibutensilien machen als von ihren medizinischen Instrumenten. Die Zeugnisse ihrer eloquenten Rechthaberei sind in Form von dicken, selbstverfassten Konvoluten erhalten, manche privat, andere veröffentlicht. Es war die direkte, unterschätzte Emily, die in aller Stille die Herausforderungen der Medizin selbst annehmen und ihr Leben als praktizierende Ärztin, Chirurgin und Lehrerin verbringen sollte, obwohl sie, ebenso wie ihre Schwester, kaum Empathie besaß. »Es liegt gewiss keine Anziehungskraft in der Versorgung jämmerlicher elender kranker Menschen«, schrieb sie an Elizabeth. »Lediglich als Illustration der Wissenschaft kann ich überhaupt das geringste Interesse an ihnen aufbringen, es sei denn, es wäre möglich, sie zu erheben, und das ist eine schwierige Angelegenheit.«[4]

Die Erwartungen und den Ehrgeiz von Frauen zu wecken, egal, ob sie in den Slums in Fife Points wohnten oder in den Salons der Fifth Avenue verkehrten, war in der Tat eine schwierige Angelegenheit. Die Blackwell-Schwestern meisterten sie gemeinsam. Ihre Geschichte passt nicht auf eine Gedenktafel.

[1] »New York Infirmary for Women and Children«, New York Daily Herald, 13. Mai 1857, S. 3.

[2] Ebd.

[3] Ebd.; »Opening of the New-York Infirmary for Women and Children«, New-York Tribune, 13. Mai 1857, S. 4; »Infirmary for Women and Children«, New-York Times, 13. Mai 1857, S. 8.

[4] Emily an Elizabeth, 1852 oder 1853, Folder 163, Collection MC411, SL.

1 / Bristol – New York – Cincinnati

Das vergilbte Notizbuch ist in perfekt geraden Linien mit der sorgfältigen Handschrift der elfjährigen Elizabeth Blackwell angefüllt. »Es lebten einmal, so heißt es in meiner Geschichte, eine Lady und ein Gentleman«, lautet der Anfang. Der Gentleman, Fabrikant wie Elizabeths Vater, schaut zu, wie seine Freunde von England nach Amerika auswandern.

Und weil er wusste, dass sein Geschäft ein sehr gutes war und dass er dort seine Kinder besser aufziehen könnte als in England, fragte er seine Frau, was sie davon halten würde, wegzugehen und sie war zwar sehr traurig, ihr Heimatland zu verlassen aber weil sie wusste, dass es zum Besten ihrer Kinder war, stimmte sie zu.

Sie gingen an Bord »des besten Schiffs im Hafen, in eine Kabine »genau wie eine gute Stube«, ausgestattet mit »einem Teppich einem Sofa einigen Stühlen einem Piano einem Bücherschrank mit etlichen interessanten Büchern darin und einer Anzahl hübscher Pflanzen auf der Fensterbank«.[1] Musik, Bücher, Natur und schöne Möbel: alles, was man sich nur wünschen konnte, versammelt in einem sicheren, gemütlichen Raum. Es ist die Vision eines Kindes, das versucht, seine Angst zu bändigen.

Im August 1932 verließen die Blackwells ihre Heimatstadt Bristol für immer. Fünfzehn Personen – Samuel und Hannah, ihre acht Kinder, eine Gouvernante, zwei Hausmädchen und zwei Tanten – gingen an Bord der Cosmo, wo ein sieben Wochen und vier Tage dauerndes übel riechendes Martyrium begann: Auf dem Zwischendeck reiste nebst den dort eingepferchten Passagieren auch die Cholera mit, eine Seuche, die im Jahr davor England zum ersten Mal erreicht hatte. Mehrere von ihnen starben während der Überfahrt daran. Es war eine grauenerregende Reise, von den berechenbaren Bequemlichkeiten eines vertrauten Zuhauses in eine unvorhersehbare Zukunft. Wobei das Zuhause in jüngster Zeit ebenfalls weniger bequem und berechenbar ­geworden war.

Ein Jahrzehnt zuvor hatte sich Samuel Blackwell, Sohn eines Möbeltischlers aus Bristol, seinen Platz in der industriellen Mittelschicht gesichert und war mit seiner Familie in ein Reihenhaus Ecke Wilson Street und Lemon Lane gezogen. Der ambitionierte junge Zuckerfabrikant trug strenges geistliches Schwarz mit schneeweißer Krawatte, während Hannah, seine Ehefrau, dafür bekannt war, gerne auch ­einmal ihrer trivialen Seite nachzugeben – sie liebte den Tanz und hielt ihr Teeservice aus Porzellan in Ehren. Die Familie wuchs schnell: zuerst kamen Anna und Marian, danach Elizabeth, deren Geburt 1821 zwischen dem Tod zweier Brüder erfolgte, die beide Samuel hießen. Nach Eli­zabeth kam ein dritter, diesmal gesunder Samuel, eilig gefolgt von Henry. Bald darauf sollten noch Emily und Ellen, dann Howard und George das Licht der Welt erblicken. Die neun Kinder der Blackwells betrachteten sich selbst als ­abwechselnde Folge von zwei Mädchen und zwei Jungs, wo­­bei Eliza­beth als einzelnes Mädchen von der üblichen Ordnung abwich. Ihr Spitzname war »Little Shy« (Scheues Rehlein).[2]

Hannah Lane Blackwell fand ihre Erfüllung in der Mutterschaft. Ihre eigene Kindheit war keine Zeit gewesen, an die sie gerne zurückdachte. »Sie zogen mir ein schwarzes Kleid an, weil mein Vater gehängt werden sollte«[3], erinnerte sie sich. Sie war noch ein kleines Mädchen, als ihr Vater – zusammen mit einer Komplizin, die nicht seine Frau war – wegen Geldfälscherei verhaftet wurde. Offenbar warf sein Uhrmachergeschäft nicht den gewünschten Profit ab. Seine Unschuldsbeteuerungen während der Gerichtsverhandlung wurden von der Tatsache untergraben, dass er, auf frischer Tat ertappt, versucht hatte, die von ihm gefälschten Banknoten aufzuessen. Er entging gerade noch dem Strick, wurde aber nach Australien verbannt, und Hannah sah ihn nie wieder. Sie fand einen Ehemann, dessen Rechtschaffenheit – wenn auch nicht Geschäftstüchtigkeit – niemals in Zweifel gezogen werden sollte, und widmete ihr Leben der Organisation eines stabilen, ehrenwerten Haushalts.

Samuel und Hannah waren gleichermaßen Idealisten wie Kapitalisten: protestantische »Nonkonformisten«, Abweichler von der etablierten anglikanischen Kirche; Befürworter von Bildung, Mäßigung, harter Arbeit und Selbstvervollkommnung; entschiedene Anhänger der reformistischen Whig-Partei und frühe Aktivisten gegen die Sklaverei. Augenblick mal: Zuckerfabrikant und Abolitionist? Großbritannien hatte den Handel mit Menschen zwar 1807 eingestellt, doch die englischen Zuckerrohrplantagen in der Karibik basierten nach wie vor auf Sklavenarbeit.

Samuel verdiente sein Geld mit einem Rohstoff, der an eine Institution gebunden war, die er verabscheute, und träumte davon, einen Weg zu finden, Zucker ohne Grausamkeiten herzustellen. Kongregationalisten in einer anglikanischen Gesellschaft, aktive Gegner der Sklaverei im Zuckerhandel: Die Blackwells hegten zutiefst moralische, herausfordernd unorthodoxe Auffassungen. In dieser Generation – und mehr noch in der nächsten – praktizierten sie ideologischen Kontrarianismus und strebten nach einer moralisch überlegenen Position, die der beschauliche Mainstream ignorierte, ablehnte oder sich schlicht nicht vorstellen konnte. Von diesen einsamen, unwirtlichen Höhen herab wollten sie strahlen wie Leuchtfeuer und die Unerleuchteten in eine wahrhaftigere Zukunft führen.

Anna, die Erstgeborene, diktatorisch und zur Dramatik neigend, überredete ihre Mutter, sie auf dem Dachboden schlafen zu lassen, und investierte ihr Taschengeld in ein Fernglas. War sie großzügig gestimmt, lud sie Polly und Bessy* ein, (Emily war noch zu klein), durch das Fenster ­ihrer Schlafkammer hinaus auf das Dach zu klettern. Eng nebeneinandersitzend in ihrer »Himmelsstube« ließen die drei Mädchen wie kleine Majestäten ihren Blick über die Hügel und Felder jenseits der östlichen Stadtgrenze schweifen – bis jemand sie dabei erwischte. Als Töchter progressiver Reformer ahmten Anna, Bessy und Polly unbefangen nach, was sie bei den Erwachsenen beobachtet hatten: Sie verfassten eine Petition, in der sie versprachen »ganz still zu sitzen & uns nicht über die Brüstung zu lehnen«[4], und übergaben sie ihrem Vater. Samuel seinerseits reagierte mit einem anderen Blackwellschen Zeitvertreib: Er schrieb ein Gedicht, das folgendermaßen begann:

Eure Bitte, kleine Damen,

Fällt gebührend aus dem Rahmen.

Das Fliegen ist der Vögel Fach

Drum sitzen sie nur auf dem Dach![5]

Nach diesem Zwischenfall mussten sich die Mädchen mit dem hölzernen Schaukelpferd in der hinteren Stube zufriedengeben.

Alle Kinder der Blackwells bis auf die jüngsten wurden in Bristol geboren und wuchsen durch eine Mischkost aus ­Natur, Literatur und politischem Bewusstsein zu starken Persönlichkeiten heran. Zu ihren Lieblingsausflugszielen ­gehörten die beiden steinernen Quellwasserbecken von ­Mother Pugsley’s Well in Kingsdown oder die zerklüfteten Felsen von St. Vincent’s Rocks, die erhaben über dem Tal des Avon thronten und an deren steil aufragenden Wänden auf schmalen Simsen Pflanzen wuchsen, die es nirgendwo sonst gab: Weißstrahl, Ehrenpreis und Gänsekresse.

Samuel und Hannah gewährten ihren Töchtern denselben Zugang zu Wissen wie ihren Söhnen. Bücher gehörten meist der frommen, erbaulichen Sorte an: Stories Explanatory of the Church Catechism von Mary Martha Sherwood war ein ständiger Begleiter. Bis Anna und Marian mit Schützenhilfe eines Kindermädchens einige Bände von Sir Walter Scott in die Finger bekamen. »Es gab eine schreckliche Szene & unsere geliebten Romane wurden beschlagnahmt & zu Papa getragen, & wir machten uns auf eine drakonische Strafe gefasst«[6], erinnerte sich Anna später. Samuel jedoch war neugierig, was seine Töchter wohl derart zu fesseln mochte. Er las die Bücher selbst und wurde ebenso in ihren Bann gezogen.

Hannah war der weniger flexible Elternteil. Ihr Glaube forderte von ihr, der Eitelkeit zu entsagen (als Frau, die ihrer Schönheit wegen bewundert wurde, hatte sie selbst mit diesem Thema zu kämpfen). Sie war fest entschlossen zu verhindern, dass diese in leicht zu beeindruckenden Geistern Wurzeln schlug. »Das hübsche Baby gibt den hässlichsten Erwachsenen!«[7], lautete ihr Credo. Ihre Umsicht hatte ­allerdings den gegenteiligen Effekt. Sie machte aus ihren Kindern krankhaft gehemmte Menschen, deren Unbehagen mit der Zeit immer mehr zunahm. »Wir waren stets sehr ärmlich gekleidet und uns immer schmerzhaft bewusst, nicht auszusehen wie andere Leute«[8], erinnerte sich Anna. Doch zumindest herrschte bei so vielen Geschwistern niemals Mangel an Gesellschaft.

Sie bildeten eine enge Gemeinschaft und hielten sich abseits. Wie viele Nonkonformisten – intellektuell abenteuerlustig, politisch engagiert – stellten Samuel und Hannah die Moral über das Materielle und erschauderten angesichts des verschwenderischen Prunks des anglikanischen Establishments selbst dann noch, als es sie hartnäckig ausschloss. (Bis 1828 war es Nonkonformisten verboten, ein öffentliches Amt zu bekleiden. Ihre Söhne, so klug sie auch immer sein mochten, durften bis in die 1850er Jahre weder einen Abschluss in Oxford noch in Cambridge erwerben.) Den Blackwell-Kindern war der Gegensatz zwischen der von hohen Grundsätzen geleiteten strengen Einfachheit zu Hause und den glitzernden Verführungen des geschäftigen Bristol äußerst bewusst.

Obwohl Hannahs Ehe glücklich war, kamen ihre Töchter nicht umhin zu bemerken, dass es in der weiteren Familie eine ganze Menge weniger zufriedener Frauen gab. Unter dem Dach ihres Bruders Samuel lebten vier »arme, hungerleidende Tanten«[9]. Mary, eine »geborene Lady«[10], war ihnen die Liebste. Lucy – »sehr zierlich, sanft & unbedeutend« – versah die Dienste einer Näherin, obgleich »sie nicht ein Gran Geschmack« hatte »& vom Schneidern nicht mehr« verstand »als von der griechischen Sprache«[11]. Ann war der schonungslosen Einschätzung ihrer Namensvetterin Anna nach »sehr wohlmeinend, starrsinnig, ungebildet und hässlich«[12]. Und Barbara war von allen die unbeliebteste, was sich noch verschlimmerte, als sie im Haus in der Wilson Street den Posten der Gouvernante übernahm: Anna nannte sie »eins der widerwärtigsten, schlechtest gelaunten, rigorosesten, engstirnigsten Geschöpfe auf Erden«. Abgesehen davon verstanden die Mädchen ganz genau, dass es ihren Tanten nicht an Intelligenz fehlte, sondern an Möglichkeiten. Die verhasste Tante Barbara »war überaus klug & Bildung hätte in ihrem Fall alle nützlichen Möglichkeiten in vollem Umfang entfalten können«, sinnierte Anna. »Aber sie existierte so vor sich hin, wie der Rest ihrer Familie, dumm wie ein Besenstiel«[13].

Ungebildet und unverheiratet, blieb den Tanten nichts anderes übrig, als alle Rollen auszufüllen, die sich im Haushalt ihres Bruders eben so anboten. Die Ehe war allerdings auch keine Garantie auf ein besseres Leben. Großmutter Blackwell, winzig und sanft, lebte im Schatten eines tyrannischen Ehemanns, der so unangenehm war, dass seine Familie sich wohl gelegentlich gewünscht haben mag, man hätte ihn nach Australien deportiert und nicht Hannahs Vater. Anna konnte sich nicht erinnern, von Großmutter Blackwell jemals »eine Meinung zu einem Thema jenseits von Hausarbeit & Essen« gehört zu haben, doch vor ihrem Tod verblüffte diese ihre älteste Enkelin mit der Warnung,

wie sehr sich Mädchen davor in Acht nehmen sollten, auf die Schmeicheleien eines Mannes zu hören, um dann zu erleben, dass das alles aufhörte, wenn sie eine Frau gefunden hatten, die bereit war, sie zu heiraten, & das arme Mädchen feststellte, welch üblen Herren ihr die Heirat eingebracht hatte, was für eine Sklavin sie war & in was für eine Welt von Kümmernis & Plackerei & Sorgen sie sich begeben hatte; und dass jene weise seien, die nicht heirateten & dass sie selbst, wenn sie ihre Entscheidung noch einmal treffen könnte, mit höchster Wahrscheinlichkeit Großpapa nicht heiraten würde.[14]

Keines der fünf Blackwell-Mädchen ging eine Ehe ein. Alle bestritten zu verschiedenen Zeiten ihren Lebensunterhalt als Lehrerinnen.

Die Begriffe Herr und Sklave wurden im Haushalt der Blackwells nicht leichtfertig benutzt. 1823 machte in Bristol, einem der wichtigsten Häfen für den britischen Zuckerhandel, der Abolitionist Thomas Clarkson Station. Während seiner Rede entnahm er einer mitgeführten hölzernen Truhe verschiedene von afrikanischen Völkern hergestellte Kunstwerke und Produkte. Der begeisterte Samuel Blackwell trat daraufhin der »Bristol Auxiliary Anti-Slavery Socie­ty« bei und studierte die verlockenden Versprechungen der Zuckerrüben, die sich in gemäßigten Klimazonen ohne Sklavenarbeit anbauen ließen. In diese Innovation hatten kürzlich die Franzosen investiert, denen durch die Handelsblockaden während der Napoleonischen Kriege der Zugang zum karibischen Zuckerrohr versperrt war. Samuel ging es dabei zwar nicht in erster Linie um die Verbesserung des ­Lebens der Plantagensklaven – im Zentrum seiner Über­legungen stand vielmehr die Moralhygiene der britischen Zuckerkonsumenten –, dennoch standen seine Überzeugungen in krassem Widerspruch zu der Art und Weise, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente. Seiner Nachkommenschaft blieb das nicht verborgen. »Uns Kindern bereiteten die Aussagen über die Sklaverei auf den Westindischen Inseln eine derartige Qual, dass wir aus Protest dagegen aufhörten, Zucker in unseren Tee zu tun.«[15] Allerdings war auch der ungesüßte Tee mit den Einnahmen aus dem Zuckergeschäft bezahlt worden.

Die Zuckerverarbeitung hatte Samuel Blackwell zwar zu einem höheren gesellschaftlichen Status verholfen, war aber ein trügerisches Fundament. 1828 sah der gesamte Haushalt zu, wie am gegenüberliegenden Ufer des Avon, wo seine Counterslip Refinery abbrannte, »große Flammenfedern, & Funkenwolken hinauf in den Himmel schossen«[16]; die Feuersbrunst erwärmte selbst aus dieser sicheren Distanz das Geländer am Ufer des schmalen Flusses, über das sie sich lehnten. Raffinerien erhielten Rohzucker aus der Karibik, den sie kochten, filterten, zu Granulat verarbeiteten und schließlich zu glatten Zuckerhüten formten. Die Kombination aus fauchenden Kesseln und entzündlichem Zuckerstaub bescherte ihnen eine erschreckende Tendenz zum Explodieren. Samuel gelang es zwar, sein Geschäft wieder aufzubauen, allerdings musste er seinen Wohnsitz aus der gehobenen Wilson Street in eine weniger vornehme Unterkunft verlagern: in einen Anbau an seiner neuen Raffinerie.

Weitere Enttäuschungen folgten. Samuels Bruder James, zuständig für die Interessen der Blackwells in Dublin, entwickelte einen heftigen Verfolgungswahn und wirtschaftete das dortige Büro in Grund und Boden. (Letzten Endes brachte man ihn in eine private Anstalt, wo er sich weniger bedroht fühlte von den Mördern, die ihn vermeintlich töten wollten.[17]) Eine Spedition in Bristol, die Samuel mehrere Tausend Pfund schuldete, ging bankrott.[18] Und zu all diesen finanziellen Turbulenzen gesellte sich auch noch ein veritables politisches Erdbeben, das im Herbst 1831 Bristol erschütterte.

Selbst Jahrzehnte später konnten sich die Kinder der Blackwells noch immer lebhaft an die gespenstische Stille in den verlassenen Straßen erinnern und an den tobenden Mob Hunderter wütender Männer, die mit Fackeln an ihrer Wohnung vorbeigezogen waren, um die Machtzentralen der Stadt anzugreifen. Durch den rasanten Aufstieg von Indus­triestädten waren Großbritanniens Wahlbezirke überholt und unbrauchbar geworden: Spärlich besiedelte und leicht zu manipulierende »rotten boroughs« auf dem Land entsandten Abgeordnete ins Unterhaus, während die explodierende Bevölkerung der urbanen Gebiete nicht repräsentiert war, ganz abgesehen davon, dass Arbeiter überhaupt nicht wählen durften, denn dieses Recht war Landbesitzern vorbehalten. Im Oktober, nach der Ablehnung des »Second Reform Bill« durch das Oberhaus, wurde die Stadt drei Tage lang von Unruhen erschüttert, bei denen es auch Tote gab. Die Blackwells traten von ganzem Herzen für die Gesetzesreform ein, was jedoch nichts daran änderte, dass die Gewalt, die sich um sie herum Bahn brach, sie in Angst und Schrecken versetzte.

In diesem fragilen Moment war Samuel außergewöhnlich empfänglich für die begeisterten Berichte von Freunden, die in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren. Schließlich hatten Nonkonformisten diese junge Nation jenseits des Atlantiks gegründet, und die Religion der Blackwells würde den Aussichten ihrer Kinder dort nicht im Weg stehen. Samuel könnte seine Energien als Abolitionist in einem Land einbringen, das getränkt war vom Blut der Sklaverei. Und inmitten der ungeahnten landwirtschaftlichen Möglichkeiten, die es bot, lag vielleicht auch eine Chance für seine Zuckerrüben. Seine Kollegen in Bristol waren angesichts der Entscheidung auszuwandern entsetzt und boten ihm einen großzügigen Kredit an, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Auch Hannah teilte die Abneigung gegen diese Idee. Sie hatte soeben Howard zur Welt gebracht, ihr achtes lebendes Kind, und war bereits wieder schwanger.

Als die Blackwells endlich von Bord der Cosmo gingen, fanden sie New York seltsam still. Wie sich bald herausstellen sollte, war ihnen das Übel, das sie hatten hinter sich lassen wollen, vorausgeeilt: Die Stadt befand sich in den Klauen ­ihrer ersten Cholera-Epidemie, und alle betuchteren Einwohner waren geflohen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis man die Mechanismen verstand, die zur Entstehung und Ausbreitung von Epidemien führten. Von den insgesamt 250 000 Einwohnern der Stadt starben mehr als 3 500.

Trotz Samuels Optimismus – Amerika war ein Land voller Gefahren, mit raueren Umgangsformen und weniger streng definierten Regeln. Würden seine Kinder und Geschäfte gedeihen an diesem Ort, wo »rührige Dollar-Scheffler«[19] in den schmutzigen Straßen herumwuselten und man gerade erst begann, einfache Holzhäuser durch stabilere Gebäude aus Ziegeln und Steinen zu ersetzen? Frau und Kinder sollten seine Begeisterung für die Neue Welt niemals auch nur annähernd teilen. Er brachte seine Familie in einer gemieteten Unterkunft in der Thompson Street unter, und einige Wochen später schenkte Hannah einem gesunden Jungen das Leben, ihrem neunten und letzten Kind, das sie zu Ehren des mutigen Neubeginns auf den Namen George Washington Blackwell taufen ließen.

Der Aufenthalt der Blackwells in New York war geprägt von einem ständigen Auf und Ab. Samuel kaufte mithilfe von Unterstützern im heimatlichen Bristol die Congress Sugar Refinery in der Duane Street, eine der größten Zuckerraffinerien der Stadt. Innerhalb von zwei Jahren zog die Familie von Manhattan nach Long Island, in die Nähe des Dörfchens Flushing, aber ihre Freude an dem geräumigen Holzrahmenhaus mit dem angrenzenden Obstgarten endete jäh, als Samuel an Malaria erkrankte. Die Schuld wurde korrekterweise dem in der Nähe gelegenen Marschland zugewiesen, obwohl es noch ein halbes Jahrhundert dauern sollte, bis es gelang, den Moskito als den wahren Übeltäter zu identifizieren. Wie der Name der Krankheit – malaria, »schlechte Luft« – schon besagte, dachte man damals, sie würde von den üblen Ausdünstungen abgestandener Moorlachen verursacht. In den noch jungen Vereinigten Staaten war sie derart verbreitet, dass man die Erkrankung daran und die Erholung davon »seasoning« nannte und als normale Phase des Eingewöhnungsprozesses von Neuankömmlingen betrachtete. Im Dezember 1835 wechselten die Blackwells zurück auf das jenseits von Manhattan gelegene Festland, nach Jersey City. Ihr neues Domizil lag eine Fährstrecke über den Hudson River entfernt von Samuels Raffinerie. Gründe gab es für jeden der Umzüge. Da sich die Familie jedoch nicht dauerhaft an einem Ort niederließ, wurde jede engere Beziehung zu einer Gemeinschaft außerhalb ­ihres eigenen Clans verhindert.

Elizabeth zog das Alleinsein ohnehin dem Knüpfen und der Pflege gesellschaftlicher Kontakte vor. Die unersättliche Leserin verschlang einfach alles, von Shakespeare und Bunyans Pilgerreise bis hin zu den Romanen von Maria Edgeworth und Madame de Staël mit ihren unabhängigen Heldinnen. Bücher waren ihr Refugium, boten Zuflucht vor der eigenen Unbeholfenheit in menschlicher Gesellschaft. »Falls die Leute herausfinden, was für ein komisches Wesen ich bin, dann soll es mir sehr recht sein«, verkündete sie. »Und ich werde mir erlauben, mich herzlich wenig darum zu kümmern.«[20] Die Kultivierung frivolen weiblichen Charmes war unter ihrer Würde, und obgleich sie sich häufig am Rande des Geschehens wiederfand, bezweifelte sie, dass es im Zentrum besser sei. »Wie heiter die Damen wirken« schrieb sie über die vorüberziehende Menge, »& wie elendiglich eingeschnürt ihre Taillen sind.«[21]

Als Jugendliche strebte sie nach Anerkennung und verzweifelte bei dem Gedanken, sie niemals zu erlangen. »Ich fürchte, das helle Strahlen des Genies ist weit davon entfernt, meine Seele zu erleuchten«,[22] vertraute sie ihrem Tagebuch an. Als sie in Begleitung ihres jüngeren Bruders Sam die Aufnahmefeierlichkeiten am Columbia College miterlebte, war sie inspiriert und frustriert zugleich. »Die auf Griechisch gehaltene Rede löste eine Vielzahl von Gedanken in mir aus«, räumte sie ein, »dazu die melancholische Betrachtung, dass die zauberischen Pfade der Literatur wohl nicht dazu bestimmt seien, dass ich auf ihnen wandle.«[23] Zwar hatte das Oberlin Collegiate Institute in Ohio zu seinem Bachelor-Kurs 1833 die ersten weiblichen Studenten zugelassen, doch das war eine überraschende Ausnahme. Und Elizabeth träumte ohnehin davon, sich einen Platz unter den Männern an der Columbia zu erobern, anstatt sich an einer winzigen und obskuren Schule im Grenzland zu ­anderen Frauen zu gesellen.

Wenn Literatur und Philosophie ihr verwehrt waren, welche Wege standen ihr dann offen? »Wie sehr ich mich nach irgendeinem Zweck sehne, für den ich arbeiten kann«, schrieb sie. »Tag für Tag ohne jedes Ziel in der immer gleichen Eintönigkeit weiterzumachen, ist sehr ermüdend.«[24] Sie schloss sich der aufkeimenden Temperenzlerbewegung an und unterzeichnete ein Gelöbnis zur völligen Abstinenz.[25] Auch schloss sie eine Heirat kategorisch aus. Angelegentlich der Lektüre eines Romans mit dem Titel The Three Eras of Woman’s Life (Mädchen, Ehefrau, Mutter) beschwerte sie sich: »Ich wünschte, eine begabte Feder würde die interessante Lebensgeschichte einer alten Jungfer erzählen.«[26] Sie war noch keine siebzehn.

Elizabeths Stacheligkeit machte auch vor ihren Schwestern nicht Halt. Die knapp fünf Jahre ältere, ungestüme Anna hatte die Rolle der Hauslehrerin für ihre jüngeren Geschwister übernommen, nachdem aus Miss Major, der Gouvernante der Familie, durch Heirat mit Hannahs Bruder Tante Eliza geworden war. (Onkel Charles Lane, der die Familie in Amerika besuchte, hatte bereits eine Ehefrau, drüben in England, aber die Blackwells nahmen in stillschweigendem Einvernehmen davon Abstand, die Entscheidungen des »armen, närrischen, herzensguten, prinzipienlosen Onkel Charley!«[27] genauer zu hinterfragen.) Annas neue Stellung als Autoritätsperson verstärkte die Spannungen zwischen ihr und Elizabeth, und die Phasen, in denen sich die beiden gegenseitig mit Schweigen straften, konnten ewig dauern. »Gerade, als ich dabei war, zu Bett zu gehen, schickte mir Anna eine überaus würdevolle & ernste Botschaft, in der sie bekundete, mir mein früheres Verhalten zu vergeben«, notierte Elizabeth, »also gehe ich davon aus, dass die Entfremdung zwischen uns, die jetzt seit mehr als 3 Monaten andauert, zu Ende ist.«[28] Marian, obgleich zurückhaltender als Anna, konnte eine ebenso große Kritikerin von Elizabeths Betragen sein.

Profiteurin der Konfrontationen zwischen den Schwestern war die robuste, neugierige Emily, die Elizabeth in einer solchen Phase manchmal »zu ihrer großen Freude zur Partnerin erkor«.[29] Aber sie war zu jung, um eine stimulierende Gesellschafterin abzugeben, und als Anna aus dem Haus ging, um an einem Seminar in Vermont eine Stelle als Lehrerin anzutreten, wünschte Elizabeth sich die ältere Schwester sofort zurück. »Ich frage mich, wie wohl Anna so zurechtkommt«, schrieb sie. »Ich muss fast immer an sie denken, wir vermissen ihre muntere Rede wirklich sehr.«[30] So sollte es bei den Blackwells des Öfteren sein: Sie mochten einander lieber als alle anderen Menschen, und am liebsten, wenn ein Stück Entfernung zwischen ihnen lag. Annas Weggang markierte den Beginn der familiären Diaspora – nur selten sollten die Geschwister noch einmal alle zusammen sein –, doch hörten sie bis zu ihrem Tod nie auf, einander zu schreiben. In den frühen Jahren, als Geld knapp war und Porto teuer, beschrieben sie eine Seite, drehten sie anschließend um neunzig Grad und beschrieben die Zwischenräume noch einmal, wodurch ein dichtes Gitter enger, gestochen scharfer Handschriften entstand.

Elizabeths Brüder Sam und Henry, die vom Alter her zwischen ihr und Emily lagen, genossen ein regeres gesellschaftliches Leben. Dazu gehörten Ausflüge an den Broadway zu Konzerten in Niblo’s Garden oder einem Besuch in Peale’s Museum, um einen Blick auf die Siamesischen Zwillinge Chang und Eng Bunker zu erhaschen. Doch die reservierten und eigensinnigen Blackwell-Frauen verbrachten ihre freie Zeit sehr still, womöglich stiller, als sie wollten. Über den Neujahrstag, an dem die Damen normalerweise zu Hause blieben, um eventuelle Besucher zu empfangen, berichtete der zwölfjährige Sam: »Mamma, Anna, Marian und Bessy saßen von etwa zehn Uhr morgens an bis in die Nacht in der guten Stube, empfingen aber bis etwa fünf Uhr nachmittags niemanden, abgesehen von Onkel Charles.«[31]

Elizabeth bevorzugte eher geistige Unterhaltung, wie einen Besuch bei den Gebrüdern Orson und Lorenzo Fowler. Die beiden hatten eine florierende Praxis zum Studium einer neuen, angesagten Lehre gegründet: der Phrenologie. Deren Begründer, der Wiener Franz Joseph Gall, war fest davon überzeugt, dass die inneren Einstellungen und Begabungen eines Menschen jeweils ein eigenes Organ im Gehirn besäßen, wobei dessen Größe im Verhältnis zu deren Stärke stand. Man müsse nur die Wülste und Einbuchtungen des Schädels untersuchen, um die tiefere Wahrheit über das Vermögen eines Menschen in Bezug auf 33 Eigenschaften und Charakterzüge zu erkennen, darunter Beharrlichkeit, Besonnenheit, Unternehmergeist, Humor und die beiden Arten der Liebe, als da wären die »sinnliche« oder romantische Liebe und die »Zeugungs-« oder elterliche Liebe. Der Ursprung von Galls Theorie lag in dessen eigener Studentenzeit, als ihm aufgefallen war, dass die echten Genies unter seinen Kommilitonen eine hohe Stirn und vorstehende Augen besaßen. Gall wies selbstverständlich dieselben Merkmale auf.

Um einen eisigen Januarnachmittag zu beleben, begab sich Elizabeth mit einigen ihrer Geschwister zu den Fowlers, um sich »phrenologisieren« zu lassen, und war, als sie wieder ging, gegen ihren Willen von der »rumpeligen Wissenschaft«[32] fasziniert. Bei Elizabeth, so hatte ihr Examinator festgestellt, waren »Behutsamkeit« nicht sehr groß, »Ehrfurcht« und »Nachahmung« mäßig, »Alimentationsbedarf«, also Hunger(gefühl), gut und »Idealität« oder Kultiviertheit stark ausgeprägt. Die Form ihres Schädels schien Beleg für den misanthropischen Überlegenheitsgestus zu sein, den sie bisweilen vergeblich zu verbergen suchte. »Weder Veranlagung zur Leichtfertigkeit, noch wird sie leichtfertige Behandlung durch andere zulassen«, hieß es in dem Bericht. »Andere wissen nicht, wie viel Verstand Sie besitzen.«[33] Das war alles sehr erfreulich für ein Mädchen, das sich nach Bestätigung der eigenen Vortrefflichkeit sehnte, abgesehen von dem Kommentar, der sich auf ihre übergroße Region für »Zeugungsliebe« bezog, was ein Irrtum sein musste. Mutter zu werden gehörte nicht zu Elizabeths Ambitionen. Sie musste sich ja schon um sechs jüngere Geschwister kümmern.

Die vorrangige Form gesellschaftlichen Engagements der Blackwells war ihre aktive Beteiligung an der Anti-Sklaverei-Bewegung, und im Mai 1837 nahmen alle Schwestern, außer der erst neun Jahre alten Ellen, an der Anti-Slavery Convention of American Women teil, einem bahnbrechenden Kongress, auf dem auch freie schwarze Frauen zugegen waren. Anna war offizielle Delegierte, und die Leitung ­hatten so berühmte Frauen wie Lucretia Mott und die Schwestern Sarah und Angelina Grimké inne, die später zu berühmten Vertreterinnen der amerikanischen Frauenrechtsbewegung wurden. Frühe Gerüchte über diese politische Zielsetzung wurden auf dem Treffen 1837 bereits laut, als Angelina Grimké eine Resolution verlas, die besagte, dass es für Frauen unabdingbar sei, »sich für die Sache der Unterdrückten in unserem Land einzusetzen«, womit gemeint war, dass Frauen zu den Unterdrückten gehörten. »Es ist an der Zeit, dass sich die Frau in jenen Sphären bewegt, welche die Vorsehung ihr zugewiesen hat«, verkündete Grimké, »und nicht länger mit dem eng umgrenzten Bereich zufrieden gibt, in dem verderbte Sitten und eine pervertierte Anwendung der Heiligen Schrift sie eingekerkert haben.«[34] Das Publikum war sich in seiner Zustimmung zu diesen Gedanken keineswegs einig, und auf dem Heimweg diskutierten Anna, Marian, Elizabeth und Emily immer noch darüber, ob diese nicht »sehr unvernünftig«[35] seien.

Ihr Vater lebte seinen paradoxen Zustand weiter und beteiligte sich an diesen Dingen, wann immer es die freie Zeit, die seine Raffinerie ihm ließ, erlaubte. »Der Geist der Sklaverei schwärzt und verdammt alles hier, moralisch wie politisch«, schrieb Samuel Blackwell, »und wird sich, so fürchte ich, ausbreiten wie ein Krebs, bis völlige Verderbtheit Ende und Ruin dieser Staaten sind.«[36] Er freundete sich mit William Lloyd Garrison an, trat dem New Yorker Ableger des Committee of Vigilance (Komitee für Wachsamkeit) bei und half, entflohene Sklaven vor erneuter Gefangennahme zu bewahren. »Heute Nacht kam ein farbiger Mann hierher, der sagte, er sei ein entflohener Sklave«, schrieb Elizabeth in einer Dezembernacht. »Wir gaben ihm etwas Geld als Hilfe auf seiner Reise.«[37] Für eine eigenbrötlerische, lesewütige, kompromisslos hochgesinnte junge Frau war das Engagement in der Anti-Sklaverei-Bewegung die Würze endlos trister Tage: Zugang zu berühmten Persönlichkeiten, der Nervenkitzel, im Angesicht von Widerständen moralische Überlegenheit zu demonstrieren, das romantische Wagnis, des Nachts Geflohenen zu helfen. Mit dem Schmerz und den Risiken schwarzen Lebens gab es nur wenig echte Berührung, doch war Elizabeth ohnehin glücklicher mit dem abstrakten Ideal.

Sie haderte mit dem eng begrenzten Spielraum, den das Leben ihr bot. »Welch ein Mangel an Begebenheiten«, nörgelte sie im Sommer 1837. »Ich wünschte, ich könnte eine gute Methode ersinnen, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, aber die Beschränkungen, die mein hochgeschätztes Geschlecht einengen, machen alles Streben nutzlos.«[38] Eine Woche später wurde Elizabeth durch die Thronbesteigung von Prinzessin Victoria in England aus ihrer Erstarrung gerissen.

»Wie leidenschaftlich ich hoffe, unsere junge Königin möge sich der Aufgabe, unser florierendes Königreich zu regieren, als würdig erweisen & ihr gewachsen sein, & dass sie unserem Geschlecht zur Ehre gereicht«[39], schrieb sie. Eine Frau auf dem Thron, und nur zwei Jahre älter als sie selbst! Das hob Elizabeths Stimmung und entzündete aufs Neue ihren Stolz auf alles Englische. Königin Victoria – das klang nach einer Frau, die sich lohnte kennenzulernen.

In New York hatte sich unterdessen in diesem Frühjahr die Lage in eine bedenkliche Richtung entwickelt. Ein Zusammenspiel ökonomischer Kräfte, verschärft durch die schlecht beratene Finanzpolitik Präsident Andrew Jacksons, löste eine Panik aus, die Banken in den Ruin trieb, Existenzen vernichtete und Soldaten auf den Straßen nötig machte, um gewaltsame Unruhen zu verhindern. Samuel Blackwells Pechsträhne riss nicht ab: Wieder war seine Zuckerfabrik niedergebrannt. Entschlossen, seine Energie nun endlich auf den verlockenden Gral der Zuckerrübe zu konzentrieren, verkaufte er die traurigen Überreste an seinen Vorarbeiter. Durch Subventionen Napoleons während der Kriegszeiten Jahrzehnte zuvor war Frankreich zum führenden Produzenten von Zuckerrüben aufgestiegen, doch auch in Amerika stieg allmählich das Interesse an diesem Rohstoff. Land war billig und reichlich vorhanden, und einheimischer Zucker schien eine vielversprechende Investition zu sein. Samuel war kein Landwirt, aber die Idee, beide Enden der Produk­tionskette zu kontrollieren, frei vom Makel der Sklaverei, war höchst attraktiv – endlich eine Chance, doch noch zu Wohlstand zu gelangen und dabei sogar Gutes zu tun.

»Ich hoffe, Papa nimmt [seine] Idee mit dem Rübenanbau in Michigan nicht wieder auf«, schrieb Elizabeth. »Aber dass er derart viel von Rüben spricht & all diese französischen Bücher zu uns nach Hause schleppt, damit wir sie ihm übersetzen, ist ziemlich verdächtig.«[40] Es war schwer, die offensichtliche Schlussfolgerung nicht zu ziehen, als Samuel mit Hannahs silberner Kasserolle im Keller verschwand, um »einige Experimente durchzuführen«[41], und bald darauf mit einer Verbrennung im Gesicht wieder auftauchte, die von kochendem Zucker stammte. Im Frühling 1838 verließ er Jersey City zu einer ausgedehnten Expedition nach Pennsylvania und Ohio – weniger weit entfernt als Michigan, aber immer noch erschreckend abgelegen – um herauszufinden, wo er seine Rüben anbauen und sich mit seiner Familie endlich niederlassen könnte.

In ausufernden, nachdenklichen, wunderlichen Briefen gab sich Samuel alle Mühe, Frau und Kinder vom Versprechen des Westens zu überzeugen, der, verglichen mit New York, unermesslich weit und rau war, von Bristol ganz zu schweigen.

»Erzähl dem lieben Washy*«, schrieb der Vater, »dass ich ein Opossum gesehen habe … und in den Wäldern springen Eichhörnchen von Baum zu Baum – und die Leute machen Löcher in die Bäume, damit der Zucker herauslaufen kann – und Bäume so hoch wie Kirchtürme.« Cincinnati, primitiver noch als selbst Pittsburgh, sei ein »hübscher, florierender Ort – und obgleich ich das Beiwort ›prächtig‹ nicht darauf anwenden sollte, gibt es hier gewiss viel zu bewundern.«[42]

Im* Mai 1838 reisten die Blackwells aus New York nach Cincinnati ab, außer Anna und Marian, die ihre Stellungen als Lehrerinnen behielten. Die Reise – auf einem Ozeandampfer nach Philadelphia, im Zug durch die Berge der Alleghenies sowie mit zahlreichen Zwischenstationen die Flüsse hinauf – dauerte neun Tage. Inmitten der dicht gedrängten Reisegesellschaften auf den Flussschiffen hielt Elizabeth sich abseits, während Emily und Ellen, elf und neun Jahre alt, von den jungen Männern an Bord gefesselt waren. Emily gewann ununterbrochen beim Damespiel, sehr zum Verdruss ihrer Gegnerinnen. Niemand beachtete Elizabeth, was diese erleichternd, aber auch ein wenig enttäuschend fand. »Ich schätze, ich gelte als vergeben«, grummelte sie, »denn als ich Wash gerade sauber machte, fragte mich eine Dame, ob er mein Sohn sei.«[43] Sie verbrachte ihre Zeit mit den Gedanken von Blaise Pascal.

Cincinnati, gelegen an den Ufern eines Flusses und umgeben von niedrigen Hügeln, war 1838 eine aufstrebende Stadt mit 35 000 Einwohnern. Sie gerierte sich selbst gerne als »Königin des Westens«, war zutreffenderweise aber eher als »Porkopolis« bekannt. In einem Reisebericht, der zum Bestseller avancierte, hatte die britische Schriftstellerin Fanny Trollope, Mutter des weitaus berühmteren Anthony, erst kürzlich ihrem Entsetzen beim Anblick einer reizlosen Grenzstadt Ausdruck verliehen, in der die Abfallbeseitigung frei umherlaufenden Schweinen überlassen wurde.[44] Schweinefleisch war der Motor der hiesigen Entwicklung, und jedes Jahr im Herbst färbten sich die Flüsse rot vom Abwasser der Schlachthäuser. In der Ära vor der Erfindung des Kühlschranks war die Fleischproduktion eine Kaltwetterindustrie. Jetzt jedoch war Frühling. »Ich sah einige sehr hübsche Häuser & gut gekleidete Menschen«, schrieb Elizabeth nach ihrem ersten Morgenspaziergang bemüht optimistisch. »Über dem Ort scheint eine Aura der Wohlanständigkeit & Reinlichkeit zu liegen.«[45] Vielleicht würde es ihr Vater hier endlich zu Wohlstand bringen. Und obwohl Cincinnati auf freiem Grund erbaut war, mieteten die Farmer in Ohio für gewöhnlich Sklaven aus dem am jenseitigen Flussufer gelegenen Kentucky als Saisonarbeiter. Der Bedarf an Aktivitäten zur Abschaffung der Sklaverei war offensichtlich.

Die Blackwells fanden ein Haus, das sie mieten konnten, und Elizabeth unterrichtete in Abwesenheit von Anna und Marian ihre jüngeren Geschwister. Sonntags besuchte sie in Ermangelung irgendwelcher Möglichkeiten zur kulturellen Ablenkung versuchsweise verschiedene Kirchen, darunter die Presbyterianer-Gemeinde von Lyman Beecher. Der Theologe war nicht nur für seine feurigen Predigten bekannt, sondern letztlich auch für seine Nachkommenschaft. Bis die Namen Henry Ward Beecher, Harriet Beecher Stowe und Catherine Beecher weithin Berühmtheit erlangten, sollte noch einmal ein ganzes Jahrzehnt ins Land gehen, doch die Blackwells fühlten sich sofort zu ihnen hingezogen. Vielleicht war Cincinnati ja gar kein so schlimmes, morastiges Kaff. Vielleicht gab es hier ja genügend Raum für junge Frauen, deren Verstand beeindruckender war als ihre Garderobe. »Wenn wir in körperlicher Hinsicht nicht angeben können, dann müssen wir es eben mit unseren geistigen Fähigkeiten tun & sie alle mit dem Zauber unseres Intellekts überstrahlen«, schrieb Marian an Elizabeth. »Ich habe vor, als Schöngeist zu erscheinen; du könntest die ›ernste, in jugendliche Schönheit gewandete‹ Mentorin sein, & Anna überwältigt sie alle mit ihrem messerscharfen Verstand.«[46] Elizabeth, die sich gerade durch das Werk von Jane Austen kämpfte, stimmte dieser Vision von einer Eroberung der Welt mit intellektuellen Mitteln aus vollstem Herzen zu.

Doch noch bevor die Familie auch nur mit dem Auspacken fertig war, zeigten sich bei Samuel Symptome einer Krankheit, die ihn schon seit Jahren plagte – womöglich die Malaria, die er sich in Flushing eingefangen hatte. Fieberschübe und Ohnmachtsanfälle wurden immer häufiger, und bald kam der Doktor mehrmals täglich bei ihnen vorbei. »Er hat die Farbe eines Indianers angenommen«, schrieb Elizabeth. »Tante M denkt, er wird sein Bett nie wieder verlassen.«

Während Samuel zusehends verfiel, zeichnete Elizabeth, das älteste der anwesenden Kinder, die Symptome ihres Vaters in allen Einzelheiten auf: seine quälende Ruhelosigkeit, seine unregelmäßige Atmung, seinen langsamer werdenden Puls, die Gaben von Brandy und Fleischbrühe und Laudanum, die Einreibungen mit Quecksilbersalbe und die Waschungen mit muriatischer Säure, heute besser bekannt als Salzsäure. Keine dieser Bemühungen half, was nicht überraschend war. Es ist verlockend, in dieser Zeit die Keimzelle ihrer Zukunft als Medizinerin zu sehen, doch wäre es wohl richtiger zu sagen, dass sie hier zum ersten Mal Verantwortung übernehmen musste. »Ich hatte den ganzen Abend lang am Kopf seines Bettes gesessen und seine rechte Hand gehalten«, schrieb sie. »Als ich mich weinend über die Sofalehne warf, betete ich mit aller Leidenschaft zu Gott, dass er ihm, sollte es Sein Wille sein, ihn von uns zu nehmen, einen friedlichen & leichten Übergang in die andere Welt gewähren möge.«[47]

Kurz nach 10 Uhr vormittags am 7. August 1838 starb Samuel Blackwell im Beisein seiner völlig verstörten Ehefrau und fassungslosen Kinder, die neben seinem Bett knieten. »Ich hielt meine Hand über seinen Mund«, schrieb Eliza­beth, »& bis zum Ende meines Lebens werde ich nicht das grässliche Gefühl vergessen, das mich überkam, als ich feststellte, dass da kein Atem mehr war.« Aus ihren Worten spricht deutliche Trauer, doch ebenso ist darin eine junge Frau zu erkennen, die sich der pathetischen Macht der Worte bewusst ist, die aus ihrer Feder fließen. »Er ist tot«, schrieb sie. »Oh, dass ich noch lebe, um es aufzuschreiben: Die Stütze unseres Hauses, der freundliche großzügige liebevolle nachsichtsvolle Vater ist nicht mehr.«[48]

Die brutale Augusthitze erzwang eine rasche Beerdigung. Am nächsten Tag gingen Elizabeth und Hannah Samuels Papiere durch. Er hatte seiner Witwe und den neun Kindern, die gerade am Ende der bekannten Welt angekommen waren, zwanzig Dollar hinterlassen.

Der Verlust des Vaters zog eine ganze Reihe von Veränderungen innerhalb der Familie Blackwell nach sich. Die Trauer wurde von der Notwendigkeit verdrängt, den Lebensunterhalt zu sichern und Geld zu verdienen, und da die Söhne der Familie erst fünfzehn (Sam) und dreizehn (Henry) sowie sieben (Howard) und fünf (George) Jahre alt waren, fiel diese Aufgabe ihren ältesten Schwestern zu. Weniger als drei Wochen nach Samuels Tod hieß die Cincinnati English and French Academy for Young Ladies ihre ersten Schülerinnen willkommen. Elizabeth hatte Handzettel gedruckt, die hochtrabend Kurse in »Lesen, Schreiben und Zeichnen sowie den Anfängen der Malerei, Arithmetik, Grammatik, Antiken und Modernen Geschichte, Geografie, Natur- und Moralphilosophie, Botanik, Komposition, Französischen Sprache und Vokalmusik«[49] offerierten. Der Unterricht fand im Wohnzimmer der Blackwells statt.

Anna und Marian, die die Beerdigung ihres Vaters verpasst hatten, reisten eilig nach Cincinnati und trafen gerade noch rechtzeitig ein für einen weiteren Todesfall. »Tante Mary überaus unwohl«, notierte Elizabeth am 24. September. Eine Woche später war auch diese von ihnen gegangen. »Es schien, als sollte ich, was immer auch geschehen mochte, niemals wieder etwas fühlen«, hießt es in Elizabeths Tagebuch. »Nicht eine Träne habe ich vergossen. Der fürchter­liche Schlag, den wir zuerst erhielten, hat mich offenbar ­abstumpfen lassen gegenüber allem anderen.«[50] Mit der transatlantischen Post trafen Briefe von Hannahs Brüdern ein, die die frischgebackene Witwe dazu drängten, mit den Kindern zurück ins heimatliche England zu kommen. Hannah dachte sicherlich darüber nach, aber den Kurs der Familie hatte stets ihr Ehemann bestimmt, und jetzt übernahmen die Töchter das Ruder. Auch Elizabeth begegnete den Andeutungen ihrer Onkel, die Familie sei ohne Oberhaupt hilflos, mit Verachtung: »Sie wissen nicht, aus welchem Holz wir sind.«[51] Dennoch hasste sie die langen Arbeitsstunden, das unablässige, enervierende Auf und Ab zwischen Langeweile und Besorgnis, den erschöpfenden Mangel an Zeit für sich selbst. »Nach der Schule nahm ich meine Arbeit mit & setzte mich aufs Dach, wo ein überaus ergötzliches Lüftchen wehte. Wie ich diesen Wind da oben liebe, der mein Haar so übermütig zaust«, schrieb sie. »Ich stelle mir dann immer vor, ich wäre auf dem Ozean und würde nach Hause ­segeln.«[52]

Der ernsthafte, pedantische Sam fand eine Stelle als Gerichtsdiener. Henry, der ebenso überschwänglich war wie sein Bruder nüchtern, gelang es, sich für ein Jahr an eine Schule nach St. Louis davonzumachen; danach kam er jedoch wieder nach Hause, um in einer Bank zu arbeiten. In der glücklichsten Lage war Emily: zu jung zum Arbeiten, alt genug zum Studieren. Obwohl jünger als Henry, war sie größer als er – was alle in der Familie lustig fanden außer diesem – und drohte, ihn auch an Gelehrsamkeit zu übertreffen. »Ich habe jetzt alle Weisheitszähne«, trumpfte sie dem ihr am nächsten stehenden Bruder gegenüber auf, »und du kannst dir nicht vorstellen, wie schlau ich jetzt bin.«[53] Das Zusammenleben mit drei rechthaberischen, eigensinnigen älteren Schwestern hatte sie gelehrt, hinzuschauen und zuzuhören. Sie zeigte bereits dieselbe akademische Begabung wie Elizabeth, gepaart mit einer Beständigkeit, die ihre Familie noch schätzen lernen sollte.

An den arbeitsfreien Sonntagen erfrischten sich die Blackwells mit neuen Ideen. Hannah hielt an ihren nonkonformistischen Wurzeln fest und schloss sich Lyman Beecher an, dem Präsidenten des Lane Theological Seminary, wo er junge Männer darin ausbildete, für Gott den Westen zu erobern. Hannahs eher intellektuell orientierte Töchter fanden inbrünstige Erweckungsversammlungen weniger attraktiv, doch in Cincinnati, wo der Kirchbesuch die mit Abstand am weitesten verbreitete Unterhaltung bot, herrschte an Kanzeln kein Mangel. Zu Hannahs Entsetzen – oder vielleicht auch gerade deswegen – tat Elizabeth ihre Absicht kund, sich in der Episkopalkirche konfirmieren zu lassen, der konservativen, gesellschaftlich elitären amerikanischen Variante der Church of England. Mag sein, dass deren Englishness ihren nostalgischen Erinnerungen an Bristol Nahrung gab. Doch noch im selben Jahr verfiel sie, dank der Ankunft eines charismatischen jungen Mannes namens William Henry Channing, ins andere Extrem.

Noch nicht einmal dreißig Jahre alt und ausgestattet mit dem verschleierten Blick und den ausgeprägten Wangenknochen eines Poeten, schlug Channing, der über einen Abschluss der Universität Harvard verfügte, 1839 als Pastor der Unitarian Society in Cincinnati auf. Im Gegensatz zu den Episkopalen, die an den überladenen Praktiken der Hochkirche festhielten – der Dreieinigkeit, Heiligen, reich bestickten Gewändern und Weihrauchwolken –, glaubten die Unitarier an die Einheit des Göttlichen mit besonderer Betonung der Vernunft, tolerierten den Zweifel und legten eine äußerst offene Haltung gegenüber individuellen Methoden der Gottesverehrung an den Tag. Durch Channing lernten die Blackwells den Transzendentalismus kennen, der sich gut mit ihren eigenen Vorstellungen von der natürlichen Güte des Menschen vertrug. »Ich erinnere mich sehr gut an das Leuchten in Mr. Channings Augen, als ich ihn beim ­Lesen eines Buches antraf, das er soeben erhalten hatte«, schrieb Elizabeth. »›Setz dich zu mir‹, rief er aus, ›und hör dir das an!‹ Von da an gab er immer wieder Auszüge aus Emersons* Essays zum Besten.«[54] Bis 1840 waren aus den drei ältesten Schwestern – wiederum zum Entsetzen ihrer Mutter – Unitarierinnen geworden.

Channing war es auch, der in den Blackwells das Interesse für die utopistischen Visionen des Franzosen Charles Fourier weckte. Dieser hatte die Idee der sogenannten »Phalanstère«* entwickelt. In diesen Gemeinschaften sollte Arbeit, ausgeübt je nach individueller Leidenschaft, zur reinen Freude werden und Frauen jede Rolle ausfüllen können, für die sie dank ihrer Fähigkeiten und Interessen geeignet wären. Seine Lehre, der sogenannte Assoziationismus, fußte auf der Vorstellung von einer harmonischen, von unredlichen sozialen Beschränkungen (darunter auch der Ehe) befreiten Kooperation. Während andere zwanzigjährige Mädchen von Ehemann, Kindern und Haushalt träumten, ...

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