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Die Geliebte des Räubers

Als Buch hier erhältlich:

Wem traust du, wenn dein Herz verraten wird?

Deutschland 1802. Die Gebiete links vom Rhein sind gerade erst an Frankreich gefallen und stehen fortan unter französischer Verwaltung. Das bringt für die Bevölkerung neue Pflichten, aber auch neue Rechte. Diese Zeit des Umbruchs ermöglichte es einer Vielzahl von Kriminellen, sich zu Räuberbanden zusammenzuschließen und Land und Leute mit rücksichtsloser Brutalität auszuplündern. Der jungen Lisbeth sind seit einem Überfall auf ihre Eltern die räuberischen Banden verhasst. Als ihr Dorf von Räubern terrorisiert wird, wehrt sich die selbstständige Näherin mit allen Mitteln, über die sie als Frau verfügt, um die Eindringlinge gegeneinander auszuspielen und das Dorf zu befreien. Doch auf welcher Seite steht der Dorfbüttel Johann, der Mann, den sie liebt, und von dem keiner so genau weiß, wer er ist und woher er eigentlich kommt?


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002759

Leseprobe

Für C,
für immer

Deutschland – ein Räuberland

In Deutschland begann 1798 eine grundlegende Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, nachdem Frankreich unter Napoleon die linke Rheinseite (und zeitweilig auch die rechte) besetzt hielt. Unter seinem Einfluss wurde beschlossen, die eroberten deutschen Gebiete in die Strukturen des französischen Staates einzugliedern. Noch vor dem »Frieden von Lunéville« 1801, in dem das linke Rheinufer schließlich auch formell an Frankreich fiel, wurden die eroberten Gebiete nach französischem Vorbild in Departements eingeteilt, darunter das Departement Rhein-Mosel mit seiner Präfektur Coblenz (heute: Koblenz). Von dort wurde ganz im Geiste der Gedanken der Französischen Revolution alles Linksrheinische sowohl gesellschaftlich als auch rechtlich verändert und verwaltet.

Einige Veränderungen waren von Vorteil, wie etwa die neuen Gesetzgebungen, die »gleiches Recht für alle« versprachen. Andere Veränderungen wurden von der deutschen Bevölkerung, die ja jetzt faktisch Franzosen geworden waren, abgelehnt, zum Beispiel die Einführung der Zehn-Tage-Woche. Die Rheinländer übernahmen sie zwar offiziell, lebten aber parallel dennoch wie gewohnt nach ihrer Sieben-Tage-Woche weiter.

In dieser Zeit blühte in Deutschland das Räuberbandenwesen auf. Mit rücksichtsloser Brutalität plünderten gewissenlose Mörder und Diebe in allen Teilen der Bevölkerung sowohl Kaufleute und Viehhändler als auch Landwirte und Mühlenbetreiber. Einige von ihnen, darunter Johannes Bückler (bekannt als »Schinderhannes«) oder auch Matthias Weber (bekannt als »der Fetzer«) genossen einen zweifelhaften Ruf, dennoch fanden sie bei einigen der einfachen Leute sogar Zustimmung zu ihren Überfällen.

Im Jahr 1802 beschloss die französische Regierung, diesem Räuberbandenwesen ein Ende zu setzen, und beauftragte den Öffentlichen Ankläger von Köln, Anton Keil, rigoros dagegen vorzugehen.

Und darum ließ sich Keil nicht zweimal bitten …

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Frühjahr 1802

Über das Land und durch das Leben

1

Der Anblick des niedergebrannten Elternhauses bereitete Lisbeth sofort Atemnot. Die Erinnerungen kehrten zurück, und keine davon war gut.

Im Licht der morgendlichen Frühlingssonne wirkten die Steine der alten Ruine beinahe idyllisch, als wollte es den Schrecken beschwichtigen, den dieser kleine Hof vor acht Jahren so unbarmherzig ereilt hatte. An die zerstörten, dachlosen Mauern klammerte sich Efeu, und seine Ranken schienen sagen zu wollen, dass sie nichts mehr hergaben, was sie sich einmal genommen hatten. Wie der Tod damals auch.

Lisbeth spürte, wie ihr Herz schneller gegen ihre Brust schlug. Es würde sich wohl nie ändern. Wie oft hatte sie vergeblich gehofft, es würde ihr nichts mehr anhaben können, wenn sie nach dem halbstündigen Fußweg vom Dorf hierherkam? Doch der Anblick der vom Feuer immer noch geschwärzten Mauern traf sie jedes Mal aufs Neue. Auch nach so vielen Jahren konnte sie das brennende Holz der Dachbalken immer noch riechen, die glimmenden Funken um ihr Gesicht fliegen sehen und das Geräusch der zusammenkrachenden Scheune hören, als die Flammen gierig alles gefressen hatten, was sie kriegen konnten. Und von allen Seiten die lauten Stimmen der Männer, deren Sprache sie nicht verstand und die sie an ihren dünnen Armen fortzerrten, damit ihre Haare kein Feuer fingen, weil sie zu nahe herangegangen war an das, was einmal ihr Zuhause gewesen war.

Lisbeth wusste, dass es nicht half, die Vergangenheit zu nah an sich herankommen zu lassen. Wichtiger war die Gegenwart, wenn sie eine Zukunft haben wollte. Doch was nutzte der Verstand, wenn er an der Leine der Gefühle hing?

Sie ging um das verfallene Gemäuer herum. Dort, wo sich hinter einer weitläufigen Lichtung die Wiesen bis hoch zu den Roten Wäldern anschlossen, ragte ein verwittertes Holzkreuz aus dem Gras auf. Die eingekerbte Inschrift war verdreckt und kaum leserlich, aber Lisbeth wusste auch so, dass dort der Name ihres Vaters stand. Er hatte das Leben verlassen müssen, ohne Zeit zum Sterben gehabt zu haben.

Sie ging auf die Knie und hob dabei ihre Schürze ein wenig an, damit sie nicht unter dem Rock eingeklemmt wurde. Dann löste sie die Schlaufen ihrer Haube, hängte sie sich über den linken Arm und atmete tief ein. Es tat gut, die leichte Brise zu spüren. Als würde ein gnädiger Wind ihre lähmenden Gedanken einfach mit sich nehmen.

Auf dem Weg hierher hatte sie Feldblumen gepflückt, die sie nun niederlegte. Leise flüsterte sie ein kurzes Gebet, bevor sie sich gleich wieder erhob.

Es tut mir leid, dachte sie, dann wandte sie sich ruckartig um und stapfte zum Feldweg zurück. Sie hatte noch nie die nötige Ruhe in sich getragen, um länger am Kreuz zu verweilen. Das lag nicht allein daran, dass der Leichnam ihres Vaters hier gar nicht begraben war und das Holzkreuz lediglich die Stelle seines Sterbens markierte, sondern vielmehr, weil ihr einfach keine Worte einfallen wollten, um ihre Sprachlosigkeit vertreiben zu können. Und was nutzte es Vater jetzt noch, wenn sie hier war? Vor acht Jahren hätte sie da sein sollen.

»Jemand, den du kennst?«

Lisbeth blieb wie erstarrt stehen.

Der Mann hockte auf einem der Felsen, die den sandigen Weg säumten, und sah ihr unverwandt in die Augen. Instinktiv blickte Lisbeth hastig nach links und rechts, ob er alleine war. Niemand sonst am Weg oder um das Ruinengemäuer. Wie unvorsichtig war sie, derart in grüblerische Gedanken zu versinken. Sie wusste es doch besser, wusste doch, dass der Hattinger mit seiner Bande in dieser Gegend sein Unwesen trieb. Entlang des Rheins bekreuzigten sich die Frauen, wenn sie seinen Namen hörten.

Lisbeths Abscheu dem ganzen Räubergesindel gegenüber war grenzenlos. Seit Jahren marodierten diese unmoralischen, gewissenlosen Mörder zu beiden Seiten des Rheins, raubten fahrende Kaufleute aus und fielen in Dörfer ein. Sie vergewaltigten und stahlen, was sie in die Finger bekamen. Von der Gendarmerie konnten sie nicht gefasst werden, weil sie sich in den tiefen Wäldern verbargen und in sämtlichen Mittelgebirgen besser auskannten als die französischen Soldaten, unter deren Herrschaft die Gebiete auf der linken Rheinseite standen.

Sicher, einige dieser Räuber wie der Bückler Johannes, den sie »Schinderhannes« nannten, genossen zweifelhaften Ruhm in der Bevölkerung. Den Franzosen ein Schnippchen zu schlagen und so für lustige Anekdoten zu sorgen täuschte aber nicht darüber hinweg, dass sie allesamt nichts weiter als gewissenlose Verbrecher und Mörder waren. Die Guillotine stellte eine viel zu milde Strafe dar für all das Leid, das sie über Familien brachten, fand Lisbeth.

»Nun hab dich nicht so«, sagte der Fremde. »Brauchst dich doch nicht vor mir fürchten.«

Und genau jetzt erschien es Lisbeth besonders ratsam, wachsam zu bleiben.

Verstohlen tastete Lisbeth mit einer Hand in ihre Schürzentasche. Ausgerechnet heute hatte sie kein Schneidmesserchen eingesteckt. Sie beobachtete den Fremden genau, ob er ansetzte, sich ihr zu nähern. Wie lange er schon da am Felsen hockte und sie beobachtet hatte, konnte sie nicht sagen, wohl aber, dass er sie auf unverschämte Weise anlächelte.

Ein Grund mehr, vorsichtig zu sein.

»Ich fürchte mich nicht.«

»Und doch überlegst du, was ich dir antun könnte.«

»So wie Sie überlegen sollten, wie gut ich mich wehren könnte.«

Der Fremde lachte auf entwaffnende Weise aus vollem Hals. Zu Lisbeths eigener Überraschung klang es aufrichtig und herzlich.

Er trug eine sansculotte, eine lange Hose aus Leinen, die seit ein paar Jahren auch bei den einfachen Leuten die Kniebundhosen verdrängte. Dazu feste, mit getrocknetem Schlamm verkrustete Stiefel, die aussahen, als hätten sie irgendwann einmal einem Soldaten gehört. Über einem völlig verstaubten weißen Hemd trug er eine dunkle Kurzjacke. Mit einem Hut in der Hand fächelte er sich Luft zu, obwohl die schräg zwischen den Bäumen einfallende Morgensonne noch gar nicht die Wärme der vergangenen Tage erreicht hatte.

»Keine Angst«, sagte er schließlich. »Ich hab nicht vor, dir was zu tun. Ich bin vorbeigekommen und hab dich am Kreuz knien sehen, und … was soll ich sagen? Mir gefiel der Anblick, als dein Jäckchen hochrutschte.«

Lisbeth strich über ihre kurze Schößchenjacke. Diese wurde dadurch natürlich nicht länger, aber der sittliche Anstand blieb wenigstens gewahrt.

Der Fremde fuhr sich mit dem Daumen über seine ausgetrockneten Lippen und das unrasierte Stoppelkinn. Für einen Moment ruhte sein Blick auf Lisbeths Körper, dann schien er sich zu erinnern, dass sie sehen konnte, wohin er blickte, und strich sich eine Strähne seines hellbraunen Haars aus der Stirn. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Sag ich nicht.«

»Warum das denn?«

»Ich bin ein zurückhaltender Mensch.«

Er lachte erneut. »Na schön, jeder muss irgendwas sein. Aber vielleicht sagst du mir ja, weshalb du dieses Grab aufsuchst?«

»Ich komm’ hierher, um meinen Zorn nicht zu vergessen.«

Kaum ausgesprochen, ärgerte sich Lisbeth. Was ging es den Fremden an, was sie hier tat? Schließlich hatte sie ihn noch nie in der Gegend gesehen. Weder auf den Feldern als Tagelöhner noch im Wirtshaus unten im Dorf. Er wäre mir vermutlich aufgefallen, gestand sie sich widerstrebend ein. Seine Augen schlugen sie in ihren Bann. Interessiert, nicht aufdringlich, aber stets auf sie gerichtet. Als würde man in die Tiefe eines Brunnens schauen, so dunkel und gleichsam unergründlich waren sie.

Mit einer jähen, fließenden Bewegung rutschte er vom Felsen herunter und stemmte beide Fäuste in die Hüften. Dabei schlug seine Kurzjacke auf, und Lisbeth sah den Griff einer Steinschlosspistole aus seinem Hosenbund ragen. Er bemerkte, dass sie auf die Waffe starrte, kümmerte sich aber nicht weiter darum, sondern ging an ihr vorbei zur Ruine und legte dort eine Hand auf den schwärzesten Stein der Mauer, die einmal die Vorderseite des Hauses gewesen war.

»Hier hat eine Tragödie stattgefunden«, sagte er, und seine Stimme klang angemessen betroffen.

»Sprechen die Steine mit Ihnen?«

Und schon wieder ärgerte sich Lisbeth über sich selbst. Weshalb konnte sie ihre Zunge nicht im Zaum halten? Es war noch nie gut gewesen, vorlaut zu sein, und bei einem Fremden erst recht nicht. Wer wusste schon, wie wankelmütig seine Launen waren?

Der Fremde drehte sich langsam um, sah ihr belustigt in die Augen und stapfte gemächlich zum Weg zurück. »Die Steine sagen mir nur das Offensichtliche«, meinte er. »Du selbst verrätst mir viel mehr.«

»Sie wissen nichts. Weder von mir noch von diesen Mauern hier.«

»Aber ich weiß, dass alle Flüsse ins Meer fließen und kein einziger die Berge hinauf.«

Er schaute sich unentschlossen um, als überlegte er, in welche Richtung er weitergehen sollte. Lisbeth rührte sich nicht von der Stelle. Sie wollte, dass der Fremde zuerst den Platz verließ. Es wäre ihr nicht recht, wenn er wüsste, wohin sie ging. Er neigte den Kopf und blinzelte schräg in die Sonne.

»Scheint ein warmer Tag zu werden.«

Lisbeth erwiderte nichts. Wann ging der Kerl endlich?

»Lebst du hier irgendwo?«

»Von woher kommen Sie?«

Mit einem Schmunzeln gab er ihr zu verstehen, sie mit ihrer Gegenfrage durchschaut zu haben. »Von der rechten Rheinseite komme ich«, sagte er.

»Und warum sind Sie nicht dortgeblieben?«

»Ich traf in Frankfurt auf eine sehr hübsche Frau, mit der ich kurzzeitig Bekanntschaft geschlossen habe.«

»Und?«

»Sie hat mir verschwiegen, dass ich nicht ihr einziger Geliebter war. Sie wurde auch von einem ehrenwerten Bürger und Förderer der Wissenschaft regelmäßig besucht. Und dieser Herr war dafür bekannt, nicht gerne zu teilen.«

»Aber warum gleich auf die linke Rheinseite wechseln? Wo doch hier die neuen Gesetze strenger sind als drüben.«

»Dafür, dass du mir keine Frage beantwortest, hübsches Kind, willst du aber viel von mir wissen. Aber schön, ich sag es dir. Ich will meinen Bruder besuchen. Er hat mich gebeten herzukommen. Muss ihm wohl wichtig sein, denn das ist das erste Mal. Und da ich gerade nichts Besseres zu tun habe, dachte ich mir, weshalb nicht?« Er rieb sich den Nacken. »Ach, sag mir, gibt es hier eigentlich häufig französische Patrouillen?«

»Für manchen zu häufig, für manche zu selten. Sind Sie auf der Flucht?«

Er zögerte. »Nein, ich frage nur, weil du mich dann ganz offiziell auch duzen müsstest, sobald die Franzosen um uns sind.«

»Hier macht das keiner«, sagte Lisbeth. »Wir reden so wie vorher miteinander, bevor die Franzosen ihre Gesetze erlassen haben.«

»Sehr schön, das gefällt mir. Ich mag es auch lieber, wenn man einen höflichen Abstand in der Anrede hält. Das verheißt mehr Spannung, wenn man sich dann näherkommt.«

Er zwinkerte ihr vergnügt zu und machte dann einen Schritt vor, woraufhin Lisbeth augenblicklich einen zurücksetzte und mit dem rechten Knöchel ein dorniges Gestrüpp streifte. Sie verzog nur kurz die Miene, behielt den Fremden aber weiter im Blick.

»Du hast schöne Haare«, sagte er.

Erschrocken bemerkte Lisbeth, dass sie ihr Häubchen immer noch in der Hand hielt.

»Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.« Der Fremde schwenkte seinen Hut mit einer angedeuteten Verbeugung und schlug mit schnellen Schritten den abfallenden Sandweg ein.

Er war bereits einige Meter gegangen, als Lisbeth ihm hinterherrief: »Grüßen Sie Ihren Bruder. Und passen Sie auf, hier gibt es Straßenräuber.«

Der Fremde drehte sich nicht um, hob aber im Laufen den rechten Arm und winkte.

2

Das Haus, in dem Lisbeth und ihre kranke Mutter Ida Kirch wohnten, lag am Ende der einzigen Straße des Dorfes Brunnenweiler. Genau genommen war Brunnenweiler kein Dorf, sondern nur eine überschaubare Ansammlung von etwa zwei Dutzend Häusern, und auch die Straße war nicht mehr als ein mit verdorrten Grasbüscheln durchzogener Sandweg, der breit genug war, dass zwei Pferdekarren aneinander vorbeifahren konnten.

Das Dorf ist ungewöhnlich angeordnet, hatte Doktor Konrad Fenkel gesagt, als er hergezogen war. Im Gegensatz zu anderen verlief es recht geradlinig. Die Straße führte einen sanft abfallenden Hang hinunter und mündete entlang der wenigen Häuser direkt auf einen großen Platz, der gleichzeitig auch das Ende der Straße bedeutete. Hier in der Mitte des Runds gab es den Brunnen, der dem Flecken seinen Namen gab. Dort im Schatten einer mächtigen, knorrigen Eiche trafen sich die Mägde gerne zum Tratschen, während sie von ein paar älteren Männern, die auf der Bank vor dem Stamm die Mittagshitze aushockten, dabei beobachtet wurden, wie sie sich zum Wassereimer bückten und ihre Oberkörper an der Handkurbel streckten.

Locker nebeneinander standen die Häuser derer, die schon lange, bevor die Franzosen die linksrheinischen Gebiete übernommen hatten, ein Handwerk ausübten, anstatt Äcker für Grundherren zu bewirtschaften. Der Scherenschleifer, ein brummiger Bär von Mann, dessen Frau Anne es mehr als alles andere genoss, begehrt zu werden, und deshalb jedem halbwegs ansehnlichen Kerl, der ihr über den Weg lief, schöne Augen machte, wohnte zwischen dem stillen Uhrmacher, der so wenig sprach, dass mancher ihn anfangs für stumm gehalten hatte, und dem von den Franzosen eingesetzten maire, dem Bürgermeister Hans Blasius, ein untersetzter, rundlicher Kerl, von dem böse Zungen behaupteten, er müsse seine Frau Margarethe, eine ebenso attraktive wie von sich eingenommene Person schlechten Charakters, selbst bei einfachen Dingen wie durchs Dorf spazieren um Erlaubnis bitten. Lisbeth war aufgefallen, dass man Blasius manchmal tagelang nicht zu Gesicht bekam.

Brunnenweiler lag so abseits der Handelsstraße, beinahe wie versteckt in dieser Senke und umgeben von Wäldern, Hügeln und Bergen, dass selbst französische Soldaten auf ihren Patrouillen nur selten vorbeikamen. Wenn sie allerdings mal hier waren, nutzten sie die Gelegenheit, um das Wirtshaus Zum fröhlichen Tropfen ausgiebig zu kontrollieren. Vor allem bei schlechtem Wetter blieben sie länger als nötig im Schankraum sitzen. Aber auch bei zu großer Hitze oder einem aufkommenden Lüftchen von Südwesten machten sie sich erst bei Einbruch der Nacht sturzbetrunken auf den Heimweg in ihre Quartiere.

Lisbeths Haus war dasjenige, an dem die Straße endete. Dadurch hatte sie einen guten Blick nach allen Seiten. Ihr entging selten, was sich rund um den Dorfplatz ereignete. Meist wusste sie noch vor dem gehörnten Ehemann, mit wem seine Frau ihn hinterging. Und sie bekam mit, wer sich nachts sternhagelvoll aus dem Fröhlichen Tropfen heimlich nach Hause schlich.

Tagsüber schob Lisbeth den Hocker ans Fenster, damit sie während ihrer Näharbeiten hinausschauen konnte. Seit Minuten saß sie einfach nur da, den Kopf gesenkt und die Hände reglos über den Stoff auf ihrem Schoß gelegt. Sie konnte den Widerhall ihres Herzschlags im Zimmer hören, laut und im Wechsel mit ihrem Atem, den sie schwer ausstieß, weil er sich an ihre Gedanken klammerte. Schließlich legte sie das Nähzeug beiseite und breitete den französischen Uniformrock so auf ihren übereinandergeschlagenen Beinen aus, dass sie mit der flachen Hand über den linken Ärmel streichen konnte. Man musste schon genau hinsehen, um den feinen Riss, den sie vernäht hatte, erkennen zu können. Zufrieden hob sie den Rock an und faltete ihn mit raschen geschickten Bewegungen zusammen. Dann trug sie ihn zur Kommode hinüber und legte ihn auf die anderen sieben Kleidungsstücke, die sie zu nähen beauftragt worden war. In den nächsten Tagen würde die französische Patrouille auf Geheiß des Generalsekretärs Gaspard Paty von der Präfektur Coblenz vorbeikommen, um alles abzuholen. Und vielleicht auch wieder neue Näharbeit bringen, dachte Lisbeth. Bei diesem Gedanken lächelte sie. Sie wusste, dass sie es Gaspard zu verdanken hatte, nicht ohne Arbeit zu sein. Dieser eine schicksalhafte Tag vor acht Jahren hatte sie zusammengebracht, und aus irgendeinem Grund, den Lisbeth sich nicht erklären konnte, lag Gaspard etwas an ihr und ihrer Mutter.

Na, wie dem auch sei, ihr war es gleich, für wen sie nähte, ob nun heute für die Franzosen oder, wenn sich nichts verändert hätte, für die Grundherren. Hauptsache, sie konnte sich ihren Lebensunterhalt damit verdienen, um sich und Mutter in den Kriegsjahren und der Zeit danach über Wasser zu halten. Außerdem arbeitete sie lieber in ihrer Stube und in ihrem eigenen Heim, als auf den Feldern die Tagelöhner bei ihrer körperlich schweren Arbeit zu unterstützen. Und sich als Magd für einen Hofbesitzer um dessen Kleinvieh zu kümmern, kam überhaupt nicht infrage. Nichts gegen Hühner und Schweine, Ställe und Scheunen, aber das ganze Jahr ohne Lohn zu arbeiten und früher oder später schwanger zu werden von jemanden, der es als selbstverständlich betrachtete, dass sie ihm zur Verfügung stand, weil er für ihr Essen sorgte und ihr gestattete, nach getaner Arbeit im Haus zu nächtigen, entsprach nicht dem, was sie vom Leben erwartete.

So gesehen war es für Lisbeth ein Glück, dass die Franzosen die Gebiete links des Rheins anerkannt bekommen hatten. Andere Zeiten waren dadurch angebrochen und mit ihnen neue Freiheiten für Hofbesitzer, um ihren eigenen Grundbesitz weitgehend für sich selbst zu bewirtschaften.

In den neu geschaffenen vier Verwaltungsbezirken nach dem Vorbild der französischen Departements waren die in Frankreich geltenden Gesetze eingeführt worden, die auf den Ideen der Revolution von 1789 fußten. Der Code des délits et des peines, das Strafgesetzbuch, ließen eine bislang hierzulande nicht gekannte, moderne Rechtsprechung entstehen. Eine, in der es Gleichheit vor dem Gesetz gab und das Recht, vor Gericht gehört zu werden. Allerdings auch die Bestrafung durch die Guillotine.

Ja, Lisbeth konnte noch nichts Schlechtes daran finden, dass die Franzosen hier waren. Sie musste nur aufpassen, dass nicht einer der Soldaten ihr einen Schängel machte. Aber sie würde sich schon zu wehren wissen, sollte es einer wagen, sie anzurühren. Mit der alten Jagdflinte ihres Vaters konnte sie umgehen.

Der Hocker schabte über den Holzboden, als sie aufstand. Sie ging in die Küchenecke und bereitete eine Suppe aus Graupen und gesalzenem Rindfleisch mit Möhren vor. Während die Suppe eine halbe Stunde köchelte, ging Lisbeth vor die Tür und wusch Feldsalat, der bei manchen hier auch Mauseöhrchensalat hieß. Kaum hatte sie begonnen, kam die frisch verheiratete Käthe mit ihrem Kuchlwagen vorbei. Von einem kraftlosen Gaul gezogen, der für die Feldarbeit nicht mehr zu gebrauchen war, lief Käthchen neben dem hohen Karren, auf dem sich ihr gesamtes Hab und Gut befand, das sie als eigenen Hausstand in ihr neues Zuhause mitbrachte. Eine Kommode, ein Hängekasten, zwei Stühle, dazu Bettzeug und ein fein gearbeitetes Kruzifix, das schon seit Generationen in ihrer Familie weitergegeben wurde.

Lisbeth nahm die Schüssel von den Knien, stellte sie neben dem Hauseingang auf den Boden und ging auf Käthchen zu. »Magst du, dass ich dir helfe?«, fragte sie.

Käthchen schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich schon.«

Lisbeths Blick fiel auf Käthchens verräterischen Bauch. Die beiden haben gerade noch rechtzeitig geheiratet, bevor es auch der Letzte sehen kann. Wird bald so weit sein. Sechster, siebter Monat, schätzte sie. Auf jeden Fall vorangeschritten genug, um sich nicht zu übernehmen.

»Ist es wegen den anderen?«, fragte Lisbeth. »Willst du nicht, dass die anderen sehen, wie du dir von mir helfen lässt?«

»Ach, Lisbeth, du weißt doch, wie sie sind. Sie denken halt, du kollaborierst mit den Franzosen, weil du für sie nähst.«

»Wie dumm sie sind«, sagte Lisbeth grimmig. »Sag’ ich etwa, der Wirt kollaboriert, wenn er den Franzosen Wein ausschenkt? Es geht doch nur ums Überleben. Na schön, Käthchen, aber ein Stück begleiten darf ich dich doch? Wenigstens bis zum Hügel hoch. Wenn es steiler wird und alles ins Rutschen kommt, wirst du noch ein paar helfende Hände brauchen, um alles oben zu behalten.«

Käthchen betrachtete die Ladefläche ihres Karrens und nickte. »Viel ist es ja nicht, was ich mitbringe, aber für den Anfang wird es uns schon reichen.«

»Und deswegen sollte das Wenige an der Steigung nicht auch noch verloren gehen.«

»Danke, Lisbeth. Lieb von dir.«

So bin ich. Eine von den ganz Lieben. Ich zeige es nur so selten.

Gemeinsam gingen sie nebeneinander die Straße hoch. Einmal schien es, als wollte der altersschwache Gaul stehen bleiben und überlegen, ob es nun der richtige Zeitpunkt war, in den Pferdehimmel einzuziehen, bevor er sich noch mehr abmühte, aber als Käthchen ihm einen satten Klaps verpasste, trabte er pflichtbewusst weiter.

»Wann willst du mal heiraten, Lisbeth?«

»Ich? Ha, du stellst Fragen. Gehören ja immer noch zwei dazu.«

»Gefällt dir denn keiner aus dem Dorf? Sind doch ordentliche Burschen darunter.«

»Und du meinst, das sollte mir genügen? Na, ich weiß nicht recht. Es ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, dass die meisten anständige Kerle sind.«

»Aber?«

Aber anständige Kerle sind langweilige Kerle.

»Aber ich weiß nicht«, wich Lisbeth aus.

Sie erreichten die Kuppe des Hügels, von der aus Käthchen den Weg zum kleinen Hof ihres Ehemanns einschlagen konnte. Es klang wirklich ungewohnt, das kleine Käthchen in Verbindung mit einem Ehemann zu bringen. Vor wenigen Monaten erst war sie siebzehn geworden und hatte noch mehr wie ein Kind ausgesehen als eine erwachsene Frau, und jetzt war sie seit drei Wochen mit einem Radmacher auf der anderen Seite des Hügels verheiratet.

Lisbeth fasste sie an beiden Händen und schüttelte sie aufrichtig herzlich. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt, kleines Kätzchen.«

Käthchen lachte. »Ich erinnere mich. So hast du mich immer genannt, weil ich mit vier Jahren meinen eigenen Namen nicht richtig aussprechen konnte. Also, vergiss nicht, Lisbeth. Du kommst uns besuchen, versprochen?«

»Versprochen, aber noch nicht so schnell. Ich denke, am Anfang seid ihr beide gerne ganz allein. Wird ja nicht von Dauer sein, hab ich recht?«

Käthe errötete, nickte aber so aufgeregt heftig, dass die Locken unter der Haube hüpften. »W…woher weißt du’s?«

»Kann ich nicht genau erklären, aber als ich dich angesehen habe, war mir klar, dass ihr bald zu dritt sein werdet. Ist wohl schon vor der Hochzeit passiert?«

»Verrate es bitte nicht meinen Eltern.«

»Na ja, die werden rechnen können.«

»Nicht so richtig. Ich sag einfach, es kommt zu früh.«

Lisbeth lachte. So jung und unbedarft war das kleine Käthchen offenbar nicht mehr. Das Käthchen, meine Güte, immer die Letzte beim Tanz auf der Kirchweih und jetzt verheiratet und bald schon Mutter.

Auf dem Weg zurück ins Haus spürte sie eine unerklärliche Wehmut in sich. Der Kloß im Hals wollte einfach nicht weichen, auch nach dreimaligem Schlucken nicht. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Dann erinnerte sie sich an die köchelnde Suppe. Als sie sich über den Herd beugte, war diese im Kessel so heiß geworden, dass der Dunst Lisbeths Stirn befeuchtete. Sie schöpfte sie in einen Teller um und stellte ihn auf ein Tablett.

Über eine schmale geländerlose Stiege gelangte Lisbeth in die Schlafkammer unter dem Dach. Mit dem Fuß schob sie die angelehnte Tür auf.

»Mutter, bist du wach?«

»Komm rein, mein Kind.«

Der strenge Geruch nach kaltem Schweiß und beißendem Urin ließ sie unweigerlich die Luft anhalten. Obwohl sie wusste, was sie erwartete, wenn sie in die Kammer trat, konnte sie den Reflex zu würgen nicht verhindern. Sie stellte das Tablett auf dem Nachttisch neben dem Bett ab, ging zum Fenster und öffnete es. Warme Luft von der Straße drang nur langsam durch die kleine Öffnung herein, die kaum größer als eine Brotschaufel war. Vergrößern oder ein zweites Fensterloch einschlagen, dachte Lisbeth. So konnte es jedenfalls nicht mehr weitergehen. Bei dem Gestank, der sich jede Nacht und jeden Tag in diesem Zimmer anstaute, war es ja ein Wunder, dass ihre Mutter noch nicht an ihrer eigenen Ausdünstung erstickt war.

Lisbeth beugte sich über die Fensterbank hinaus, ließ die leichte Brise über ihr Gesicht streichen und atmete tief ein, bevor sie sich wieder umdrehte und zum Bett zurückging.

»Du hast heute länger gebraucht, bis du wieder zurück bist«, sagte Mutter. Es schwang kein Vorwurf mit, einzig das Interesse an dem, was ihre Tochter tat.

Lisbeth verspürte kein Bedürfnis, ihr von der Begegnung mit dem Fremden zu erzählen. Dadurch würde sie ihm eine Bedeutung verleihen, die sie ihm nicht zugestehen wollte.

Sie half ihrer Mutter in eine bequeme Sitzposition, klopfte das Kissen auf und schob es ihr ins Kreuz. Dann platzierte sie das Tablett über den zugedeckten Beinen so, dass ihre Mutter die Suppe alleine löffeln konnte. Den strengen Geruch der Mutter hinnehmend setzte sie sich zu ihr auf das Bett.

»Schmeckt es dir?«

»Tut mir gut. Die Nächte sind noch sehr kalt. Meine Knochen schmerzen.«

»Wir werden heute wieder ein paar Minuten gehen üben.«

»Es strengt mich an.«

»Es ist wichtig. Und die Mühe lohnt sich. Du siehst doch selbst die Fortschritte, die du in den letzten Jahren gemacht hast. Denk doch nur, wie es in der ersten Zeit nach … entschuldige, Mutter.«

»Sprich es ruhig aus, Lisbeth. Du brauchst nicht zu glauben, dass ich es nicht ertragen könnte, wenn du sagst, was geschehen ist. Vergiss nicht, ich war ja dabei.«

Lisbeth verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. Ja, Mutter war dabei gewesen. Hautnah und mehr, als Ida Kirch lieb gewesen sein konnte.

»Du hast schon recht«, sagte Ida. »Anfangs konnte ich meine Beine nicht bewegen. Und heute schaffe ich es immerhin schon, fast eine Stunde herumzulaufen und auf den Beinen zu sein. Das habe ich dir zu verdanken. Weil du mich immer wieder dazu antreibst, nicht aufzugeben, auch wenn mir jeder Schritt höllische Qualen beschert.«

Fast eine Stunde herumlaufen. Solche Worte versetzten Lisbeth einen heftigen Stich ins Herz. Es hat acht Jahre gebraucht, bis ihre Mutter wieder so weit gekommen war. Und es würde noch mal acht Jahre brauchen, bis sie vielleicht den halben Tag vergessen konnte, dass die Knochen in ihren beiden Beinen die reinsten Trümmerhaufen gewesen waren, als man sie gefunden hatte.

Liebevoll strich Lisbeth ihrer Mutter eine Strähne aus der Stirn. »Wir kriegen dich wieder hin«, sagte sie.

Der gebrochene Körper, der offensichtlich schlecht verheilt war, ertrug die Schmerzen, die nicht mehr weggehen wollten, mit der eisernen Willenskraft einer Mutter, die glaubte, ihre Tochter nicht zurücklassen zu können. Lisbeth wusste, dass ihre Mutter diese Vorstellung brauchte. Nur das bewahrte sie davor, nicht in völliger Lethargie zu verharren wie in der Zeit nach dem Überfall.

Lisbeth nahm von der Kommode die Waschschüssel vom Vorabend, ging damit zum Fenster und schüttete das Wasser hinaus. Dann stellte sie die Waschschüssel wieder auf die Kommode, nahm das Tablett mit dem inzwischen leeren Suppenteller von der Bettdecke und stellte ihn ebenfalls auf die Kommode. Es war eine fast schon ritualisierte Abfolge an Handgriffen, die sie im Laufe der vergangenen Jahre abzuwickeln gelernt hatte, ohne dabei nachzudenken. Im Grunde war sie mit diesen immer gleichen Handgriffen erwachsen geworden.

»Ich hoffe, ich sterbe bald«, sagte Ida.

Lisbeth erschrak. »Was redest du da?« Sie setzte sich neben ihre Mutter.

»Du weißt, warum ich das sage.«

»Ich mach’s aber gerne. Es ist alles keine Mühe für mich.«

»Ich hab immer hart gearbeitet.«

»Das weiß ich doch.«

»Dein Vater auch. Sein ganzes Leben lang, bis zu … zu seinem Tod. Ich bin froh, dass du nicht auf den Äckern arbeiten musst, Lisbeth. Nähen in der Stube ist besser. Auch wenn’s für die Franzosen ist. Lassen sie dich in Ruhe, die Franzosen?«

»Die Uniformen werden in den nächsten Tagen abgeholt.«

»Nicht hudeln, mein Kind. Liefere saubere Arbeit ab.«

»Wie ich es von dir gelernt habe«, lächelte Lisbeth.

Plötzlich, als sie ihre Mutter betrachtete, wie diese über die Jahre hinweg geschrumpft und zerbrechlich geworden auf dem Kissen ruhte, überschwemmte sie ein so tiefes Gefühl an Zuneigung, dass es ihr schier die Brust zerreißen wollte. Könnte sich Mutter doch nur in ihre Zuneigung einwickeln wie in eine warme Decke und wenigstens für ein paar Augenblicke die Schmerzen vergessen, die sie nicht mehr verlassen wollten.

»Wollen wir noch ein paar Schritte gehen?«, fragte Lisbeth vorsichtig. Die Angst, die Kräfte ihrer Mutter zu überfordern, wurde sie nicht los, auch wenn Doktor Fenkel sie unaufhörlich ermutigte, genau das zu tun – ihre Mutter fordern.

Einmal hatte Doktor Fenkel sie über den Zusammenhang der fatalen Wechselwirkung zwischen Kopf und Körper aufgeklärt. Zwischen Selbstaufgabe, weil der Körper nicht mehr mitmachte, und Kraftlosigkeit, weil der Kopf es nicht zulässt zu genesen. Lisbeth hatte schon als Zwölfjährige verstanden, worauf der Doktor hinauswollte. Das war vor sieben Jahren gewesen, kaum dass Doktor Fenkel ins Dorf gezogen war, um von hier aus alle Höfe in der Umgebung versorgen zu können. Alle waren froh gewesen, einen Arzt in der Nähe zu wissen, der mehr konnte, als jede Krankheit nur mit einem Aderlass zu behandeln.

Als hätte Ida ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Hat Doktor Fenkel dir wieder einen neuen Ratschlag gegeben?«

»Nichts, was wir nicht schon wüssten.« Sie griff ihrer Mutter unter die Schultern, als sie sich umständlich auf die Bettkante setzte und mit den Füßen nach ihren Schläppchen suchte.

»Er ist ein guter Arzt. Wann kommt er denn mal wieder her? Ich würde gerne mal ein wenig mit ihm plaudern.«

»Ich glaube, Doktor Fenkel würde sich sehr freuen, wenn du zu ihm kämst, und zwar auf deinen eigenen zwei Beinen.«

»Das wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich so weit bin.«

»Aber damit es wirklich mal passiert, werden wir jetzt noch ein wenig üben, bevor ich für heute Abend in den Gasthof gehe.«

»Hilfst du dem Wirt vom Fröhlichen Tropfen immer noch aus? Ich dachte, seine Tochter würde ausschenken?«

»Macht sie auch, aber eben nicht jeden Abend. Ich mach’s gern, wirklich.«

»Ich weiß nicht, ob mir das gefällt, Lisbeth. Halb betrunkene Männer und du mittendrin.«

»Vollständig betrunkene Männer, und ich bringe ja nur die Becher und Bierkrüge an die Tische. Und keine Angst, Mutter, ich weiß über Männerhände Bescheid.«

Kaum hatte sie es gesagt, schnappte Lisbeth nach Luft. Sie hätte sich links und rechts ohrfeigen können. So unbedachte Worte. Wann endlich lernte sie darauf zu achten, was sie wann und zu wem sagte? Das passierte ihr heute schon zum zweiten Mal. Auch dem Fremden gegenüber heute Morgen hatte sie zu schnell drauflosgeplappert.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum du das machst. Reicht das Geld nicht, das dir die Franzosen bezahlen?«

»Konzentrier dich jetzt lieber auf deine Schritte«, umging Lisbeth eine Antwort. »Willst du es erst einmal alleine versuchen? Schieb den rechten Fuß vor, sehr gut, halt die Balance, und nun den linken nachziehen. Kannst du ihn anheben, ein wenig nur?«

Sicherheitshalber hielt sie ihre Hände auffangbereit hinter Mutters Rücken. Anfangs musste Ida sich noch jeden schlurfenden Schritt mühsam abringen, doch nach ein paar Minuten festigten sich die Schritte. Langsam durchmaßen sie das Zimmer. Bis zur Kommode, umdrehen, zur Tür, umdrehen, wieder zurück zum Bett und von dort zum Fenster. Ein ums andere Mal, bis sich Ida ermattet am Fenster abstützte. Lisbeth ließ ihren Unterarm los, als sie sicher war, dass Ida nicht die Knie wegsackten. Seite an Seite blickten sie aus dem Fenster. Von ihrem Platz aus konnten sie die sanft ansteigende Straße vom Dorfplatz zwischen den Häusern bis hoch zum Ortsende überblicken. Auf der Bank unter der alten Eiche hockten drei alte Männer im Schatten und rauchten. Sie sprachen nicht miteinander, teilten aber mit ihren Blicken die gemeinsame Sehnsucht nach den jungen Mädchen, die mit schwer beladenen Handkarren an ihnen vorbeigingen. Drüben drei Häuser weiter konnte Lisbeth Anne sehen, die Frau des Scherenschleifers, wie sie auf den Stufen ihres Hauseingangs saß, eine Schüssel zwischen die Beine geklemmt, und Gemüse putzte. Immer wieder blickte Anne von ihrer Arbeit auf, um zu schauen, ob nicht vielleicht ein junger Bursche aufkreuzte, dem sie mit aufreizendem Getue schöne Augen machen und mit einem zu weit aufklaffenden Hemd spontan eine unpassende Erektion bereiten konnte.

»Sollen wir morgen nach draußen gehen?«, fragte Lisbeth. »Wir könnten deine Übungen an der frischen Luft machen. Bestimmt fällt dir dann jeder Schritt leichter.«

»Nach draußen gehen?« Es klang, als müsste Ida erst einmal überlegen, wo sich das befand.

»Es würde dir guttun.«

»Die Luft ist herrlich, ja. Aber … ach, ich weiß nicht recht. Irgendwann, ja, aber vielleicht noch nicht morgen.«

Lisbeth seufzte. Sie hob den Kopf und sah ein Pferd mit einem vierrädrigen Kastenwagen die Straße herunterkommen. Mit hängendem Kopf und einer gemächlichen Gleichmäßigkeit schritt das Pferd voran. Der Mann auf der Sitzfläche hockte gebeugt und hielt die Zügel locker in den Händen. Fast schien es, als würde er dösen, weil er darauf vertraute, dass der Gaul den Weg nach Hause auch ohne ihn fand.

»Eben haben wir noch von ihm gesprochen, und schon kommt er die Straße herunter«, sagte Lisbeth. »Doktor Fenkel kommt von seiner üblichen Rundfahrt zurück.«

»Er war weg?«

»Fünf Tage war er unterwegs. Du weißt doch, dass er in regelmäßigen Abständen die Höfe in der Umgebung abfährt. Und diesmal wollte er auch zu den Tagelöhnern drüben bei den Roten Wäldern, obwohl es eine gefährliche Gegend ist.«

»Du hast mit ihm vorher gesprochen?«

»Im Tropfen an dem Abend, bevor er losfuhr. Auf seinen Wein kann er nur schwerlich verzichten. Er behauptet steif und fest, dass er seinen Durchblick nicht allein seiner Brille zu verdanken hätte.«

Der Kastenwagen rumpelte an Lisbeths Haus vorbei. Der hintere Teil der Ladefläche war mit einer Plane abgedeckt. Fenkel sah hoch, und als er sie erkannte, hob er die Hand. Lisbeth grüßte zurück. Zum Glück habe ich nicht gerade jetzt die Waschschüssel ausgeleert, dachte sie.

»Sicher bringt er wieder eine ganze Menge Salate, Eier, Hühner und Schinken von seiner Rundfahrt mit. Was sie ihm eben als Dankeschön für seine Behandlungen mitgeben können. Wenn der gute Doktor nicht noch Geld für seinen Krug Wein am Abend bräuchte, würde ihm diese Art der Bezahlung völlig ausreichen, um über die Runden zu kommen.«

»Ich werde noch ein wenig ruhen«, sagte Ida plötzlich.

Lisbeth half ihr ins Bett zurück. Bevor sie die Decke überschlug, fiel ihr Blick auf Mutters Waden, die unter dem hochgerutschten Nachtgewand zu sehen waren. Käseweiß waren sie. Nicht nur frische Luft, auch Sonne und Licht würden dir guttun.

Vom Gehen ermattet, schaffte Ida es kaum noch, den Kopf zu heben. Ihre Finger tasteten nach Lisbeths Hand und drückten sie sanft. »Schaust du noch mal nach mir, bevor du in den Fröhlichen Tropfen gehst?«

»Sicher, das weißt du doch. Jetzt schlaf noch ein wenig.«

»Wenn einer der reisenden Herren wieder ein Nachrichtenblatt dagelassen hat, bringst du es mir?«

Lisbeth nickte lachend. Mutter konnte noch so erschöpft sein, aber ihre Neugier über das, was draußen in der Welt geschah, war ungebrochen. Lisbeth zog ihr die Decke bis zu den hervorstechenden Schlüsselbeinen hoch. Dann nahm sie das Tablett auf und stieg wieder hinunter in die Wohnstube.

3

Der Feilbinger Hermann führte das Wirtshaus Zum fröhlichen Tropfen bereits in der dritten Generation. Und wenn man seine Tochter Julchen mitzählte, war es eigentlich schon die vierte, die sich in den Dienst der dürstenden Kehlen stellte. Hermann Feilbinger war Wirt mit Leib und Seele, allerdings war er auch sonst zu nichts anderem zu gebrauchen. Wie oft hatte Lisbeth in den vergangenen Jahren von den anderen in der Dorfgemeinschaft gehört, dass er mehr Schaden anrichtete als jeder Herbststurm, wenn er versuchte, seine ungelenken Hände bei einer anderen Arbeit als der beim Ausschank oder beim Kesselkochen einzusetzen. Nach nur einem einzigen Tag freundschaftlicher Aushilfe beim Uhrmacher konnte dieser vorübergehend keine Aufträge mehr annehmen, da Feilbinger eine schwere Kiste auf bereits reparierte, wertvolle Taschenuhren hatte fallen lassen. Er sei gestolpert, sagte er, der Hund lag im Weg. Der Uhrmacher sagte nichts und erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Also blieb Hermann Feilbinger bei dem, was er konnte. Trinken und trinken lassen, und dafür war ihm die Dorfgemeinschaft dankbar. Der Branntwein im Fröhlichen Tropfen gehörte zu der Sorte, die widerstandslos durch die Blutbahn fackelte, und das Bier war so süffig, dass die Gäste an einem guten Abend den halben Kellervorrat versoffen und von den Bänken fielen wie Spatzen von den Ästen, wenn es hagelte.

Die freie Verköstigung sowie ein paar Taler und Dukaten, die ihr die Gäste zusteckten, waren nicht der einzige Grund für Lisbeth, dem Feilbinger im Wirtshaus zu helfen. Sie konnte sich wirklich etwas Angenehmeres vorstellen, als an jedem Tisch, an dem sie vorbeikam, von groben Händen schwungvoll auf den Hintern geklatscht zu bekommen. Manchmal zog einer sie sogar auf seinen Schoß und wollte sie küssen, doch sie hatte gelernt, sich den schmatzenden Lippen zu entziehen. Ein Lächeln wie eine Verheißung, eine Hand flach vor das Gesicht des Mannes gelegt und noch den Schwung, mit dem sie auf die Knie gezogen wurde, nutzend, um wieder aufzuspringen und weiterzugehen. Sollte mal ein Bier dabei seinen Weg als Sturzbach über den Kopf des Kussfordernden finden, so nahm ihr das niemand übel, schob sie doch meist ein herzliches »Das geht auf mich« hinterher.

Es gab nur wenige Gäste von auswärts, sodass im Fröhlichen Tropfen zumeist nur die Brunnenweiler aßen und tranken. Auch die Knechte und Feldarbeiter der umliegenden Höfe, die zu Fuß oder mit dem Pferdekarren gut zu erreichen waren, gaben beim Feilbinger ihren kargen Lohn aus, tranken und würfelten gemeinsam mit den Tagelöhnern, die bei der Landarbeit halfen. Manche Mägde kamen, um für ein paar Taler die Gäste mit Gesang zu erfreuen, allerdings fand Lisbeth, dass keines der Mädchen wirklich singen konnte. Meist klang es, als wäre ihnen ein schweres Speichenrad auf die Füße gefallen. Auch der Hund des Wirts, der sonst stets faul vor seinem Napf am Tresen lag und nur selten mit seinem Schwanz fröhlich auf den Boden klopfte, trollte sich, sobald die Scherenschleifer Anne ein Lied anstimmte. Den jungen Burschen schien es egal zu sein. Ihnen genügte es zuzuschauen, wie sich Annes Brust hob und senkte, wenn sie sich mühte, die Tonleiter mit Gewalt zu besteigen. Lisbeth war es nur recht. Auf diese Weise bekam sie von den männlichen Gästen mehr Dukaten, wenn sie kassierte. Ansonsten konnte sie Anne nicht leiden. Die Rotblonde mit den ausladenden Kurven war eine von den ganz Liederlichen. Aber die jungen Kerle aus dem Dorf waren nicht nur arm an Talern, sondern auch arm an Verstand, weil sie nicht begriffen, dass Anne jeden nehmen würde, der sie auf seinem Hof zur Herrin über die Angestellten machte. Umgekehrt wusste Lisbeth, dass Anne sie auch nicht mochte. Eigentlich mochten nur wenige junge Mädchen des Dorfes Lisbeth, weil sie ihnen einfach zu verdächtig war in der Art, wie sie lebte. Allein, ohne Mann und dann noch für die Franzosen arbeiten. Außerdem gefiel den Mädchen nicht, dass viele Männer ganz offen sagten, dass Lisbeth die Hübscheste im Dorf sei. Lisbeth selbst sah das anders, sie kannte die Makel ihres Körpers. Ein kleines Bäuchlein vom vielen Sitzen beim Nähen und vielleicht auch ihre Nase, die von der Seite zwar ganz niedlich sein mochte, von vorne aber gar nicht in ihr Gesicht passte, wie sie fand.

Nein, wegen der feuchtfröhlichen Gelage trieb sich Lisbeth nicht im Wirtshaus herum. Ihr ging es auch nicht darum, die immer gleichen glühenden Gesichter der jungen und nicht mehr ganz so jungen Männer zu sehen. Schließlich genügte es schon, allen tagsüber über den Weg zu laufen. Schlimm genug, dass der Mathias Köhl ihr ständig hinterherlief und den Hof machte, da brauchte sie nicht auch noch abends seine Gesellschaft, denn wenn sie im Fröhlichen Tropfen bediente, war er auch jedes Mal da und bestellte in immer kürzer werdenden Abständen ein Bier, nur damit sie an seinen Tisch kam. Was erhoffte sich Mathias? Hatte er noch nicht begriffen, dass sie ihn zwar nett fand, aber nett fand sie auch die Butterblumen am Wegesrand. Immerhin war Mathias genauso gelb im Gesicht wie diese, wenn er zu viel getrunken hatte und ihm übel wurde.

Nein, Lisbeth hatte etwas anderes im Sinn. Es waren die Neuigkeiten, die die Reisenden mitbrachten, die Lisbeth interessierten. Geschichten von den Städten, aus denen sie kamen. Amouröse Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt stark angezweifelt werden durfte, da sie mit jedem Krug Bier abenteuerlicher wurden. Lisbeth hörte genau hin, was erzählt wurde, auch wenn sie sich nicht selten schütteln musste vor den Prahlereien selbst ernannter Liebeshengste. Sie wartete, bis irgendwann jemand eine Bemerkung über neue Überfälle von Räubern fallen ließ, die sie aufhorchen ließ. Ob nun hier in der Gegend oder drüben auf der rechten Rheinseite. Sie wollte herausfinden, ob es Ähnlichkeiten gab mit dem Überfall auf den Hof ihrer Eltern. Doch je mehr Zeit verstrich, umso mehr schwand die Hoffnung, jemals die Schurken zu finden.

Lisbeth öffnete die schwere Eingangstür aus Eichenbohlen und trat ins Wirtshaus ein. Wie immer zog sie ohne groß nachzudenken den Kopf ein, um sich nicht am niedrig sitzenden Querbalken zu stoßen. Das Knarren der Scharniere ließ fürchten, sie hätte ein kleines Tier eingeklemmt, aber wie jeder wusste, sparte Feilbinger an allem, was seinen Gasthof instand halten könnte. Der gestampfte Lehmboden, die Hocker ohne Lehnen, die Fensterläden und auch der kleine Ausschanktresen waren allesamt in einem kläglichen Zustand. Die Gäste schien es nicht zu stören. Ebenso wenig ließen sie sich von den durchgebogenen Dachbalken beunruhigen.

Das Wirtshaus war nur zur Hälfte gefüllt. Eine Gruppe junger Dorfburschen belagerte zusammen mit auswärtigen Tagelöhnern lautstark einen Tisch in der Mitte des Schankraums. Als Lisbeth an ihnen vorbeiging, versuchte jeder, sie auf seinen Schoß zu ziehen, obwohl alle wussten, dass sie das nicht leiden konnte. Es war ein Spiel unter jungen Burschen, wem es wohl zuerst gelänge.

Und da wundert es Mutter, dass ich mich mit keinem aus dem Dorf einlassen will?

»Hallo, Lisbeth. Schön, dass du da bist.«

Mathias Köhl, natürlich, der Unvermeidliche war auch hier. Lisbeth nickte ihm knapp zu. Zu einem Lächeln konnte sie sich nicht durchringen.

Der grobschlächtige Bursche trug mehrfach geflickte Kleidung. Sein Haar war strähnig und glich eher einem Häuflein Stroh, so zerzaust, wie es sich auf seinem Kopf verteilte. Seine rissigen Hände und das sonnenverbrannte Gesicht zeugten von harter körperlicher Arbeit im Freien.

»Warum gehst du mir aus dem Weg, Lisbeth?«, fragte er.

»Ich habe zu arbeiten, das siehst du doch.«

»Ich meine nicht hier. Ich meine sonst.«

»Wie oft denn noch, Mathias?« Lisbeth wollte ihm gerade zum sie-wusste-nicht-wievielten Mal erklären, dass sie nichts von ihm wollte, als Feilbinger ihr ungeduldig die Schürze entgegenstreckte.

»Wo bleibst du denn? Die Gäste verdursten wegen dir.«

Solche Sätze machten es Lisbeth schwer, Feilbinger ernst zu nehmen. Sie war überzeugt, dass er sein Bett nicht in der Dachkammer hatte, sondern im Keller neben den Weinfässern. Anders ließ sich das meiste, was er mit holpriger Zunge von sich gab, nicht erklären.

Während sie sich die Schürze umband, gestattete sie sich einen Rundblick über die besetzten Tische. Nur bekannte Gesichter. Schade, niemand Fremdes, der Neuigkeiten mitbrachte.

»Hier, für den Tisch in der Ecke.« Feilbinger schob zwei Becher und einen Krug Wein über die Tresenplatte. Lisbeth nahm alles mit Schwung auf, ohne es zu verschütten.

Die Ecke unter den tief hängenden Dachbalken, die den Tisch und die Bänke im Halbdunkel verschwinden ließen, war Lisbeths Lieblingsplatz im Tropfen. Einmal, weil es von hier gleich um den Stützbalken herum hinaus auf den Hinterhof führte und man ungesehen kommen und gehen konnte, aber auch, weil die Ecke so abgedunkelt lag, dass man selbst bei Mittagslicht kaum zu sehen war, wenn man sich im Schlagschatten des vorspringenden Gebälks an die Wand drückte. Schon oft hatte Lisbeth dort gestanden und alle beobachtet, die sich unbeobachtet wähnten. Sie wusste selbst nicht, was genau ihr daran so gut gefiel. Andere waren gerne Teil des Geschehens, sie stand lieber abwartend im Hintergrund. Dass man so kein Ehegespons fand, war eigentlich klar.

Die beiden Männer saßen sich auf Bänken gegenüber und waren angeregt ins Gespräch vertieft. Lisbeth stellte den Krug Wein und die Becher auf dem Tisch ab.

»Darf’s noch etwas dazu sein?«, fragte sie. »Ich glaube, der Herr Feilbinger hat irgendwas im Kessel.«

»Ah, unsere Lisbeth.«

Doktor Konrad Fenkel beugte sich vor, und als sein Gesicht aus dem Halbschatten auftauchte, erkannte sie ihn auch. Er stieß eine Wolke des üblen Krauts aus, das er in seiner Pfeife rauchte, und blickte Lisbeth durch die Brille mit seinen kleinen, fast schon durchtriebenen Augen an. Lisbeth hustete. Das Pfeifenkraut kratzte sofort in ihrem Hals.

Doktor Fenkel deutete mit zwei gespreizten Fingern auf die Becher. »Nimm den Krug wieder mit und bring uns eine Flasche, aber von dem guten Roten, hörst du? Sag dem Feilbinger, ich erkenne es, wenn er mir was anderes unterjubeln will. Heute will ich nur den besten Wein.«

»Gibt es was zu feiern, Herr Doktor?«

»Aber ja, ich habe Besuch bekommen.«

Fenkel nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel und deutete mit ihr auf den, der ihm gegenübersaß. Weil Lisbeth in seinem Rücken stand, beugte sich der Mann ein Stück seitlich und drehte sich um.

Lisbeth ließ das Tablett aus den Händen gleiten. Es schepperte zu Boden. »Sie?«, rief sie überrascht.

»Läufst du mir nach?« Der Fremde von heute Morgen lachte sie entwaffnend herzlich an.

Unverschämter Kerl. Was bildete der sich ein?

»Ihr kennt euch?« Doktor Fenkel grinste spitzbübisch. »Jaja, mein Bruder Johann kann hinkommen, wo er will, irgendein Mädchen wartet schon auf ihn.«

»Also, ich warte ganz sicher nicht«, protestierte Lisbeth.

»Das wird schon noch«, sagte Johann. »Du musst wissen, dass ich eigentlich ein recht unkomplizierter Mensch bin.«

»Das habe ich mir sofort gedacht. Gleich, als ich Sie gesehen habe.«

»Hm, so wie du das sagst, klingt es nach einer Beleidigung. Ich überlege, ob ich gekränkt sein sollte. Was kannst du noch außer bedienen?«

»Ich kann ein bisschen tanzen, ich kann ein bisschen singen, und ich kann ein bisschen auf dem Tamburin schlagen. Sie sehen, von allem nur ein bisschen, das bin ich.«

»Als Frau erscheinst du mir aber ziemlich vollständig«, sagte er. Flüchtig streifte sein Blick ihren Busen, bevor er ihr wieder in die Augen sah. »Bist du die einzige Bedienung hier? Wenn nicht, dann setz dich zu uns.«

Lisbeth reckte rebellisch das Kinn vor. »Eine Flasche vom besten Roten, haben Sie gesagt, Doktor Fenkel? Ich kümmere mich darum.«

»Nun lauf doch nicht so schnell weg«, sagte Johann und versuchte, sie mit beiden Händen einzufangen, als sie einen Schritt zurückwich. »Jetzt, wo wir doch eigentlich schon alte Bekannte sind, werden wir uns bestimmt gut verstehen, hörst du?«

»Ich höre vor allem besser, was Sie mir sagen, wenn Sie nicht mit den Händen reden.«

Der Doktor lehnte sich, noch immer breit grinsend, an die Wand zurück. »Du musst wissen, Johann, unsere Lisbeth weist alle Männer, ob jung oder alt, in schöner Regelmäßigkeit ab. Zumindest die aus unserem Dorf, nicht wahr, Lisbeth? Der Mathias Köhl kann ein Lied davon singen.« Er zeigte mit dem Pfeifenstiel zu dem Tisch, an dem Mathias mit seinen Freunden saß.

»Sie sind schon angeheitert, Doktor, und wissen nicht, was Sie reden.«

»Ich glaube meinem Bruder Konrad jedes Wort, das er sagt. Immer und egal in welchem Zustand«, lachte Johann. »Und ich bedaure diesen Mathias aufrichtig. Es gibt also jemanden, der nicht von hier ist?«

»Es gibt niemanden«, stellte Lisbeth richtig. »Und es geht Sie auch nichts an.«

Johann betrachtete Lisbeth mit wachsender Neugier. »Hast einen hübschen Namen«, sagte er.

»Und Sie einen gewöhnlichen. Jeder Strauchdieb heißt Johann.«

Konrad Fenkel lachte lauthals los.

»Wenn mein Name zärtlich ausgesprochen wird, klingt er ausgesprochen anregend«, sagte Johann. »Probier’s doch mal.«

Lisbeth wandte sich um. »Eine Flasche von dem Roten für die Herren Fenkel!«, rief sie Feilbinger über die Köpfe der anderen Gäste zu.

Der hatte bei dem Lärm in der Schankstube kein Wort verstanden und hob die Schultern. Lisbeth knallte das Tablett auf den Tresen.

»Was ist?«, fragte Feilbinger. »Hat dich einer angetatscht?«

»Schlimmer.«

»Was ist denn schlimmer?«

»Er hat mich anzüglich angelächelt.«

Feilbinger schlug in gespielter Entrüstung beide Hände ans Gesicht. »Ach herrje, Lisbeth, er hat dich anzüglich angelächelt? Ja, was können wir denn da tun? Sollen wir die Gendarmerie rufen?«

Lisbeth wusste selbst, wie lächerlich das klang. Aber hätte sie zugeben sollen, dass sie diesen Fremden, diesen Johann Fenkel, auf eine unerklärliche Weise interessant fand?

Zum Teufel mit solchen Kerlen, die, wenn man nicht aufpasste, Küsse raubten.

Direkt von den Lippen.

4

Am nächsten Morgen hing gut sichtbar für alle eine Proklamation an der großen Eiche am Brunnen. Bürgermeister Blasius hatte sie in nächtlicher Schreibarbeit selbst verfasst. Wie immer eine Menge nichtssagender Worte in umständlichen Formulierungen, die hauptsächlich zur Verwirrung beitrugen. Manche Mägde ließen sich von denen, die es konnten, dreimal vorlesen, was da stand. Danach verloren sie das Interesse.

Lisbeth war gleich aufgefallen, dass sogar ein französisches Wappen die Bekanntmachung zierte, also schien sie im Auftrag der Präfektur in Coblenz dort zu hängen. Das machte die Sache spannender, denn Blasius hatte in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen, dass seine eigenen »dringlichen Ankündigungen« in ungefähr so wichtig waren wie eine Entenzählung auf dem Weiher.

Blasius hatte in den Fröhlichen Tropfen eingeladen. Zur Dämmerstunde nach der Tagesarbeit. Das Wirtshaus war rasch gut gefüllt. Lisbeth hatte alle Hände voll zu tun. Wein und Bier flossen, als gäb’s kein Morgen mehr. Während draußen die Abendsonne den Dorfplatz in ein feuriges Licht tauchte, kamen immer mehr Leute ins Lokal. Nervöse Unruhe machte sich breit. Niemand konnte sich vorstellen, was der Bürgermeister bekannt zu geben hatte. Die Franzosen hatten doch schon geregelt, was zu regeln war. Worum also könnte es gehen? Etwa erneut darum, die Zehn-Tage-Woche durchzusetzen? Ein Versuch, bei dem die Franzosen schon einmal gescheitert waren. Den Sonntag als siebten Tag der Woche hatten sich die Deutschen nicht nehmen lassen.

Nicht nur Lisbeth fiel auf, dass neben den Dorfbewohnern auch die Landwirte und Hofbesitzer aus der Umgebung ins Wirtshaus gekommen waren, ebenso wie ein Stellmacher und ein Schweinezüchter.

»Ist schon wieder Krieg?«, fragte einer der Älteren. »Das letzte Mal war’s auch so, bevor wir losmarschieren mussten.«

Nach dem dritten Krug wuchs der Unmut.

»Wo bleibt Blasius nur?«

»Wie immer der Letzte, unser Bürgermeister. Wer hat den eigentlich gewählt?«

»Der Präfekt in Coblenz hat ihn eingesetzt. Der wusste nicht, was er tat.«

»Wenn Blasius nicht von seiner Margarethe erinnert würde, täte er sogar den wöchentlichen Beischlaf mit ihr verpassen.«

Mitten hinein ins Gelächter schob sich die Tür des Wirtshauses auf, und Blasius trat flankiert von Doktor Fenkel und dessen Bruder Johann ein. Lisbeth blieb auf halber Strecke zu dem Tisch, dem sie Getränke bringen wollte, stehen. Schon wieder dieser Fremde. Was hat der mit unserem Bürgermeister zu tun? Sie zuckte zusammen, als jemand sie am Handgelenk packte.

»Mathias, was willst du?«, fragte sie harsch.

»Dich sehen, Lisbeth. Ich sitz’ mit meinen Freunden dort drüben. Wenn das hier vorbei ist, magst du dich dann zu uns setzen?«

»Wenn das hier vorbei ist, werde ich wohl noch eine Weile Becher an die Tische bringen.«

»Aber danach? Ich kann dich nach Hause bringen.«

Beinahe hätte Lisbeth gelacht, wenn sie nicht den tragischen Ernst in Mathias’ Gesicht gesehen hätte. »Du weißt schon, dass ich nur etwa zwanzig Schritte vom Tropfen entfernt wohne?«

»Du weißt doch, was ich mein’. Wiedersehen will ich dich. So wie damals halt. So soll’s wieder sein.«

»Mathias, wie oft soll ich es dir noch sagen? Das mit uns war wirklich nichts von Bedeutung. Es fing abends um zehn Uhr an und endete mit dem ersten Hahnenschrei.«

Oh, wie hatte sie den Hahn verflucht, weil er einfach nicht krähen wollte, obwohl die Sonne sich schon über den Bergen zeigte. Sie war aus der Scheune gelaufen, um nachzuschauen, ob sie vielleicht den Hahn schütteln musste, damit er das tat, was man von ihm verlangte, aber letztendlich hatte sie sich selbst die Schuld an dieser unnötigen Nacht gegeben. Sie hätte nicht so viel Branntwein trinken sollen. Und nicht ihrer Lust nachgeben.

»Mir hat es was bedeutet«, sagte Mathias trotzig. »Und ich weiß, dass es dir genauso geht.«

Nichts weißt du. Nichts. Weil du einfach nicht zuhörst.

»Such dir ein anderes Mädchen.«

»Ich will aber nur dich. Denk doch nur, mein Hof gehört dann auch dir.«

»Noch gehört der Hof deinem Vater.«

Lisbeth schüttelte seine Hand ab. Was war nur mit diesen jungen Kerlen los? Trocknete die Sonne ihnen bei der Arbeit im Freien den letzten Rest Verstand raus? Was war daran so schwierig für Mathias, zu begreifen, dass sie nichts von ihm wollte, weder heute noch morgen, und eigentlich ja auch schon damals nicht. Wie gesagt, der Branntwein war ein Teufelszeug und die eigene Lust zwischen den Schenkeln eine Diebin der Beherrschung.

Sie ging zwischen zwei eng beieinanderstehenden Bankreihen hindurch, auf denen die Gäste dicht an dicht an den Tischen saßen. Auf halber Strecke sah sie, wie ihr Blasius und die beiden Fenkels ausgerechnet zwischen diesen beiden Bankreihen entgegenkamen. Der Platz reichte nicht aus, um ohne sich zu berühren aneinander vorbeizukommen. Lisbeth sah sich um. Auf jedem Hocker saß jemand, also keine Möglichkeit auszuweichen. Sie blieb stehen und drehte sich nach außen, damit die drei an ihr vorbeigehen konnten, ohne ihr zu nahe kommen zu müssen. Sie balancierte das Tablett mit den Bierkrügen über den Köpfen zweier Gäste.

Blasius schob seinen dicken Bauch an ihr vorbei. »Guten Abend, Lisbeth.«

Doktor Fenkel hatte bemerkt, dass Lisbeth sich nicht ohne Grund nach außen gedreht hatte. Ehrenmann, der er war, ging er mit seitlich gesetzten Schritten an ihr vorbei.

»Guten Abend, Lisbeth.«

Ihm folgte sein Bruder Johann. Wenn der unverschämte Kerl mich betatscht, dann knall ich ihm das Tablett gegen den Schädel.

Johann ging ohne ein Wort an ihr vorbei.

Irritiert sah Lisbeth ihm nach. Dabei hielt sie für einen Moment das Tablett in Schieflage, und beinahe wäre einer der Becher dem Sitzenden auf den Kopf gerutscht, wenn sie nicht noch rechtzeitig darauf geachtet hätte.

Was bildet der Kerl sich eigentlich ein? Nicht mal zu grüßen.

Noch während sie die Becher den wartenden Gästen brachte, hatte maire Blasius einen Stuhl vor den Tresen geschoben und mithilfe des Doktors seinen stark übergewichtigen Leib hinaufgehievt. Der Stuhl knirschte, hielt aber tapfer durch. Es folgte eine von Blasius’ liebsten Gesten. Die beidarmige ausladende Rundumhebung.

»Ruhe!«, rief er.

Die Gespräche ebbten ab. Neugierige Blicke hatten sich auf Blasius geheftet. Er genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, die ihm entgegengebracht wurde. Genau diese ließ seine Frau Margarethe ihm gegenüber aufgrund sinkender Zuneigung und wachsender Herablassung vermissen.

Lisbeth umschloss das leer geräumte Tablett mit beiden Armen vor der Brust und schaute wie alle anderen zum Tresen. Links von Blasius’ Stuhl stand der Doktor, rechts der Fremde.

Blasius räusperte sich. »Wie ihr alle wisst, leben wir in unruhigen Zeiten«, hob er seine Stimme an, die kaum bis in die Mitte des Schankraums trug. »Zeiten des Umbruchs und Zeiten, in denen es zwar viele neue Gesetze gibt, aber zu wenige, die auf deren Einhaltung aufpassen. Dazu kommen noch die vielen Kriminellen, die vor keiner Schandtat haltmachen. Und warum nicht? Weil sie wissen, dass sie kaum verfolgt werden. Ab und zu bequemt sich eine französische Patrouille mal, den einen oder anderen Strauchdieb zu verhaften, aber all die Räuber, die sich in Banden organisiert haben, die machen doch, was sie wollen. Erst gestern haben wir doch wieder von einem Überfall auf einen jüdischen Kaufmann hören müssen, der auf unserer Seite des Rheins, de...

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