×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Gotteswelle«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Gotteswelle« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Gotteswelle

Neurowissenschaftler Chuck Brenton möchte Menschen helfen. Er arbeitet an einem Verfahren, das es erlaubt, über Gehirnströme unmittelbar mit Computern zu interagieren, und so etwaige Einschränkungen des menschlichen Körpers durch Krankheit oder Verletzung zu überwinden.
Als sich unerwartete Erfolge einstellen, werden mächtige Gruppierungen mit unbegrenzten Ressourcen auf das Forschungsvorhaben aufmerksam. Doch einige wollen die neuen Möglichkeiten für ihre Zwecke missbrauchen und so sehen sich Chuck und seine Mitstreiter schließlich einer nie geahnten Bedrohung gegenüber. Eine Bedrohung, die das Ende der Welt bedeuten könnte, wie wir sie kennen …

"Die Gotteswelle hat ein ganz neues Spielfeld für alle von uns erschaffen. Und für manche könnte es mehr als ein Spiel sein."
The Wall Street Journal

"Die Gotteswelle ist ein erwachsener Sci-Fi-Thriller in bester Michael- Crichton-Tradition."
Barnes & Nobles Sci-Fi & Fantasy-Blog 

"Patrick Hemstreets Debüt ist ein Thrillerfeuerwerk, das man in einem Rutsch lesen will, und das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt."
James Rollins, New York Times-Bestsellerautor

"Die Gotteswelle ist eine atemberaubende "Was wäre wenn”-Story mit cooler Technik und Charakteren, die man einfach mögen muss. Ein unterhaltsamer und verstörend glaubhafter Vorstoß in die Parawissenschaften. Legt euch nicht mit den Zetas an!"
Sylvain Neuvel, Autor von "Giants - Sie sind erwacht"


  • Erscheinungstag: 18.07.2016
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679718
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

KAPITEL 1

Chuck

Charles „Chuck“ Brenton besaß einen Doktortitel in Neurowissenschaften. Das Verdienst daran schrieb er seinem Vater, dem Philosophen und Künstler, und seiner Mutter, der Musikerin, zu (und bisweilen machte er es ihnen auch zum Vorwurf). Beide hatten ihm eine Faszination für die verborgenen Dinge vererbt, die Menschen antrieben. Am meisten interessierte ihn, was Leute kopfüber in eine besondere Berufung trieb, was sie veranlasste, eine spezielle Laufbahn zu wählen, einem Lebensweg zu folgen, wohin er auch führte. Aus dieser Faszination hatte sich seine eigene Berufung ergeben, und sie hatte ihn an einen Schreibtisch im Traylor Research Building an der Johns Hopkins University geführt, wo er eine Professorenstelle am Solomon H. Snyder Department of Neuroscience innehatte.

Er nahm seine Brille ab und studierte mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf den Rhythmus des Elektroenzephalogramms auf dem Computermonitor vor ihm. Es war ein Flachbildschirm, doch das Bild darauf war alles andere als flach. Früher einmal hatten EEG-Diagramme aus schlichten Linien bestanden, doch der Scan, auf den Chuck blickte, ähnelte mehr der topografischen Karte eines Gebirgszugs als dem seismischen Muster aus krakeligen Linien, das man üblicherweise mit einem EEG verband.

Dieser spezielle, in Edelsteinfarbtönen gehaltene Gebirgszug stellte seinen Lieblingsrhythmus dar, der zugleich einer der seltensten war: Gamma. Er gehörte zu einer Cellistin, die am Morgen bei ihm im Studio gewesen war. Sie war an den Prototyp eines EEG-Geräts, das er selbst entwickelt hatte, angeschlossen gewesen, während sie ein kompliziertes und ihr unbekanntes Stück vom Blatt spielte. Die fehlende Vertrautheit mit der Komposition hatte dafür gesorgt, dass sie Multitasking betreiben und Augen, Ohren und Hände zugleich bewusst einsetzen musste, während sie durch die Partitur navigierte. Das Ergebnis war eine buchstäbliche Symphonie aus Gehirnwellen, die sogenannten Gammarhythmen, die nur dann auftraten, wenn eine Testperson die verschiedenen Gehirnwellen miteinander verschmolz, statt zwischen ihnen hin- und herzuspringen.

Gamma-Wellen waren hektische kleine Rhythmen, spitz und eng beisammenliegend, aber elegant, wie Chuck fand. Sie waren außerdem schwer aufrechtzuerhalten. Das Gehirn zog es vor, blitzschnell zwischen Einzelzuständen zu wechseln, um Übereinstimmung herzustellen, aber nachdem sie einen gleichmäßigen Strom von Beta-Wellen produziert hatte, war seine Cellistin in ein Gamma-Muster geglitten, das sie über mehrere Passagen aufrechterhielt – die längste dauerte fast zwölf Sekunden.

Er hatte bereits früher mit dieser Probandin gearbeitet und ihre Gehirnwellen grafisch dargestellt, während sie Stücke spielte, die sie gut kannte. Dabei waren ihre Wellenrhythmen anders gewesen, und obwohl ihr Körper in Bewegung war, hatte sie eine wunderbare Montage aus Theta- und Beta-Wellen produziert – Rhythmen, die für gewöhnlich mit meditativen bzw. aktiv konzentrierten Zuständen assoziiert werden. Diese Zustände sollten sich eigentlich nicht überlappen, aber die Cellistin schloss die Augen, ließ sich in die Musik fallen und meditierte, während sie aktiv war.

Das war schon interessant genug gewesen, aber dieses Konzert nun entzückte Chuck. Er streckte die Hand aus, um die spitzen Gammarhythmen auf dem Schirm zu berühren, als könnte er ihr Auf und Ab unter seinen Fingern spüren.

„Wissen Sie noch, wie wir dafür kleine, mit Tinte getränkte Nadeln und endlos lange Papierrollen mit Gittermuster benutzt haben?“

Chuck hob den Kopf und blickte in das Gesicht seines leitenden Laborassistenten Eugene Pozniaki, einem Doktoranden, der sein zweites Jahr im Snyder-Programm absolvierte.

„Nein“, sagte Chuck, „und Sie wissen es auch nicht. Papier benutzt seit zehn Jahren kein Mensch mehr.“

Eugene lächelte schief und reichte ihm einen kleinen Stapel Formulare. „Neue Testpersonen, die die Erstgespräche hinter sich haben.“

Chuck blätterte sie durch. Es gab eine Architektin und Spezialistin für computerunterstützte Konstruktion, einen klassischen Gitarristen, einen Videospielentwickler, eine Bildhauerin und – er lächelte – Mini.

„Was ist?“, fragte Eugene.

Chuck hielt die Karte in die Höhe. „Minerva Mause. Sie ist Grafikerin. Studentin am Maryland Institute. Ihr Vater ist ein Freund von Paps aus Collegetagen. So wie Paps seine Freundschaft mit Minervas Vater damals beschreibt, stelle ich mir immer vor, wie die beiden mit Baskenmützen auf dem Kopf nach Mitternacht in verrauchten Jazzkellern herumsaßen und über das Leben und die Kunst diskutierten.“

„Minerva Mause?“ Eugene sah aus, als wollte er gleich in Lachen ausbrechen.

„Ja, ja, ich weiß. Und sie nennt sich auch noch Mini. M-i-n-i. Aber sagen Sie bloß nicht … Sie wissen schon.“

„Minnie Maus? Ach, kommen Sie, Doc. Daran führt kein Weg vorbei.“ Eugene lachte jetzt ungeniert. Als er Chucks Blick bemerkte, räusperte er sich und schob die Brille auf seiner mächtigen Nase nach oben. „Und haben Sie vor, sie ins Programm zu holen?“

„Wahrscheinlich, einfach um dem alten Herrn einen Gefallen zu tun. Ich habe bereits Daten von einer Reihe von Grafikern, wenngleich Mini eine einzigartige Persönlichkeit ist. Aber ich finde, diese Architektin sieht interessant aus. Vielleicht sie und den Spieleentwickler. Wir haben schon mehrere Musiker getestet. Können Sie schauen, ob es Leute aus Disziplinen mit mehr Körpereinsatz gibt?“

„Wie zum Beispiel?“

Chuck sah wieder auf die Gammarhythmen der Cellistin und studierte sie kurz. „Nun ja, einige unserer Musiker haben interessante Kombinationen aus Alpha-, Beta- und Theta-Wellen produziert und wundervolle Gamma-Muster geliefert. Aber ich würde gern den Unterschied zwischen Leuten sehen, die ausschließlich mit Repräsentationen der Wirklichkeit zu tun haben, und solchen, die direkt mit der Wirklichkeit interagieren. Die Architektin und der Spieleentwickler sind perfekt für das eine Ende des Spektrums, aber ich frage mich, welche Aktivitäten wir bei einem Baseballspieler oder einem Flugzeugpiloten erhalten würden, oder bei jemandem, der schwere Maschinen bedient.“

Eugene nickte. „Sie meinen, welche Unterschiede gibt es zwischen der Konstruktion eines Gebäudes und dem tatsächlichen Bau von einem.“

Chuck fiel in das Nicken seines Assistenten ein.

„Ist Ihnen klar“, sagte Eugene und hob die Dateiblätter auf, die Chuck beiseitegelegt hatte, „dass wir einen Moment lang wie ein Paar gelehrter Wackeldackel ausgesehen haben?“

„Ehrlich gesagt, ich stelle mir uns beide lieber als gelehrte Action-Figuren vor. Also, an die Arbeit. Bringen Sie mir noch mehr Laborratten.“

Nachdem Eugene gegangen war, betrachtete Chuck erneut die abwechslungsreichen Rhythmen der Cellistin. Alpha, Beta, Theta und das flüchtige Gamma. Er schüttelte den Kopf. Beta – das würde man in einer Vortragssituation erwarten, aber die meditativen Theta-Wellen und die Verschmelzung …

Er verschob das Wellendiagramm auf dem Touchscreen direkt unter das Gesicht der Cellistin, sodass er ihren jeweiligen Gesichtsausdruck gleichzeitig mit dem Auf und Ab der leuchtenden Gebirgsspitzen studieren konnte. Er beobachtete die Grafik, während sie las, sich konzentrierte, schwierige Stellen meisterte und als sie wieder zum Hauptmotiv zurückkehrte, die Augen schloss und die neue Passage gefühlvoll und zugleich energisch spielte.

Wie erstaunlich, dass dieses Maß an Konzentration Pixel auf einem Schirm bewegen konnte und früher einmal, wie ihm Eugene in Erinnerung gerufen hatte, einen nadelartigen Stift auf einem Stück Millimeterpapier auf und ab bewegt hatte.

Chuck furchte die Stirn, als eine Idee sich formte. Er lehnte sich im Sessel zurück und schlug die Leertaste an, um die Wiedergabe anzuhalten. Die Augen der Cellistin waren halb offen, ein Lächeln spielte auf ihren Lippen. Ihr rechter Arm war unscharf. Die Grafik darunter zeigte die dicht gedrängten Gamma-Wellen.

Der Bogen, der Arm, ihr Gesicht – alle reagierten auf diese Welle.

Wie eine Nadel, die über das Papier tanzt.

Angenommen …

Angenommen, diese elektrischen Impulse ließen sich nutzbar machen, um etwas anderes zu bewegen als einen Lichtimpuls oder einen dünnen Metallfaden. Angenommen, sie könnten andere Gegenstände tanzen lassen …

Er war aufgesprungen und stand in der Tür zu Eugenes Büro, bevor ihm bewusst wurde, dass er sich bewegt hatte.

„Was, wenn die Hirnwellen, die man erzeugt, während man eine Glühbirne einschraubt, die Birne tatsächlich einschrauben könnten?“

Eugene blickte von seinem chaotischen Schreibtisch auf und starrte Chuck mit offenem Mund an. „Ist das ein Glühbirnen-Witz?“

„Nein. Es ist ein ‚Was wäre wenn‘?“

Eugenes Besucherstuhl war mit Papieren bedeckt, die vom Schreibtisch auf ihn heruntergequollen waren. Chuck fegte sie auf den Boden und setzte sich.

Eugene zeigte darauf. „Sehen Sie, was Sie gerade gemacht haben?“

„Ich habe einen Stuhl freigeräumt und mich gesetzt.“

„Sie haben ein Durcheinander angerichtet.“

Sie haben das Durcheinander angerichtet. Ich habe es nur verschoben.“ Chuck hob die Hände. „Vergessen Sie es. Vergessen Sie auch die Glühbirne. Hören Sie zu. Selbst mit den altmodischen Kontaktsonden konnten die Hirnwellen einer Person ein digitales EEG-Lesegerät oder ein altes analoges Lesegerät betätigen.“

Eugene runzelte die Stirn. „Na ja, betätigen ist nicht ganz das richtige Wort, oder? Ich meine, es ist eher ein Auslöser …“

„Hören Sie auf, mich abzulenken, Eugene. Mann, sind Sie unfokussiert. Hören Sie zu. Wenn Hirnwellen eine Nadel oder ein digitales Bild bewegen können, warum sollten sie dann nicht einen Gegenstand als solchen bewegen können, eine geeignete Schnittstelle vorausgesetzt?“

Eugene öffnete den Mund, schloss ihn und öffnete ihn wieder. „Die Glühbirne tatsächlich einschrauben, meinen Sie?“

Chuck fuchtelte mit den Händen. „Schlechtes Beispiel. Keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin. Stellen Sie sich unsere Architektin vor – wie hieß sie gleich noch? Sara, oder? Stellen Sie sich also vor, wie Sara an ihrer CAD-Konsole sitzt und an all das denkt, was nötig ist, um einen Gebäudeaufriss zu zeichnen. Berührungen, Mausklicks, das Ziehen, was immer. Nur legt sie die Hände nicht auf die Tastatur oder das Zeichenfeld, denn die Schnittstelle ist ein EEG-Netz auf ihrem Kopf mit Positron-Transceivern anstelle von Kontaktelektroden. Das Netz ist direkt mit dem CAD-Computer verbunden.“

Eugene blinzelte. „Wie verbunden? Per USB? Oder nein – Bluetooth! Bluetooth ginge kabellos …“ Er brach ab und rieb sich den Nasenrücken. „Äh, fahren Sie bitte fort, Professor.“

„Verstehen Sie überhaupt, worauf ich hinauswill, Eugene?“

„Ja, natürlich verstehe ich es. Sie reden von Telekinese.“

Chuck holte tief Luft und zählte schnell bis zehn. „Nein. Telekinese bedeutet, einen Gegenstand unmittelbar durch Gedanken zu bewegen. Ich rede davon, die elektrische Energie des menschlichen Gehirns mithilfe einer mechanischen Schnittstelle nutzbar zu machen. Überlegen Sie, Eugene. Wie funktioniert ein EEG?“

„Die Elektroden nehmen elektrische Impulse im Gehirn wahr und zeichnen sie als Pulsieren mit verschieden großen Amplituden auf – als Wellen eben.“

„Richtig. Was nun, wenn die zur Erzeugung des Bilds von der Welle aufgewandte Energie stattdessen dazu benutzt werden könnte, etwas anderes zu erzeugen? Eine echte Aktivität in der Außenwelt? Wie Stephen Hawkings Sprachcomputer, aber noch weitergehend.“

Eugene lehnte sich zurück und starrte blind über seinen Monitor hinaus.

Chuck studierte seinen Gesichtsausdruck. Gut. Er ließ sich auf die Sache ein. Endlich. Wenn Eugene am Bügel seiner Brille wackelte, bedeutete das, er war im Begriff, etwas in Worte zu fassen. Gott allein wusste, was, bis Eugene es aussprach, aber Chuck war diesmal voller Hoffnung.

„Die Schnittstelle müsste zur Interpretation fähig sein, nicht wahr?“, sagte Eugene.

„Bis zu einem gewissen Grad, ja. Tatsächlich ist das menschliche Gehirn ja nichts anderes: eine zur Interpretation fähige Schnittstelle zwischen Verstand und menschlichem Körper. Oder weiter gefasst, zwischen Geist und Außenwelt. Wenn Sie mit Ihrer Maus hier etwas anklicken oder über den Bildschirm ziehen, interpretiert Ihr Gehirn, was Ihr Verstand erreichen will und übersetzt es dann in körperliche Handlungen, um das, was Sie sich ausgedacht haben, auf dem Schirm entstehen zu lassen. Während es das tut, erzeugt es Energiemuster. Es gibt einen Unterschied – einen messbaren Unterschied – zwischen dem elektrischen Impuls, der Ihre Hand zur Maus führt, und dem Impuls, der sie auf die Maus drücken lässt.“

„Ja, gut, den gibt es wahrscheinlich. Aber sind die Transceiver fein genug abgestimmt, um diesen Unterschied aufzufangen?“

Chuck wäre am liebsten aufgesprungen und im Büro herumgetanzt, was sich aber für einen Mann in seiner Position vermutlich nicht gehörte.

„Ich weiß es nicht. Zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich nicht. Aber ich würde es gern herausfinden. Sie nicht?“

Eugene setzte eine wachsame Miene auf. „Ohh-kaay. Was müssen wir tun?“

Tja. Gute Frage.

Chuck hatte bereits ein hochmodernes EEG-Gerät, einen Brewster Brain Pattern Monitor, so modifiziert, dass die von ihm entwickelten BPTs zum Einsatz kamen – die Brenton Positron Transceiver. Diese verstärkten Transceiver sahen aus wie kleine LEDs in einer Vielfalt von Farben, aber sie waren weit mehr als das. Während die Lichter im Foxtrott- oder Walzerschritt über die äußeren Konturen des Netzes tanzten, das sie auf der Kopfhaut der Testperson festhielt, feuerten die Emitter einen Strom von Positronen ins Gehirn, um noch feinste Energieimpulse aufzufangen. Als Folge davon war Chucks EEG-Vorrichtung in der Lage, dreidimensionale Bilder zu erzeugen, und er hoffte, sie würde bald zu noch viel mehr fähig sein.

Ich glaube, wir kriegen das hin.

Die Schnittstelle war im Grunde einfach … zumindest für Chuck und Eugene. Sie schlugen mittels fiberoptischer Kabel eine Brücke zwischen der Brewster-Einheit und dem, was sie als die „Aktivitätsplattform“ bezeichneten, oder dem Empfänger für die neuralen Impulse, die von der Testperson kamen. Da sie einen USB-Anschluss verwendeten, um Daten zu senden und zu empfangen, war die Computerschnittstelle naturgemäß höchst einfach einzurichten gewesen. Sie mussten nichts weiter tun, als ein Softwareprogramm schreiben, eine erweiterte Version der Signalentdeckungs-Software, die bereits auf dem Brewster lief und die einem Interpreter-Programm erlaubte, die Daten zu lesen.

Chuck hatte eine Handvoll Testpersonen ausgewählt, die den Umgang mit Computern gewöhnt waren und regelmäßig mit ihnen arbeiteten. Die Architektin und CAD-Designerin Sara Crowell, den Spieleentwickler Tim Desmond, zwei Spielefreaks, die Eugene aus den Studenten der unteren Semester in seinem Mentorenprogramm rekrutiert hatte (und die er als Tweedledee und Tweedledoh! bezeichnete), einen Schriftsteller namens Pierce Flornoy und Mini Mause.

Chuck hatte ein Testprofil erarbeitet, das sich von denkbar einfachen Dingen (Pixel auf einem Schirm umherschieben und Textfeldeinträge machen) zu speziellen und komplexen Anforderungen bewegte. Er hoffte, es würde die Testpersonen dazu bringen, mit ihren vertrautesten Softwareprogrammen zu interagieren, und, wie Eugene es ausdrückte, den Zauber bewirken.

Das Problem, dem sie sich sofort gegenübersahen, war, dass kein Zauber wirkte. Oder zumindest nicht der erwartete.

Denn obwohl Sara Crowell eine perfekte Beta-Welle produzierte, während sie sich vorstellte, dass sie den Zeiger der Maus hundert Pixel nach rechts bewegte, tat der Zeiger nicht, was die Gehirnwelle vorhersagte, sondern flog vom Schirm. Gleichzeitig gelang es Tim „Nennt mich Troll“ Desmond zwar, dieselbe mentale Mausbewegung auszuführen, aber bei ihm rührte sich das verdammte Ding kaum – ungeachtet der Tatsache, dass seine Beta-Wellen keinen Deut weniger ausgeprägt waren als die von Sara. Obendrein gab es das Problem, dass sie nicht im selben Frequenzbereich lagen. Im Gegensatz zu Tims Zehn-Hertz-Wellen und drei Mikrovolt Energie, produzierte Sara Wellen mit 15 Hz und sechs Mikrovolt – was bedeutete, dass Chuck ihre Versuche nicht vergleichend analysieren konnte.

Also ging er einen Schritt zurück. Er besorgte echte Computermäuse, die nirgends angeschlossen waren, und bat die Testpersonen, sie physisch zu bewegen, während sie den Bildschirm beobachteten. Das Ergebnis war dasselbe. Saras Zeiger verschwand im Hyperraum, während Tims nur leicht wackelte.

Die übrigen Testpersonen absolvierten dieselbe einfache Übung. Die Ergebnisse gingen wild durcheinander. Selbst als Chuck und Eugene das Experiment auf die simple Handlung beschränkten, den Mauszeiger zwischen zwei fixen Kästchen auf einem schwarzen Schirm hin- und herzubewegen, brachten die Testpersonen keine reproduzierbaren Ergebnisse zustande. Und als die beiden zu dem Schluss gelangten, dass manche Individuen offenbar schlicht und einfach stärkere Impulse generierten als andere, flog ihnen der nächste Knüppel zwischen die Beine.

Mini Mause – die wie Sara ihre Maus schneidig von A nach B und darüber hinaus bewegen konnte – erschien eines Morgens unausgeschlafen, weil sie abends zuvor in einem Rockkonzert gewesen war. Sie saß mit ihrem Elektrodennetz auf dem Kopf an ihrem Terminal und ging eine Reihe von Verfahren durch, bei denen sie zuvor weit über das Ziel hinausgeschossen war.

„Oh Mann …“ Eugene fuhr sich mit den Fingern durch das widerspenstige Haar und schob seine Brille hoch. „Das Ding ist kaum vom Fleck gekommen.“

Chuck warf einen Blick über seine Schulter auf die dreidimensionale EEG-Grafik. „Und ihre Hirnwellen machen ebenfalls nichts her. Das ist eine der laschesten Beta-Wellen, die ich je gesehen habe.“

„Ich bin nur ein bisschen müde. Lasst mich fünf Minuten ein Nickerchen machen und eine Tasse Tee aufsetzen, dann wird es wieder gehen.“ Mini spähte durch die Lücke zwischen dem Turm der Brewster-Einheit und ihrem Monitor zu den beiden Neurologen. Auf ihrem kupferfarbenen Haarschopf funkelten Positron-Juwelen, und der ernsthafte Ausdruck auf ihrem herzförmigen Gesicht ließ sie trotz ihrer Müdigkeit sogar noch jünger aussehen als die neunzehn Jahre, die sie war.

„Natürlich“, sagte Chuck geistesabwesend. „Geh nur. Wir sehen uns in einer Viertelstunde wieder?“

„In Ordnung“, sagte Mini und wandte sich zum Gehen. „Die Küche ist hinten links, oder?“

Eugene, der weitaus wacher war als sein Boss oder ihre Testperson, sprang auf. „Mini! Die Vorrichtung. Das Netz. Wir müssen dich abhängen.“

Sie blieb gerade noch stehen, bevor es zur Katastrophe kam, und führte die Hände zum Kopf. „Ach so, ja. Oh Mann, ich fühle mich jetzt schon ziemlich abgehangen.“ Sie lachte, während Eugene das Netz losmachte und ihr vom Kopf nahm, und sie lachte immer noch, als sie zur Tür hinausging.

Eugene stand mit dem Netz in der Hand mitten im Raum und sah ihr nach. „Ist die immer so?“

„Was?“ Chuck blickte abrupt von den Daten, die über den Brewster-Monitor liefen, auf. „Ach so, ja. Ich meine, nein, sie … Man könnte vielleicht sagen, sie ist eine Frau mit wechselnden Stimmungen. Im Augenblick fehlt es ihr einfach an Schlaf.“ Er schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin. „Das Unterscheidungsmerkmal ist also nicht einfach eine individuell ausgeprägte Amplitude, wobei manche Leute eben lauter sind als andere. Es ist sogar noch variabler.“

Aber Eugene hatte ihn gehört. Er nahm den Blick von der Tür, ging zum EEG-Apparat zurück und hängte das Elektrodennetz über dessen kugelförmige Halterung. „Sie hatten gehofft, es ginge nur darum, die Verstärkung richtig einzustellen, oder?“

„Nur.“ Chuck schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Selbst wenn es nur um eine individuelle Amplitude ginge, hätte ich keine Ahnung, wie ich sie regulieren soll. Ich habe keinen Schimmer, wie weit Sara und Mini über das Ziel hinausschießen, oder wie stark man Tim anschieben müsste, damit …“

„Troll“, unterbrach Eugene, um Chuck aufzuklären, wie Tim genannt werden wollte.

„Wenn es keine Standardabweichung von einer Norm gibt“, fuhr Chuck fort, „und wir haben die Norm noch nicht einmal berechnet, dann weiß ich nicht, wie das gehen soll.“

Eugene dachte darüber nach. „Na ja, vielleicht weiß es jemand anders. Wenn wir zusammenschreiben würden, was wir bisher haben, und es mit der akademischen Community teilen …“

„Man würde uns auslachen.“ Chuck verzog das Gesicht.

„Das wird nicht passieren, Doc“, versicherte ihm Eugene. „Sie haben bereits etwas bewiesen: dass Hirnwellen einen Zauber bewirken können.“

Chuck streckte seinem Assistenten den Zeigefinger entgegen. „Benutzen Sie dieses Wort nicht. Es ist kein Zauber.“ Aus irgendeinem Grund machte ihn allein der Gedanke wütend.

„Okay, okay. Dann bewirken Hirnwellen eben einen Scheiß. Gefällt Ihnen das besser?“

Es gefiel ihm nicht besser, aber das spielte keine große Rolle, denn der Fall war weder das eine noch das andere. Mini kam tatsächlich mit mehr Schwung von ihrem Powernap und dem Tee zurück, aber das unterstrich ihr Problem nur: Es gab keinen Ausgangswert für die ungefilterte Energie, die die Hirnwellen einer bestimmten Testperson erzeugten, und keine Möglichkeit, zu einem Differenzial zu gelangen, auf das sich die Schnittstelle einstellen konnte.

„Wenn man Müll reinsteckt, kommt auch nur Müll raus“, murmelte Chuck, als er am Ende von Minis Sitzung ihre Ergebnisse durchsah.

„Nur dass es kein Müll ist“, widersprach Eugene. „Es sind Daten, und die sollten Sie meiner Meinung nach publizieren. Wer weiß? Vielleicht ist es eine Frage der Konzentration. Vielleicht lassen sich unsere Testpersonen dazu trainieren, ihre Hirnwellen selbst zu mäßigen oder zu steuern.“

„Ich glaube nicht, dass es so funktioniert, Euge. Wenn Mini oder Sara mit dem Apparat interagieren, erzeugen sie beide Beta-Wellen. Sie erzeugen sie nur nicht im selben Energiebereich, und ich weiß nicht, warum, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Wir brauchen … eine Art Wandler, etwas, das den Energieausstoß dynamisch erhöht oder herunterfährt, sodass immer dieselbe Menge Energie in den Apparat gespeist wird, wenn Sara und Pierce daran gehen, die metaphorische Glühbirne einzuschrauben.“

Eugene lachte.

„Was ist?“

„Ich habe gerade an das Interview gedacht, das Sie nächste Woche bei Science Friday auf NPR geben. Ich höre förmlich, wie Ira Flatow Sie bittet, Ihr neuestes Projekt zu beschreiben.“ Er hielt sich ein imaginäres Mikrofon vor den Mund. „Dr. Brenton, welche faszinierenden Experimente unternehmen Sie aktuell an der Johns Hopkins University? – Nun, Ira, wir versuchen die Menge an mentaler Energie zu berechnen, die nötig ist, um eine Glühbirne einzuschrauben.“

Gegen seinen Willen musste Chuck lachen. Er lachte den ganzen Weg zu seinem Büro, wo er sich hinsetzte, um seine Notizen zusammenzutragen. Er hatte nicht die Absicht, im landesweiten Radio etwas über seine Hirnwellenexperimente zu sagen.

Er hatte im Moment nicht die Absicht, überhaupt je wieder mit irgendwem darüber zu reden.

KAPITEL 2

Matt

Matt Streegman blickte zur Uhr über seiner Bürotür und stellte fest, dass es zu dunkel war, als dass er sie sehen konnte. War sowieso dämlich. Er saß schließlich an seinem Computer, sein Gesicht war in den Schein des Cinema Displays getaucht. Alles, was er tun musste, war auf die Menüleiste am oberen Rand des Schirms zu schauen. 1.10 Uhr am Mittwochabend. Falsch: Donnerstagmorgen.

Ein langes, deprimierendes Feiertagswochenende hatte bereits angefangen. Nicht zum ersten Mal wünschte er, er könnte in einen Scheintodbehälter kriechen, um Thanksgiving zu verschlafen, ohne sich bewegen, mit Menschen verkehren oder nachdenken zu müssen.

Das war das Schlimmste an den meisten Wochenenden: das Denken. Das Schlimmste an diesem speziellen Wochenende waren die Leute.

Sicher, er hatte tausend Wege gefunden, wie er an Projekten weiterarbeiten konnte, die er eigentlich im Labor lassen sollte, und Spiele spielen, die seinen Hochbegabtenverstand forderten. Seine Lieblingsbeschäftigung am Wochenende war, zu Dice hinüberzugehen und ihm zu helfen (oder hauptsächlich dabei zuzusehen), wie er Roboter baute. Dice – alias Daisuke Kobayashi – war nur leider über das Thanksgiving-Wochenende zu seinen Eltern nach Charlotte hinuntergefahren. Dieser Spaß fiel somit aus.

Es klopfte an seiner Bürotür. Ein Schatten strich über das Ornamentglas auf der rechten Seite.

„Ja?“ Matt blinzelte und blickte auf den Code, den er soeben geschrieben hatte. Er bemerkte drei Syntaxfehler in der Zeit, die der Wachmann brauchte, um die Bürotür zu öffnen.

„Oh, hallo, Dr. Streegman. Es ist, äh, es ist ziemlich spät geworden, Sir.“ Der Wachmann – ein Bursche in den Zwanzigern namens Zack Truman – sah ihn von der halb offenen Tür entschuldigend an.

„Ja, ich weiß. Ich … war eh gerade dabei Schluss zu machen.“ Himmel, ich war dabei diesen Code total zu verpfuschen.

„Es wäre toll, wenn Sie das recht schnell tun könnten, Professor. Der ganze Campus macht für den Rest der Woche dicht. Tatsächlich hat man uns gebeten, das Gebäude hier abzusperren.“

„Und ich halte Sie auf.“ Matt lächelte und hob die Hand, als Zack Anstalten machte, zu widersprechen. „Nein, entschuldigen Sie sich nicht. Sie erledigen nur Ihren Job. Geben Sie mir zehn Minuten, um ein paar Sachen hochzuladen, dann sind Sie mich los.“

Zack warf einen Blick zum Computer. „Sie haben nicht etwa vor, über Thanksgiving zu arbeiten, oder? Sie sollten, na ja, Sie wissen schon, mit der Familie und Freunden zusammen sein, Eierpunsch trinken und Truthahn essen und nicht …“ Er gestikulierte in Richtung Bildschirm.

Wie Matt zufällig erfahren hatte, war Zack frisch verheiratet und sehr glücklich, und wie es die Art sehr glücklicher Menschen ist, wollte er, dass alle anderen gleichermaßen ekstatisch auf das Leben blicken. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass jemand keine engen Freunde haben könnte, oder keine Lust darauf, einen dem Konsum gewidmeten Feiertag im Schoß seiner Ersatzfamilie zu verbringen.

Davon sagte Matt jedoch nichts. Als Zack weitergegangen war, lud er das Programm, an dem er gearbeitet hatte, in die Cloud und machte zur Sicherheit eine Kopie auf seinen USB-Stick. Dann packte er seinen Laptop ein und hatte das Büro verlassen und abgesperrt, ehe Zack wiederkam.

Zu Hause blinkte sein Telefon anklagend. Sie haben sieben nicht beantwortete und nicht angehörte Nachrichten. Was beabsichtigen Sie diesbezüglich zu unternehmen?

Er überlegte, sie anzuhören, seine Hand schwebte bereits über dem Abspielknopf, aber Tatsache war, dass er sie gar nicht hören wollte. Er wusste, mindestens drei davon würden von seiner Schwester Chelsea sein, die fragte, wo zum Teufel er steckte.

Stattdessen griff er zu seinem iPhone, öffnete die Fernbedienungsapp für sein Entertainment Center und schaltete NPR in der Hoffnung ein, es würde etwas zu hören geben, was ihn ablenkte. Tatsächlich gab es etwas – eine Wiederholung des letzten Science Friday lief. Er holte eine Schale mit Hähnchen General Tso aus dem Kühlschrank und stellte sie in die Mikrowelle.

Eingelullt von den Stimmen im Radio, machte sich Matt einige Minuten später über sein Abendessen her und überlegte, ob er noch heiß duschen sollte, ehe er ins Bett ging. Er schlief bereits halb und schaffte es kaum noch, sein Essen zu kauen. Schließlich hatte er es verputzt, stellte die Schale in die Spüle und machte das Licht in der Küche aus.

Duschen oder gleich ins Bett?

„… Ihre Arbeit“, sagte Ira Flatow gerade im Radio. „Ich habe Ihren Artikel ‚A Musical Mind‘ gelesen. Besonders hat es mir Ihre Beschreibung der Gamma-Wellen angetan, die die Cellistin produziert hat.“

Gamma-Wellen?

Matt blieb mitten im Wohnzimmer stehen. Wen interviewte Flatow da gerade?

„Es würde mich interessieren, Dr. Brenton, ob Sie zu irgendwelchen neuen Einsichten gekommen sind, seit Sie diese Arbeit verfasst haben.“

Brenton. Wo hatte er diesen Namen schon gehört? Hatte er ihn tatsächlich schon einmal gehört?

„Zu ein paar, ja.“

„Ein paar“, wiederholte Flatow.

Brenton lachte. „Ich mache wirklich nicht auf falsche Bescheidenheit. Es ist nur so, dass sich das, woran ich im Augenblick arbeite, wahrscheinlich mehr nach Science-Fiction als nach Wissenschaft anhört.“

„Lassen Sie es auf einen Versuch ankommen.“

„Nun, während Erica spielte, kam mir die Frage in den Sinn, ob die Hirnwellen, die einen Impuls auf einem Computerschirm oder eine Nadel auf einem Diagramm bewegen, mit einer geeigneten Schnittstelle nicht auch gezielt Objekte bewegen könnten.“

„Wie Drohnen?“

„Nicht nur Drohnen. Ich meine, wenn das menschliche Gehirn von einer Tätigkeit in Anspruch genommen ist – selbst wenn es diese Tätigkeit nur im Geiste durchgeht – erzeugt es Rhythmen, die diese Tätigkeit mittels Gehirnwellen beschreiben. Theoretisch sollte es möglich sein, diese Hirnwellen nutzbar zu machen und zu kanalisieren, sodass sie die Tätigkeit aus der Ferne ausführen können.“

Flatow lachte. „Das klingt tatsächlich nach Science-Fiction. An welche Anwendungen denken Sie dabei?“

Matt ließ sich auf das Sofa sinken, ohne dass es ihm selbst bewusst wurde.

„Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, nicht wahr?“, antwortete Brenton. „Ich meine, stellen Sie sich nur vor, was es für behinderte Menschen bedeuten würde. Ein Gedanke, um eine Handlung auszuführen – einen Rollstuhl zu bedienen oder sogar ein Auto oder einen Computer. Stellen Sie sich vor, ich weiß nicht, ein Wissenschaftler vom Kaliber eines Stephen Hawking könnte jede Handlung ausführen, indem er einfach nur daran denkt. Oder Menschen, die vollständig gelähmt sind, aber immer noch einen funktionierenden Verstand haben, der einzelne Gehirnwellen erzeugt. Diese Rhythmen könnten ihnen erlauben, mit der Außenwelt zu kommunizieren, mit ihren Angehörigen. Sie könnten ihnen erlauben, ihre Umwelt zu beeinflussen, sogar Kunst zu erschaffen. Schreiben. Aufführen. Leben.

Matt war wie betäubt von dem Gedanken.

Lucy …

Er dachte daran, wie Lucy – seine Frau, sein Alles – in einem Krankenhausbett lag, tot für die Außenwelt – tot für ihn – während ihr Gehirn, ihr großartiges Gehirn, weiter Gehirnrhythmen aussandte, die er lesen, aber nicht verstehen konnte. Verstand dieser Mann sie? Matt besaß immer noch das Protokoll der letzten Wochen ihres Lebens in Form von EEG-Ausdrucken. Wenn dieser Typ ihre Gehirnwellen lesen und in eine Art verständliche Nachricht übersetzen konnte, welche würde es sein? Was hatte Lucys Verstand getan, nachdem ihr Körper aufgehört hatte, die Botschaften zu übermitteln?

„Oder stellen Sie sich vor“, sagte Brenton nun, „man könnte Arbeiten im Weltraum verrichten, ohne Astronauten für viel Geld hinausschicken zu müssen. Oder auch nur Roboter. Das Raumschiff könnte so gebaut sein, dass es mit dem Gehirn des Technikers und der Schnittstelle fernbedient zu reparieren wäre.“ Er lachte wieder. „Science-Fiction, ich weiß. Es würde natürlich auch kommerzielle Anwendungen geben. Theoretisch könnten Gehirnwellen Werkzeuge mit sehr viel mehr Feingefühl bedienen, als es Hände können, selbst Hände mit Roboterfortsätzen.“

„Und was hält Sie von alldem ab?“

„Da haben Sie zu diesem Zeitpunkt noch freie Auswahl“, sagte Brenton und lachte kurz auf. „Aber das Hauptproblem ist die Schnittstelle. Oder genauer gesagt, ein Übersetzungsgerät.“

Matt nahm wahr, dass sein Herz heftig hämmerte. Sie hatten kein Übersetzungsgerät? Er hörte zu, wie Brenton sein Problem mit der relativen Amplitude der Gehirnwellen beschrieb, die verschiedene Gehirne erzeugten, oder dasselbe Gehirn unter verschiedenen Umständen, und dachte nicht mehr an Schlafen oder Duschen oder sonst etwas.

„Was wir entwickeln müssen, ist eine Übersetzungsschnittstelle, die es uns erlaubt, einen Ausgangswert festzulegen und dann Veränderungen in der Energie zu kompensieren, die von den Gehirnwellen einer Testperson erzeugt werden.“

„Wie könnte sich das bewerkstelligen lassen?“, fragte Flatow.

„Auf mathematischem Weg“, murmelte Matt. „Es müsste auf mathematischem Weg geschehen.“

Er wusste das besser als irgendwer, denn er hatte es getan. Oder zumindest hatte er die Streuung in den Oszillationen von Lucys Hirnwellen mathematisch beschrieben. Er hatte beharrlich an den Algorithmen gearbeitet, während er an ihrem Bett saß und zusah, wie ihr EEG in einer Sprache zu ihm redete, die er nicht deuten konnte.

Augenblicke später hatte er seinen Laptop hervorgeholt und aufgeklappt, und dann schwankte er, ob er Lucys Ordner ausgraben sollte, den er seit zwei Jahren nicht geöffnet hatte, oder erst einmal den Gast bei Science Friday googeln. Er entschied sich, auf die NPR-Seite zu gehen und herauszufinden, wer dieser Typ war, vielleicht sogar eine Abschrift der Sendung zu lesen.

Der Name des Wissenschaftlers war Dr. Charles Brenton von der Johns Hopkins University. Das deckte ein weites Feld ab. Es gab Johns-Hopkins-Universitäten und Krankeneinrichtungen in so grundverschiedenen Ballungszentren wie Baltimore, Maryland und Nanjing, China. Am wahrscheinlichsten war jedoch der Haupt-Campus in Baltimore. Er schickte sich die Transkription des Interviews als E-Mail und begann eine Online-Suche nach Dr. Charles Brenton.

Einige Links später blickte Matt auf ein Foto des guten Doktors, derzeit mit Forschungsauftrag am Solomon H. Snyder Department of Neuroscience tätig.

Überraschung. Der Neurowissenschaftler war jünger, als Matt erwartet hatte – sogar jünger als Matt selbst. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht, ein Lächeln, das seine Mutter wahrscheinlich immer noch dazu brachte, ihm Plätzchen zu backen, und Haare, die eine Spur zu lang waren.

Weiß Ihre Mommy, dass Sie Wissenschaft betreiben, Professor?

Er machte die Publikation ausfindig, auf die sich Ira Flatow in ihrem Interview bezogen hatte: „A Musical Mind“. Auf halber Strecke spürte er, wie einer seiner mathematischen Fluchtreflexe einsetzte. Er ging zu dem Lucy-Ordner in seinem Laptop und öffnete LM_alg_001. Sein Blickfeld füllte sich mit den Gleichungen, die auf dem Ausstoß von Lucys sterbendem Gehirn basierten.

Die Proben in Charles Brentons Artikel basierten auf dem Output verschiedener Testpersonen. Wenn Matts Beobachtungen zutrafen, wenn seine Berechnungen stimmten – worauf er viel Geld wetten würde –, dann wäre es eine relativ einfache Angelegenheit, die Algorithmen, die er aus Lucys EEG gewonnen hatte, anhand der Wellen aus den Proben zu überprüfen. Wenn er damit fertig war, müsste er eine Methode zur Hand haben, einen Ausgangswert für jede beliebige Testperson zu berechnen.

Er öffnete ein neues Dokument und machte sich an die Arbeit.

Das konnte ja doch noch ein ganz angenehmes Wochenende werden.

KAPITEL 3

Partner

„Da ist so ein Typ in Ihrem Büro“, sagte Eugene.

Chuck sah vom Diagnoselauf auf, den er gerade für das neueste Softwareupgrade auf der Brewster-Einheit durchführte. „Ein Typ in meinem Büro? Können Sie etwas konkreter werden?“

„Er sagt, er heißt Streegman. Dr. Streegman. Vom MIT. Es geht irgendwie darum, dass er Sie auf Science Friday gehört hat.“

„Er ist sieben Stunden gefahren, um mit mir über Science Friday zu reden?“

„Er sagt, er hat vielleicht etwas, das Sie brauchen.“ Eugene zuckte mit den Achseln. „Ich habe ihn schon danach gefragt, aber er benimmt sich recht geheimnisvoll.“

„Na, großartig. Genau, was mir gefehlt hat – noch etwas, aus dem ich nicht schlau werde. Hier.“ Chuck rutschte von seinem Sessel und bedeutete Eugene, Platz zu nehmen. „Machen Sie mit dem Diagnoselauf für dieses Upgrade weiter. Im Moment werden die Transport-Unterprogramme überprüft. Wenn das erledigt ist, schließen Sie Saras letzte Sitzung an und schauen Sie nach, ob es immer noch zu Problemen bei den Theta-Wellen kommt.“

Chuck schlurfte, die Hände in den Jeans, zu seinem Büro und fragte sich, was dieser Dr. Streegman vom Massachusetts Institute of Technology haben könnte, das er brauchte. Er öffnete die Tür und musterte rasch den Mann, der am Fensterrahmen lehnte und auf East Madison hinausblickte, als würden sich auf einer Dachterrasse am anderen Ende der Stadt faszinierende Dinge abspielen. Streegman war durchschnittlich groß und sah durchschnittlich nerdig aus, er war vermutlich Anfang vierzig und trug gewöhnliche Kakis, einen Blazer und Slipper.

Chuck kam sich in seinen Jeans, dem Pullunder und den hohen Converse Sneakers plötzlich sehr underdressed vor.

Er räusperte sich und streckte die Hand aus. „Dr. Streegman? Chuck Brenton. Was verschafft mir die Ehre?“

Streegman drehte sich mit einem Ruck um und nahm die angebotene Hand. Sein Lächeln kam spät und war oberflächlich. Als hätte er es eine ganze Weile nicht einsetzen müssen. Er wirkte außerdem, als hätte er seit Längerem nicht geschlafen. Auf der linken Wange hatte er einen Kratzer, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte. Wahrscheinlich wegen Schlafmangels.

„Dr. Brenton. Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“

Chuck spulte die üblichen Höflichkeitsformeln ab – „Bitte nehmen Sie Platz, möchten Sie Tee oder Kaffee?“ – und Streegman bat so dankbar um Kaffee, als hätte er das Koffein bitter nötig.

„Sind Sie wirklich den ganzen Weg von Boston gekommen, nur um mich zu sehen?“, fragte Chuck, als er dem Mann eine Tasse brachte.

Streegman trank einen Schluck von seinem Kaffee und setzte sich in den alten Ohrensessel gegenüber von Chucks Schreibtisch. Er nickte in Richtung der Herr-der-Ringe-Figuren auf einem der Regale.

„Ein Fantasy-Fan, hm? Komisch. Ich hätte eher, ich weiß nicht, vielleicht Star Wars oder Star Trek erwartet.“

Chuck lächelte. „Die stehen zu Hause. Aber sie regen alle die Fantasie an. So, und was kann ich für Sie tun?“

„Fantasie … genau. Es geht eigentlich mehr darum, was ich für Sie tun kann … hoffentlich.“ Das Lächeln kehrte sich inwendig, als versuchte er, sich klein zu machen. „Ich habe die Science-Friday-Sendung gehört. Es war … elektrisierend.“

Chuck blinzelte. „Wirklich? Mit einer solchen Reaktion habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ehrlich gesagt habe ich Hohn und Spott erwartet, und davon habe ich in den letzten Tagen auch definitiv meinen Teil abbekommen.“

Streegman stellte seine Kaffeetasse an den Rand des Schreibtischs. „Weil das lauter Idioten sind.“

„Aber Sie sind keiner.“

„Mit Sicherheit nicht. Sie sagten, was Ihnen fehlt, sei eine Methode, um einen Ausgangswert zu ermitteln und eine Art standardisierte Berichtigung für Schwankungen im Energieausstoß von Gehirnwellen.“

„Ja, das stimmt. Die fehlt mir tatsächlich.“

„Ich habe diese Methode.“

„Sie …“ Chuck schüttelte den Kopf. „Was machen Sie am MIT, Dr. Streegman?“

„Nennen Sie mich Matt. Ich bin Mathematiker und Gelegenheitsprogrammierer. Einen guten Teil meiner Zeit verbringe ich damit, funktionierende Algorithmen für die Jungs von der Robotertechnik zu kreieren. Ich bin der Ort, Dr. Brenton …“

„Chuck“, sagte er geistesabwesend.

„Chuck. Ich bin der Ort, wo sich Mathematik und Roboterschnittstellen treffen.“

„Und was hilft mir das?“

„Überhaupt nichts. Aber vor einigen Jahren hatte ich Gelegenheit, über einen Zeitraum von mehreren Wochen die EEG-Aktivität eines stark geschwächten und schließlich sterbenden Gehirns aus der Nähe zu beobachten. Ich bin ein Mensch, der beinahe instinktiv alle Dinge durch das Prisma der Mathematik sieht, bei dieser Erfahrung war es nicht anders. Und so fing ich natürlich an, die erzeugten Gehirnwellen als mathematische Äußerungen zu begreifen. Ich ging daran, sie zu beschreiben, zu berechnen, zu quantifizieren.“ Er hielt inne, sei es um des dramatischen Effekts willen, oder – wie Chuck vermutete – weil diese Geschichte einen Subtext enthielt, der es ihm schwer machte, sie zu erzählen. Mit dem, was er als Nächstes sagte, wurden jedoch alle Gründe belanglos.

„Als ich fertig war, hatte ich eine Basiswert-Gleichung für diese Person.“

Mein Gott …

„Ich bin überzeugt“, fuhr Streegman fort, „sollte ich Zugang zu Ihren Daten bekommen, könnte ich Ihnen die Gleichungen zur Festsetzung eines Ausgangswerts für jede Testperson liefern, und darüber hinaus Gleichungen, die die Schwankungen in ihrem Energieausstoß kompensieren. Tatsächlich“, er holte einen USB-Stick aus seiner Tasche und legte ihn auf Chucks Schreibtisch, „habe ich ein paar Probeberechnungen mithilfe von Daten aus Ihrer Arbeit über das musikalische Gehirn gemacht.“

Chuck streckte die Hand nach dem Stick aus, er nahm kaum bewusst wahr, was er tat. Er zögerte. „Welche Software muss ich …“

„Es sind nur eine Reihe Tabellen und Gleichungen in einer Dokumentendatei. Ihr Textprogramm müsste es lesen können. Falls Ihre Anwendung jedoch eine Programmierfunktion hat, erlaubt sie Ihnen, die Gleichungen klarer zu analysieren.“

Chuck bemerkte, dass seine Hand zitterte. Er griff nach dem USB-Stick und steckte ihn in einen der Ports an seinem Laptop. Binnen Sekunden hatte er die Datei geöffnet und sah zwei Spalten mit Daten vor sich. Links die EEG-Grafik einer Testperson, rechts eine mathematische Gleichung, die die Hirnwelle eindeutig beschrieb.

„Die erste Formel in der Gleichung ist der Ausgangswert“, erklärte der Mathematiker. „Die zweite dient dazu, jede Abweichung von diesem Ausgangswert zu berechnen. Oder sollte ich sagen: jede Variation?“ Er zuckte mit den Achseln. „Die Spitzen und Täler.“

Chuck verstand genügend von Mathematik, um zu wissen, dass die zweite Hälfte der Gleichung wohl iterativ sein musste – wiederholt angewandt, um den Ausstoß der Testperson an eine beliebige Schnittstelle anzugleichen. Er räusperte sich geräuschvoll. „Sie könnten das in eine Software-Schnittstelle programmieren?“

„Nicht ich persönlich. Ich habe jedoch einen Kollegen – einen Doktoranden, genauer gesagt –, der das Programmieren übernehmen würde.“

„Und der mechatronische Teil der Schnittstelle?“ Streegman lächelte nun plötzlich aufrichtig und über das ganze Gesicht. „Dice ist ein Genie, was Robotertechnik angeht. Er ist alles, was wir brauchen in einer Person, Hardware und Software. Ich würde ihn gern mit an Bord holen.“

„An Bord von was, Dr. Streegman?“, fragte Chuck atemlos. „Was genau schlagen Sie vor?“

„Was ich vorschlage“, sagte Streegman immer noch lächelnd, „ist eine Partnerschaft. Und ich werde noch weitergehen. Wenn unsere gemeinsamen Bemühungen die Früchte tragen, die sie nach meiner Überzeugung tragen werden, möchte ich vorschlagen, wir gründen ein Unternehmen zusammen.“

„Unternehmen? Was für ein Unternehmen?“

„Eine Forschungs- und Entwicklungsfirma, Doktor. Ein Unternehmen, das unsere im Labor gewonnenen Erkenntnisse in einem breiten Spektrum von Disziplinen auf die reale Welt überträgt: Kunst, Produktion, Computerwissenschaften, Landwirtschaft. Was Sie wollen. Ich schlage vor“ – aus seinem Lächeln wurde ein Grinsen –, „dass wir die Welt verändern.“

Chuck stockte der Atem. Ich träume, sagte er sich. Ich bin an meinem Schreibtisch eingeschlafen und träume das alles. Er schloss langsam die Augen, hielt sie eine Weile fest geschlossen und öffnete sie wieder.

Matt Streegman war immer noch da und wartete auf eine Antwort.

„Ich weiß nicht. Es kommt alles sehr plötzlich, nicht wahr?“

„Größere Entscheidungen werden in einem Bruchteil der Zeit gefällt. Das ist die Chance, Ihre Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.“

„Das klingt wunderbar, aber ich bin Wissenschaftler, Doktor. Matt. Kein Geschäftsmann. Wenn Zahlen einen Geldwert darstellen, setzt mein Verstand aus.“

„Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Über nichts davon. Was die Mathematik und das Geld angeht, das decke ich ab.“

„Und die Hardware? Dieser Dice wird die Schnittstelle zwischen meinem EEG-Lesegerät und dem Objekt in der realen Welt bauen?“

„Wie gesagt, er ist ein Genie. Wenn dieser Algorithmus funktioniert, kann er eine Schnittstelle bauen, um ihn anzuwenden.“

Chuck fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Und er wird kommen und sie bauen?“

Matt lachte. „Er wird kommen, und wenn er sie baut, wird es funktionieren.“

Dice staunte über das Labyrinth aus nicht zusammenpassenden Gebäuden, die den Campus der Johns Hopkins University rund um das Traylor Research Building bildeten. Es ließ ihn an eine Schachtel Legosteine denken, die jemand über den Boden gekippt hatte. In seinem alten Zimmer zu Hause – das seine stolzen Eltern in eine Art Schrein für ihren einzigen Sohn verwandelt hatten – existierte wahrscheinlich noch so eine Schachtel irgendwo in einem Schrank.

Tatsächlich war das Traylor Building einer der ältesten Steine in dieser Schachtel. Ein schmaler, sandfarbener Quader, der zwischen zwei größeren, höheren und moderner wirkenden Gebäuden eingezwängt war und nicht sonderlich beeindruckend schien. Wenn nicht die Worte JOHNS HOP-KINS in riesigen weißen Lettern auf der Fassade gestanden hätten. Weiter wies nichts auf das Niveau der Forschung hin, die darin stattfand. Nichts ließ erkennen, dass in einer Forschungseinrichtung im zweiten Stock Geschichte geschrieben wurde.

Dice gefiel diese anonyme Ausstrahlung. Er fühlte sich manchmal, als würde er der ganzen Welt ein Schnippchen schlagen – als wäre er Teil einer großen Verschwörung von Computerfreaks, die, wenn die Zeit reif war, allen Leuten erklären würden, sie hätten die gesellschaftlichen Probleme schlicht durch die Anwendung von Technologie gelöst. Ta-da!

„Wie läuft es, Dice?“ Matt Streegman war lautlos aus dem Nichts erschienen, eine ärgerliche Gewohnheit von ihm. Er schaute Dice über die Schulter, der gerade an einem kleinen Roboter arbeitete.

„Es läuft wie geschmiert. Nicht dass ich unsern Freund hier schmieren müsste, damit er läuft.“ Dice machte eine Pause für Matts Lachen, das nicht kam, dann räusperte er sich. „Ich denke, der kleine Kerl ist fertig für Dr. Brentons Testpersonen. Wen haben wir denn?“

„In dieser Phase haben wir uns. Oder Chuck jedenfalls. Er würde den Probelauf gern selbst machen, bevor er seine Versuchskaninchen einsetzt.“

„Also was das angeht …“

„Was?“

Dice verzog das Gesicht. „Ich habe eigentlich schon einen kleinen Probelauf mit unserem Roboticus gemacht.“

„Und er funktioniert?“

Dice verdrehte die Augen. „Natürlich funktioniert er. Es gab nur einen kleinen Defekt in einem der Stecker, ein verbogener Stift. Ich habe ihn gerade gelötet, jetzt müsste alles in Ordnung sein.“

„Zeig es mir.“

„Bevor Chuck ihn ausprobiert hat?“

„Hast du ja auch getan.“

„Okay, eins zu null für dich.“

„Ich will nur wissen, wie aufgeregt ich sein sollte.“

Dice grinste. „Sehr aufgeregt.“

„Und natürlich möchte ich in der Lage sein, meine professorale Blasiertheit im Angesicht deiner welterschütternden Leistung aufrechterhalten zu können.“

„Natürlich.“

„Also, zeig es mir.“

Dice stellte den Roboter mitten auf den Boden des Labors. Es war im Grunde nur ein besserer Staubsaug-Roboter – kaum mehr als ein Antrieb in einem Gehäuse aus Aluminium und Plastik – aber das war alles, was sie als Machbarkeitsnachweis brauchten. Er hatte einen kleinen roten Joystick auf seiner Oberseite, mit der ihn die Person, die ihn bediente, manuell steuern konnte. Und wenn alles gut ging, konnte sie es mit ihren Gedanken.

Bei dieser Vorstellung gestattete sich Dice einen Moment diebischer Freude.

Er ging zu der Brewster-Einheit, nahm das Elektrodennetz von seiner Halterung und setzte es sich auf den Kopf, wobei er darauf achtete, dass die Transceiver so fest wie möglich auf seiner Kopfhaut saßen. Ein funkelnder Strang aus leichten, fiberoptischen Kabeln lief von dem Netz zum Brain Pattern Monitor und von dort weiter zum Roboter.

Der Teil des Geräts, auf den es ankam – der kinetische Konverter –, war ein Softwaremodul, das im BPM saß und Befehle in die Firmware an Bord von Roboticus einspeiste.

Dice schaltete den EEG-Apparat ein. „Also gut, Roboticus, dann wollen wir mal sehen, was sich machen lässt.“

Er dachte an den kleinen Roboter. Er stellte ihn sich vor, wie er vorwärts fuhr. Oder genauer gesagt, dachte er daran, den Joystick nach vorn zu drücken. Nach kurzem Zögern fuhr der Roboter los.

„Okay“, murmelte Dice. „Dann fahren wir jetzt nach rechts.“

Der Joystick neigte sich nach rechts, und der Roboter rollte in diese Richtung.

„Links.“

Er fuhr links.

„Und jetzt einen Wheelie.“

Der kleine Roboter drehte sich langsam um dreihundertsechzig Grad.

„Mein Gott, es funktioniert“, hauchte Chuck Brenton tonlos vom Eingang des Labors.

Streng genommen hatte der letzte Befehl nicht funktioniert, aber Dice war trotzdem zufrieden. Er blickte auf. Dr. Brenton und sein leitender Assistent standen da und starrten auf den nun reglosen Roboter.

„Ah, hallo. Tut mir leid, Doc“, sagte Dice. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass alles funktioniert, bevor Sie es ausprobieren. Ich hasse es, wenn mich die Dinger bei einer Vorführung im Stich lassen.“ Er schaltete den Brewster in den Stand-by-Modus und öffnete das Elektrodennetz auf seinem Kopf.

„Steht Ihnen gut“, sagte Eugene.

Nach zwei Wochen, die sie in engster Nähe verbracht hatten, ging Dice seine näselnde Stimme nur noch minimal auf die Nerven. Und was seine sarkastische Attitüde betraf … nun, Dice musste zugeben, sie war ihm irgendwie ans Herz gewachsen.

„Ich überlege gerade, ob das nicht ein toller Nebenverdienst wäre“, erwiderte Dice. „Während die guten Doktoren Millionen mit ihrer ach so hilfreichen und gesellschaftlich wertvollen Technologie scheffeln, könnten wir beide diese Glitzerhaube hier als die Mode der Zukunft vermarkten.“

Dice half Dr. Brenton, das Netz aufzusetzen und die Transceiver an die richtigen Stellen zu bringen. Als der BPM an war, wandte sich Brenton dem Roboter zu. Er rieb sich die Hände an der Jeans ab. „Okay. Was muss ich tun?“

„Sehen Sie den kleinen roten Joystick auf dem Gehäuse?“

„Mhm.“

„Sie stellen sich einfach vor, dass Sie ihn bedienen.“

„Wie von Hand.“

„Genau. Der kinetische Konverter wird einen Moment brauchen, um Ihren Ausgangswert zu bestimmen, dann sollte er auf Ihre Anweisungen reagieren.“

Dice beobachtete den Neurologen aufmerksam. Er befürchtete halb, der Mann könnte anfangen zu hyperventilieren und ohnmächtig werden. Er tat es jedoch nicht. Er sah den Roboter mit einem Ausdruck äußerster Konzentration an.

Roboticus reagierte – zögerlich zuerst, dann immer sicherer. Nach rund drei Minuten ließ der Wissenschaftler den kleinen Roboter geradeaus mit Höchstgeschwindigkeit laufen und langsam um Hindernisse kurven. An diesem Punkt wurde Chuck von einem Lachanfall geschüttelt, der dazu führte, dass der Roboter zitternd mitten im Labor stehen blieb.

„Darf ich es versuchen?“, fragte Eugene.

Am Ende probierten sie es alle aus, und dann setzten sie sich hin und entwarfen einen Plan für das weitere Vorgehen. Matt würde eine Zusammenfassung für potenzielle Investoren verfassen. Dice würde damit beginnen, Codes für eine Computerschnittstelle zu entwickeln, die ihnen Zugang zu den Bedienelementen kommerzieller Software ermöglichte und Chuck und Eugene würden ihre Experimente mit Roboticus und einer Reihe ihrer Testpersonen weiter ausbauen – Experimente, die sie natürlich aufzeichnen würden.

„Allerdings wird das niemand glauben, wenn er es in einem Video sieht“, bemerkte Eugene.

Matt schüttelte den Kopf, während seine Finger bereits über die Tastatur flogen. „Niemand wird eine Finanzierung auf der Basis eines Videos zusagen müssen. Wir lassen es die Investoren live ausprobieren.“

Chuck runzelte die Stirn. „Wir sollen sie hierher bringen? Das wird nicht gehen, Matt. Es ist nicht koscher, Ressourcen von Johns Hopkins zu benutzen, um ein privates Unternehmen zu gründen.“

„Wir werden keine Ressourcen von Johns Hopkins benutzen. Das Erste, was ich tun werde, ist dieses Gerät leasen.“ Matt nickte in Richtung des Brain Pattern Monitors, er raste in Gedanken bereits weit voraus, stellte Zusammenhänge her, kalkulierte das Potenzial. „Das Nächste, was Sie tun, ist, sich zu überlegen, wie man das alles verkleinern kann, damit es in unser eigenes Labor passt.“

„Unser eigenes Labor“, wiederholte Chuck, als hätte Matt gerade „unsere eigene Raumstation“ gesagt.

„Natürlich unser eigenes Labor. Sie dachten doch nicht etwa, dass wir weiter vom Johns Hopkins aus arbeiten, oder?“ Matt schüttelte den Kopf und vertiefte sich wieder in seine Zusammenfassung.

Die müssen noch viel lernen, dachte er.

KAPITEL 4

Forward Kinetics

Unser eigenes Labor.

Den Worten haftete ein Zauber an, dachte Chuck. Ihr eigenes Labor hatte einen Namen: Forward Kinetics, und es befand sich in der Mitte eines Technologieparks (mit Betonung auf Park) in Silver Spring, Maryland. Es war eine allein stehende Einrichtung – darauf hatte Matt bestanden – in einem niedrigen, siebenhundertfünfzig Quadratmeter großen Split-Level-Gebäude, das aussah, als würde es den sanft geneigten Hang hinunterpurzeln, auf dem es stand. Es war sowohl schön als auch funktional, ein Meisterwerk aus Holz, Beton und Glas mit ein paar Schieferelementen. Frank Lloyd Wright hätte es für gut befunden.

Chuck musste zugeben, dass Matt einen Sinn für Ästhetik hatte. Anstelle der mit Lichtbirnen gefüllten Logos aus Kunststoff in Primärfarben, wie es die meisten anderen Hightech-Firmen benutzten, prangte auf ihrer Fassade ein bronzenes, von hinten beleuchtetes stilisiertes Gehirn voller Zahnräder, die sich um die Buchstaben FK schlangen.

Chuck bemerkte die äußeren Vorzüge des Gebäudes und die parkartige Anlage jeden Montagmorgen, wenn er auf den kleinen, von Bäumen gesäumten Parkplatz am oberen Ende des Hangs fuhr. Aber die inneren Vorzüge nahmen ihn täglich und in jedem Augenblick gefangen. Von den hohen Fenstern, durch die Licht in die zweistöckige Eingangshalle strömte, bis zur Dachlinie mit ihren dicken Zedernbalken, von den Travertinböden bis zu den stilisierten, handgefertigten Lampen wirkte das Labor warm und einladend.

Heute war ein besonderer Tag im werdenden Leben von Forward Kinetics. Heute würden sie ihren Forschungsplan abschließen. Sie hatten seit Wochen Ideen gesammelt und die ganze Breite der Anwendungsmöglichkeiten ausgelotet, mit der sie ihre Versuche beginnen konnten. Heute würden sie die endgültige Auswahl festlegen und das Rekrutierungsverfahren planen.

Chuck wusste bereits, dass er und Matt nicht einer Meinung waren, was eine würdige Disziplin darstellte, aber sie hatten sich darauf geeinigt, den Input des gesamten Führungsstabs zu berücksichtigen, zu dem nun auch Eugene und Dice gehörten. Ihre offiziellen Bezeichnungen waren Laborleiter beziehungsweise Leiter Robotik, so stand es zumindest auf ihren Visitenkarten und Bürotüren, aber Chuck bezweifelte, dass einer der beiden sich als Leiter von irgendetwas begriff.

Das Laborpersonal – sie waren nur zu sechst – war kompetent und leitete sich größtenteils selbst, deshalb hatte das Labor eher den Charakter einer parlamentarischen Demokratie als einer wohlwollenden Diktatur … zumindest solange Matt Streegman nicht die Befehle gab. Wie Chuck schnell begriff, hatte Matt eindeutige Ansichten zu allem – selbst zu Dingen, von denen er Augenblicke zuvor zum ersten Mal gehört hatte – und handelte aufgrund dieser Ansichten, bis ihm jemand einen verdammt guten Grund liefern konnte, es besser nicht zu tun.

Das verursachte einige Wirbel im ruhigen Strom der Ideen und Aktivitäten, aber die gute Seite an Matt Streegman war, dass er ohne zu zögern sagte: „Ach so. Gut, dann machen wir es anders“, sobald man ihm beweisen konnte, dass er mit seiner Meinung falsch lag.

Problematisch wurde es, wenn ihm niemand eindeutig beweisen konnte, dass er falsch lag. Dann gab es zwei Möglichkeiten: einen empirischen Beweis finden oder nachgeben und alles nach Matts Vorstellungen machen. Und genau das taten sie … mehr oder weniger. Chuck war ein alter Hase darin, den Eindruck zu erwecken, als würde er nachgeben. Seine Mutter hatte immer gesagt, er sei passiv aggressiv. Und die musste wissen, wovon sie sprach.

„Morgen, Dr. Brenton“, begrüßte ihn der Angestellte am Empfang, der einen sanft geschwungenen, mit Holz verkleideten Tisch in der sonnigen Eingangshalle besetzte und herzlich wenig zu tun hatte, da die Hektik des Umzugs vorbei war.

„Morgen, Barry.“ Chuck grinste den jungen Mann an. „Wie läuft es bei Temple Run?“

„Äh, super. Ich bin seit fünfzehn Minuten nicht gestorben.“

„Sicher zur Enttäuschung sämtlicher Zombie-Affen. Genießen Sie die ruhige Phase, Barry. Ich habe so ein Gefühl, dass es hier bald rundgeht.“

„Ja, Sir.“

Chuck trabte die kurze Treppe hinunter zur Büroebene. Matt trank bereits Kaffee in dem kleinen Konferenzraum, in dem sie sich jeden Morgen für eine kurze Besprechung ihrer Aktivitäten und Ziele trafen. Bisher hatten sich die Meetings darauf konzentriert, die grundlegende Ausstattung und die Verfahren des Labors festzulegen. Nachdem das erledigt war, wandten sie sich nun dem vorrangigen Ziel zu, lukrative und nachhaltige Nutzungsmöglichkeiten für kinetische Technik zu ermitteln.

„Hallo“, begrüßte Chuck seinen Partner. „Sind Dice und Euge schon da?“

Matt sah von seinem iPad auf und nickte. „Schon seit einer Weile. Sie sind im Labor und spielen an ihren Computern herum. Wollen wir eine Wette abschließen?“ Chuck stellte seine Laptoptasche auf dem ovalen Konferenztisch ab und ging zum Sideboard, um sich einen Kaffee zu holen. „Ich spiele nicht. Ich verliere immer.“

„Es ist aber ganz einfach. Ich wette, es gibt keine Überschneidungen zwischen Ihrer Auswahl und meiner.“

Chuck schnaubte höhnisch. „Machen Sie Witze? Die Wette nehme ich nicht an.“

„Kommen Sie. Zehn Dollar, dass ich recht habe.“

Chuck ging zum Tisch zurück, stellte seinen Kaffee ab und packte den Laptop aus. „Ich sagte doch, dass ich nicht wette. Und wenn ich es täte, würde ich nicht mit Ihnen wetten, schon gar nicht um richtiges Geld.“

„Worum lohnt es sich sonst zu wetten?“

„Ich glaube, das ist die falsche Frage. Ich glaube, die Frage muss lauten: Was sonst ist belanglos genug, um damit zu spielen?“

Matt öffnete den Mund zu einer Erwiderung, wurde aber unterbrochen, als Dice und Eugene mitten in einer ihrer häufigen, aber freundschaftlich geführten Auseinandersetzungen zur Tür hereinrauschten.

„Ich sage dir, Euge“, ereiferte sich Dice, „solange wir unsere Abhängigkeit von Firmware nicht beenden können, ist das alles reine Sondierung. Wer um alles in der Welt würde bei der Tiefseeforschung an einer gottverdammten Nabelschnur hängen wollen? Eins der ersten Dinge, die wir tun müssen, ist, eine unabhängige Schnittstelle entwickeln.“

„Das mag ja sein“, widersprach Eugene, „aber sich jetzt darauf zu konzentrieren, hieße, das Pferd von hinten aufzäumen.“

„Seht ihr?“ Dice machte eine resignierende Geste zu den beiden bereits Anwesenden. „Er ist ein Fortschrittsgegner. Pferde aufzäumen, du meine Güte.“

„Guten Morgen, meine Herren“, sagte Matt. „Wenn Sie Kaffee möchten, holen Sie ihn bitte jetzt, damit wir zur Sache kommen können.“

Eugene salutierte und drehte sich auf dem Absatz zur Kaffeemaschine um. Dice stellte seinen Laptop ab und zog eine Dose Coke aus der Jackentasche. Matt rief die Laborassistentin Ventana Salazar herein, damit sie Protokoll führte.

Matt führte ein straffes Regiment bei Besprechungen – was Chuck abwechselnd begrüßte und bedauerte. Manchmal war es gut für die kreativen Säfte, wenn man ein wenig abschweifte. Deshalb war der EQ als Diagnosewerkzeug beinahe so wichtig geworden wie der IQ. Matts Verstand jedoch beschäftigte sich bereitwilliger mit Zahlen und Statistiken als mit gefühlsbetonter Kreativität. Und es waren Matts Zahlen, wie sich Chuck in Erinnerung rief, die ihm erlaubt hatten, das Feld der Neurokinetik aus der Theorie in die Wirklichkeit zu holen.

„Chuck?“

Matt sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der ihn – korrekterweise – der Tagträumerei bezichtigte.

„Tut mir leid. Ich war in Gedanken.“

Matt deutete auf seinen Laptop. „Wollen Sie Ihre Liste zuerst auf den Tisch legen?“

„Ja, warum nicht. Ich habe fünf Anwendungsgebiete: körperlich Behinderte, insbesondere Menschen mit zerebraler Kinderlähmung, Parkinson oder MS, medizinische Anwendungen, Polizei, Rettungskräfte und Künstler, vor allem computergestützte Anwendungen in bildender Kunst und Musik.“

„Das sind sechs, Chuck.“

„Okay, dann eben nur die Kunst.“

Der große Plasmabildschirm am Ende des Tischs erwachte zum Leben, als Ventana Chucks Liste eingab.

„Gut, dass Sie diese Wette nicht angenommen haben“, sagte Matt. „Gut für mich, meine ich. Ich habe mich getäuscht. Es gibt tatsächlich eine Überschneidung. Ich habe rechnerunterstütztes Konstruieren, also CAD, Produktion, private Sicherheitsdienste – nicht ganz die Polizei, aber nahe dran – Videospielentwicklung und Videospiele als Konsument.“

Chuck runzelte die Stirn. „Was ist mit Medizin? Der Bereich Medizin muss doch wenigstens enthalten sein.“

Matt hob die Hand. „Erst die Listen, dann die Diskussion. Dice, was hast du?“

Dice hatte Feuerwehr/Polizei („Ich denke da etwa an Bombenentschärfung“, sagte er), Konstruktion, Zugang für Behinderte und Medizin.

Eugene schlug vor: Mobilität für Behinderte, Medizin, Computerkunst, Tiefseeerforschung und -bergung sowie Archäologie.

Chuck wies mit einem Kopfnicken zu dem großen Schirm. „Sind also die, wo wir uns überschneiden, automatisch drin?“

Matt schüttelte den Kopf. „Nein.“

Nein?

Doch bevor Chuck protestieren konnte, sagte Matt: „Ich denke, wir sollten das Für und Wider jeder einzelnen Wahl diskutieren. Aber greifen wir uns die niedrig hängenden Früchte zuerst. Nehmen wir Polizei und private Sicherheitsdienste. Fantastische Marktchancen hier. Denken Sie nur an die Anwendungsmöglichkeiten: Bombenentschärfung, der Einsatz von Robotern bei der Sicherung von … na ja, was eben gesichert werden muss. Die Vermeidung von körperlicher Gefahr für die Menschen, die den Roboter bedienen, wäre dabei ein großes Plus.“

„Aber Sicherung ist bereits mithilfe von Drohnen möglich“, warf Chuck ein.

„Nicht auf die gleiche Weise, Doktor“, sagte Dice. „Es wird sein, als wäre die Wache direkt vor Ort. Wenn man die Kinetik dann noch mit virtueller Realität verbindet – unschlagbar.“

„Ganz zu schweigen davon, dass man eine Menge tödlicher Irrtümer eliminiert, die in der Hitze des Gefechts passieren, wenn man die Sicherheit des Beamten aus der Gleichung entfernt“, überlegte Eugene. „Ich sehe da eine starke gesellschaftliche Wirkung.“

„Für die Polizei und private Sicherheitsfirmen bereitwillig viel Geld bezahlen werden“, schloss Matt. „Ich glaube, über Anwendungen im Bereich Sicherheit sollten wir auf jeden Fall relativ früh nachdenken.“

„Dazu müsste in puncto Robotertechnik allerdings noch einiges getan werden“, räumte Dice ein, „aber doch, ich würde hier auch eine Priorität setzen.“

„Gut. Damit hätten wir dann auch einige verwandte Technologien als Ergänzung zu dem ursprünglichen Angebot. Sicherheits-Robotik.“

„Höre ich ein Ja bei Sicherheit?“, fragte Ventana und blickte fragend in die Runde.

Matt warf einen flüchtigen Blick zu den andern und reckte dann den Daumen in die Höhe.

Von mir aus, dachte Chuck. Es ist auf jeden Fall ein guter Einsatz der Technik.

Tana tippte die Worte „Sicherheit, polizeiliche Anwendungen“ und hob sie farbig hervor.

„Wunderbar“, sagte Matt. „Wie sieht es jetzt mit computerunterstütztem Konstruieren aus? Der Nutzen liegt auf der Hand, und wir haben bereits jemanden im Programm.“

„Wir haben sogar zwei Leute im Programm“, sagte Chuck. „Sara und Mini.“

Matt blieb einen Moment stumm, sein Gesichtsausdruck war undurchsichtig.

„Mini macht kein CAD. Sie macht Kunst.“

„Mit einem Computer.“

„Das ist eine andere Anwendung, Chuck. Für das, was Sara macht, gibt es industrielle Verwendungszwecke. Es gibt einen Markt dafür. Kann man wirklich sagen, dass sich das, was Mini tut, so kreativ es sein mag, vermarkten lässt?“

Chuck schnürte es die Kehle zu. Er schluckte. „Matt, Mini ist so ziemlich von Anfang an im Programm. Sie ist intelligent und experimentierfreudig.“

„Sie hat uns sehr geholfen, unsern Ansatz zu verfeinern“, ergänzte Eugene.

Matt durchbohrte sie beide mit seinem zu direkten Blick. „Wir müssen potenziellen Investoren beweisen, dass das, woran wir arbeiten, einen Nutzen in der realen Welt haben kann.“

„Reale Welt?“ Chuck lachte und zeigte zum Schirm. „Videospiele?“

„Videospiele sind nicht nur ein riesiger Markt“, entgegnete Matt ruhig – zum Aus-der-Haut-Fahren ruhig, wenn Chuck ehrlich war –, „sondern sie bieten auch großartige prototypische Verfahren, um zu zeigen, dass Neurokinetik Programmierern erlauben wird, Codes wesentlich effizienter und effektiver zu schreiben und zu testen. Und wiederum haben wir bereits einen Programmierer im Programm, der zufällig auch Künstler ist. Troll kreiert immerhin seine eigenen Geschöpfe und programmiert ihre Bewegungen. Ich würde sagen, er ist – genau wie seine Disziplin – ideal, um uns die Art von Modell zu liefern, das Investoren und potenzielle Kunden interessieren dürfte.“

Chuck atmete geräuschvoll aus. „Schön. In Ordnung. Das leuchtet mir ein. Aber was ist mit Anwendungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität?“

„Ich denke nicht, dass wir zu diesem Zeitpunkt behinderte Menschen zu Testzwecken einsetzen müssen“, sagte Matt mit einem Blick auf Chuck. „Was Troll im Bereich des Programmierens oder Sara mit einem CAD/CAM-Apparat tun können, kann ein behinderter Programmierer oder Konstrukteur genauso gut.“ Er schwenkte seinen Sessel zu Chuck herum, seine Augen leuchteten. „Überlegen Sie nur. Unsere neurale Schnittstelle könnte einem behinderten Ingenieur erlauben, ein CAD/CAM-Programm zu nutzen und sie könnte Bauarbeitern ermöglichen, gefährliche Ausrüstung aus der Ferne zu bedienen oder heikle Verfahren anzuwenden, ohne dass sie sich selbst in Gefahr begeben. Denken Sie nur an die Vorteile bei Rettungseinsätzen oder der Brandbekämpfung.“

„Das sind genau die Dinge, an die ich denke.“

„Aber haben Sie auch bedacht, wie schwer sie zu testen sein werden? Sollen wir ein paar Gebäude niederbrennen, nur um zu zeigen, dass ein Feuerwehrfahrzeug einen Brand löschen kann, ohne dass Feuerwehrleute ihr Leben aufs Spiel setzen? Haben Sie bedacht, wie teuer es wäre, diese Dinge auch nur versuchsweise zu erkunden, bevor wir die Wirksamkeit der Technik für andere, kleinere Disziplinen bewiesen haben?“

Da war was dran. „Gut, aber Computerspiele?“

Matt pflanzte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich mit ernstem Gesicht zu seinem Partner. „Chuck, heute sind es Computerspiele und morgen medizinische Programme, die Ärzten erlauben, feinste Eingriffe im menschlichen Körper vorzunehmen, ohne dass sie Werkzeuge benutzen müssen, die zu groß für die Aufgabe sind. Wir müssen die Wirksamkeit des Verfahrens auf eine Weise demonstrieren, die jeder versteht, aber ohne Menschenleben zu gefährden. Mal angenommen, wir würden tatsächlich aus dem Stand eine medizinische Anwendung testen. Wer würde sich wohl für eine solche Studie melden?“

„Niemand.“

„Richtig. Also, dann weiter im Text. Wir haben Sicherheit, CAD/CAM und Videospielentwicklung bzw. ihre Anwendung. Was kommt als Nächstes?“

Was als Nächstes kam, war Bauwesen. Chuck begann dagegen zu argumentieren, aber Matt überzeugte ihn, dass es der ideale Bereich war; sie konnten herausfinden, ob ihre Technik einem erfahrenen Bauarbeiter erlaubte, schweres Gerät zu dirigieren. Einen kleinen Schaufelbagger würden sie sich ja wohl leisten können.

Die endgültige Liste war festgezurrt: CAD/CAM, Programmieren, Videospiele, Bauwesen und Sicherheit. Matt vertrat den Standpunkt – und ließ sich nicht davon abbringen –, dies seien Einstiegsanwendungen für alle andern.

Chuck konnte nicht umhin zu bemerken, dass es außerdem die kommerziellsten Anwendungen waren – und die auf Matts ursprünglicher Liste.

Chuck hatte es sich schwer vorgestellt, Mini Mause mitzuteilen, dass sie nicht mehr für das Programm gebraucht wurde. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass es für ihn schwerer sein würde als für sie, und dass am Ende sie diejenige sein würde, die ihn tröstete, weil er sie gehen lassen musste.

„Hey, ist schon in Ordnung, Doc“, sagte sie und legte ihm ihre kleine Hand auf die Schulter.

Sie saßen sich in zwei Sesseln in seinem geräumigen, hellen Büro gegenüber. Chuck hatte es nicht fertiggebracht, hinter seinem Schreibtisch zu sitzen wie ein Collegeprofessor, der eine Studentin durchfallen lässt … oder wie ein Boss, der eine Angestellte feuert.

„Ehrlich. Ich glaube, ich habe mich sowieso ein wenig zu sehr in die Sache hineingesteigert. Ich habe nicht mehr so viel Kunst zustande gebracht, weil ich den ganzen Tag in Gedanken bei dem war, was ich im Labor als Nächstes tun würde.“ Sie lachte, ein heller, heiterer Klang, bei dem sich Chuck zumindest wünschte, er würde sich besser fühlen. „Wer weiß? Vielleicht kann ich ja noch auf freiwilliger Basis kommen. Als eine Art Machbarkeitsnachweis, nachdem Sie die Ausrüstung bei den anderen Teilnehmern ausprobiert haben.“

Chuck musterte ihr kesses Gesicht eingehend. „Das würdest du tun? Einfach so in deiner freien Zeit?“

„Sicher, warum nicht. Ich nutze dieses Labor liebend gern als Atelier für meine Kunst. Wo sonst hätte ich Zugang zu einer solchen Ausrüstung? Von einer voll ausgestatteten Küche ganz zu schweigen. Abgesehen davon ist das eine coole Geschichte hier, Doc. Als wäre man dabei, wenn die Zukunft gemacht wird.“

Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Ich nehme an, der Umstand, dass du ein Auge auf meinen Laborleiter geworfen hast, spielt nicht mit hinein.“

Ihre Wangen färbten sich rosa.

„Himmel, nein. Ich muss nicht jeden Tag hier sein, um an Eugene ranzukommen.“ Sie lächelte ihn strahlend an und schnellte aus ihrem Sessel. „So, und jetzt gehe ich ins Labor hinüber und schaue, was er davon hält, dass man mich feuert. Willst du zusehen?“

Chuck folgte Mini bis zur Tür des Labors, wo Eugene über einem Modell für die CAD/CAM-Schnittstelle brütete. Sie ging direkt zu seinem Arbeitsplatz und stand einen Moment schweigend da, dann bewegte sie sich gerade so viel, dass der Stoff ihres langen Rocks raschelte.

Eugene sah auf. Chuck hatte noch nie erlebt, dass er sich so schnell auf etwas konzentrierte, was sich nicht in seinem Kopf abspielte.

„Mini, hi. Wusste gar nicht, dass du hier bist.“

Autor