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Die Göttin, die von Blüten träumte

Als Buch hier erhältlich:

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Peter Falcon ist ein Mann, zu dem die Kunstwerke sprechen. Das Auktionshaus Chroseby bittet ihn um seine Hilfe bei der Frage, ob eine berühmte Wachsbüste, die Flora, von Leonardo da Vinci stammt oder doch nur eine Fälschung ist – bis heute ungeklärt. Die Wissenschaftlerin Laura Petreus hat bereits ein neues Datierungsverfahren gefunden, was bei der Flora eingesetzt werden soll. Doch plötzlich ist nicht nur die Wissenschaftlerin verschwunden: es wurde auch die Büste aus dem Museum gestohlen!
Was hat die brasilianische Wissenschaftlerin mit der Bienenzüchterin in der Märkischen Heide zu tun, auf die Peter Falcon bei seinen Nachforschungen stößt? Und welche Rolle spielt in der ganzen Angelegenheit der Urururenkel des Künstlers Richard Cockle Lucas, der als einer der potentiellen Urheber der Büste gilt?
Peter Falcon begibt sich auf eine spektakuläre Verfolgungsjagd quer durch Europa, die ihn schließlich nach Italien führt, auf die Route der Renaissance.


  • Erscheinungstag: 23.08.2021
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312012398
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Das Geisterhaus

»Picasso«

»Vorname?«

»Pablo«

»Nationalität?«

»Spanier«

»Wo waren Sie am Morgen des 21. August?«

»In meinem Bett.«

Picasso rann ein Schweißtropfen langsam über das Rückgrat. Er spürte hinter sich die flehentlichen Blicke seines Freundes Guillaume Apollinaire. Mit ihm hatte alles begonnen, besser mit seinem zwielichtigen Freund Géry Pieret, einem kleinen Gauner, der ab und zu bei Apollinaire übernachtete. Doch Pieret war auch ein nützlicher Gauner. Er hatte Picasso zwei uralte iberische Masken besorgt, die der Maler zur Inspiration in seiner kubistischen Phase benötigte. Pieret hatte sie aus dem Louvre mitgehen lassen.

Im Grunde hatte sich in dem riesigen Museum niemand für diesen alten spanischen Plunder interessiert. Für den jungen Spanier aus Malaga stellten sie viel mehr dar: den Ursprung der Kunst in seiner geliebten Heimat. Und vermutlich wären die gestohlenen Artefakte auch für immer im Besitz Picassos geblieben, hätte am 21. August 1911 nicht ein Raub die Welt erschüttert. La Gioconda, die Mona Lisa, war verschwunden! Die Blätter waren voll von dem Skandal. In den Kirchen wurden Bittgottesdienste gefeiert, Zeitungen lobten Belohnungen für die Wiederbeschaffung von Leonardos Meisterwerk aus. Die Polizei war ratlos.

»Monsieur Apollinaire hat ein Geständnis unterschrieben! Wie lange kennen Sie Monsieur Apollinaire schon?«

»Ich habe ihn noch nie gesehen!«

Der Kommissar kam jetzt bedrohlich nah an sein Gesicht.

»Also, zum letzten Mal: Wo waren Sie am Abend des 21. August?«

»Im Bett«, flüsterte Peter. Er spürte das nasse Hemd auf seinem Rücken. Die Bilder verblassten langsam und nun sah Peter nur ihr Lächeln, das Lächeln der Gioconda. Oder war es doch das Lächeln von Giovanna? Er stand allein vor dem berühmtesten Gemälde der Welt. Keine Besuchermassen, keine Fremdenführer, ja, nicht einmal Sicherheitspersonal befanden sich mehr im Saal Sechs des Denon-Flügels im Louvre. Peter Falcon hatte die Mona Lisa ganz für sich. Stumm war er vor dem kleinen Bild gestanden, das Leonardo vor fünfhundert Jahren auf ein Birkenholzbrett gemalt hatte, gerade mal 77 Zentimeter hoch und 54 Zentimeter breit. Sekunden, Minuten, Stunden … Die Zeit verrann nicht, sie gerann zu irgendetwas. Peter hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als er sich auf Mona Lisas Lächeln konzentrierte, und dieses Lächeln hatte ihn unvermutet in den Pariser Gerichtssaal vor über hundert Jahren gezogen.

Peter schaute sich in dem riesigen Saal um. Der Louvre, das wohl berühmteste Museum der Welt. Nun stand es in dieser bemerkenswert seltsamen Zeit da wie ein Geisterhaus. Zehn Kilometer Gänge. 73.000 Quadratmeter Fläche. 380.000 Kunstwerke. Menschenleer. Gespenstisch. Peter vernahm in der Ferne ein Poltern. War er wirklich allein?

Peter hatte den seltsamen Eindruck, als sei die Abwesenheit der Menschen nur vorübergehend, doch schien es ihm geradezu, als hatte sich Mona Lisa diese Situation herbeigesehnt. Sie gehörte seit gut zwei Jahrhunderten – mit kurzen Unterbrechungen – zu den heimlichen Bewohnern dieses gigantischen Hauses, durch das jeden Tag ungebetene Gäste strömten, laut und fordernd.

Für Peter jedoch war der Gang durchs Museum oft wie ein Besuch bei alten Freunden. Doch wie viele lange Beziehungen war auch diese nicht immer einfach. Ja, manchmal wurden ihm die alten Meister zur Last. Oft vermittelten ihm ihre Werke, in die er sich verlor, Dinge, die er gar nicht wissen wollte. Das machte ihm Angst. Das aber war seine Fähigkeit.

Auch in Anbetracht der Mona Lisa hatte er nicht Leonardo getroffen, sondern Pablo Picasso gesehen, der im Grunde nichts mit der Mona Lisa zu tun hatte, außer dass er in Verdacht geraten war, sie geraubt zu haben. »Immer diese Kriminalfälle«, stöhnte Peter. Warum ausgerechnet er?

Und warum ausgerechnet sie? Stirnrunzelnd blickte Peter auf ihr berühmtes Lächeln. Lag darin ein Schlüssel für die Lösung seines neuen Falles? Tatsächlich erinnerte es ihn immer wieder an das Lächeln von Giovanna, seiner Auftraggeberin.

Die Weltverbesserungsmaschine

»Leonardo oder nicht, das ist hier die Frage!« In seinen kleinen Laden »Falcon’s Comics & Records« in New York war Giovanna gekommen, wie sie es bisweilen tat, wenn sie wieder einen heiklen Auftrag für ihn hatte. »Tiffany« lag nicht gerade um die Ecke, aber auch hier, im Souterrain seines Ladens, erschien nicht nur ihr Kostüm von einer zeitlosen Eleganz.

Das einfallende Frühlingslicht verfing sich in ihrem dichten, schwarzen Haar und auch Peter schien Ähnliches zu widerfahren. Schon einmal hatte er sich eingeredet, dass er einen Auftrag von ihr nur des Geldes wegen annahm, um seinen kleinen Laden zu erhalten. Doch es war wohl eher das Lächeln der schönen Italienerin, das ihn dazu brachte, in ein verhasstes Flugzeug zu steigen und über den Atlantik zu fliegen.

Giovanna Ferrara vertrat das Auktionshaus Chroseby, eines der größten der Welt. Milliarden wurden hier umgesetzt, Werke für dreistellige Millionensummen versteigert. Eine glamouröse Welt, der Peter vor über zwanzig Jahren den Rücken zugekehrt hatte. Die Welt der Kunst war längst ein Dschungel geworden, in dem das Täuschen und Tricksen an der Tagesordnung war. Kunstraub und Fälschungen zählten mittlerweile neben dem Drogen- und Menschenhandel zu den lukrativsten kriminellen Delikten. Doch vor drei Jahren, bei dem »Sternennacht-Fall«, hatte Giovanna Ferrara ihn entdeckt: Peter Falcon, den Comic-und Schallplatten-Händler am Rande von East Village, der eine gewisse Gabe hatte. Und nun schien es ganz so, als wäre es wieder an der Zeit, diese unter Beweis zu stellen.

»Sie kennen das Bode-Museum in Berlin?«, fragte sie.

»Ja«, erwiderte er, ein wenig misstrauisch. »Natürlich. Ich war allerdings noch nie dort.«

»Das wird sich ändern«, meinte sie fröhlich und blätterte gedankenverloren in einem Manga-Comic.

Peter stöhnte auf.

»Es geht um eine Wachsfigur, genauer um eine Büste.«

»Ich bitte Sie, Giovanna. Da finden Sie doch sicher einen Experten bei Madame Tussauds.«

Giovanna Ferrara lächelte amüsiert.

»Oh, mein lieber Peter. Eine solche Skulptur werden Sie schwerlich in einem Wachsfigurenkabinett finden. Es handelt sich angeblich um ein Werk von Leonardo da Vinci.«

Peter sog scharf den Atem ein. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn auf den Arm nahm. Sicher, sie neigte nicht dazu. Aber eine Wachsfigur von Leonardo?

»Entschuldigen Sie, Giovanna. Das klingt ja wie: Ein Traktor von Porsche.«

Nun lachte sie laut auf.

»Ja, in der Tat. Und ob Sie es mir glauben oder nicht. Es gibt auch Traktoren von Porsche. Mein Großonkel Umberto besaß einen, mit dem er seinen Hof im Trentino bewirtschaftete.«

Das Bild einer jungen Frau, die im Spätsommerlicht auf dem Radkasten eines roten Traktors sitzend durch eine zypressengesäumte Hügellandschaft fährt, blitzte kurz bei Peter auf.

»Es gibt also eine Wachsfigur von Leonardo?«

»Oder auch nicht. Es könnte sich auch um eine Fälschung aus dem 19. Jahrhundert handeln, geschaffen von einem englischen Schlitzohr namens Richard Cockle Lucas. Doch die Befürworter der Leonardo-Hypothese argumentieren mit dem unverwechselbaren leonardischen Lächeln. Dafür gibt es aber keinen Beweis, denn es ist eine klassische Interpretation. Aber das könnten Sie doch noch ganz nebenbei herausfinden«, zwinkerte sie ihm zu.

»Nebenbei?«

Sie fuhr sich mit der Hand vors Gesicht, als wolle sie eine Fliege verjagen.

»Schauen Sie mich nicht so an, Sie wissen genau, das zieht bei mir nicht. Ich … also, seit hundertzehn Jahren wird darüber gestritten, ob die Büste nun Leonardo zugeordnet werden soll. Doch nun ist etwas passiert, was alles verändert.«

Peter stutzte. Giovanna wirkte plötzlich verunsichert. Er konnte den Kloß, der in ihrem Hals steckte, förmlich selbst spüren. Fast hätte er sich geräuspert.

Sie räusperte sich. »Also, die Sache ist die …«, sie unterbrach sich und wusste offenbar selbst nicht genau, wo sie ansetzen sollte. Ziemlich untypisch für Giovanna, wie Peter erstaunt feststellte, »Es gibt da eine Wissenschaftlerin. Sie heißt Laura Una Petreus. Bis vor Kurzem hat sie in unserem Haus gearbeitet. Petreus gilt weltweit als führend bei der Entwicklung von neuen forensischen digitalen Techniken zur Untersuchung von Kunstwerken. Ihr eilt der Ruf voraus, dass sie Kunstwerke in eine Formel übersetzen kann.«

»Dann brauchen Sie mich ja nicht mehr!«, unterbrach Peter sie erfreut.

Giovanna setzte unbeirrt fort: »Frau Petreus gilt als genial, aber auch als schwierig. Dennoch haben wir sie engagiert. Nach dem Skandal um unseren letzten Experten Charlie White …«

Peter zuckte innerlich, als er den Namen hörte. Sein alter Studienkollege Charlie White. Er hatte durch manipulierte Expertisen zunächst Millionen verdient. Peter hatte ihn in seinem letzten Fall überführt. Nun saß Charlie ein. Wie lange eigentlich noch?

»Die ganze Kunstgeschichte muss auf ein naturwissenschaftliches Fundament gestellt werden, daran hat auch unser Haus ein großes Interesse«, riss Giovanna Peter aus seinen Gedanken.

»Das versprachen wir uns von Laura Petreus’ Engagement und zunächst erfüllte, ja übertraf sie unsere Erwartungen. Die gesamte Kunstwelt staunte über ihre offenbar perfekten Datierungen, die sie, teilweise auf die Woche genau, selbst bei Renaissancewerken machen konnte. Wir bekamen Anfragen aus aller Welt.«

»Klingt doch nach einer Erfolgsgeschichte!?«

»Zunächst einmal eine sehr kostspielige! Frau Petreus orderte immer neue, teurere Geräte für ihr Labor. In unserem Glauben an sie, floss sehr, sehr viel Geld! Sie tat geheimnisvoll und sprach davon, dass sie an einer Art Weltverbesserungsmaschine – ja, so nannte sie es – arbeiten würde, die es ihr bald erlauben würde, alle Kunstwerke zu dechiffrieren.«

»Sie meinen, Kunst in eine Formel zu übersetzen? Was hat das bitte mit Weltverbesserung zu tun?«, fragte Peter ungläubig.

»Tja, Frau Petreus fühlt sich offenbar zu Höherem berufen. Jedenfalls behauptet sie, jedes Kunstwerk bestehe aus Bausteinen und ließe sich in Zahlen übersetzen. Das werde sie bald beweisen können.«

Als würde Giovanna bei ihm einen Nerv treffen, zog Peter eine Schallplatte aus einer Verkaufskiste. »Kennen Sie, oder? ›The Girl from Ipanema‹!?«

»Genau, eine musikalische Mona Lisa …«

Giovanna lächelte: »Kostet aber weniger …«

»Na, immerhin neunzig Dollar. Erstpressung, Verve.«

Peter strich mit seiner flachen Hand sanft über das Cover, als wollte er darin etwas beschützen.

»Vinyl. Dann kam die »Weltverbesserung«: Anfang der der 1980er Jahre wurde die digitale Compact Disc eingeführt, mit dem Versprechen die Schallplatte abzulösen. Digitales ReMastering hieß das Stichwort, und man überredete auch João Gilberto seine Platten ›verbessern‹ zu lassen. Und wissen Sie was? Sie haben die Musik zerstört, als sie auf CD übertragen wurden. Sie haben die Musik in Nullen und Einsen überführt und neu gemischt. Ein Tontechniker schlug vor, die Frequenzen und Dynamiken messen zu lassen, und es stellte sich heraus: Sie sind anders!«

Peter zog die Schallplatte aus dem Cover und drehte das Vinyl so, dass sich das Licht in den Rillen spiegelte.

»Da. Drei Minuten und neunzehn Sekunden. Vierzig Takte. AABA-Form. Zweiviertel Takt. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Melodie ist die auffallende Beschränkung auf wenige, einfache Motive und deren konsequente Weiterführung durch die …«, Peter hielt kurz inne, als wolle ihm das Wort nicht einfallen. »Akkordfortschreitungen! So einfach ist die Musik des Bossa Nova, ein bisschen so wie ein Kinderlied.«

Auch Peter ereiferte sich wie ein Kind, als würde ihm gerade wieder einfallen, wieso er sich ausgerechnet in dieser prekären Nischenwelt aus Bootlegs und Sonderdrucken im Souterrain einer doch noch ziemlich runtergekommenen Gegend sein Leben eingerichtet hatte. Er schaute Giovanna an. Das Girl from Trentino – wo immer das auch lag: Sie hatte eine Weltkarriere gemacht – ganz im Gegensatz zu ihm.

»Ein A, ein D, ein C. Dann vielleicht wieder ein Akkord. Funktioniert so die Kunst? Nach einer Formel, die es womöglich zu entschlüsseln gilt?«

Peter schüttelte den Kopf und Giovannas grüne Augen blitzten auf. Sie mochte Peters Scharfsinn schon seit ihrer ersten Begegnung, doch so energisch kannte sie Peter nicht. Peter strahlte eine Wärme aus, die nicht berechnend war.

»Nun, Frau Petreus meint genau das. Sie vertritt die Meinung, dass wir durch die Dechiffrierung von Kunst ein völlig anderes Verständnis von den Dingen erreichen könnten. Aber auch sonst wurde sie mit der Zeit immer seltsamer. Sie verweigerte den Zutritt zu ihrem Labor und arbeitete meist bis tief in die Nacht. Schließlich, im Vorfeld unserer großen Herbstauktion moderner Malerei des 20. Jahrhunderts, begann sie sich öffentlich negativ über moderne Malerei zu äußern. Sie meinte ihre Weltverbesserungsmaschine bräuchte sie dafür gar nicht anzuschmeißen, da käme hinten gar nichts raus …«

»Und?«, musste Peter schmunzeln.

»Ich habe sie zum Gespräch gebeten und ihr klargemacht, dass es nicht ihre Aufgabe ist, Kunst zu bewerten, sondern zu datieren.«

»Sie ist eine Gefahr für Sie geworden«, resümierte Peter.

»Ein paar Tage später lag ihre Kündigung auf dem Tisch«, wich Giovanna aus.

»Dann sind Sie die Dame doch endlich los!«

»Ja, mit all ihrem Wissen!«

»Wo ist sie denn hin?«

»Schon mal was von Mortapes gehört?«

»Äh … Sie meinen das Pharmaunternehmen?« Giovanna nickte. »Steht das nicht wegen Glyphosat in der Diskussion?«

»Genau das. Es sponsert jetzt mit einer Million Euro den Versuch, ein für alle Mal wissenschaftlich beweisen zu lassen, dass die Büste tatsächlich von Leonardo stammt.«

»Wieso denn das?«, fragte Peter entgeistert.

»Ist doch klar: Glyphosat macht Bienen tot. Bienen aber liefern Wachs und aus Wachs ist die Büste der Flora, die die Natur verkörpert. Man nennt so etwas ›Greenwashing‹. Im vorliegenden Fall geht das zwar ein wenig von hinten durch die Brust ins Auge. Aber natürlich will sich der Konzern damit in ein deutlich besseres Licht rücken.«

»Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst, Giovanna? Und da ist die Petreus hin?«

»Neben einem vermutlich astronomisch hohen Gehalt stellte man ihr in Aussicht, eng mit ihren Kollegen an dem einmaligen Teilchenbeschleuniger unter dem Louvre zusammen zu arbeiten.«

»Am was?«, platzte es aus Peter heraus. »Teilchenbeschleuniger kenn’ ich. Das ist dieses Ding in Genf, CERN oder so ähnlich. Die machen da höchst seltsame Versuche und wenn sie nicht aufpassen, erzeugen sie ein schwarzes Loch, das uns alle verschlingen wird«, rief Peter. »Und jetzt behaupten Sie, dass es unter dem Louvre auch so ein Ding gibt?«

Giovanna lachte leise. »Der Teilchenbeschleuniger unter dem Louvre ist viel kleiner und seine Aufgabe ist es auch nicht, schwarze Löcher zu erzeugen, sondern auf besondere Weise die Echtheit oder eben die Fälschung alter Meister zu belegen. Laura Una Petreus sagte immer, dass ihr die Arbeit an einem Teilchenbeschleuniger das letzte Puzzlestück für ihre Weltverbesserungsmaschine liefern würde. Sie arbeitete wohl tatsächlich ein paar Tage an diesem Teilchenbeschleuniger in Paris. Und jetzt ist sie verschwunden!«

Peter konnte es sich nicht verkneifen: »Schwarze Löcher!«

»Hören Sie auf, Peter!«, Giovanna war ernst. »Unsere Information ist: Sie ist vor drei Wochen mit den entnommenen Wachsproben der Büste aus Berlin in Paris eingetroffen. Sie arbeitete im Labor, kehrte abends in ihr Hotel zurück und wurde seither nicht mehr gesehen.«

»Das ist doch wohl ein Fall für die Polizei. Was geht Sie das an, Giovanna? Und was, um alles in der Welt, geht es mich an?«

»Die Pariser Polizei fühlt sich nicht zuständig. Madame Petreus, so heißt es, sei volljährig. Nichts weise auf ein Verbrechen hin und sie werde sich sicher bald wieder einfinden. Doch ich glaube, sie hat einen größeren Plan. Wir möchten ihr zuvorkommen.«

»Aber ich bin kein Ermittler …«

»Spürsinn! Das ist in diesem Fall vielleicht die wichtigste Waffe. Es geht bei dem Fall der Flora darum, eine der spektakulärsten und längsten Auseinandersetzungen in der Kunstgeschichte zu entscheiden. Wissen Sie, die gute Laura ist vielleicht brillant, aber auch exzentrisch. Sie hat überhaupt kein Problem damit, ihre Methoden für eigene Interessen zu nutzen.«

Giovanna schaute auf das Cover des Bossa Nova-Klassikers, das Peter noch immer in der Hand hielt.

»Nehmen Sie es doch sportlich, Peter! Seien Sie der João Gilberto und beweisen der Welt, dass die Kunst mehr ist als eine Zahlenformel, die ein heiß gelaufener Drucker nach Ablauf eines Programmes unter Getöse ausspuckt.«

Peter drehte das Cover in seinen Händen und betrachtete das zeitlose Design. »Sie scheint ja eine reizende Person zu sein.«

»Ich halte es durchaus für möglich, dass es schon am ersten Tag zu einer Auseinandersetzung mit den Kolleginnen und Kollegen im Louvre gekommen ist. Wir nehmen an, sie hat eventuell schon eine Art Beweis gefunden, ob die Büste ein Werk von Leonardo ist – ein Erfolg, den auch wir uns gerne auf die Fahne schreiben würden. Die Entwicklung ihrer Methoden haben schließlich wir finanziert.«

»Und wenn jemand verhindern will, dass sie damit an die Öffentlichkeit geht? Vielleicht wurde sie auch entführt oder man hat sie …« Peter wollte den Gedanken nicht aussprechen.

»Bloß wer, und warum?«, fragte Giovanna, gerade so, als wolle sie den Verdacht von sich wenden.

»Und ich soll jetzt was tun?«, Peter stellte sich absichtlich dumm. Er ahnte so langsam, worauf Giovanna hinauswollte. Für einen Moment flammte in ihm der alte Rebell auf – er konnte ja einfach absagen –, um den Gedanken im gleichen Moment wieder zu verwerfen. Einer Giovanna Ferrara sagt man nicht ab.

»Peter, machen Sie es mir doch nicht so schwer. Es ist doch nichts Großes dabei. Fliegen Sie für mich nach Paris, studieren Sie Leonardo und finden Sie heraus, was am Teilchenbeschleuniger los war. Seien Sie ein guter Mediator. Fahren Sie dann nach Berlin und schauen sich die Büste der Flora an. Wir möchten Frau Petreus zuvorkommen! Peter, Sie haben doch noch diese einzigartige … wie soll ich sagen … Gabe?«

»Spürsinn gegen Hightech?«, Peter zuckte mit den Schultern. Nach einer kleinen Pause. »Es passiert mir eigentlich nur bei Bildern, bei Wachsfiguren …«, er ließ den Satz mit dem Nachklang des Zweifels in der Luft hängen.

Giovanna schaute in ihn fast gütig an und nahm ihm die Plattencover aus der Hand.

»Die kaufe ich. Ich habe noch einen alten Plattenspieler«, nickte sie ihm zu, um dann anzufügen: »Peter, es ist nur eine kleine Reise nach Paris und Berlin. Es wird Ihnen ganz bestimmt gefallen. Sie mögen doch Paris? Oder?«

Giovanna wollte zahlen, doch Peter schüttelte den Kopf. »Nein, aber sobald ich zurück bin – das versprechen Sie mir –, lauschen wir gemeinsam dieser geheimnisvollen Formel aus Samba und Jazz!«

Peter freute sich diebisch über seinen Schachzug. Wieder dieses Lächeln, doch diesmal hatte er es erzeugt. Und zum Abschied sagte Giovanna dann noch etwas, was Peter ihr als Geschäftsfrau nicht zugetraut hätte: »Wissen Sie, Peter, die Kunst und die Wissenschaft, das war mal ein Liebespaar. Bei Leonardo, das ist schon lange her. Vielleicht schaffen wir es ja, sie wieder zusammenzuführen …!?« Ein Liebespaar? Peter errötete bei diesem Gedanken.

Zurück in die Zukunft

Peter hörte klackende Schritte und spürte dann eine leichte Berührung auf seiner rechten Schulter.

»Monsieur Falcon, es wird Zeit«, hörte er die Stimme eines Museumswärters sagen, der ihn nun mit seiner Taschenlampe leuchtend aus dem Saal Sechs des Devon-Flügels geleitete. Giovanna hatte das möglich gemacht. Eine halbe Stunde durfte er mit der Geheimnisvollen aus Florenz verbringen. Und was hatte sie ihm offenbart? Dass man einst Pablo Picasso verdächtigt hatte, sie gestohlen zu haben. Zu dumm, dass er diese Episode schon während seines Studiums gelernt hatte. Der Raub des wohl berühmtesten Lächelns der Welt am 21. August 1911 war ein Kinderspiel. Der Täter: Ein Italiener, der aus patriotischen Gründen, so behauptet es Vincenzo Peruggia bei seiner Vernehmung, die Mona Lisa für ganze vierundzwanzig Monate heim nach Italien brachte. Und dafür brauchte er nur eins: einen weißen Kittel, die Arbeitskleidung von Kopisten und Verwaltungsangestellten, mit dem er sich ins Museum schlich.

Peter folgte dem Lichtkegel des Museumswärters durch die abgedunkelten Säle.Rechts und links von sich erkannte Peter schemenhaft reißende Löwen, Steine werfende Titanen, lüsterne Göttinnen. Wie eine Plansequenz in Zeitlupe, aufgenommen mit einer einzigen Kamerafahrt, ungeschnitten. Eine geräuschlose Fahrt durch die Geschichte, durch die Epochen der menschlichen Zivilisation. Peter hatte den Eindruck, als würde ihm Schattenbilder der eigenen Entwicklung vorgehalten. Kindheit, Fortschritt, Vollendung, Dekadenz.

Peter seufzte, als der Museumswärter eine unscheinbare Tür öffnete, die den normalen Besuchern verschlossen war. Dahinter erwartete ihn ein Mann, etwa Mitte dreißig, schlank, mit dunklen, zerzausten Haaren.

»Willkommen im Accélérateur Grand Louvre d’analyse élémentaire. Sie müssen Peter Falcon sein! Mein Name ist Antoine Marat.«

Peter musterte den jungen Franzosen und beschloss, ihn sympathisch zu finden.

»Folgen Sie mir!«, rief Marat fast euphorisch. In eiligen Schritten durchmaß er die abgedimmten Gänge. Sie schienen Peter endlos. Geisterhafte Kilometer, wie er sie schon im Nordflügel abgelaufen hatte. Immer wieder hastete Marat Treppen hinunter. Er stieg tiefer und tiefer in den Bauch des Louvre. Peter hatte plötzlich das Bild eines Leviathans vor dem Kopf. Das gewaltige Museum schien ihm wie ein lebender Organismus, der ihn langsam verschlang. Wie war das mit Jonas und dem Wal?, dachte sich Peter, der Mühe hatte, den schnellen Schritten zu folgen. Gleichzeitig wuchs seine Anspannung. Ihm fiel Dan Brown ein. Wurde in »Sakrileg« nicht der Kurator des Louvre ermordet? Und in »Illuminati« wurde ein katholischer Geistlicher am Teilchenbeschleuniger von CERN bei Genf umgebracht. Sei Herz klopfte schneller. Was, wenn der sympathische Marat ihn ermorden wollte, wenn er in Wirklichkeit ein Illuminat war? Keiner würde hier unten sein Flehen und Röcheln hören. Allerdings konnte Peter sich selbst keine so richtig schlüssige Antwort darauf geben, warum es Illuminaten, sollte es sie überhaupt geben, ausgerechnet auf ihn abgesehen haben könnten. Zudem schien es ihm nicht so richtig passend, dass ein möglicherweise von den Illuminaten gedungener Mörder in solch einem halsbrecherischen Tempo durch die verwinkelten Gänge und über Treppen hastete. Sein Instinkt sagte ihm, dass Meuchelmörder eher auf leisen, vorsichtigen Pfoten unterwegs waren, langsam, voller Bedacht und List. Marat hatte zudem seinen Teilchenbeschleuniger. Wenn er wollte, konnte er damit schwarze Löcher produzieren, die alles verschlingen würden. Warum sollte er sich dann überhaupt mit so einem kleinen Licht wie Peter Falcon aus New York, Besitzer eines Comicshops am St. Marks Place in Manhattan, abgeben? Nein, das ergäbe keinen Sinn, beschloss Peter. Antoine Marat war kein Meuchelmörder — höchstens ein Massenmörder mit seiner Protonenkanone oder was auch immer das für ein Ding sein mochte. Dieser Gedanke beruhigte Peter.

Schließlich blieb Marat vor einer großen Stahltür stehen, die mit allerlei Warn- und Verbotsschildern dekoriert war. Marat öffnete sie und schob Peter hinein. Der blieb nach zwei Schritten wie angewurzelt stehen. Peter musste sich ein, zwei Mal schütteln, doch der überwältigende Eindruck blieb. Er hatte das Gefühl, er sei gerade in einen Science-Fiction-Film versetzt worden.

»Das ist ja, das ist ja …«, stammelte er.

Der riesige Raum wurde beherrscht von einer silbernen kreisförmigen Röhre. Alles war strahlend hell erleuchtet und wirkte in seinem Weiß steril wie ein Operationssaal. In der Mitte liefen Stege zu einer Art Kreuz zusammen. Alles war drapiert mit verschiedenfarbigen Leitungen und Kabeln. An allen Ecken und Enden standen Computer und Flachbildschirme und trotzdem, so schien es Peter, hatte jeder Zweite im Raum noch einen Laptop oder wenigstens ein Tablet in der Hand.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte Marat mit einem zufriedenen Nicken nach.

»Ist das … ist das nicht gefährlich?«, fragte Peter ein wenig verzagt.

Marat drehte sich zu Peter und lächelte ihn spöttisch an.

Peter konnte sich gar nicht so recht vorstellen, dass er sich jetzt genau fünfzehn Meter unter der Glaspyramide befand, jenem kultischen Eingangsbereich des Museums.

»Wir beschießen Kunstgegenstände …«

»Sie beschießen Kunstgegenstände?«, Peter zog demonstrativ seine Augenbraue hoch.

» …mit Helium oder Wasserstoffkernen. Keine Angst, das ist völlig harmlos. Wir beschleunigen die Teilchen auf zwanzigtausend Kilometer pro Sekunde.«

»So schnell!«

Marat schüttelte den Kopf. »Im Grunde ist das ziemlich langsam. Die Lichtgeschwindigkeit liegt bei dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde. Das LHC am CERN erreicht im Protonenmodus schon über neunundneunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Unser Aglaé kommt dagegen ziemlich gemächlich daher. Aber für unsere Zwecke reicht das völlig aus.«

»Und wofür ist das gut?«

»Sagt Ihnen die Radiokarbonmethode etwas?«

Peter nickte. Er war völlig eingeschüchtert von der Umgebung und von dem Wissen, das Antoine Marat gerade wie einen Sturzbach auf ihn herniederregnen ließ. Was wollte ihm dieser kleine Mann mit seiner dreißig Meter Kanone eigentlich gerade erzählen? Dr. Seltsam. Und auch ein anderer Film kam ihm in den Sinn.

»Das erinnert mich etwas an ›Zurück in die Zukunft‹.« Marat schaute Peter verwundert an. »Na, der Film! Kennen Sie den Film?«

»Äh … ja. Aber was hat das jetzt mit der Radiokarbon …«

»Na ja, das ist hier alles so, so … so futuristisch. Jetzt mal ganz ehrlich, Monsieur Marat«, rief Peter und deutete wie ein Erzengel mit dem Zeigefinger in die Luft, »dort oben hängen die Mona Lisa, die Marianne von Delacroix, der Astronom von Vermeer, steht die Venus von Milo und sie schießen auf die? Das ist doch völlig egal, ob Wasserstoffkerne oder Heliumkerne oder Kirschkerne. Ich finde, das gehört sich einfach nicht!«

Marat, der einen halben Kopf kleiner war als Peter, schaute ihn an und vermittelte Peter das Gefühl, er sähe nun auf ihn herab, herab wie auf ein kleines Kind, das man gerade schonend auf die physikalische Nichtexistenz des Osterhasen hinzuweisen versucht.

»Sie sollten einen guten Wissenschaftler ohne literarische Fähigkeiten einem Literaten ohne wissenschaftliche Fähigkeiten vorziehen!«, zitierte Marat plötzlich pathetisch, als meine er sich selbst damit. »Wer hat das wohl gesagt? – LEONARDO DA VINCI!«, belehrte er Peter und weiter: »Wissenschaft und Kunst müssen keine Gegensätze sein. Ich erinnere Sie nur an seinen Vitruvianischen Menschen. Die bekannteste Zeichnung der Welt. Sicher ein großes Kunstwerk, aber es war die Wissenschaft, die Leonardo antrieb. Ich bin sicher, wenn Leonardo da Vinci unser Labor heute sehen könnte, wäre er tief beeindruckt und würde unsere Arbeit sehr zu schätzen wissen, glauben Sie nicht?«

Offenbar erwartete der Franzose keine Antwort von Peter, sondern referierte weiter: »Entwickelt wurde die Radiokarbonmethode von Willard Frank Libby 1949, der dafür 1960 den Nobelpreis bekam. Alle organischen Stoffe basieren auf Kohlenstoff. In jeder Kohlenstoffverbindung steckt auch ein bestimmter Anteil Isotope. Interessant ist das radioaktive 14C-Isotop. Es hat eine Halbwertszeit von 5730 Jahren. Wenn man nun den Gehalt von 14C-Isotopen in Relation zum restlichen Kohlenstoff ermittelt, hat man das Alter, weil das 14C-Isotop immer weniger wird, während der restliche Kohlenstoff gleichbleibt. Verstanden?«

Peter brummte der Kopf, aber er glaubte, noch folgen zu können.

»Allerdings war die Methode noch ziemlich ungenau und vor allem langwierig. Man benutzte sogenannte Zählrohre. Die Einzelheiten erspare ich Ihnen. Mit einem Teilchenbeschleuniger geht das heute viel schneller und eleganter …«

»Und genauer …«, ergänzte Peter, der mit seinem vorlauten Einwand seinem Gastgeber nur zeigen wollte, dass er ihm folgen konnte. Doch Marat wirkte eher genervt vom Einwand des Laien.

»…nein, nicht unbedingt genauer. Es gibt so viele Faktoren, die das Messergebnis beeinflussen können. Da ist zum Beispiel der sogenannte Suess-Effekt. Der österreichische Physiker Hans Suess kam darauf. Seit dem Beginn der Industrialisierung vor etwa hundertfünfzig Jahren ist in großem Stil fossiler Brennstoff in Form von Kohle oder Öl verbrannt worden, wodurch Kohlenstoff in Form von CO2 wieder zurück in die Atmosphäre gelangt. Allerdings liegt der Anteil des Isotops 14C praktisch bei null, ist nicht mehr nachweisbar. Das wiederum kann dazu führen, dass man sich bei der Radiokarbonmethode um Jahrhunderte verrechnen kann.«

»Ach?«, Peter war tatsächlich völlig verblüfft. Wissenschaft irrte doch nie und genau das machte ihm die Wissenschaft so unheimlich. Das exakt Vorhersagbare ließ keinen Raum für Kreativität und das war ihm zutiefst zuwider. Und nun behauptete der junge Wissenschaftler allen Ernstes, dass die Wissenschaft gar nicht so exakt sei. Doch Marat war noch nicht am Ende.

»Und dann waren da natürlich die Atomversuche …«

»Atomversuche??«

Marat nickte heftig. Also doch Dr. Seltsam.

»Und was heißt das jetzt alles?«

Marat zuckte mit den Schultern. »Das heißt, dass wir grundsätzlich bei Ergebnissen der Radiokarbonmethode vorsichtig sein müssen. Und da spielt es keine Rolle, ob die Ergebnisse noch nach alter Väter Sitte wochenlang mit dem Zählrohr ermittelt wurden, oder ob das mit so einem riesigen Aufwand wie bei uns in ein paar Sekunden passiert.«

»Aber dieses gewaltige Labor, die ganzen Computer«, rief Peter und in seinem Ton lag eine Mischung aus Verzweiflung und Empörung, »die irren sich doch nicht!«

Marat schüttelte den Kopf und fuhr mit seiner Hand fast liebevoll über ein silbernes Rohr.

»Nein, ein Computer kann sich nicht irren. Und wissen Sie, warum? Er kennt nur Eins oder Null, Ja oder Nein. Auf der Grundlage dessen, was ihm eingegeben wurde, wird er immer richtig rechnen. Bei wem liegt nun der Fehler?«

»Bei dem, der den Computer gefüttert hat?«, tippte Peter.

»So ist es. Die unsichere Komponente in der Wissenschaft ist der Mensch.«

Marat sah plötzlich betreten auf den blank gewienerten Boden und malte mit der Schuhspitze einen Verlegenheitskringel auf dem Belag.

»Deswegen ist sie wohl auch verschwunden«, meinte er etwas kleinlaut.

Peter sparte sich diesmal seinen Witz mit den Schwarzen Löchern und spielte jetzt ganz den Ermittler. »Hat sie eventuell etwas gefunden, was Ihnen oder gar anderen missfallen könnte?«

Marat wirkte jetzt sichtlich verunsichert.

»Nun, Frau Professor Petreus und ich hatten wohl eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

»So klein kann sie nicht gewesen sein, wenn sie dann verschwunden ist«, mahnte Peter mit detektivischem Unterton. Er fühlte, wie er langsam Oberwasser bekam.

Marat kratzte sich am Hinterkopf. »Ich weiß nicht so recht, was Ihre Aufgabe ist, Monsieur Falcon. Aber man hat mir gesagt, Sie seien so eine Art, ich weiß nicht, privater Ermittler und von höchster Ebene beauftragt, und ich solle Ihnen sagen, was ich weiß.«

Peter straffte sich ein wenig. Im Grunde war er völlig uneitel. Doch der vergleichsweise junge Bursche hatte ihm in den letzten zwanzig Minuten so unverblümt die Grenzen seines Wissens aufgezeigt, dass es Peter nun fast genoss, wie sich Marat drehte und wendete. Und nun konnte er die Initiative übernehmen.

»Sehen Sie, Monsieur Marat, die Sache ist ziemlich delikat. Man hat mich hinzugezogen, weil ich eben kein Computer bin. Gehen Sie nach oben in die heiligen Hallen …«, rief Peter aus und gab seiner Stimme einen leichten Hauch von Pathos. »… und schauen Sie sich die Werke Leonardos an. Kaum ein Künstler war so vielseitig begabt wie Leonardo da Vinci. Sein größtes Talent zeigte er aber, wenn er Frauen porträtierte. Das Geheimnis? Die seltene Gabe Leonardo da Vincis steckt im Lächeln der Frauen! Wenn Sie das Lächeln der Mona Lisa sehen, wird es keinen Computer der Welt geben, der Ihnen erklären kann, was ihr Lächeln ausmacht. Und die Flora, um die es hier geht, zeichnet sich durch ein Lächeln aus, das dem der Mona Lisa sehr ähnlich ist. In der Kunst nennt man das auch die Aura und Experten …«

Marat wirkte ein wenig müde. »Ja, ich kenne das Argument, aber ich bin Wissenschaftler und …«

»Und das ist Laura Petreus auch. Und trotzdem sind Sie beide offenbar unterschiedlicher Meinung.«

»Es geht hier nicht um Meinung, sondern um präzise wissenschaftliche Ergebnisse.«

»Sagten Sie nicht gerade, dass der Faktor Mensch die wissenschaftlichen Ergebnisse, in die eine oder andere Richtung verändern kann?«, entgegnete Peter fast gönnerhaft.

»Wenn ich zwei verschiedene Ergebnisse habe, kann aber nur eines das richtige sein.«

»Was macht Sie so sicher, dass Sie sich nicht geirrt haben?«

»Nun, ich will es Ihnen erklären. Laura Petreus hatte dreizehn unterschiedliche Proben aus der Büste mitgebracht.«

»Dreizehn?«, rief Peter ungläubig aus. »Was ist denn da noch von der Büste übrig?«

Marat musste lachen.

»Es sind wirklich mikroskopisch kleine Proben. Das ist der Vorteil eines Teilchenbeschleunigers. Man kommt mit extrem wenig Material aus. Im speziellen Fall ist es besonders schwierig. Die Büste besteht aus einer Mischung aus Bienenwachs, Walrat und ein wenig Stearin. Im Grunde ist es gar nicht mehr möglich, das Mischungsverhältnis genau anzugeben. Deshalb hat man so viel verschiedene Proben genommen. Entscheidend ist nun das Walrat, das, zugegeben, in der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch für Wachskerzen benutzt wurde. Kerzenwachs, egal aus welchem Material, war, soweit wir wissen, das Material, aus dem die Büste geschaffen wurde. Laura Petreus hatte eine Probe dabei, die sich eindeutig als Walrat identifizieren ließ. Als wir die Probe untersuchten, stellte sich heraus, dass der Walrat aus dem 16. Jahrhundert stammen musste.«

»Das spräche für die Leonardo-These«, warf Peter ein.

»Wenn man so misst wie Laura Petreus.«

»Was war an der Messung falsch?«, forschte Peter nach.

»Sie hat terrestrisch gemessen.«

»Was soll das heißen?«

»Sehen Sie, die ursprüngliche Radiokarbonmethode funktioniert nur bei Organismen, die auf dem Land leben. Bei Organismen im Meer ergeben sich ganz andere Zerfallsraten. Man muss die maritime Methode anwenden.«

»Das haben Sie getan?«

»Genau.«

»Und was hat Ihre Messung ergeben?«

»Dass der Walrat keinesfalls älter als zweihundert Jahre alt sein kann.«

»Also 19. Jahrhundert, womit wir wieder bei Richard Cockle Lucas angekommen wären.«

»So ist es.«

»Und wie hat sie reagiert?«

»Wie schon? Sie hat mich beschimpft und mich einen Scharlatan genannt.«

»Aber mit welcher Begründung? Ich geh’ mal davon aus, sie kannte die unterschiedlichen Messmethoden.«

»Ja, aber sie argumentierte, dass meine Rechnung nicht stimmen könne, denn Wale seien nun mal Säugetiere, die immer wieder auftauchen müssten, um zu atmen und so der 14C-Anteil mit dem eines Landtieres verglichen werden müsse.«

»Hat sie damit recht?«

Marat machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht. Sie hätte wohl recht, wenn sich ein Wal Zeit seines Lebens an der Oberfläche aufhalten würde. Aber Wale sind meistens tauchend unterwegs.«

»Das heißt, der Walrat stammt eher aus dem 17. oder 18. Jahrhundert!«

»Es ist schwer einzuordnen. Aber im Grunde haben Sie recht, Monsieur Falcon.«

Peter schüttelte verblüfft den Kopf.

»Aber das würde ja bedeuten, dass weder Leonardo noch Lucas als Schöpfer der Büste in Betracht kämen.«

Marat nickte zustimmend und seufzte.

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