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Die Gouvernante unterm Mistelzweig

hier erhältlich:

Inmitten der festlichen Weihnachtsgesellschaft auf Brockmore House spürt die junge Gouvernante Joanna nur Trauer. Bis ihr der schneidige Major MacIntosh begegnet. Denn sein zärtlicher Kuss unterm Mistelzweig entzündet in ihrem Herzen ein wundersam warmes Feuer …


  • Erscheinungstag: 28.07.2023
  • Seitenanzahl: 110
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745753332
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Donnerstag, 24. Dezember 1818, Heiligabend

A ls seine Kutsche am frühen Nachmittag die lange Auffahrt entlanggerattert war, hatten sich, wie um sein Eintreffen anzukündigen, sachte die ersten Schneeflocken auf ihr Dach gesenkt. Zu dem Zeitpunkt hatte Drummond noch gedacht, ein Sonnenaufgang wäre angemessener. Immerhin sollte die Einladung des Dukes und der Duchess of Brockmore für ihn einen Neubeginn einleiten. Nachdem er sich umgekleidet hatte, stand er nun, ein wenig angespannt im Schatten der langen blauen Vorhänge und blickte aus den großen Fenstern des eleganten Salons auf den ausgedehnten Park, der sich binnen weniger Stunden in eine winterlich glitzernde und, zumindest im Augenblick, jungfräulich weiße Decke gehüllt hatte. Obwohl die Fenster nach Westen zeigten, war von der Sonne an dem schweren bleigrauen Himmel absolut nichts zu sehen. Hinter ihm nahmen die anderen Gäste den Tee ein und machten Konversation. Auch er sollte besser daran teilnehmen, nun aber, an Ort und Stelle angekommen, befand er sich bezüglich der Gründe seiner Teilnahme an dieser Gesellschaft in einem größeren Zwiespalt denn je.

Eigentlich sollte alles ganz klar sein. Dies war die langgesuchte Gelegenheit, sein Leben neu zu gestalten, endlich der ziellosen Existenz zu entkommen, die er hatte ertragen müssen. Dreieinhalb Jahre nach jenem schicksalhaften Tag, an dem sein Leben zerbrach, war es wohl Zeit, sich damit abzufinden, dass er Hilfe brauchte.

Aufseufzend rief Drummond sich ins Gedächtnis, wie viel Glück er hatte, hier zu sein. Die der Einladung nach Brockmore Manor vorausgehende unerwartete Vorladung und daraus resultierende Besprechung waren ein höchst überraschendes Weihnachtsgeschenk, und dennoch suchte er nun, da er auf dieser so renommierten Hausparty war, alle möglichen Ausflüchte, anstatt die Gelegenheit zu ergreifen. Warum konnte er nicht einfach tun, was man ihm gesagt hatte? Nun ja, hätte er das stets gemacht, wäre er jetzt gar nicht erst hier.

Später würden sie das Haus mit Immergrün schmücken, wenn auch anstelle von Ilex für diesen Raum hier Seetang passender wäre. Die Wände dieses Salons waren mit türkisblauer Seide verkleidet. Schnitzereien in Form grotesker Meeresbewohner zierten die Beine und Armlehnen der zahlreichen mit grünblauem Damast bezogenen Sofas, und die Gemälde an den Wänden waren ebenfalls Seestücke; insgesamt, nahm er an, sollte man wohl den Eindruck einer Unterwassergrotte gewinnen. Die passenderweise dann auch von Meerjungfrauen und anderen Bewohnern der Tiefe bevölkert sein sollte und nicht mit dieser Ansammlung gut betuchter, gut gekleideter Mitglieder des ton .

Im Juni vor drei Jahren hatte er das letzte Mal an einer größeren Gesellschaft teilgenommen; das war vor den tragischen Ereignissen, die ihn dann in ewige Ungnade stürzten. Der inzwischen berühmte, sogar berüchtigte Ball der Duchess of Richmond hatte am Abend vor der Schlacht von Waterloo stattgefunden. Der Frevel, den er später beging, war verwerflich, und obwohl Drummond immer noch fest glaubte, dass der Frevel, den zu begehen er sich geweigert hatte, noch viel verwerflicher war, hatte er sich letztendlich völlig zwecklos aufgelehnt. Ein Leben war vernichtet, sein eigenes für immer verändert durch die Strafe, die ihm das Schnellgericht zumaß. Die war gerechtfertigt, das konnte er nicht bestreiten. Allerdings bestand für ihn auch kein Zweifel, dass er richtig gehandelt hatte, obwohl es seinen Vorgesetzten als absolut falsch erschien.

Richtig oder falsch, es war geschehen und war Vergangenheit, wie der Duke of Wellington, sein ehemaliger oberster Kommandeur, fand. Offensichtlich war der Zeitpunkt gekommen, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen. Drummond selbst glaubte, dass es schon längst über die Zeit war.

Nach einem Jahr des Trübsalblasens auf dem Lande, währenddessen er versuchte, die Geschehnisse zu verarbeiten, hatte er kräftig durchgeatmet, seine tiefe Reue zusammen mit seinem anhaltenden Groll und seiner Scham verworfen und sich gezwungen, zurück in die Welt zu treten. Doch die Menschen seines ureigenen Milieus hatten ihn allesamt ablehnend behandelt. Ungeachtet seiner bis zu jenem schicksalhaften Tag makellosen militärischen Laufbahn, ungeachtet seiner Belobigungen und der vielen Jahre hingebungsvollen Dienstes für sein Land, seine Männer und Vorgesetzte. Nur jener letzte Akt der Rebellion zählte. Türen schlugen vor ihm zu, Bekannte schnitten ihn. Er konnte nicht leugnen, dass er die Behandlung verdiente, denn letztendlich war er schuldig. Dennoch konnte er das anhaltende Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, nicht unterdrücken.

Diese seine unrühmliche Vergangenheit kannte augenscheinlich niemand von den Gästen, die da vornehm an ihren mit dem Brockmore-Wappen versehenen Teetassen aus hauchfeinem Royal-Doulton-Porzellan nippten, oder sie interessierten sich nicht dafür, denn alle hatten ihn höflich begrüßt, nicht einer hatte ihn brüskiert. Eigentlich kam es ihm erst jetzt seltsam vor, dass er trotz seiner vielen Verbindungen mit keinem von ihnen bekannt war. Nicht einmal mit seinen Gastgebern, denen Wellington diese höchst exklusive Einladung abgeschmeichelt hatte.

„Eine Hausparty beim Duke of Brockmore“, hatte Wellington ihn ins Bild gesetzt, „kann für einen Mann den Durchbruch bringen. Jedermann weiß, dass er und seine Gemahlin nur ausgewählte Gäste laden. Einflussreiche Männer, Damen von Stand. Sie können einem den Pfad zu neuem Ansehen ebnen, denn wo der Duke und die Duchess of Brockmore vorangehen, folgt die gesamte bessere Gesellschaft. Selbst ich“, hatte er mit seinem typischen ironischen Lächeln hinzugefügt. „Sie wären ein Narr, MacIntosh, wenn Sie diese Gelegenheit nicht ergriffen, und Sie sind keiner, das weiß ich, obwohl es einen gegenteiligen Beweis gab. Ich habe Pläne für Sie, und ich bekomme gewöhnlich, was ich will“, hatte der Duke of Wellington ihn in jenem großmütigen Ton informiert, mit dem er Gunstbeweise vergab, die höchst dankbar und bedingungslos angenommen zu werden pflegten. „Sie haben Sinn fürs Praktische und einen kühlen Kopf, wenn wir von jener einen Verirrung absehen, und Ihnen ist eine natürliche Autorität eigen, auf Grund derer die Männer Ihnen zu folgen geneigt sind. Unter uns gesagt, wenn es auch erst in einigen Tagen verkündet werden wird – ich bin bald in der Position, wo ich Männer wie Sie brauche, denn Lord Liverpool hat mich in ein sehr hohes Amt eingesetzt. Dank Brockmores Einfluss werden sich Ihnen wieder die Türen öffnen und Ihnen gestatten, Ihre Versetzung zu mir zu einem Erfolg zu machen.“

Wellington hatte ihm dann die Bedingungen seiner Rehabilitierung dargelegt, beinahe in der Art, wie er sonst seine Schlachtpläne erklärte. „Sie haben den Preis für Ihr überstürztes Handeln gezahlt, MacIntosh. Ich bin willens, eine Ausnahme zu machen und Ihnen eine zweite Chance zu geben, aber ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass es die letzte ist.“

Nein, das brauchte man ihm nicht zu sagen, und so war er nun hier und hatte zwölf Tage Zeit, seine Gastgeber hinlänglich zu beeindrucken, damit er ihre Förderung gewann und so den großen Schaden, den er seinem Ruf zugefügt hatte, zu richten. Er konnte noch von Glück reden, dem anderen tragischen Opfer jenes damaligen Geschehens aber war keine zweite Chance vergönnt. Daran zu denken verursachte ihm selbst nach all der Zeit noch Übelkeit, also sollte er besser nicht mehr daran denken, sondern sich der vorliegenden Aufgabe zuwenden.

Auf dem Frisiertisch seines Zimmers hatte Drummond zusammen mit dem Unterhaltungsprogramm für die Feiertage eine Gästeliste gefunden, was sehr hilfreich war. Der Duke of Brockmore, bekannt als der Silberfuchs, hatte sich als sehr gut aussehender Mann herausgestellt, mit hoher, kluger Stirn und einer Mähne weiß und grau melierten Haars, die eher an einen Löwen als an einen Fuchs erinnerte. Alicia, seine Gattin, in einem Seidenkleid in genau dem gleichen blauen Farbton wie die Weste ihres Gemahls und die Wandverkleidung, gehörte zu den eleganten Frauen von zeitlos klassischer Schönheit.

„Sie sind ein beeindruckendes Paar, nicht wahr?“ Drummond wurde von einem schlanken, ungelenken jungen Mann aus seinen Gedanken gerissen, dessen feines braunes Haar sich über dem hohen gestärkten Kragen seines Hemdes ringelte. „Wenn ich mich vorstellen darf“, fuhr er fort und streckte ihm die Rechte entgegen, „ich bin Edward Throckton. Sie müssen, glaube ich, Captain Milborne sein.“

Im Gegensatz zu der recht kraftlosen Erscheinung des Gentlemans war sein Händedruck erstaunlich fest. „Nein, Drummond MacIntosh. Und einfach nur ‚Mr.‘, bitte.“

Edward Throckton hob die Brauen. „Wie seltsam, ich war mir sicher, Sie müssten unser militärischer Gast sein. Da ist etwas an Ihnen – wohl Ihre Art, den Raum zu inspizieren, als ob Sie erwarteten, dass wir alle gleich stramme Haltung annähmen. Verzeihen Sie, das war eine verteufelt persönliche Bemerkung.“

Lebhafte Röte stieg ihm in die Wangen. Er war jung, vielleicht erst zwei- oder dreiundzwanzig, und gemessen daran, wie er nun an seiner Krawatte zerrte, ziemlich verlegen.

„Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Drummond. „Ich kenne hier keinen Menschen.“

„Wirklich? Ich dachte, da wäre ich der Einzige, aber ich muss sagen, Mr. MacIntosh, das zu hören, erleichtert mich. Nichts ist schlimmer, als – na ja, ein Außenseiter zu sein …“ Der junge Mann brach ab und zerrte erneut an seiner Krawatte. „Nicht, dass ich mir auch nur einen Augenblick vorstellen könnte, dass Sie diese Erfahrung …“

„Ich versichere Ihnen, Mr. Throckton, ich fühle mich ganz und gar als Außenseiter“, erklärte Drummond. „Während ich mich hier herumdrückte, habe ich bemerkt, wie Sie sich unter die anderen Gäste mischten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Erkenntnisse mit mir teilen.“

„Sind Sie tatsächlich an meinen bescheidenen Einblicken interessiert?“

Wie viele ebenso leicht zu erfreuende junge Burschen habe ich über die Jahre unter meine Fittiche genommen, überlegte Drummond. Durchaus so einige waren, wenn sie erst genug Selbstvertrauen gewonnen hatten, exzellente Offiziere geworden. „Sogar sehr“, sagte er mit ermunterndem Lächeln, „bitte schießen Sie los.“

„Also dann … fangen wir mit der Gruppe am Kamin an. Der gut aussehende junge Mann mit dem goldblonden Haar, der sich gerade im Spiegel bewundert, ist Aubrey Kenelm, Erbe der Marquess of Furham, und die Frau mit dem feuerroten Haar neben ihm ist Miss Philippa Canningvale. In dieser smaragdgrünen Robe sind Miss Canningvales Reize unbestreitbar, aber man denkt unwillkürlich, dass dieser Zurschaustellung ein Hauch künstlicher Courage anhaftet – obwohl das natürlich bloße Spekulation meinerseits ist.“

Drummond, der nur eine schlichte Aufzählung von Namen und Titeln erwartet hatte, stieß überrascht ein unterdrücktes Lachen aus.

„Entschuldigung“, sagte sein erstaunlicher Bekannter und errötete vorhersehbar. „Ich war anmaßend. Ich wollte nicht …“

„Oh, doch, Sie wollten , Mr. Throckton!“ Drummond grinste. „Sie haben einen sehr scharfen Blick. Das ist eine Gabe, die Sie ganz schön in die Bredouille bringen könnte. Aber nicht bei mir. Ich bitte Sie, fahren Sie fort.“

„Es stimmt, ich rühme mich wirklich, die Menschen hervorragend beurteilen zu können, weswegen ich ja auch so sicher war, dass Sie Soldat wären. Anscheinend bin ich nicht unfehlbar.“ Edward Throckton lächelte verlegen. „Wo war ich? Ah, ja, die Frau in Kirschrot ist Lady Beatrice Landry. Eine echte Schönheit, wenn man einen Hang zu Marmorstatuen hat, was auf mich, gestehe ich, einigermaßen zutrifft. Nicht dass Lady Beatrice sich herablassen würde, jemanden wie mich wahrzunehmen. Ich bin zu unbedeutend und noch nass hinter den Ohren.“

„Eine Witwe, meinen Sie?“, fragte Drummond, gleichermaßen amüsiert und leicht verwirrt.

„Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass kein Lord Landry auf der Gästeliste steht.“

„Was genau genommen nichts beweist. Wer ist die ebenso beeindruckende junge Frau neben ihr?“

„Lady Anne Lowell, Tochter des Earl of Blackton und eine der begehrtesten Debütantinnen der letzten Saison. Ihr Name steht täglich in den Gesellschaftsspalten. Es wundert mich, dass sie noch nicht vergeben ist.“

„Sie lesen die Gesellschaftsspalten, Mr. Throckton?“

„Man muss sich bezüglich der einflussreichen und bedeutenden Persönlichkeiten auf dem Laufenden halten, wenn man wie ich den Ehrgeiz hat, in die Politik zu gehen. Allerdings bin ich ein wenig im Nachteil.“

„Inwiefern? Sie wirken auf mich wie ein talentierter, intelligenter junger Mann, und auch ich war immer stolz auf meine Beobachtungsgabe.“

„Talent ist nicht der Punkt“, erwiderte Mr. Throckton. „Ich kann es Ihnen genauso gut erzählen, da es allgemein bekannt ist. Ich bin der natürliche Sohn eines Aristokraten, der ein Bekannter des Duke of Brockmore ist. Er kann mich offiziell nicht anerkennen, doch er will mich auf jeden Fall unterstützen. Diese Party ist für mich die Gelegenheit, mich bei unserem Gastgeber einzuführen.“

„Also ist es Ihr Herzenswunsch, eine politische Laufbahn zu ergreifen, Mr. Throckton?“

„Nennen Sie mich Edward, ich würde mich geehrt fühlen. Ja, so ist es, aber nicht um meines persönlichen Vorankommens willen, sondern mein heißester Wunsch ist es, meinem Land zu dienen, auch wenn Sie mich wegen dieser Formulierung vielleicht unerträglich überheblich und tugendhaft finden. Und ich bin mir bewusst“, ergänzte er und tippte an seine feuerrote Wange, „dass ich abgesehen von dem unglückseligen Umstand meiner Abstammung noch dieses Ärgernis besiegen muss.“

„Ich finde, Ihr Streben ist edel und überhaupt nicht überheblich“, sagte Drummond und betrachtete den jungen Mann mit Respekt. „Nur sollten Sie aufpassen, mit wem Sie so offen reden.“

„Vielleicht“, antwortet Edward und lächelte beinahe verschmitzt, „aber ich mag mich ja in Ihrem Beruf geirrt habe, doch sicher nicht in Ihrem Charakter, Mr. MacIntosh. Sie werden mein Vertrauen nicht enttäuschen.“

Drummond lachte bei dieser Einsicht anerkennend auf. „Sie können sich mir auch weiterhin anvertrauen. Sagen Sie mir, was denken Sie über die Gruppe dort in der Mitte?“

„Der ältere Gentleman ist Lord Truesdale, ein enger Freund unserer Gastgeber, dazu Politiker, und daher ganz gewiss ein Gast, mit dem ich Bekanntschaft zu pflegen beabsichtige. Die hübsche junge Dame ist Miss Burnham, der Mann, der sie zu bezaubern versucht, ist Matthew Eaton, und der ältere Herr mit dem dunklen Haar und der strengen Miene, der aussieht, als wäre er am liebsten weit weg, ist Percival Martindale. Laut Miss Canningvale hat letzterer Leidvolles durchlebt, denn seine Schwester und deren Gatte kamen bei einem Kutschenunfall um, wodurch ihm die Verantwortung für deren verwaiste Kinder zugefallen ist. Ich frage mich, wo diese die Weihnachtszeit verbringen; hier sind sie jedenfalls nicht. Es gibt da wohl eine Großmutter.“

„Sicherlich werden Sie das, noch bevor unser Aufenthalt hier endet, herausfinden, und dazu noch, welche Weihnachtsgeschenke die Kinder bekommen werden. Sie sind wirklich ein Quell an Informationen, Mr. … äh, Edward. Bitte fahren Sie fort.“

„Die recht muntere Dame, die mit unserem Gastgeber spricht, ist Lady Viola Hawthorne.“ Edward schürzte die Lippen, als das Objekt seiner Musterung in helles Gelächter ausbrach. „Eine junge Dame aus bestem Hause, denn sie ist die Tochter des Dukes und der Duchess of Calton, aber sie steht in dem Ruf, ziemlich … äh … lebhaft zu sein.“ Er verzog das Gesicht. „Ich empfinde es stets als ironisch, dass die Gesellschaft ungehöriges Betragen umso eifriger toleriert, desto höher man von Geburt ist.“

Edward bezog sich eindeutig auf seinen natürlichen Vater, und Drummond musste unwillkürlich an die Reaktion der Gesellschaft auf sein eigenes Vergehen denken. Zwar war sich Throckton dessen nicht bewusst, doch sie waren beide auf ihre Art Ausgestoßene, für beide sollte diese Party ein erster Schritt zurück zur Aufnahme in den Schoß der Gesellschaft sein.

„Tut mir leid, Sir“, unterbrach der junge Mann seine melancholischen Gedanken, „noch einmal, ich wollte nicht bitter klingen. In der Tat bin ich außerordentlich dankbar, dass der Mann, der mich zeu… – dass er mir diese Einladung verschaffte.“

„Nach dem Wenigen, das ich über Brockmore weiß, wären Sie nicht hier, wenn er nicht glaubte, Sie könnten ihm von Nutzen sein“, erklärte Drummond. „Verstehen Sie das nicht falsch, ich meinte es als Kompliment. Nun erzählen Sie mir doch noch den Rest, und dann, denke ich, müssen wir uns unter die Leute mischen, sonst ziehen wir uns den Zorn unserer Gastgeber zu.“

„Dann ist es nur gut, dass da nur noch die beiden Mauerblümchen dort in der Ecke übrig sind. Die linke ist Miss Pletcher, eine Cousine und Gesellschafterin Lady Annes. Neben ihr das ist Miss Sophia Creighton, deren Vater, ein Geistlicher, empörenderweise im Schuldgefängnis starb, woraus man schließen muss, dass Miss Creighton in ärmlichen Verhältnissen zurückblieb. Eine der Schirmherrinnen jenes Gefängnisses ist unsere Gastgeberin, also vermute ich, diese Einladung ist ihr zu verdanken. Ich hoffe, man kann Miss Creighton so weit aus ihrem Schneckenhaus locken, dass sie die Zeit hier genießt. Sie sieht aus, als hätte sie in letzter Zeit nicht viel zu lachen gehabt.“

„Vielleicht sind genau Sie der Mann dafür“, meinte Drummond trocken.

Edward errötete, tat die Bemerkung aber nicht ab. „Und das war es. Obwohl es inzwischen recht spät ist, fehlen noch drei Gäste von der Liste. Das zusehends schlechte Wetter wird sie wohl aufgehalten haben“, meinte er mit einem Blick hinaus auf den inzwischen heftigen Schneefall. „Dies ist keine der berühmten Brockmore’schen Sommergesellschaften, die quasi für alle Teilnehmer im Hafen der Ehe münden, doch frage ich mich, ob unserer Gastgeber andere gewichtige Absichten haben. Wie viele Gäste wurden wohl, wie ich, zu einem bestimmten Zweck eingeladen, was meinen Sie?“

Der abwägende Blick, der diese Bemerkung begleitete, ließ Drummond nicht zweifeln, dass der junge Mann ihn aushorchen wollte. Er lächelte milde. „Das ergibt sich vielleicht im Laufe des Hierseins. Warum schließen Sie sich nicht Miss Creighton an? Ich sehe nämlich, Miss Pletcher begibt sich eben wieder zu Lady Anne. Da, sehen Sie, unsere Gastgeber haben auch bemerkt, dass Miss Creighton Gesellschaft braucht. Das ist Ihre Chance zu punkten.“

„Sie schließen sich mir an, Mr. MacIntosh? Ich würde Ihre Unterstützung schätzen.“

„Gleich, aber ich wandere besser noch ein bisschen umher.“

Edward verneigte sich und steuerte auf Miss Creighton zu. Still vor sich hin lächelnd überlegte Drummond, ob er sich der Gruppe am Kamin zugesellen sollte, doch jäh aufbrandendes Lachen der kecken Miss Canningvale ließ ihn innehalten. Er brauchte eine kleine Atempause.

Möglichst unauffällig schlüpfte er aus dem Salon und betrat die große, mit Marmor im Schachbrettmuster ausgelegte Halle, wo er kurz zögerte. Eigentlich wäre er am liebsten hinaus ins Freie gegangen, um ein wenig kühle, frische Luft zu schnappen, doch absurderweise war er überzeugt, wenn er der Beengung des Hauses erst entkam, würde es ihm schwerfallen, wieder zurückzugehen.

Einer der zahllosen Lakaien des Dukes, der das Portal hütete, schaute ihn fragend an. Entschlossen marschierte Drummond zu der Tür, die am weitesten vom Salon entfernt war, trat hindurch und lehnte sich dagegen. Es war kalt hier drin, und in der Luft hing ein seltsamer Duft wie in einem Wald. Woher der Duft kam, war offensichtlich, denn auf dem Tisch, der fast den ganzen Raum einnahm, häuften sich Stapel grüner Zweige, Berge von Kiefernzapfen und bündelweise Ilex- und Mistelgezweig, was alles natürlich für die weihnachtliche Dekoration gedacht war. Drummond nahm einen Kranz aus Kiefernzweigen auf. Das kräftige, harzige Aroma der Nadeln stieg ihm jäh in die Nase und brachte ihn zurück in die Wälder auf dem Besitz seines Vaters in den Highlands, wo man auf dem dick mit Nadeln bedeckten Boden wie auf einem weichen Teppich ging und die Äste über einem einen Baldachin bildeten, der vor den Elementen schützte. So lange war er nicht mehr dort gewesen, hatte sich bis heute nicht einmal erlaubt, das alles zu vermissen.

Ein Rascheln und ein Seufzer veranlassten ihn, den Kranz fallen zu lassen. Er hatte geglaubt, er wäre allein, doch dort in dem dunkelsten Winkel sah er den Umriss einer Gestalt. „Wer ist da?“, rief er scharf, da er dachte, man spionierte ihm nach. „Wer versteckt sich da? Auf, Mann, zeigen Sie sich!“

„Ich verstecke mich nicht, ich bin auch kein Mann, und ich schätze es nicht, grob angeblafft zu werden. Ich habe das gleiche Recht, hier zu sein, wie Sie. Captain Milborne, vermute ich.“

„Nein, lassen Sie gefälligst die Vermutungen!“, knurrte Drummond. „Wer zum Teufel sind Sie?“

Die Gestalt erhob sich von dem Stuhl, auf dem sie im Dämmerlicht verborgen gesessen hatte. „Ich bin Joanna Forsythe. Ich bin auf Brockmore als Gast des Dukes und der Duchess, und in diesem Raum bin ich, weil ich vor der Tortur, mich der versammelten Gästeschar zu stellen, eine Weile in Ruhe nachdenken musste.“

Sie war nicht groß. Ihr Haar war braun, wie auch ihr Kleid. Ihr Gesicht war hübsch genug. Süß, würden manche sagen. Als nicht bemerkenswert würden weniger gütige Mitmenschen es beschreiben. Ihre kühle Stimme jedoch stand sehr im Gegensatz zu einem solchen Urteil und noch mehr ihr unverhüllt forschender Blick, mit dem sie sein Gesicht musterte. Unverwandt betrachtete sie ihn mit ihren Augen, die ebenfalls braun waren. Und groß, mit dichten Wimpern … und nicht einfach braun, sondern eher golden. Und irgendwie, er konnte es nicht erklären, vermittelten sie den Eindruck eines scharfen Verstands.

„Zuerst dachte ich, es sei nur Ihre Haltung“, äußerte sie. „Die Schultern, der gerade Rücken, der erhobene Kopf, das alles ließ mich glauben, Sie seien Soldat, aber es ist nicht nur das. Es ist Ihr Augenausdruck, nun, da ich Sie von Nahem sehe. Zugegeben, es überrascht mich sehr, dass Sie nicht Captain Milborne sind.“

Ihn sollte es nicht überraschen, dass sein Beruf ihn untilgbar gezeichnet hatte, dennoch war ihm das bisher nie auch nur in den Sinn gekommen. „Drummond MacIntosh“, stellte er sich vor und verneigte sich steif. „Sie haben nicht ganz Unrecht, Miss Forsythe, ich war Major in der Armee, doch ich bin nicht mehr beim Militär.“

„Ah.“ Joanna Forsythe sah ihn verständnisvoll an. „Seit Waterloo Europa den Frieden brachte, sind viele Männer in der gleichen Lage. Das heißt … vermutlich …“

„Aye“, unterbrach er sie knapp. „Ich schied kurz nach jener Schlacht aus dem Militärdienst aus.“ Das war nicht gelogen, doch wie er ausgeschieden war, ging sie nichts an.

„Wir schulden Ihnen und Ihren Kameraden großen Dank, Mr. MacIntosh, aber ich sehe, das Thema verursacht Ihnen Unbehagen. Sagen Sie mir, wieso – um Ihre Worte zu gebrauchen – versteckt ein Mann sich hier, der tapfer genug war, in die Schlacht zu ziehen?“

„Wie Sie suchte ich Einsamkeit, nur habe ich, im Gegensatz zu Ihnen, schon reichlich Gesellschaft genossen, wohingegen Sie dieselbe noch erproben müssen.“

Sie lächelte schief. „Ich bin nicht schüchtern, normalerweise nicht, aber als ich in den Salon spähte und sah, dass alle beim Tee waren und so gelöst wirkten und ganz wie zu Hause …“ Miss Forsythe straffte die Schultern, zupfte ihren Paisley-Schal zurecht und zwang sich ein Lächeln ab. „Aber nun, irgendwann muss ich mich einfach in die Schlacht stürzen. Ein militärischer Ausdruck, der Ihnen vertraut sein wird, Mr. MacIntosh. Ich werde Sie der Einsamkeit überlassen und mich dem Feind stellen.“

Und genau dazu gerüstet schaut sie nun auch drein, dachte Drummond und fügte zu ihren Eigenschaft noch Tapferkeit hinzu. Er reichte ihr den Arm. „Erlauben Sie mir, Sie zu begleiten. Stellen wir uns dem Feind gemeinsam. Nehmen wir ihn in die Zange, wie man beim Militär sagt, oder? Bereit?“

Könnte ich die anderen Gäste wirklich als meine Feinde betrachten? fragte Joanna sich, während sie an ihrem Tee nippte und höfliche Konversation machte. Wie würden sie reagieren, wenn sie herausfanden, dass sie sich mit einer von der Gesellschaft Verfemten abgaben? Sie kannte keinen hier, was ihr beträchtliche Erleichterung verschaffte; so würde höchstwahrscheinlich auch keiner von ihrem schimpflichem Ruf wissen. Außer ihren Gastgebern.

Als sie ihren Blick auf die Duchess richtete, verspürte Joanna jene Mischung aus Aufregung und Nervosität, die ihr Übelkeit und Schwindel verursachte.

Zusammen mit der Einladung nach Brockmore Manor hatte die Herzogin ihr einen in eleganter Handschrift verfassten Brief geschickt.

Nun, da Lady Christina die schmerzliche Wahrheit erfahren hat, wünscht sie, Entschädigung zu leisten, und bat mich, als eine ihrer ältesten und – vergeben Sie mir meinen Mangel an Bescheidenheit – einflussreichsten Freundinnen, zu vermitteln.

Das näher zu besprechen, wird im Laufe der Party noch Gelegenheit sein, und so hoffe ich aufrichtig, dass es Ihnen möglich sein wird, teilzunehmen und auch die Festlichkeiten zu genießen, ohne diese höchst bedauerliche Angelegenheit ständig an Ihrem Gemüt nagen zu lassen.

Die Ausführungen Ihrer Gnaden war ja gut und schön, doch trotz der Opulenz ringsum, trotz der feinen Speisen, der luxuriösen Ausstattung ihres Zimmers – seidene Bettlaken, ein loderndes Kaminfeuer – und der Aussicht auf von Vergnügungen strotzende Festtage musste Joanna sich immer wieder die Frage stellen, wie genau ihre frühere Dienstherrin Wiedergutmachung für den ihr zugefügten Schaden zu leisten beabsichtigte. Ganz eindeutig würde dieses so sehr wichtige Gespräch mit der Duchess nicht heute Abend stattfinden. Morgen dann war der erste Weihnachtstag. Vielleicht am zweiten? Es waren von früh bis spät alle möglichen Unternehmungen geplant. Wie sollte sie nur das Warten aushalten?

Lautes Gelächter auf der anderen Seite des Salons ließ sie aufmerken. Joanna wandte sich um und sah Drummond MacIntosh, der sie vor einer halben Stunde zu ihrer Gastgeberin geführt hatte und sich seitdem beim Kamin mit einigen Herren unterhielt. Doch nun entschuldigte er sich und kam zu ihr herüber.

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