×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Die Herren der Unterwelt 13: Schwarzes Versprechen«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Die Herren der Unterwelt 13: Schwarzes Versprechen« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Die Herren der Unterwelt 13: Schwarzes Versprechen

Lazarus lebt nur für sein Königreich, über das er mit eisernem Willen herrscht. Bis er die junge Cameo trifft. Er will alles tun, um ihr ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern … und sie in sein Bett zu führen. Doch sie trägt den Dämon der Trübsal in sich und kann keine Freude empfinden. Wenn sie es dennoch wagt, wird ihre Erinnerung daran gelöscht. Jeder Kuss, jede Berührung von ihm führt sie gefährlich nah an die Klippen des ewigen Glücks. Denn wenn sie sich ihm ganz hingibt, ist der Preis unerträglich hoch: Sie wird Lazarus für immer vergessen …

"Der Name Showalter auf einem Buchdeckel garantiert beste Unterhaltung."

Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 01.12.2017
  • Aus der Serie: Die Herren Der Unterwelt
  • Bandnummer: 13
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767594
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kurzwörterbuch der Unterwelt, 6. Ausgabe

Elend ['e: lɛnt]

Definition: Der dämonische Hohe Herr des Elends bewirkt, dass sein unsterblicher Wirt in einem konstanten Zustand der mentalen, emotionalen und körperlichen Qual verharrt; durch seinen Wirt kann er anderen Schaden zufügen.

Beispiel: Der Dämon überflutete Cameo mit Kummer, und als sie aufschrie, brach ihre leidgetränkte Stimme allen um sie herum das Herz.

Symptome: Angst, chronisches RBF – resting bitch face –, Depression, Düsternis, Elend, gebrochenes Herz, Herzschmerz, Hoffnungslosigkeit, innere Unruhe, Kummer, Leid, Melancholie, Niedergeschlagenheit, Qual, Schmerz, Stress, Trauer, Traurigkeit, Trostlosigkeit, Trübsal, Unglück, Verzweiflung.

Heilmittel: Tod (derzeit nicht ärztlich empfohlen).

1. Kapitel

„Versuch nicht, deinem Gegner zehn Schritte voraus zu sein. Bleib hinter ihm – mit dem Messer in der Hand.“

– Auszug aus: Werde der König, zu dem du bestimmt bist, Entwurfsfassung, von Lazarus dem Grausamen und Ungewöhnlichen

Wie Alice auf ihrem Weg ins Wunderland purzelte Cameo, Hüterin des Dämons Elend, sich haltlos überschlagend in eine tiefe, dunkle Höhle hinunter. Als endlich der Grund in Sicht kam, wappnete sie sich für den Aufprall – glitt jedoch durch ein schimmerndes Portal. Die Felswände um sie herum verschwanden, und sie stürzte aus einem mitternächtlichen Himmel – geradewegs in ein neues Reich.

Ich hätte die Finger von dieser Rute lassen sollen. Nur eine flüchtige Berührung mit den Fingerspitzen am hübschen zwiebelförmigen Glasaufsatz auf der Spitze des uralten Artefakts, und es hatte eine Tür zwischen der physischen Welt und der Anderswelt geöffnet. Et voilà! Ihr Abstieg hatte begonnen.

Sie flog auf eine ebenerdige Lichtung zu und wappnete sich für den Aufprall …

Cameo schlug auf dem Boden auf. Ein Schrei zerriss ihre Lippen, das Hirn krachte ihr gegen die Schädeldecke, die Luft entwich auf einen Schlag aus ihrer Lunge, und unzählige Knochen brachen.

Sengende Pein fuhr in ihren Leib, und ihr tanzten schwarze Punkte vor den Augen. Aus ihren Händen und Füßen wich sämtliche Wärme und konzentrierte sich in ihrem Torso. Ihr Körper stand unter Schock.

Es dauerte Stunden, bis sie die Kraft aufbrachte, sich auf die Seite zu wälzen, ihr gequetschtes Herz steppte einen wilden Rhythmus gegen zertrümmerte Rippen. In ihrem Kopf drehte sich alles, aber wenigstens ließ der Schmerz langsam nach. Als sie wieder einigermaßen atmen konnte, nahm sie den süßen Duft von Ambrosia wahr – der Lieblingsdroge für Unsterbliche –, der schwer in der Luft hing. Beinahe hätte sie gelacht. Ausnahmsweise war das Glück einmal auf ihrer Seite. Wenn man schon eine Bruchlandung hinlegen musste, welcher Ort wäre dafür besser geeignet als ein Ambrosiafeld?

Sie trieb zwischen Wachen und Bewusstlosigkeit und nahm das Verstreichen der Zeit nur am Heilungsfortschritt ihrer Wunden und dem Wechsel von dunkel zu hell wahr. Als ein Sonnenstrahl sie streichelte und ihre empfindliche Haut darunter Blasen warf, wachte sie schließlich vollständig auf.

Sie zog die Nase kraus, als sie einatmete. An die Stelle des Ambrosiadufts war der Geruch eines Laubfeuers getreten. Wo war sie gelandet? In der Hölle? Die Sonne brannte so heiß vom Himmel, dass ganze Landstriche versengt waren.

Cameo kroch in eine schattige Zuflucht und atmete erleichtert auf, als ihre Haut sich abkühlte. Sie suchte das lavendelfarbene Firmament mit den blassgrünen Wolken ab, schaute über einen unbekannten Wald aus turmhohen pinkfarbenen Bäumen und dazwischen verstreut liegenden azurblauen Grasflecken hinweg.

Oookay. Das ist neu. Ein Wald wie für eine Bilderbuchprinzessin. Schade bloß, dass sie, Cameo, in dieser Geschichte die böse Fee war. Pechmarie und die zwölf Unsterblichen. Für sie und ihre Familie dämonenbesessener Krieger war nichts je genau richtig gewesen.

Wie kalte Finger kroch ihr das Grauen das Rückgrat hinauf, als ein faustgroßer Schmetterling an ihr vorbeiflatterte. Über die Jahrhunderte waren die elenden Insekten für sie zu einem Omen geworden. Tod und Zerstörung stehen kurz bevor

Schwer legte sich lastende Depression auf ihre Schultern, und sie bejammerte die Tragödie ihres Lebens.

Schon so viel verloren. Und nur, weil sie einen einzigen winzig kleinen Fehler gemacht hatte, damals, als sie noch auf dem Olymp gelebt hatte.

Der Fehler? Sie hatte ihren Freunden geholfen, die Büchse der Pandora zu stehlen und sie zu öffnen. Eine angemessene Bestrafung wäre eine amputierte Hand gewesen oder zwei. Vielleicht ein paar Hundert Jahre Knast. Stattdessen würde sie bis in alle Ewigkeit den Dämon Elend hüten müssen, freier Wille gehörte der Vergangenheit an.

Als Mahnung daran war tief unten auf ihrem Rücken ein Schmetterlingstattoo erschienen.

Der Anfang vom Ende.

Schnell hatte Elend die Schichten ihrer Menschlichkeit, ihrer Hoffnung und ihres Glücks abgetragen. Wieder und wieder hatte er jegliche freudige Erinnerung aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

Bis heute radierte der Bastard ihre freudigen Erinnerungen aus. Jeden Tag hauchte er sein Gift in ihre Gedanken, fügte anderen durch ihre Stimme Leid zu und ruinierte jede Beziehung, die sie aufzubauen versuchte. Seinetwegen war ihr Leben auf eine Abfolge grauenhafter Ereignisse reduziert.

Könnte sie ihn doch nur kontrollieren. Elend war jedoch ein unabhängiges Wesen mit eigenen Motiven und eigenen Zielen. Eine dunkle Präsenz, die zu übertönen sie noch nie geschafft hatte. Ein Gefängnis, aus dem ihr nie die Flucht gelungen war.

Im Augenblick ist Elend allerdings nicht mein größtes Problem. Dieser Schmetterling

Jeden Moment würde eine Katastrophe über sie hereinbrechen.

Cameo suchte nach einem Weg aus dem Wald. Zu einer Seite ergoss sich ein atemberaubender Fluss mit regenbogenfarbigem Wasser in eine felsige Schlucht. Eine Art Fisch brach durch die Oberfläche. Ein Wasser-Einhorn? Zwischen seinen Augen ragte ein langes Horn aus Elfenbein hervor, und …

Sie schnappte nach Luft. Ein zweites Wasser-Einhorn war nach oben geschossen und hatte dem ersten sein Horn in den Bauch gerammt. Blut spritzte und färbte den Wasserfall tiefrot. Unzählige Einhorn-Fische drängten sich nun um den Verletzten, scharfe Zähne zerrissen Schuppen und Eingeweide, nicht einmal Knochen blieben übrig.

Notiz an mich selbst: Niemals in freier Natur baden.

Zu ihrer anderen Seite wuchs und gedieh ein Ambrosiafeld unbeschadet von der viel zu heißen Sonne. An dicken smaragdgrünen Stängeln hingen tropfenförmig unzählige violette Blüten, die Blütenblätter zusammengezogen, um die schlimmste Hitze zu meiden.

Dieses Feld war realistisch betrachtet eventuell ihre einzige Möglichkeit …

Ein dornenbesetzter Ast pflückte den Riesenschmetterling aus der Luft. Ihre Ohren zuckten, als die seichte Brise aus der Ferne leise Schreie herantrug.

Ob einziger Weg oder nicht, es wurde Zeit zum Aufbruch.

Mit zittrigen Beinen rappelte Cameo sich auf und verzog das Gesicht, als scharfe Zweige ihr die Fersen zerschnitten. Sie runzelte die Stirn. Ihre Füße waren nackt, ihre Kampfstiefel verschwunden.

Jemand hatte ihre Stiefel gestohlen?

Eine rasche Überprüfung beruhigte sie, ihr Tanktop und die lederne Kampfhose waren zerrissen und blutbefleckt, aber wenigstens noch an Ort und Stelle. Die Dolche hingegen, die sie vor über zweihundert Jahren angefertigt hatte, fehlten.

Jemand hatte sie ausgeraubt, während sie bewusstlos gewesen war.

Jemand würde dafür bezahlen!

Diese böse Fee war hierhergekommen, um einen gefürchteten Unsterblichen namens Lazarus der Grausame und Ungewöhnliche zu finden, und sie würde jeden, der sie daran hinderte, vernichten.

Ihren Freunden zufolge hatte sie bereits zweimal mit Lazarus zu tun gehabt. Dank Elend wusste sie nicht mehr das Geringste von diesen Begegnungen. Oder? Am Rande ihres Bewusstseins schimmerte eine anzügliche Collage aus Bildern, Ereignisse, die vielleicht so stattgefunden hatten, vielleicht aber auch nicht.

Schimmer: Sie machte einen Striptease für einen gesichtslosen muskulösen Mann, ein angedeutetes sinnliches Lächeln um ihre Mundwinkel, ihre silbernen Augen vor Begierde rauchgrau.

Schimmer: Sie kroch auf denselben gesichtslosen muskulösen Mann zu, eindeutig, um ihn zu verführen.

Schimmer: Sie lag ausgestreckt unter dem gesichtslosen muskulösen Mann, eine seiner großen schwieligen Hände auf ihrer Brust, die andere zwischen ihren Beinen, während er sie weiter und weiter auf einen Orgasmus zutrieb. Ihr Rückgrat war durchgedrückt, ihr Kopf in den Nacken geworfen, ihre Gesichtszüge angespannt unter einer köstlichen Mischung aus Qual und Lust.

War dieser gesichtslose Mann Lazarus? Wie hatte er sie in sein Bett gelockt?

Sie wollte sich so sehr daran erinnern.

Sex war nichts, was sie genoss oder normalerweise auch nur riskierte. Nicht mehr. Sie hatte einen sexuell übertragbaren Dämon, und so gut wie jeder, mit dem sie sich einließ, bekam irgendwann Depressionen.

Schuldgefühle wallten in ihr auf und verstärkten ihr allumfassendes Elend noch. Und dennoch …

Jedes Mal wenn sie sich ihren gesichtslosen Liebhaber vorstellte, umfing träge Hitze sie mit liebenden Armen. Das Blut rauschte mit neuer Bestimmung durch ihre Adern, glutheiße Schauer durchrieselten sie, und jeder Zentimeter ihres Körpers kribbelte.

Vermisste er sie? Oder war er heilfroh, weil er glaubte, sie nie wiedersehen zu müssen?

Es war, als würde ihr Herz aufbrechen und Säure heraussickern. Erinnerungen waren so überlebenswichtig wie Sauerstoff oder Wasser, ohne ihr Gedächtnis war sie unvollständig. Geschwächt sogar.

Würde Lazarus ihr erzählen, was zwischen ihnen passiert war? Wenn auch nur die geringste Chance darauf bestand, musste sie ihn finden.

Das Problem war nur, sowohl sie als auch der Rest der Welt wussten äußerst wenig über ihn. Seine Vergangenheit war geheimnisumwoben. Was sie hatte in Erfahrung bringen können: Ihr Freund Strider, Hüter der Niederlage, hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit enthauptet. Lazarus’ Geist war durch die Rute der Götter transportiert worden und in eins von Tausenden Reichen des Jenseits eingetreten. Vielleicht in dieses, eine seltsame, von Gewalt geprägte Welt.

Kurz nach Lazarus’ Tod war ihre Quasi-Freundin Viola, Hüterin des Narzissmus, ihm versehentlich auf die andere Seite gefolgt – allerdings lebendig. Ebenfalls lebendig war Cameo wiederum ihr gefolgt, in der Absicht, Viola zu retten.

Einsatz für ihre Abenteuer mit dem mysteriösen Krieger.

Hätten ihre Schicksalsbrüder nicht eine Rettungsaktion für sie gestartet, wäre sie dann womöglich bei Lazarus geblieben?

Den wenigen Einzelheiten zufolge, die sie preisgegeben hatte, bevor Elend mal wieder ihr Gedächtnis blank geputzt hatte, waren Lazarus und sie als Team losgezogen, um Viola und die Büchse der Pandora – auch dimOuniak genannt – zu suchen, die beide in einem der Jenseitsreiche versteckt sein sollten.

Warum Lazarus sich auf eine Partnerschaft mit ihr eingelassen hatte, obwohl für ihn kein Gewinn bei der Sache herauszuholen war, wusste sie nicht.

Es sei denn, er war auf die Büchse aus? DimOuniak war ebenso mächtig wie die Rute der Götter – nein, mächtiger – und konnte alles und jeden, in dem ein Dämon hauste, auf der Stelle töten. So ging zumindest das Gerücht.

Hatte Lazarus ihr die ganze Zeit schaden wollen?

Da zeigte es sich wieder! Diese Erinnerungslücken machten sie auf die schlimmste erdenkliche Weise verwundbar.

Also. Sie würde Lazarus auftreiben. Wenn alles gut ging, mochte er sie und wollte ihr nur helfen. Und nachdem er ihre mentalen Lücken gefüllt hatte, könnten sie vielleicht die Jagd auf die Büchse erneut aufnehmen und er könnte sie glücklich machen. Zumindest für eine kleine Weile. Was brachte schon ein Leben ohne Glück?

Du vergisst ihn doch sowieso wieder. Also wozu die Mühe?

Weil … Einfach darum! Ohne Hoffnung konnte sie genauso gut den Kopf in den Sand stecken und sterben.

Vielleicht war er ihr gesichtsloser Liebhaber. Vielleicht würde er ihr helfen, sowohl Viola als auch die Büchse aufzuspüren. Ja, die Göttin des Jenseits war gerettet worden, doch dann hatte sie die Rute der Götter absichtlich ein zweites Mal benutzt. Niemand wusste, wieso, und seither hatte auch niemand wieder von ihr gehört.

Entschlossen setzte Cameo sich in Bewegung. Zweige zerrissen ihr die Füße, aber sie hielt ein stetiges Tempo aufrecht, während sie sich durch die dicht stehenden Bäume arbeitete. Wenigstens war es etwas kühler geworden.

Zweiundsiebzig Prozent aller Männer haben ihre Partnerin betrogen, flüsterte der Dämon in ihrem Kopf – ein Versuch, sie außer Gefecht zu setzen. Vierundzwanzig Prozent betrügen sie gerade in diesem Augenblick. Achtundvierzig Prozent davon sind auch noch stolz, weil sie davongekommen sind, statt zu bereuen. Was glaubst du denn, wie lange du für Lazarus interessant bleiben wirst? Wenn du überhaupt je interessant für ihn warst.

Dieser grässliche Dämon! Ständig warf er mit solchen Stimmungsatombomben um sich. War Lazarus nun ihr gesichtsloser Liebhaber oder nicht?

Gerissen setzte Elend nach: Wenn er es wirklich ist, solltest du schleunigst die Beine in die Hand nehmen. Wenn man bedenkt, was mit Alex passiert ist …

„Halt die Klappe“, grollte sie, doch der Schaden war angerichtet. Elend hatte ins Schwarze getroffen und eine alte Wunde aufs Neue aufgerissen.

Alex, ein Mann im antiken Griechenland, war ihre erste und einzige große Liebe gewesen.

Als er acht war, schlug ihn eine furchtbare Krankheit mit Taubheit und machte ihn so der Liebe seiner reichen Familie unwürdig. Er wurde aus dem einzigen Zuhause verstoßen, das er je gekannt hatte. Nach Monaten des Hungerns rettete ein „Beschützer“ ihn von der Straße. Ein Schmied mit einem widerwärtigen Appetit auf Kinder.

Bei Tage ein Lehrling, bei Nacht ein Sklave. Ein herzzerreißendes Dasein.

Als Alex ins Teenageralter kam, befand der Schmied ihn für zu alt und warf ihn raus. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, das Herz des Schmieds machte Bekanntschaft mit Alex’ selbst geschmiedetem Dolch. Alex übernahm die Schmiede als die ihm zustehende Entschädigung.

All seine Zeit und Energie verwendete er auf sein Handwerk, sein Talent war unbestreitbar. Er war der Einzige, dem Cameo die Fertigung ihrer Waffen anvertraute. Der einzige Mann, dem der Kummer in ihrer Stimme nichts anhaben konnte.

Sie verliebten sich ineinander, und für einen kurzen Zeitraum war sie beinahe glücklich. Sehnte sich nach mehr … doch ununterbrochen hatte eine düstere Vorahnung sie eingehüllt wie eine zweite Haut.

Mit jedem neu heraufdämmernden Tag hatte sie sich später gefragt, weshalb sie von Alex wusste. Wieso der Dämon ihr die Erinnerung an ihn nicht geraubt hatte.

Die Antwort war grässlicher, als sie sich je hätte träumen lassen.

In einem verletzlichen Moment hatte sie Alex von Elend, ihrem dämonischen Gefährten, erzählt. Daraufhin hatte er beschlossen, dass sie sogar noch schlimmer war als der Schmied, und es so eingefädelt, dass die Jäger – ein Kult selbst ernannter Mörder von Unsterblichen – sie gefangen nehmen und sie auf grausamste Weise foltern konnten.

In ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge mit rasiermesserscharfen Flügeln auf. Kannte Lazarus die Wahrheit über sie? Machte es ihm etwas aus?

Er musste es wissen. Er war ein Unsterblicher, der inmitten anderer unsterblicher Seelen lebte. Es sollte ihm nichts ausmachen. Immerhin wurde er grausam und ungewöhnlich genannt. Hatte selbst eine dunkle Seite. Sehr dunkel. Tintenschwarz ohne den geringsten Lichtschimmer.

Ein Chor scharf krächzender Vogelstimmen drang an ihr Ohr, und ein ganzer Schwarm Vögel flatterte aus den Baumkronen empor und zerstreute sich am Himmel, bevor er in einer Wolkenwand verschwand.

Wuuusch! Bum!

Die Erde bebte. Cameo taumelte und fiel auf die Knie. Keuchend und nach Atem ringend griff sie nach ihren Dolchen. Ihren verschwundenen Dolchen.

Verflucht! Sie hastete hinter einen der größeren pinken Bäume in tieferen Schatten. Adrenalin rauschte durch ihre Adern, stark und selbstbewusst, konnte jedoch nicht übertünchen, wie die Rinde trotz ihres Oberteils ihre Haut zerkratzte.

Wieder ein Wuuusch, wieder ein Bum. Das Beben nahm zu, Bäume stürzten, rissen das sie umgebende Buschwerk mit wie Dominosteine.

In der Ferne bildete sich eine Schneise, und zwei fliegende Tierwesen kamen in Sicht. Eine Art Drachen-Mischlinge vielleicht? Ihre Augen waren rot, die Schnauzen lang, und die Zähne hätte man genauso gut als Kurzschwerter bezeichnen können. Auch ihre Körper waren lang gezogen und wanden sich. Sie hatten keine Gliedmaßen, aber dafür mit Widerhaken bestückte Schwänze. Atemberaubende Schuppen glitzerten im Sonnenlicht.

Dann … waren es also fliegende Schlangen? Drachenschlangen?

Sie glitten über das verbliebene Blätterdach, wobei ihre vielzackigen Flügel Äste zerfetzten und durch Borke fuhren wie durch Butter. Eine der Kreaturen verfolgte die andere. Als sie ihre Beute einfing, rangen die beiden miteinander … spielerisch?

„Bedarf die hübsche Dame meiner Hilfe?“

Auf unerfindliche Weise gelang es der fremden Stimme, die unschuldige Frage mit einem sexuellen Versprechen aufzuladen. Cameo schaute auf – und musste einen Aufschrei unterdrücken. Auf dem Ast direkt über ihr hockte ein mindestens hundert Kilo schwerer Leopard, die neongrünen Augen starr auf sie gerichtet. Sein übel mitgenommener Schwanz zuckte hin und her. Eins seiner Ohren sah aus, als wäre es ihm abgekaut worden, in seinem verfilzten Fell sah sie mehrere kahle Stellen.

Elend verkündete ohne Zögern sein Missfallen an dem Tier und fauchte.

Der Leopard schenkte ihr ein träges raubzahnbewehrtes Lächeln, schlug mit einer massigen Pranke nach einer Fliege – und spießte das Insekt allen Ernstes auf der Spitze einer Kralle auf.

„Ich bin Rathbone und stehe dir zu Diensten … gegen eine kleine Aufwandsentschädigung.“

Er konnte sprechen. Er war eine Raubkatze und konnte sprechen. Mit dieser Telefonsexstimme hätte er Millionen machen können.

Hatte die Rute der Götter sie wirklich in ein Märchenland versetzt? Vielleicht in die Pornovariante? Pechmarie treibt’s mit zwölf Unsterblichen?

War Rathbone ein Gestaltwandler? Nein, unmöglich. Gestaltwandler verloren die Fähigkeit, menschliche Sprache einzusetzen, wenn sie ihre Tiergestalt annahmen. Andererseits bestätigten Ausnahmen die Regeln, oder?

„Ich kann mir selbst helfen, aber danke für das Angebot.“ In ihren über vier Jahrtausenden hatte sie Weltkriege geführt und zahllose Schlachten gegen unsterbliche Unholde, rachsüchtige Menschen und mythische Monster geschlagen. Manchmal hatte sie verloren, doch größtenteils war sie siegreich daraus hervorgegangen.

Der Leopard krümmte sich. Wenig überraschend. Es krümmten sich immer alle. Manche weinten sogar. Falls irgendjemand ihre Stimme tatsächlich einmal gemocht haben sollte, erinnerte sie sich nicht mehr daran.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Eine weitere Erinnerung, die Elend ihr gestohlen hatte?

Die Drachenschlangen nahmen ihre Jagd wieder auf, diesmal lösten sie beinahe ein waschechtes Erdbeben aus, sodass Cameo sich hastig an einem Ast festhalten musste. Nope, kein Ast – Rathbones Schwanz.

Er wackelte mit den Augenbrauen. „Ich hätte da noch was Stabileres, woran du dich festhalten könntest.“

Damit meinte er hoffentlich nicht seinen …

Er senkte den Kopf und leckte sich seinen riesigen Sack.

Das soll doch wohl ein Scherz sein.

Cameo ließ ihn los und spähte hinter dem Baumstamm hervor. In halsbrecherischer Geschwindigkeit kamen die Kreaturen auf sie zu … und zogen vorbei. Ihre Anspannung ließ nach. Ein Fehler. Natürlich. Wann war schon einmal irgendetwas so gelaufen, wie sie es gern gehabt hätte? Beide Drachenschlangen stoppten abrupt und drehten langsam die Hälse.

Zwei Paar roter Augen nahmen sie ins Visier. Lange, dünne Zungen fuhren über messerscharfe Zähne, und Speichel troff ihnen aus den Mundwinkeln.

Speichel … oder Brandbeschleuniger? In Cameos Nase brannte der durchdringende Gestank von Benzin oder etwas Ähnlichem.

Tja. Offensichtlich war sie gerade auf der Tageskarte gelandet.

Die „Köche“ zischten im Chor und bogen das Rückgrat, sodass die Schuppen um ihre Hälse sich aufstellten.

Aktuell besteht eine siebenundachtzigprozentige Chance, dass du frittiert wirst, deine Freunde niemals wiedersiehst und weder Lazarus noch die Büchse jemals findest.

Nein. Sie würde kämpfen, und sie würde siegen. Wenn sie stürbe, würde Elend auf eine ahnungslose Welt losgelassen, dann würde er sich auf frische Beute stürzen, süße Träume, geliebte Hoffnungen und jeglichen Schimmer von Glück verschlingen. Er …

Hatte sie bloß abgelenkt, der Bastard.

Ein doppelter Feuerstrahl schoss in ihre Richtung, doch mittlerweile war Cameo auf Kampf eingestellt und sprang aus dem Weg. Bei der Landung rollte sie ab und griff sich dabei zwei versteinerte Äste. Als sie wieder stand, hieb sie damit nach einer der Bestien.

„Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre“, sagte Rathbone und rief ihr seine Gegenwart in Erinnerung. Im selben Moment fuhren die scharfen Astspitzen über die Brust ihres Gegners. Der Leopard seufzte. „Glückwunsch. Du hast es gerade nur noch schlimmer gemacht.“

Argh! Die Äste hatten nicht eine einzige Schuppe durchdrungen. Um genau zu sein, war nicht eine einzige Schuppe auch nur angekratzt.

Aufgebracht brüllte die Drachenschlange.

Also gut. Die Schuppen waren unzerstörbar. Verstanden. Damit blieben nur zwei Optionen: Augen und Maul. Kinderspiel, gar kein Problem, wenn sie es schaffte, auf den Drachenschlangen-Zug aufzuspringen und sich mal kurz mitnehmen zu lassen.

„Ssss.“

„Ssss.“

Erneut schossen zwei Flammenstöße auf sie zu, und das Hitzelevel stieg auf Instant-Grillfleisch mit einer Prise Asche. Wieder sprang sie hektisch beiseite, aber letztlich konnte sie nicht wirklich irgendwohin. Die Ungeheuer kreisten sie ein, arbeiteten zusammen, um sie in einem Ring aus Feuer einzuschließen. Dichter Rauch hing in der Luft.

Das Kratzen in ihrer Kehle verursachte ihr einen Hustenreiz – und im selben Moment schnellte ein Flügel in ihre Richtung. Gerade eben so gelang es ihr, rückwärts zu springen und nicht zweigeteilt zu werden.

„Bedarfst du jetzt meiner Hilfe?“, erkundigte Rathbone sich ungerührt von seinem Platz aus mit einem Lächeln so harmlos wie ein Strauß Gänseblümchen. „Ich mache dir einen Sonderpreis.“

Ohne ihn zu beachten, sprintete sie über die glühend heiße Brandspur. Als wieder ein Flügel auf sie zuschoss, schlug sie ihn mit den Ästen weg, die sie immer noch hielt. Das Drehmoment wirbelte sie herum, und sie wich einem weiteren Feuerstoß aus. Als Nächstes hieb ein Stachelschwanz nach ihr, doch sie sprang darüber hinweg und setzte ihren Weg fort, zog das Tempo an. Beinahe in Reichweite …

Das schaffst du nie, flüsterte der Dämon ihr ein, und sein Kummer sickerte in sie. Gleich stirbst du.

Nein! Sie würde gewinnen und weiterleben. Würde sie!

Der Moment der Wahrheit war gekommen.

Mit so wild pochendem Herzen, dass sie sich nicht sicher war, ob ihre Rippen dem gewachsen waren, stieß sie sich vom Boden ab und schnellte hoch. Eine der Drachenschlangen erhob sich mit ihr – na ja, auf sie zu –, unverkennbar, um sie aus der Luft zu pflücken. Je näher die Bestie kam, desto gieriger schnappte sie nach ihr. Selbst schuld. Cameo rammte dem Vieh einen Ast ins Maul.

Das versteinerte Holz – so dick wie ihr Bizeps, so lang wie ihr Unterarm und härter als Granit – blieb senkrecht stecken, ein Ende in den Gaumen gebohrt, während das andere die Zunge nach unten drückte. Cameo packte fester zu und nutzte den Schwung der Richtungsänderung, um sich rittlings auf den Nacken der Kreatur zu schwingen.

Wild bäumte das Tier sich auf, dieses heftige Gezappel behinderte es in seinem gleichmäßigen Gleitflug, sodass es gen Boden stürzte.

Yee-ha!

Kurz vor ihrer zweiten Bruchlandung des heutigen Tages rammte Cameo ihm den zweiten Ast in eins seiner Augen. Die Bestie kreischte, dickes schwarzes Blut spritzte über Cameos Hand und verätzte ihre Haut.

Bum!

Die Drachenschlange fing die schlimmste Gewalt des Aufpralls ab, und Cameo purzelte zu Boden. Während das Tier sich brüllend hin und her warf, kam sie schwankend auf die Beine und wollte die Flucht ergreifen. Scharfer Schmerz versengte ihren Knöchel, ein harter Ruck, und sie schlug flach aufs Gesicht, dann wurde sie rückwärts weggezerrt.

Ihre Fingernägel gruben Furchen in die Erde. Sie gab sich Mühe, nicht in Panik zu verfallen, und schaute sich um. Neeeeiiin! Die zweite Drachenschlange hatte ihren Fuß zwischen den Zähnen.

Das Vieh begann zu kauen, und Speichel fraß sich in ihre Wunde. Aus ihrer Kehle brach ein Schrei, da ihr gesamtes Bein brannte und die Haut Blasen warf. Sie krümmte sich zusammen, um nach dem Ungeheuer zu schlagen.

Verflucht! Sie hielt die Äste nicht mehr in den Händen.

Gnadenlos zerrte die Bestie sie über Felsen und riesige Baumwurzeln, die ihr das Oberteil zerfetzten. Und das Fleisch darunter. Wieder drehte sich in ihrem Kopf alles, und Bewusstlosigkeit lockte. Blind tastete Cameo um sich, suchte einen weiteren Ast, irgendetwas. Da!

Die Kreatur richtete sich auf und hob sie vom Boden hoch. Kopfüber zu hängen machte die Schmerzen nur noch schlimmer.

Denk daran, Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt.

Sie konnte das. Nein, sie würde das schaffen.

Cameo krümmte und streckte sich, krümmte und streckte sich, schwang vor … und zurück, wieder vor … schneller und schneller, mit jeder Runde kam sie dem Torso ihres Widersachers näher.

Er schlug mit den Flügeln, erhob sich in die Lüfte – und erteilte ihr damit erneut eine Lektion in Sachen Schmerz.

Ich weiß nicht, wie viel ich davon noch aushalte.

Sie war schweißgebadet, und ihr war speiübel, trotzdem schwang sie sich weiter vor und zurück. Endlich, den Göttern sei Dank, gelang es ihr, den Ast tief in den weichen Rachenbereich der Bestie zu rammen, wo keine schützenden Schuppen waren. Die steinerne Spitze bohrte sich ins Zungenbein.

Zuckend und brüllend ließ das Ungeheuer sie los. Und es ging abwärts. Sie wappnete sich – wieder einmal entleerte ihre Lunge sich beim Aufprall, schien zu bersten wie eine Wasserbombe.

Der Schmerz war so grauenvoll, so grell, dass Cameo beinahe das Leid nachvollziehen konnte, das ein erkälteter Mann durchmachte.

Flach blieb sie liegen und betete um eine schnelle Genesung. Oder den Tod. Ja, wahrscheinlich eher den Tod. Ihr malträtierter Knöchel pochte im Takt mit ihrem verzerrten Herzschlag, während das Organ sich regenerierte. Von der Kniescheibe bis zu den Zehen fühlte es sich an, als wäre ihre Haut gegrillt wie der Käse auf einer Pizza.

Obwohl die Drachenschlange alles versuchte, gelang es ihr nicht, den Ast loszuwerden, ihre Flügel verweigerten ihr den Dienst. Letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu ihrem Gefährten zu schleppen, die Fangzähne in dessen Brust zu schlagen und sich von ihm davonfliegen zu lassen.

Sie … hatte es geschafft? Sie hatte gewonnen?

Und kannst wahrscheinlich nie wieder laufen, prophezeite Elend.

Bu-hu.

„Und wie ich wieder laufen werde“, stieß sie mühsam hervor. Über die Jahrhunderte hatte man ihr Gliedmaßen abgetrennt und die Zunge herausgerissen. Ihr Knöchel würde schon heilen … irgendwann. Der Dämon wollte sie nur deprimieren.

Rathbone ließ sich von seinem Baum herab und kam träge auf sie zu. „Wenn du ganz lieb Bitte sagst, lasse ich mich kostenlos von dir reiten.“

„Nein danke.“ Zu erschöpft, um sich darum zu kümmern, ob er ihr falsche Ruhe vorgaukeln wollte, um sie zu attackieren, fragte sie: „Wo sind wir?“

Dieses Mal zuckte er deutlicher zusammen.

„Wir befinden uns im Reiche Grimm und Fantica, unter der Herrschaft von Lazarus dem Grausamen und Ungewöhnlichen, einziger Sohn des Ungeheuers.“

Lazarus. Ihr Lazarus. Er war hier. Und er war König.

Na los. Spür ihn auf. Ich will, dass du Zeit mit dem Mann verbringst, der als der Grausame und Ungewöhnliche bekannt ist. Elend lachte sein rachsüchtigstes Lachen. Ich wette, er kann dich auf eine Weise verletzen, wie ich es nie geschafft habe.

Der Dämon log. Vielleicht sagte er aber auch die Wahrheit. Bei Elend wusste sie nie, was sie glauben sollte.

Vielleicht sollte sie nach Budapest zurückkehren.

Vermisst Lazarus mich überhaupt? fragte sie sich erneut. Was, wenn sie als Feinde auseinandergegangen waren?

Und wenn es so war – na und? Jeder verdiente eine zweite Chance. Außerdem hatte sie ohnehin keine Ahnung, wie sie zurückkommen sollte. Und mal ehrlich, was spielte dieses „Grausam und Ungewöhnlich“ schon für eine Rolle? Viele Unsterbliche bezeichneten sie als die Mutter der Melancholie. Namen waren nichts weiter als das – bloß Namen.

„Wo ist der König?“, fragte sie und hoffte, ihr desinteressierter Tonfall verbarg ihre Aufregung. Nichts preisgeben, alles verbergen.

Der Leopard leckte sich die Lippen, als hätte er soeben sein Frühstück entdeckt. „Höre ich da … Vorfreude heraus?“

Oh Mann. Würde er sich deshalb für die Info bezahlen lassen? „Da wärst du der Erste.“ Wie wahr. Und wie traurig.

„Jetzt höre ich Niedergeschlagenheit.“ In seinen neongrünen Augen tauchte ein kalkulierendes Glitzern auf. „Der Plot verdichtet sich.“

„Was interessieren dich meine Gefühle überhaupt?“

„Mysterien und Rätsel faszinieren mich. Komm. Ich begleite dich zu Lazarus. Allerdings bin ich nicht mehr bereit, dir kostenlos zu helfen.“

Ich wusste es.

„Du wirst mir für meine Eskorte einen kleinen Obolus zahlen“, erklärte er. „Aber sei gewarnt, meine Hübsche, wer Lazarus’ Territorium betritt … verlässt es nicht wieder.“

2. Kapitel

„Das Leben ist ein Spiel, und jeder, der dir begegnet, ist ein Widersacher.“

– Werde der König, zu dem du bestimmt bist

– Die hohe Kunst der Enthauptung

Von einer Sekunde auf die andere überfiel Lazarus den Grausamen und Ungewöhnlichen ein Gefühl des Unbehagens. Er runzelte die Stirn. Die Empfindung war ihm zwar nicht fremd, doch besonders geübt darin war er auch nicht.

Kurz gesagt, es konnte sein, dass es nichts weiter bedeutete … oder aber alles.

Matt seufzend entknotete er sich aus den Armen zweier schlafender Waldnymphen, die sich an ihn klammerten, erhob sich vom Bett und schloss die Hose, die abzulegen er sich geweigert hatte. Seine Beine waren nicht zur Betrachtung freigegeben. Für niemanden.

Jeder, der das Pech hatte, ihn unten ohne zu sehen – nun ja, diese Missetäter verwandelte er in Stein.

Wo auch immer er residierte, im Leben oder im Jenseits, schuf er einen Garten des Immerwährenden Entsetzens. Seine ganz persönliche steinerne Brigade. Ein bisschen wie Qin Shi Huang Di, der erste Kaiser von China, mit seiner Terrakottaarmee.

Im jüngsten Garten befanden sich derzeit dreiundzwanzig Statuen, die einen wahrlich Ehrfurcht einflößenden Anblick boten. Jede einzelne vermittelte einen anderen Ausdruck von Schmerz und Panik.

Sein Liebling? Der König, den er unterwarf, als er das Reich von Grimm und Fantica an sich riss. Der Mann war auf ewig erstarrt in einer Position, die als Blutadler bekannt war: auf Knien vornübergebeugt, die Rippen vom Rückgrat getrennt und die Lunge aufgespreizt wie Flügel.

Grausam und ungewöhnlich. Meine Spezialität. Wer sich seinen Wünschen in den Weg stellte, würde leiden.

Kühle Luft streichelte seine Haut, als Lazarus sein Oberteil überzog. Er schnallte sich die Waffen um, die er vor einer Stunde erst abgelegt hatte. Als die Dolche aneinanderklirrten, stieg die Erinnerung an den Tag in ihm auf, an dem er einem dämonenbesessenen Krieger gestattet hatte, ihn zu enthaupten. Den Tag, an dem er den Fängen der sadistischen Harpyie entkommen war, die ihn zu ihrem Sklaven gemacht hatte.

Den Tag, an dem sein Leben bei den Toten begonnen hatte.

Wenn er ehrlich war, erkannte er keinen Unterschied zwischen der Welt der Lebenden und der Anderswelt. Er atmete, ihn dürstete und er hungerte wie eh und je. Gierte immer noch nach der Berührung einer weiblichen Hand. Er konnte alles tun, was er auch vorher hatte tun können … nur nicht in die Menschenwelt zurückkehren. Dasselbe galt für alle anderen hier.

Tatsächlich gab es aber einen Unterschied zwischen ihm und den anderen Toten: In seiner Brust schlug nach wie vor ein Herz. Er war sich nicht sicher, wieso er die einzige Ausnahme bildete.

Die Nymphen auf dem Bett rekelten sich und richteten sich auf. Volle Brüste schwangen, zerwühltes Haar fiel ihnen um die Schultern, auf den Gesichtern erblühte ein sonniges Lächeln.

„Wenn Ihr noch laufen könnt, müssen wir Euch offensichtlich für eine weitere Runde in die Mangel nehmen“, säuselte die Blondine seidig.

Die Rothaarige krümmte lockend den Zeigefinger. „Wie wär’s, wenn ich so tue, als wärt Ihr ein Lollipop?“

Sie hatten keinen Schimmer davon, dass er in ihren Armen nichts als Enttäuschung gefunden hatte.

„Ich habe Pflichten“, entgegnete er. In letzter Zeit konnte ihn keine befriedigen. Zum Höhepunkt zu kommen erwies sich als frustrierend unmöglich, selbst wenn er allein war.

Zumindest musste er sich nie fragen, woran das lag.

Er hatte seine μονομανία gefunden. Seine Monomania. Seine Besessenheit. Oder, um es etwas erdiger auszudrücken, seinen ganz persönlichen Fetisch. Vor langer Zeit schon hatte sein Vater Typhon ihn vor ihr gewarnt, wer immer sie auch sein würde.

Irgendwo da draußen ist eine Frau, die dich schwächen kann. Du wirst dich mit all deinem Wesen nach ihr verzehren … aber jede Sekunde in ihrer Gegenwart wird dich deiner Vernichtung näher bringen. Töte sie. Begeh nicht denselben Fehler wie ich, indem du deine μονομανία am Leben lässt. Rette dich.

Gebannt hatte der junge Lazarus ihm gelauscht, denn Typhon war einmal der meistgefürchtete Unsterbliche auf Erden gewesen. Aus gutem Grund. Er hatte jeden ermordet, der sich ihm entgegenstellte, ihn beleidigte oder ihn auch nur hinterfragte.

Typhons μονομανία war Echidna gewesen, eine Gorgo. Und außerdem Lazarus’ Mutter.

Die Gorgonen waren eine grausame Rasse, die für die giftigen Schlangen bekannt waren, die aus ihrer Kopfhaut wuchsen, und für ihre Fähigkeit, mit einem simplen Blickkontakt jeden zu Stein zu verwandeln. Eine Fähigkeit, die Lazarus geerbt hatte … gewissermaßen. Er schuf seine Statuen durch Berührung.

Echidna war die Herrscherin der Himmelsschlangen gewesen, passenderweise „Sss“ genannt – nach dem Laut, den ein Gegner hörte, kurz bevor er einen blutigen Tod starb. In ihrem Volk war sie eine Ausnahme. Gütig, lieb und entzückend schüchtern – jedem außer Typhon gegenüber. Ihn hasste sie mit jeder Faser ihres Seins, denn er hatte sie entführt, sie immer wieder vergewaltigt und sie von ihrem einzigen Kind ferngehalten.

Typhon erwiderte ihren Hass in gleichem Maße, weigerte sich jedoch, sie freizulassen. Seine kranke Gier nach ihr überschattete alles andere.

Am Ende bekam er, was er verdiente. Jedes Mal wenn er sich ihr näherte, kristallisierte ein kleiner Teil seines Körpers. Von der Haut drangen die Kristalle bis in seine Muskeln und Gelenke vor, schränkten seine Bewegungsfreiheit ein, bremsten und schwächten ihn.

Hera die Gehörnte, Königin der Griechen, hasste Typhon aus Gründen, die Lazarus nie erfuhr. Als Typhons schlechter Zustand ihr zu Ohren kam, versetzte sie ihm über seine Frau einen schweren Schlag. Gnadenlos hackte sie Echidna in Stücke, während der erstarrte Typhon hilflos zusehen musste.

Er, der halbwüchsige Lazarus, war ebenfalls dort gewesen. Trotz all seiner Anstrengungen hatte er seine Mutter nicht retten können. Danach verschwand Hera mit Typhon, und seither war der Krieger nicht mehr gesehen worden.

Lazarus krümmte die Finger um das Heft seines Kris. Der einzige Dolch, den er nicht in Leder hüllte, sondern nur mit dem Blut seiner Feinde überzog. An beiden Seiten der Klinge befanden sich kleine Widerhaken, die im Inneren eines Körpers ausfuhren und es unmöglich machten, die Waffe herauszuziehen, ohne dabei ein paar Organe mitzunehmen.

Eines Tages würde Hera innige Bekanntschaft mit diesem Kris schließen.

Bald nach ihrer Untat war sie in den Tartarus gesperrt worden, das Gefängnis der Unsterblichen. Eines Tages würde sie freikommen und getötet werden, und dann würde sie in der Anderswelt landen.

Ich werde sie finden. Und auch seinen Vater. Er war kein Kind mehr, das seinen Vater fürchtete – heute verabscheute er den Mann zutiefst. Typhon hatte viele Verbrechen an seiner Mutter begangen, doch Vergewaltigung war eine Grenze, die niemand je überschreiten sollte.

Hera und Typhon würden sich zu den Figuren in seinem Garten des Immerwährenden Entsetzens gesellen.

Eine der Waldnymphen beugte sich vor, um mit den Fingernägeln über seine Brust zu streichen. „Im ganzen Königreich geht das Gerücht, Ihr sucht eine Braut. Ist es wahr?“

„Und wie.“ Ja, er hatte seine μονομανία gefunden, aber kurz darauf hatte er sie schon wieder verloren. Obwohl das Verlangen nach ihr noch immer in seinen Adern brodelte und seine Knochen versengte, unternahm er keinerlei Anstrengungen, sie aufzuspüren. Das letzte Mal, als sie zusammen gewesen waren …

In seiner Brust machte sich etwas bemerkbar, das sich beinahe wie Furcht anfühlte. Das letzte Mal, als sie zusammen gewesen waren, hatte sie ihn geschwächt.

Er rieb sich über die Oberschenkel, ertappte sich dabei und fluchte innerlich. Über seine Haut zogen sich feine Kristalläderchen. Vergiftete Spuren. Der Beginn seines Untergangs.

Überall hatte er uralte Schriften gesammelt, um die Legenden um seine väterlichen Vorfahren zu erforschen, in der Hoffnung, einen Weg zu finden, wie er sich retten könnte. Ein fruchtloses Unterfangen. Jeder, bei dem je diese Kristalläderchen erschienen waren – wenn es überhaupt jemanden außer ihm und seinem Vater gab –, hatte darüber geschwiegen wie ein Grab. Genau wie Typhon und er.

Wer heute seine Schwachpunkte herausposaunte, verlor morgen sein Leben.

Also. Statt zu lamentieren, würde er sich auf seine Abwehr konzentrieren. Er würde eine gnadenlose, blutrünstige Frau heiraten, der eine mächtige Armee zur Verfügung stand. Sie würde ihn stärker machen, nicht ihn schwächen. Die brennende Begierde nach seiner μονομανία dagegen würde er für den Rest seiner Tage ignorieren, damit er sie ja nicht aufspürte und versuchte, sie zur Rückkehr in sein Königreich zu überreden.

Denn das würde sein Ende bedeuten.

„Kommt wieder ins Bett, dann zeige ich Euch, wieso ich Eure beste Wahl bin“, bot die Nymphe mit einem koketten Lächeln an.

Gedankenlesen war eine weitere der Fähigkeiten, die Lazarus seiner Mutter zu verdanken hatte. Sein Kopf füllte sich mit den Überlegungen der anderen Nymphe, die darüber nachdachte, wie sie ihre Freundin umbringen und die Leiche verschwinden lassen könnte.

„Ich zeige es Euch noch besser“, raunte sie heiser und klimperte mit den Wimpern. „Nehmt mich.“

Die Frauen waren für die Pflege der Rosen im Garten des Immerwährenden Entsetzens zuständig. Sie waren Bettgespielinnen, keine Kämpferinnen. Ihnen mangelte es an der nötigen Bösartigkeit, um seine Frau zu werden.

Er musste für einen Krieg gewappnet sein. Eines Tages würden Hera und sein Vater im Jenseits enden. Jeder starb irgendwann. Auch die Harpyie, die ihn versklavt hatte, würde hier landen, dann hätte er all seine Feinde an einem Ort.

Nur mühsam hielt er seine Wut im Zaum und knirschte mit den Zähnen, bis er Blut schmeckte. Die Harpyie. Juliette die Ausmerzerin. Schlampe ohnegleichen.

„Geht wieder an eure Arbeit“, befahl er, woraufhin die Nymphen schmollten.

Während er mit langen, sicheren Schritten zur Tür ging – wundersamerweise ungehindert vom Schaden, den seine μονομανία angerichtet hatte –, öffnete er seinen Geist, um nach verborgenen Gefahren zu suchen, die ihn auf dem Korridor erwarten mochten.

Draußen sprangen ihm sofort zwei seiner Soldaten zur Seite, um ihn zu begleiten.

Lazarus hatte sich ihre Namen nicht eingeprägt. Er zog es vor, emotionale Distanz zu wahren, und betrachtete Zuneigung als eine Form von Schwäche.

In dem Moment, in dem du beschließt, einem anderen Wesen zu vertrauen, hast du den Kampf verloren.

Er bog um die Ecke und fragte: „Sind aus dem Dorf irgendwelche Vorfälle gemeldet worden?“ Dieses Gefühl des Unbehagens ließ ihn nicht los. Wenn irgendwer jemanden verletzt hatte, der unter seiner Obhut stand …

Nein. Dazu würde es nicht kommen. Niemand wagte es, gegen einen seiner Leute die Hand zu erheben. Die Konsequenzen wären zu bitter. Keine Verhandlung, nur Strafe.

„Nein, Sir.“

„Und die Himmelsschlangen?“ Bei seiner Ankunft in der Anderswelt hatten die Kreaturen ihn gewittert, ihre Reviere verlassen und waren in – damals – für sie feindliches Gebiet eingedrungen, entschlossen, ihm zu dienen, wie sie es einst bei seiner Mutter getan hatten.

Wie er träumten sie davon, seinen Vater zu töten.

Es ging das Gerücht, Typhon schliefe den Schlaf der Toten, doch die Wahrheit war komplizierter. Das Ungeheuer war eingeschlossen in eine Hülle aus dem gleichen Kristall, der jetzt auch in ihm wuchs. Typhon war weder tot noch schlief er – bewegungsunfähig, aber bei Bewusstsein fristete er sein Dasein.

„Zwei Eurer Himmelsschlangen wurden ein paar Meilen entfernt im Wald gesehen“, berichtete eine der Wachen. „Sie haben Fangen gespielt.“

„Ich wünsche sie zu sprechen. In zehn Minuten will ich ein Kontingent von Soldaten zu Pferd und aufbruchbereit haben.“ Was auch immer das Problem war, er würde es finden. Und ihm ein Ende machen.

„Ja, Sir. Natürlich, Sir.“ Hastig rannte der Sprecher davon.

Lazarus marschierte in seine Privatgemächer, während der zweite Soldat auf dem Korridor zurückblieb. Er zog sich aus, duschte den Geruch von Frust und Sex ab und kleidete sich in seine Kampfmontur. Das Oberteil bestand aus dünnen Leichtmetallgliedern, die Hose aus schwarzem Leder. Die Waffen kamen an ihre angestammten Plätze: Halbautomatikpistolen unter die Arme, Kurzschwerter auf den Rücken und Dolche an die Hüfte und die Knöchel.

Auf jedem Stück, den Kris eingeschlossen, prangte sein persönliches Siegel – eine Himmelsschlange, die sich in den Schwanz biss und somit einen Kreis bildete. Eine Besitzmarkierung und wohl auch ein Statussymbol.

König durch Gewalt. Drogenhändler aus freien Stücken. Liebhaber aus Notwendigkeit.

In diesem Reich wuchs Ambrosia, das nutzte er zu seinem Vorteil. Da die lila Blumen das Einzige waren, womit Unsterbliche sich berauschen konnten, war er so überaus großzügig, den Herrschern der umliegenden Reiche wöchentliche Lieferungen davon zukommen zu lassen – und somit ihre Abhängigkeit von ihm zu zementieren.

Die Frauen, die er in sein Bett holte, lenkten ihn von all den Dingen ab, die er nicht hatte. Vergeltung, Leben … seine μονομανία.

Lazarus zog eine Schublade auf und strich mit den Fingerspitzen über eine Halskette, an der ein Diamantschlagring und ein Dolch hingen. Extra für sie hatte er das Schmuckstück besorgt. Vergeudete Liebesmüh, wenn man bedachte, dass er sie nie wiedersehen würde.

Er wusste noch, wie er sie zum ersten Mal erblickt hatte. Kommt eine Unsterbliche in eine Bar

Langes rabenschwarzes Haar fiel ihr über den eleganten Rücken und wellte sich an ihrer Hüfte. Augen wie flüssiges Silber blickten mit ureigener Traurigkeit auf die Welt, und ihre zarten Gesichtszüge wirkten so zerbrechlich wie Glas.

Es hatte keinen Blitzschlag gegeben, der verkündete: Das ist sie, die einzig Wahre. Nein, sie hatte ihn interessiert, fasziniert. Aber mit ihren eins siebzig war sie zu klein und zierlich für ihn. Er war über zwei Meter zehn groß und muskelbepackt.

Sein erster Gedanke war gewesen: Schon mit einer einzigen Berührung könnte ich ihr irreparablen Schaden zufügen.

Er war gegangen, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln.

Zum zweiten Mal hatte er sie bei den Harpyienspielen gesehen, einer Art Olympiade für die blutrünstigsten Frauen des Planeten. Seine μονομανία war als Zuschauerin da, stand auf einem der Ränge und feuerte eine Freundin an.

Wieder hatte Traurigkeit an ihr gehangen wie eine zweite Haut.

In seiner Brust war ein Funke der Sehnsucht aufgeflackert, und er hatte gedacht: Die würde ich gern mal lächeln sehen. Nein, ich würde sie gern zum Lächeln bringen.

Ein seltsamer Wunsch. Andere Leute hatten sich gekrümmt und waren in Tränen ausgebrochen, wann immer sie den Mund aufgemacht hatte. Wieso war er stattdessen zum Leben erwacht? Weshalb hatte sich zum allerersten Mal Mitgefühl bei ihm geregt?

Wieder war er gegangen, ohne ein Wort zu sagen, doch über die folgenden Wochen hatte seine Besessenheit zugenommen, bis allein der Gedanke an sie jede Zelle seines Körpers mit Lust erfüllte. Selbst jetzt wurde er schmerzhaft hart, wilde Begierde wühlte sich durch seine Eingeweide.

Die dritte und letzte Begegnung hatte stattgefunden, als sie die Rute der Götter benutzte, um in die Anderswelt einzutreten. Damals.

Das war der Moment. Der Blitzschlag urwüchsiger Aggression und Besitzgier.

Er hatte gedacht: Ich werde sie besitzen, koste es, was es wolle.

Ihr Name war Cameo, und sie war die Hüterin von Elend. Einer der berüchtigten Herren der Unterwelt. Eine von vierzehn Kriegerinnen, die die Büchse der Pandora gestohlen hatten. Nun ja, genau genommen war sie eine glorreiche Herrin der Unterwelt.

Eine Erinnerung kitzelte ihn, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, Cameo zu sehen – und wenn es nur in seinen Gedanken war.

„Lachst du eigentlich auch mal?“, hatte er sie gefragt, als sie auf dem Weg in sein Königreich gewesen waren … wo er jeden Zentimeter ihres Körpers zu kosten gedachte … sie um ihn geschlungen spüren würde, sie seinen Namen stöhnen hören würde.

Er hatte für sie gebrannt. Qualen gelitten.

„Hat man mir zumindest gesagt“, hatte sie geantwortet, ihre tragische Stimme war suchtgefährdender als jede Droge.

„Du erinnerst dich nicht?“

„Nein. Freude ist nichts, das bei mir hängen bleibt.“

Von diesem Moment an hatte er ihre Freude genauso entfachen wollen wie ihre Leidenschaft. Damals waren ihm die winzigen Kristallsplitter, die sich auf seinen Oberschenkeln ausbreiteten, gleichgültig gewesen. Nichts war von größerer Bedeutung gewesen, als ihre Abwehr einstürzen zu lassen, sie in seinen Palast zu schaffen – und dann in ihr zu sein.

Jetzt waren die Kristalle ihm ganz und gar nicht mehr egal.

Lazarus’ Gedanken sprangen zu einer anderen Unterhaltung zwischen ihnen, als er endlich langsam Fortschritte bei ihr gemacht hatte.

„Hast du eigentlich schon mal einen Freund gehabt?“, hatte er gefragt.

Ein Hauch von Humor war in diese silbrigen Augen getreten. Das erste Anzeichen von Amüsement, das er je bei ihr gesehen hatte, innerlich hatte er gejubelt.

„Ich bin Tausende Jahre alt. Was denkst du?“

Er hatte beschlossen, sie zu ärgern – im Wissen, dass wachsende Erheiterung den Kummer weiter verdrängen würde. „Ich denke, du bist eine vertrocknete alte Jungfer, die vollkommen ausgehungert ist nach einem Stück Männerfleisch.“

Im Bruchteil einer Sekunde war ihr Amüsement in Wut umgesprungen, und jede Spur von Kummer war verschwunden.

„Ich hatte mehrere Beziehungen und ich bin keine Jungfrau. Und wenn du mich jetzt Schlampe nennst, schneide ich dir die Zunge ab.“

„Nein, tust du nicht. Du willst, dass meine Zunge bleibt, wo sie ist. Vertrau mir.“ Bitte. Nie war ihm das Vertrauen einer Frau so wichtig gewesen. „Aber ich bin neugierig. Wie viele Freunde hattest du?“ Wie viele Männer würde er in Stein verwandeln, weil sie es gewagt hatten, zu berühren, was ihm gehörte?

Sie hatte sich versteift. „Geht dich nichts an.“

Gierig auf einen weiteren Wutausbruch, in der Hoffnung, das würde zu einer anderen Form von Leidenschaft führen, hatte er gesagt: „Zu viele, um sie zählen zu können, ist notiert. Wie bist du so im Bett?“

Mit finsterem Blick hatte sie perfekte weiße Zähne gebleckt, und er hatte allen Ernstes gezittert wie ein junger Bursche bei seiner ersten Frau.

„Das wirst du nie erfahren.“

Er hatte nie aufgehört, für Cameo zu brennen. Nie aufgehört, diese Qualen zu leiden. Doch jetzt, da das Leben, der Tod und tausend verschiedene Reiche zwischen ihnen lagen, hatte seine Perspektive sich gewandelt. Er war ein Narr gewesen, sein Handeln von sexueller Begierde bestimmen zu lassen. Nichts war wichtiger als Stärke.

Hastiges Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Sein Bewusstsein war vor ihm am Ausgang und stellte sicher, dass er nicht in einen Hinterhalt marschierte.

Der Wachmann rang die Hände und wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu blicken. „Die Himmelsschlangen … Eure Majestät, wir haben eben erst Nachricht erhalten. Jemand …“ Schluck. „Jemand hat zwei von ihnen im Wald nicht bloß verletzt … sondern sie beinahe umgebracht …“

Schiere Wut explodierte in seinem Inneren, doch als er das Wort ergriff, war seiner Stimme nichts als Ruhe anzuhören. „Wo sind sie?“

„In den Gärten, Eure Majestät. Der Heiler ist bereits gerufen worden.“

Lazarus hätte sich in die Gärten teleportieren können, aber ihm gefiel es zu gehen. Ihm gefiel seine Fähigkeit, sich unbehindert von den Kristallen bewegen zu können.

Also marschierte er durch den Palast und fegte an der Pracht gestohlener Schätze und luxuriöser handgeschnitzter Möbel vorbei. Die Decke im Saal war hoch und mehrstufig, geziert von einem Fries, der sich oberhalb zweier marmorner Feuerstellen erstreckte. Farbenfrohes Buntglas leuchtete in den Fenstern, und der Boden war mit einem komplizierten Mosaik versehen.

Draußen warf das schwindende Sonnenlicht goldene Strahlen über hügeliges Terrain, das von Blumen förmlich überquoll.

Was würde Cameo von einer solchen Fülle an Schönheit halten? Würde sie endlich einmal lächeln?

Verlangen mischte sich in seinen Zorn und kochte in seinem Inneren.

„Eure Majestät.“

Einer seiner Berater kam an seine Seite geeilt, dessen kurze Beine Überstunden machen mussten, um mit seinen schnellen Schritten mitzuhalten.

„Luzifer hat erneut einen Gesandten geschickt und verlangt Antwort auf sein Gesuch.“

Luzifer der Zerstörer, bekannt für seine Freude an der Qual anderer, war einer der neun Könige der Unterwelt. Er herrschte über Dämonen und die griechischen Götter und befand sich derzeit im Krieg mit Hades, seinem Vater, einem anderen König der Unterwelt.

Schon vor Wochen hatte Luzifer ihn eingeladen, sich seiner Allianz anzuschließen. Im Gegenzug hatte er gelobt, Cameo zurück ins Reich von Grimm und Fantica zu befördern.

Lazarus hatte durchaus mit dem Gedanken gespielt, das Angebot anzunehmen. Cameo … erneut in seiner Reichweite … wie sie ihn in den Wahnsinn treiben würde vor Verlangen …

Mich schwächen. „Lass den Gesandten ins Verlies eskortieren. Ich werde ihn bei nächster Gelegenheit erschlagen.“ Wer ihn in Versuchung führte, würde leiden.

„Ja, Eure Majestät. Selbstverständlich.“ Der Berater hastete davon.

Eine Gruppe Schmetterlinge schloss sich Lazarus an und tänzelte über ihm dahin. Mit den Himmelsschlangen waren auch die Schmetterlinge in Scharen in das Reich gekommen, im Tode genauso von ihm angezogen wie schon immer in seinem Leben. Warum, wusste er nicht.

Nun kam eine ältere Frau – die Heilerin – dazu. Am Arm trug sie einen Korb mit Tiegeln und Bandagen.

Gemeinsam bestiegen sie den Hügel, und schließlich kamen die verletzten Himmelsschlangen in Sicht. Eine lag ausgestreckt am Boden, schwarzes Blut troff ihr aus dem linken Auge. Die andere wand sich vor Schmerzen, das Maul von einem versteinerten Ast aufgesperrt.

Der Zorn in seinem Inneren verfinsterte sich. Himmelsschlangen waren äußerst loyal, aber ebenso jagdgetrieben. Sie hatten die Instinkte eines Psychopathen – doch es waren seine Psychopathen, das Äquivalent des hochgeschätzten Pferdes eines Cowboys. Ohne jedes Zögern würden sie sich für ihn in den Kampf werfen.

Mit Mühe bekam er den Ast los und machte sich dann gemeinsam mit der Heilerin daran, die Kreaturen zusammenzuflicken. In ein paar Tagen würden die beiden so gut wie neu sein. Bis dahin würden sie leiden, während zerrissene Muskeln und Haut wieder zusammenwuchsen.

„Wer auch immer das getan hat, wird dafür bezahlen. Darauf habt ihr mein Wort.“ Den Schuldigen ausfindig zu machen würde kein Problem darstellen. Das Blut von Himmelsschlangen hinterließ bei jedem Brandblasen.

Dankbar jaulten die Kreaturen ihn an.

Lazarus überließ sie den fähigen Händen der Heilerin und marschierte entschlossen zu den Ställen, um sich dem Kontingent Soldaten anzuschließen, das er zu den Waffen gerufen hatte.

Die Jagd war eröffnet.

3. Kapitel

„Der Gegner, den du überleben lässt, ist der Gegner, der dir ein Messer in den Rücken rammen wird.“

– Die hohe Kunst der Enthauptung

Cameo humpelte über den geschäftigen Dorfmarkt. Von allen Seiten priesen Marktschreier ihre Waren an, ein chaotischer Soundtrack aus Stimmengewirr. Der Duft von Würzfleisch und kandierten Früchten erfüllte die Luft.

Abrupt blieb sie stehen. Da, auf einem Tisch im Schatten eines azurblauen Obstbaums, lagen ihre Stiefel. Und ihre Waffen!

Wütend schnaubend marschierte sie auf den Verkäufer zu, einen hochgewachsenen Kerl mit langem grauem Bart. Der Schmerz in ihrem Fußknöchel zuckte auf, und die Blasen an ihren Händen brannten.

Als der Mann sie bemerkte, präsentierte er ihr mit einer stolzen Geste ihr Eigentum. „Habt Ihr etwas entdeckt, das Euch gefällt?“

„Ja. Dein Herz auf einem Silbertablett.“

Sofort traten Tränen in seine Augen. Dank Elend entging ihm ihre Drohung völlig.

„Nur heute im Angebot, zum Sonderpreis von … von …“ Er verstummte, und plötzlich vibrierte er förmlich vor Eifer. „Ihr lebt. Ihr gehört zu den Lebenden. Euer Körper ist lebendig!“

Überraschung tanzte einen Reigen mit ihrem allgegenwärtigen Kummer. Woher wusste er, dass sie den Weg durch die Rute genommen hatte, ohne den Tod zu erfahren?

Mit aufgesetzt gelangweilter Miene versuchte er, seine Erregung zu verbergen. „Ich kaufe Euch den Körper ab. Was hättet Ihr gern dafür? Die Dolche? Ein besser gefertigtes Paar werdet Ihr nirgends finden.“

„Ich weiß. Weil ich sie selbst gefertigt habe“, stieß sie zähneknirschend hervor.

Er zuckte zusammen, seine Tränen liefen schneller. „Wenn Ihr sie wollt, müsst Ihr sie schon kaufen. Ich muss meine Verluste wieder reinholen, immerhin hat Euer Freund einen Arm und ein Bein dafür verlangt. Es dauert mindestens einen Monat, bis meinem Dienstboten die Gliedmaßen nachwachsen, bis dahin muss ich die ganze Schwerstarbeit alleine verrichten.“

Ihr Freund? Der Einzige, mit dem sie gesprochen hatte, war – sie zischte Rathbone an: „Du hast mir meine Sachen gestohlen?“

Der räudige Kater, der sie in das Dorf geführt hatte, strich ihr um die Beine. „Miau?“

Cameo hob die Hand, um ihn beim Nackenfell zu packen, aber er sprang blitzschnell außer Reichweite. „Du hast mir meine Verteidigung genommen, du elendes Biest von einer Katze. Ich musste mit Stöcken kämpfen. Mit Stöcken! Die Bezahlung für deine Hilfe kannst du vergessen.“ Moment. Das war nicht richtig ausgedrückt. „Ich schulde dir nichts für deine Hilfe.“ Nicht, dass der Wichser ihr geholfen hätte.

„Was soll ich sagen? Selbst ich muss für gewisse Dinge bezahlen.“

Als voll ausgewachsen erschaffene Frau, die in den Diensten eines Königs gestanden hatte – töte für mich oder stirb von meiner Hand –, waren Cameo durchaus schon einige perverse Unsterbliche begegnet. Rathbone musste von allen der Schlimmste sein.

„Ihr.“ Plötzlich starrte der Marktschreier auf die Brandblasen an ihren Händen und stolperte rückwärts. „Ihr seid das. Ihr habt die Himmelsschlangen verletzt.“

Empörtes Aufkeuchen ertönte um sie herum, und die Menge, Kunden wie Verkäufer, rückte zu einer undurchdringlichen Mauer zusammen.

Während Cameo verwirrt die Leute musterte, gackerte Elend vergnügt. Zehn von zehn sind sich einig: Du bist ein furchtbarer Mensch, ohne dich wird die Welt besser dran sein.

Depression ergoss sich über sie wie kochender Teer und heftete sich zäh an ihre Seele. Eine Empfindung, die allein der Dämon herbeigerufen hatte. Er wollte sie kontrollieren.

Ganz ruhig.

Im selben Moment drang Hufgeklapper an ihre Ohren, eine willkommene Ablenkung. Die Menge teilte sich und gab den Blick auf ein Bataillon finster dreinblickender Soldaten frei.

Alles ging auf die Knie und zeigte mit dem Finger auf sie. Laute Anschuldigungen hagelten auf sie ein.

„Sie!“

„Sie war’s!“

„Sie ist es, nach der Ihr sucht!“

Cameo hob das Kinn und straffte die Schultern. „Ihr wollt keinen Kampf gegen mich. Ich bin eine hochrespektierte Freundin Eures Königs.“ Zumindest hoffte sie, dass sie als Freunde auseinandergegangen waren. „Außerdem – wenn Ihr mich angreift, bringe ich Euch um.“

Lazarus zu finden war zu ihrem einzigen Daseinszweck geworden. Im Grunde war er ihre Entsprechung eines Organspenders. Wenn er Licht auf bestimmte Erinnerungen warf, die Elend ihr gestohlen hatte, würde er ihr damit ein neues Herz schenken.

Krieger zuckten zusammen, als wären sie geschlagen worden. Finstere Blicke wichen tränenfeuchten Augen, Unterlippen zitterten. Aus der Menge erhob sich ein Chor von Schluchzern.

Nur ein Soldat ritt weiter auf sie zu. Er hatte das schwindende Sonnenlicht im Rücken, sein Gesicht war in Schatten getaucht.

Als er anhielt, um von seinem seltenen Pegasus abzusteigen – einem geflügelten Schlachtross –, verschwanden die Schatten. Köstliche Spannung durchzuckte Cameo.

Er war schlicht überwältigend, der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Er verströmte pure Männlichkeit und sexuelle Arroganz.

Das dichte pechschwarze Haar stand ihm vom Wind zerzaust um den Kopf. Seine Augen waren dunkel, bodenlos, mit winzigen Lichtpunkten darin. Wie Sterne! Seine Gesichtszüge hätten aus Stein gemeißelt sein können, stolze, gerade Nase, ausgeprägte Wangenknochen und ein kantiger Kiefer, den ein dunkler Bartschatten umspielte. Zu seiner unnatürlichen, aber ach so köstlichen Größe bildeten massige, sehnige Muskeln das perfekte Gegengewicht.

Unter seinem Kettenhemd blitzten etliche Tätowierungen hervor. Rosen mit blutenden Dornen, eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss, ein Totenschädel – mehrere Totenschädel –, Schmetterlinge. An einer Hand hatte er LOVE auf die Knöchel tätowiert. An der anderen stand das Wort HATE.

Unbehaglich richteten sich ihr die Nackenhaare auf.

Sein Blick strich über ihren Körper, langsam, beinahe brutal, verschlang sie. Als wäre sie Henkersmahlzeit und sein einziger Weg zur Erlösung zugleich. Sie erschauerte, während ihr Blut sich erhitzte.

Fauchend kickte Elend gegen ihre Schädeldecke. Lauf! Flieh!

Hast du etwa Angst, Dämon? Was für eine interessante Entwicklung.

Hatte der Mann Macht über das Böse? Oder speziell über sie? Konnte er derjenige sein, nach dem sie suchte?

Bessere Frage: Wollte sie, dass er es war?

„Endlich.“

Wilde Spannung und ungefilterte Aggression ging von ihm aus, bei denen ihre weiblichsten Regionen dahinschmolzen.

„So sehen wir uns wieder.“

Noch ein Erschauern, diesmal seinem Tonfall zu verdanken. Das heisere Timbre war ebenso sinnlich wie der Rest von ihm. Sie leckte sich die Lippen. „Wieder?“

Anders als der Leopard, die Marktschreier und alle um sie herum hob das Tier von einem Mann beim Klang ihrer Stimme nur eine Augenbraue.

„Willst du jetzt so tun, als würden wir uns nicht kennen?“

„Ich wünschte, ich würde nur so tun, als ob.“ Ihr Herz flatterte und ihre Knie zitterten. „Wer bist du?“

Seine Musterung wurde noch intensiver, seine dunklen Augen hypnotisierten sie so vollkommen, dass ihr beinahe die geisterhaften Finger entgangen wären, die durch ihren Kopf strichen. Beinahe. Sie kannte die Empfindung und runzelte die Stirn. Versuchte er, ihre Gedanken zu lesen?

Zorn flammte in ihr auf. Ich muss meine Geheimnisse bewahren.

Die wenigen Male, die sie Unsterblichen mit einer derart übergriffigen und gefährlichen Fähigkeit begegnet war, hatte sie erst das Schwert geschwungen und dann Fragen gestellt.

Mit einer bewussten Anstrengung versetzte sie ihm einen mentalen Stoß. Sobald er aus ihrem Kopf war, errichtete sie einen Schild um ihre Gedanken.

„Du erinnerst dich tatsächlich nicht an mich.“

Mit knappen Schritten überbrückte er die Distanz … und oh, wow, roch der Mann gut. Wie teurer Champagner und Honigschokolade.

Ihr wurde ein wenig schwindlig. Als er mit großen, schwieligen Händen ihr Gesicht umfasste und ihren Blick zu seinem zwang, wurde das Gefühl schlimmer. Allein schon diese Berührung versengte sie.

„Ich bin der, nach dem du suchst“, stieß er rau hervor. „Ich bin Lazarus.“

Die Bestätigung erschütterte sie bis ins Mark. Sie wartete auf einen Funken des Wiedererkennens, betete darum, doch in ihrem Kopf war nur ein dunkler Abgrund der Trauer, des Kummers und … der Erregung? Ihre Brustspitzen richteten sich auf, ihr Unterleib zitterte und zwischen ihren Beinen bildete sich Wärme.

Eilig drehte Elend den wollüstigen Empfindungen den Hahn ab, und Cameo blieb beraubt zurück.

Befriedigung umspielte Lazarus’ Züge … und quälte sie.

„Zumindest dein Körper erinnert sich an mich“, stellte er fest.

Wie Elektrizität knisterte es durch sie hindurch.

Dieses Mal überflutete Elend sie mit einer kochenden Schlammlawine aus Depression. Sofort sackten ihre Schultern herab.

„Tja“, sprach Lazarus spöttisch weiter. „Wie ich sehe, bist du immer noch ein verbittertes altes Weib.“

Ein altes Weib? Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. All diese Zeit hatte sie das Bedürfnis geplagt, Lazarus zu finden – wie eine Krankheit … ein Fieber … Und währenddessen hatte er nur Schlechtes von ihr gedacht. „Wie ich sehe, bist du ein Bastard.“

Aus der Menge erhoben sich Keuchen und Wehklagen.

Lazarus lächelte träge, verrucht. „Klug erkannt. Aber ich bin dein Bastard, Sonnenschein.“

Sonnenschein? Sie? Beinahe hätte sie sich verschluckt. „Ich will von dir nur, was in deinem Kopf steckt. Erzähl mir von unserer Zeit miteinander.“ Bitte!

„Zuerst beantworte mir eine Frage.“

Sie nickte knapp.

„Was würdest du tun, wenn ein Mann dich küssen würde? Ich frage für einen Freund.“

Er wagte es, sie aufzuziehen, und sie wagte es, Gefallen daran zu finden. Plötzlich überschattete Verlangen ihre Neugier. Will er mich küssen?

Bevor Cameo auf der Suche nach Lazarus in dieses Reich gelangt war, hatte ihre Freundin Anya verkündet: „Wir laufen Männern nicht hinterher, wir löschen sie aus. Meinetwegen, diese eine Ausnahme kannst du machen. Aber versteck bloß dein Filet. Warum die Kuh kaufen, wenn man sie auch stehlen und umsonst vernaschen kann?“

Cameo hatte entgegnet: „Du meinst, wieso das Schwein kaufen, wenn man ohnehin bloß ein kleines Würstchen kriegt?“

„Deine Hände“, sagte Lazarus jetzt und holte sie damit zurück in die Gegenwart. Die Augen leicht zusammengekniffen, sein Körper stocksteif, umfasste er ihre Handgelenke und hob sie ins Licht, um ihre zahlreichen Brandblasen zu mustern. „Du hast dich mit den Himmelsschlangen angelegt.“

Grob machte sie sich los. „Ich hab mich dagegen gewehrt, als All-you-can-eat-Buffet zu enden, falls du das meinst.“

Seine dunklen Augen wurden noch schmaler.

„Ich habe geschworen, derjenige, der meinen Schoßtieren das angetan hat, würde einen grausamen Preis dafür bezahlen.“

Seinen Schoßtieren? „Kannst es ja mal versuchen.“ Dann würde er bald herausfinden, dass sie so einiges einstecken konnte.

Wieder stieg ein Chor von Wehgeschrei aus der Menge auf.

„Ich versuche nicht, Sonnenschein, ich vollstrecke, und ich halte immer Wort. Ich habe gesagt, der – oder die – Schuldige würde bezahlen … aber nicht, wie.“ Er spielte mit ihren Haarspitzen. „Da du eine Freundin bist, werde ich mir eine angemessene Strafe einfallen lassen müssen.“

Sie schnappte nach Luft. „Wenn du mich auch nur anrührst, dann …“

„Kommst du. Ich weiß.“

Was!

Wieder kickte Elend in ihrem Schädel um sich. Scharfer Schmerz fuhr ihr in die Schläfen.

Lazarus positionierte sich vor ihr, wobei sein Kettenhemd über seinen prallen Muskeln spannte. Schwere Lider senkten sich über Augen, in denen wilde Hitze loderte, seine Grausamkeit verschärfte sich zu einem zweischneidigen Schwert. Er war beinahe … Furcht einflößend. Nein. Er war Furcht einflößend. Nur ein wahrer Krieger konnte Kettenhemd und Leder tragen.

„Sonnenschein, ich weiß, wie du klingst, wie du aussiehst und dich anfühlst, wenn du äußerste Lust empfindest.“

Ihr stockte der Atem und erhitzte sich in ihrer Lunge. Ihre Knochen wurden weich, und ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben. Nicht bloß Lust – äußerste Lust, hatte er gesagt.

Er log. Er musste lügen. Niemand hatte ihr je auch nur das kleinste bisschen Lust geschenkt. Es sei denn …

Elend hatte den ersten Orgasmus aus ihrem Gedächtnis gelöscht, den sie nicht vorgetäuscht hatte.

Der Gedanke vernichtete sie. Ein solcher Verlust wäre eine Misshandlung, eine Vergewaltigung ihres Bewusstseins.

Von jetzt auf gleich war Lazarus’ wütende Miene wieder da. „Was machst du hier, Cameo? Warum bist du ins Reich der Toten zurückgekehrt?“

Was auch immer zwischen ihnen vorgefallen war, welche Lust sie auch erfahren haben mochte, das Ende war offensichtlich turbulent gewesen.

Ich hätte in Budapest bei meinen Freunden bleiben sollen.

Während sie vor ihm zurückwich, labte Elend sich an ihrer Erschütterung. Unter den Zuschauern erhob sich Getuschel.

„Ich wette, er tötet sie … durch Lust.“

„Wo kann ich mich anstellen?“

Den Blick unverwandt auf sie gerichtet, befahl Lazarus: „Lasst uns allein. Sofort.“

Ruhig und gelassen hatte er den Befehl gesprochen, und doch zerstreute die Menge sich in Sekundenschnelle. Stände und Waren blieben herrenlos zurück, Soldaten und Pferde trotteten davon.

Lazarus war hier König, sein Wort Gesetz, seine Macht unangefochten. Er war ein Gott unter Menschen. Wusste er über Elend Bescheid? Es musste so sein, immerhin hatte er einen Teil ihrer Gedanken gelesen. Wollte er ihren Tod, wie Alex es gewollt hatte?

Sie hatte Alex nie einen Vorwurf wegen seines Verrats gemacht. Nein, den hatte sie purer Angst zugeschrieben.

Als sie sich von den Jägern befreit hatte, war sie zu Alex zurückgekehrt. Auf Knien vor ihm liegend, blutig und zerschlagen, hatte sie ihm von der Büchse erzählt. Er hatte sein Schwert fallen lassen, war zu ihr auf den Boden gesunken und hatte sie in die Arme geschlossen. Sie hatte geglaubt, er hätte endlich verstanden.

Das Böse, wie es in dir haust, muss ausgelöscht werden, hatte er gesagt. Dann hatte er erneut nach den Jägern gerufen. Erst da hatte sie die Wahrheit akzeptiert. Elend hatte ihn infiziert, und das war allein ihre Schuld.

Während sie sich ein zweites Mal freigekämpft hatte, war ihr ein Jäger entgegengetreten und hatte gesagt: Komm freiwillig mit uns, oder Alexander stirbt.

Alex war gestorben.

Selbst jetzt ließ die Schuld ihr noch keine Ruhe, und das Elend in ihrem Inneren war nicht das Werk des Dämons. Ich bin für keinen Mann erstrebenswert.

Nein, du bist eines jeden Mannes Niedergang, antwortete Elend.

Sie wich einen weiteren Schritt zurück, wobei ihre wunde Ferse auf einem scharfkantigen Stein landete. Cameo zuckte zusammen.

Als Lazarus’ Blick auf ihre Füße fiel, zog ein finsterer Ausdruck seine Mundwinkel nach unten. „Deine Füße. Deine Füße sind blutig. Du bist verletzt.“

Von seinen Lippen war das Wort „verletzt“ ein grausamer Fluch. Ein Versprechen auf Gewalt.

„Ist das das Werk der Himmelsschlangen?“, verlangte er zu wissen.

Würde er seine Schoßtiere bestrafen, wenn es so wäre? „Das kannst du dem Marsch hierher zuschreiben – und dem Dreckskerl von Gestaltwandler, der mir meine Stiefel gestohlen hat.“

Lazarus strich sich mit der Zunge über die Zähne. Plante er, Rathbone leiden zu lassen?

Warum interessierte es ihn, wer ihr was antat, obwohl er sie doch so offensichtlich hasste?

„Harte Worte, Schätzchen, harte Worte“, ließ Rathbone sich vernehmen, der ein Stück entfernt um einen der Marktstände strich. „Und das, nachdem ich dich vor einem tragischen Ende bewahrt habe.“

Lügner! „Ich habe mich selbst gerettet.“ Drohend schüttelte sie die Faust in seine Richtung.

Unbeeindruckt schnalzte der Leopard mit der Zunge, als wäre sie zu blöd, um den Unterschied zwischen Rettung und Gefahr zu erkennen.

Lazarus’ Finger krümmten sich um das Heft eines Dolchs, und Rathbone trat den Rückzug an.

„Da ihr anscheinend gerade beide eure Tage habt … Wir sehen uns wann anders.“ Einen Wimpernschlag später war der Leopard verschwunden.

Cameo beneidete ihn um die Fähigkeit zur Teleportation. Holen, was man haben will, und gleich wieder verschwinden. „Du hast mir eine Frage gestellt“, wandte sie sich an Lazarus. „Jetzt kriegst du deine Antwort. Ich bin hier, weil ich Antworten will. Ich will alles wissen, was zwischen uns passiert ist.“

Schweigend ging er in die Knie und drückte sanft, aber bestimmt seine Schulter in ihren Bauch.

„Was …“, setzte sie an.

Er richtete sich auf, hob sie dabei hoch und legte sie sich über die Schulter.

Ihr fehlten die Worte. Die Furcht einflößende Hüterin des Elends, durch die Gegend geschleppt wie ein Kartoffelsack? Geschah das gerade wirklich? Ernsthaft?

„Wir unterhalten uns noch“, versicherte er ihr. „Später.“

„Und was machen wir jetzt?“, erkundigte sie sich neugierig, aber ohne Furcht.

Kurze Pause. Dann: „Wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben.“

Während er sprach, landete ein Schmetterling mit scharlachroten Flügeln auf dem Tisch mit ihren Dolchen, und sie stöhnte. Wieder ein Zeichen bevorstehenden Unheils.

Ihre Beziehung zu Lazarus würde kein gutes Ende nehmen, oder?

4. Kapitel

„Wie man in sechs einfachen Schritten einen Krieg gewinnt. Erstens: Verhöhnen.“

– Die hohe Kunst der Enthauptung

– Wie man den Sieg erringt

Lazarus marschierte durch die meterhohen Glasflügel des Eingangstors, geöffnet von den Wachen, die er dort postiert hatte. Über seiner Schulter hing eine schockierend gefügige Cameo. Das letzte Mal, als sie ins Geisterreich eingetreten war, hatte er sie gespürt und sie aufgefangen, als sie gen Boden gestürzt war. Warum hatte er sie heute nicht gespürt?

„Bist du durch ein Portal gefallen?“, fragte er. „Oder bist du auf einem anderen Weg hergekommen?“

„Portal“, grummelte sie. „Die Landung war echt beschissen.“

Hatte er sie irgendwie aus seinem Bewusstsein verbannt, auf dieselbe Weise, wie sie ihn aus ihren Gedanken ausgesperrt hatte? Oder hatte sie ihn von Anfang an geblockt?

Tja, er blockte sie jetzt jedenfalls nicht. Er konnte an nichts und niemanden außer Cameo denken.

In der geräumigen Eingangshalle hielt die Dienerschaft beim Putzen inne, um sich vor ihm zu verneigen … und ihn erstaunt anzustarren. Nie zuvor hatte er so öffentlich Körperkontakt mit einer Frau gehabt.

Cameo war noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Seidige ebenholzschwarze Locken, Augen wie Sterlingsilber, rubinrote Lippen. Ihre Augen flüsterten: Komm näher, während ihr Dämon drohte: Das ist nah genug. Sie war seine persönliche Verführerin. Sie bezirzte ihn, und dazu hatte sie kein Recht!

Schon jetzt prickelten und brannten seine Oberschenkel, das erste Anzeichen, dass die Kristalle sich ausbreiteten.

Wusste sie, was für eine schreckliche Wirkung sie auf ihn hatte? Oder wie sehr sie ihn schwächen könnte, ihn für seine Feinde zu einer leichten Beute machen? Interessierte es sie überhaupt?

Er öffnete ihr seine Gedanken, prallte jedoch gegen ihren mentalen Schild. Seine Fragen blieben unbeantwortet, und in ihm siedete vertrauter Frust hoch. Frust, Wut und die allgegenwärtige Begierde.

Seine Gier nach dieser Frau war unstillbar, doch er konnte sie nicht haben. Es sei denn, verstand sich, er würde seine Rachepläne gegen jene aufgeben, die ihm so grausames Unrecht zugefügt hatten, und sich mit ewiger Gefangenschaft in seinem unzerstörbaren Kristallgrab abfinden.

Niemals! Warum brachte er sie nicht einfach hier und jetzt um? Sie zu enthaupten wäre pure Notwehr.

Doch schon bei der Vorstellung schrak er körperlich zusammen.

Verflucht sollte sie sein!

„Achtung, Großer.“ Cameo tätschelte ihm den Hintern, obwohl sie eigentlich hysterisch hätte sein sollen. „Sind zweiundfünfzig Kilo zu schwer für dich?“

Dieses freche Mundwerk.

Konnte es etwas Besseres geben bei einer Frau?

Flick sie zusammen und schick sie nach Hause, ohne über ihren köstlichen Körper herzufallen. „Da hat wohl jemand praktischerweise mal wieder einen Gedächtnisverlust erlitten, was?“ Die Worte kamen schärfer heraus, als er beabsichtigt hatte. Konnte es sein, dass er ein kleines bisschen verbittert war? „Dir sind da ein paar Kilo entfallen.“

Die kleine Teufelin hieb ihm die Fäuste in die Nierengegend. „Möglicherweise bist du äußerst intim mit meinem Körper vertraut, möglicherweise nicht. Definitiv weißt du einige Dinge, die ich gesagt und getan habe. Schöne, weniger schöne und die richtig hässlichen. Du weißt, ob wir als Freunde oder Feinde auseinandergegangen sind. Du weißt, wo wir stehen geblieben sind. Ich nicht. Das ist nicht praktisch, das ist ein Albtraum.“

Ihre Aufgebrachtheit versetzte seiner Wut einen Dämpfer, stattdessen erwachte bei ihm das Bedürfnis, sie zu trösten. Erinnerungen waren eine Form von Schutz; sie verrieten einem, wem man vertrauen konnte und wen man verabscheuen sollte, bewahrten einen davor, Fehler zu wiederholen, und zeichneten einen klaren Weg für die Zukunft.

Mitgefühl machte sich bei ihm breit, und er fluchte. Noch eine Schwäche, die er dieser Frau zu verdanken hatte.

Hinter ihnen schluchzte die Dienerschaft. Wütend starrte er das elende Häuflein an. Womöglich sollte er in Ohrstöpsel für sein gesamtes Personal investieren – oder sie alle abmurksen.

„Zurück an die Arbeit“, blaffte er.

Es entstand ein aufgeregtes Getümmel, als alle gehorchten.

Zielstrebig stapfte er eine Treppe hinauf, die Hand fest auf Cameos Hintern, und durchschritt mehrere Korridore. Er konnte es nicht erwarten, sie inmitten seiner Sachen zu sehen. Schon jetzt wusste er, wie er es genießen würde, ihren luxuriösen Duft – eine Mischung aus Bergamotte, Rosen und Neroliöl – in seinen Laken zu riechen … Mit großer Freude würde er ihr die Geschenke überreichen, die er für sie zusammengetragen hatte. Würde Begeisterung ihre Züge erhellen? Oder würde sie düster zu ihm aufschauen, den Kummer der gesamten Welt in ihrem Blick?

Spielte es eine Rolle? Nach ihrer Abreise würde er alles in seiner Macht Stehende unternehmen müssen, um dieser körperlichen Besessenheit von ihr ein Ende zu machen. Das bedeutete, jede Spur von ihr aus seinem Palast zu verbannen.

Ich darf sie nicht in mein Schlafzimmer lassen. Unter keinen Umständen.

Also betrat er das Zimmer neben seinem. Eins, das er extra für …

… einen Gast bereithielt. Ganz egal, für welchen.

Mit einem knappen Tritt schloss er die Tür hinter sich. Dann warf er sein schönes Bündel aufs Bett. Guck weg! Der Anblick von Cameo auf einer Matratze – egal, welcher – würde seine Abwehr nur noch mehr schwächen.

Autor

Entdecken Sie weitere Romane aus unseren Serien

Die Herren Der Unterwelt