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Die Herren der Unterwelt - Teil 1-3 + Prequel

SCHWARZES FEUER

Düster und höllisch heiß: Die Vorgeschichte der "Herren der Unterwelt" verrät, was lange vor Teil 1 geschah …

Geryon, der Wächter des Höllentors, mehr Tier als Mensch, und Kadence, die Göttin der Unterdrückung, eine engelsgleiche Schönheit - beide bewachen die Grenze zwischen der Menschenwelt und dem Höllenreich. Doch die Barriere bröckelt: Eine Horde von Dämonenherrschern versucht mit aller Macht, der Hölle zu entfliehen. Tod, Chaos und Zerstörung drohen der Menschheit. Um den Plan zu vereiteln und die Dämonen zu bekämpfen, machen sich Kadence und Geryon gemeinsam auf den Weg ins Innere der Hölle - doch nicht nur dort lauert brennende Gefahr …

SCHWARZE NACHT

Einst dienten die tapferen Lords der Unterwelt dem Gottkönig. Ein Zwist aber führte dazu, dass die zwölf Ritter mit einem Dämon bestraft wurden, den sie jeden Tag aufs Neue zu bezwingen haben ...

Die junge Wissenschaftlerin Ashlyn Darrow ist verzweifelt: An jedem Ort hört sie alle Gespräche, die je dort stattgefunden haben. Und sie weiß: wenn, dann können ihr nun die Lords der Unterwelt helfen. Auch auf die Gefahr hin, von den Unsterblichen getötet zu werden, wagt sie die Reise zum Haus der Verdammten - und trifft in den Wäldern vor den Toren Budapests auf Maddox, den Hüter des Dämons der Gewalt. Zum ersten Mal verstummen alle Stimmen in ihr.

Auch Maddox spürt sofort den unwiderstehlichen Reiz der jungen Amerikanerin. Doch er darf seinen Gefühlen nicht nachgeben, denn das Böse in ihm ist unberechenbar. Ein jahrtausende alter Kampf entflammt von Neuem: gegen den inneren Feind, und gegen den äußeren, der Ashlyns Spur verfolgt hat. Beide wollen nur eins: töten! Maddox' und Ashlyns Schicksal scheint besiegelt.

SCHWARZER KUSS

Er ist ein Verfluchter, der den Dämon des Todes in sich trägt: Lucien, Herr der Unterwelt, der sich vor Zeiten gegen die Götter aufgelehnt hat, die ihn nun knechten. Sich ihm zu nähern heißt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Doch Anya, Göttin der Anarchie, kann den Reizen des äußerlich so kühlen Kriegers nicht widerstehen. Gemeinsam erkämpfen sie sich eines der vier göttlichen Artefakte, den Käfig des Zwangs, und kommen sich dabei näher, als Lucien lieb sein kann. Die Liaison entgeht auch den Herrschern über die Dämonen nicht: Die Titanen befehlen Lucien, Anya zu töten.

SCHWARZE LUST

Sie wollen Gutes und sind doch zum Bösen verdammt: Die Herren der Unterwelt. Dritter Teil der preisgekrönten "Die Herren der Unterwelt"-Trilogie von New York Times Bestsellerautorin Gina Showalter.

Reyes’ Leben ist vom Schmerz bestimmt. So will es sein Dämon. Seit Jahrhunderten schon kann der Herr der Unterwelt Lust nur empfinden, wenn sie mit mörderischen Qualen verbunden ist. Aber Reyes begehrt etwas, das ihm helfen könnte, seinen Dämon zu besiegen: Danika Ford, eine Sterbliche. Danika ist auf der Flucht. Seit Monaten versucht sie den Herren der Unterwelt zu entkommen, die geschworen haben, sie und ihre Familie zu zerstören. Doch in ihren Träumen wird sie von Reyes heimgesucht, einem jener Krieger, dessen sehnsuchtsvolle Berührung sie nicht vergessen kann.


  • Erscheinungstag: 05.03.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1388
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768935
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Gena Showalter

Die Herren der Unterwelt - Teil 1-3 + Prequel

Gena Showalter

Die Herren der Unterwelt:

Schwarzes Feuer

Übersetzung aus dem Amerikanischen

von Michaela Grünberg

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Darkest Fire

Copyright © 2008 by Gena Showalter

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: iStock; Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN epub 978-3-86278-689-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Jeden Tag seit vielen Jahrhunderten war die Göttin auf ihrem Weg an ihm vorbeigekommen, wenn sie der Hölle ihren allabendlichen Besuch abstattete. Und jeden Tag hatte Geryon sie von seinem Posten aus beobachtet, während die heimliche Sehnsucht sein Blut tausendmal mehr erhitzt hatte, als die ewigen Flammen der Verdammnis in seinem Rücken es jemals getan hatten. Nie hätte er sie auf diese Weise ansehen dürfen, spätestens aber nach jenem ersten Mal hätte er fortan seinen Blick stets gesenkt halten sollen. Er war ein nichtswürdiger Sklave des Fürsten der Dunkelheit, eine Ausgeburt des Bösen; sie eine Göttin, ein Geschöpf des Lichts.

Er konnte sie nicht haben. Beim Gedanken daran ballte er unwillkürlich die Fäuste. Ganz egal, wie sehr er sich wünschen mochte, es wäre anders. Sie würde ihn ohnehin nicht wollen. Diese … Besessenheit führte zu nichts als Verzweiflung. Und davon hatte er bereits reichlich.

Und dennoch schaute er auch an diesem Tag zu, wie sie durch das triste Gewölbe schwebte, auf die zerklüftete Mauer zu, die den irdischen Untergrund vom Reich der Schatten trennte, und sie mit ihren zarten Fingerspitzen betastete. Goldene Locken fielen über ihren zierlichen Rücken und rahmten ein Gesicht ein, so makellos, so wunderschön, dass selbst Aphrodite daneben verblasst wäre. Ihre Augen, funkelnd wie Sterne, verengten sich skeptisch, auf den samtigen Alabasterwangen erschien ein rosiger Schimmer.

„Da ist ein Riss“, sagte sie, ihre sanfte Stimme wie eine elysische Melodie inmitten des Zischens der nahen Flammen – und der unmenschlichen Schreie, die das lodernde Feuer begleiteten.

Geryon schüttelte den Kopf, überzeugt, sich das gerade Geschehene nur eingebildet zu haben. In all der Zeit, die sie beide hier unten nun schon ihre Aufgabe erfüllten, jeder für sich, hatten sie niemals ein Wort gewechselt, waren kein einziges Mal von ihrer Routine abgewichen. Als Hüter des Tors zur Hölle sorgte Geryon dafür, dass es verschlossen blieb und sich nur öffnete, um neue verfluchte Seelen einzulassen. So war sichergestellt, dass nichts und niemand von dort wieder entkommen konnte – und wenn sie es dennoch versuchten, bekamen sie es mit ihm zu tun. Sie, die Göttin der Unterdrückung, verstärkte das Bollwerk allein mit ihrer Berührung. Nie zuvor war das Schweigen zwischen ihnen gebrochen worden.

Ihre ungewöhnlich angespannten Züge zeugten von Unsicherheit. „Hast du dazu gar nichts zu sagen?“

Im nächsten Augenblick stand sie direkt vor ihm, obwohl er auch nicht die kleinste Bewegung an ihr wahrgenommen hatte. Der allgegenwärtige Gestank, eine Mischung aus Schwefel, Qualm und versengtem Fleisch, wurde plötzlich vom süßen Duft von Geißblatt vertrieben. Tief atmete Geryon ein, die Augen verzückt geschlossen. Oh, hätte dieser Moment doch für immer andauern mögen.

„Torwächter“, drängte sie auf eine Antwort.

„Göttin.“ Er musste sich zwingen, die Lider zu öffnen, die Millimeter um Millimeter den Blick auf jene Schönheit enthüllten, die alles Dunkle und Hässliche hier unten überstrahlte. Aus unmittelbarer Nähe war sie nicht so perfekt, wie er erwartet hatte. Sie war sogar noch vollkommener. Vereinzelte Sommersprossen sprenkelten die dezent geschwungene Nase, und bei ihrem bezaubernden Lächeln zeigten sich kleine Grübchen auf den Wangen. Exquisit.

Was sie wohl über ihn dachte? Wahrscheinlich, dass er ein Ungeheuer war, unförmig und widerwärtig. Was der Wahrheit entsprach. Falls sie ihn tatsächlich so sah, ließ sie es sich allerdings nicht anmerken. In ihren glänzenden Augen lag nichts weiter als nachdenkliches Interesse. Welches, wie er vermutete, weniger ihm galt als der beschädigten Barriere. Selbst als er noch ein Mensch gewesen war, hatten Frauen einen großen Bogen um ihn gemacht und sofort die Flucht ergriffen, wenn er auch nur in ihre Richtung schaute. Er war zu groß, zu massig, zu ungeschickt. Und das schon bevor er in dieses oger-ähnliche Ding verwandelt worden war.

Manchmal fragte er sich, ob ihn bei seiner Geburt irgendjemand mit einem Fluch belegt hatte.

„Dieser Riss war gestern noch nicht da“, stellte sie fest. „Wodurch kann ein solcher Schaden entstanden sein? Und in so kurzer Zeit?“

„Eine Gruppe von Dämonen erhebt sich nunmehr täglich und versucht mit aller Macht, in die Freiheit zu entkommen. Die Hohen Herren sind ihrer Gefangenschaft überdrüssig geworden – und es verlangt sie nach lebendigen, menschlichen Opfern.“

Sie nahm die beunruhigenden Neuigkeiten ohne eine sichtbare Gefühlsregung auf. „Sind dir ihre Namen bekannt?“

Geryon nickte. Er musste nicht hinter die Barriere sehen, um zu wissen, wer auf der anderen Seite sein Unwesen trieb und ihr zu nahe kam. Er spürte es. Immer.

„Gewalt, Tod, Lüge, Zweifel, Elend … soll ich noch weitere nennen?“

„Nein“, antwortete sie leise. „Ich verstehe. Die Bösesten der Bösen.“

„Ja. Mit aller Kraft werfen sie sich gegen die Mauer und schlagen ihre Klauen hinein. Sie wollen unbedingt in die Welt der Menschen durchbrechen.“

„Dann zwing sie, damit aufzuhören.“ Ein Befehl, mit einem flehenden Unterton. Wenn es doch nur so einfach wäre. Er hätte alles getan, um ihren Wunsch zu erfüllen, selbst die letzten spärlichen Überreste seiner Menschlichkeit aufgegeben, hätte das etwas geändert. Alles, wodurch er ihr für das Geschenk ihrer täglichen Besuche, die Lichtblicke seines freudlosen Daseins, wenigstens ein kleines bisschen zurückgeben könnte. Egal, wie hoch der Preis wäre, er war gewillt, ihn zu bezahlen, solange sie dadurch hier bei ihm bliebe. Und sei es auch nur für ein paar Minuten länger, die er ihren betörenden Duft einatmen dürfte.

„Es ist mir verboten, meinen Posten zu verlassen, ebenso wie es mir verboten ist, das Tor aus irgendeinem anderen Anlass zu öffnen, als eine verdammte Seele einzulassen. Ich kann deshalb Eurer Anweisung leider nicht Folge leisten.“

Davon abgesehen war der einzige Weg, einen wild entschlossenen Dämon aufzuhalten, ihn zu töten. Und einen der Hohen Herren zu töten zählte ebenfalls zu den verbotenen Dingen.

Ihr entwich ein Seufzen. „Hältst du dich immer an das, was dir vorgeschrieben wird?“

„Immer.“ Anfangs hatte er versucht, gegen die unsichtbaren Fesseln anzukämpfen, die ihn gefangen hielten. Früher einmal. Doch diese Zeiten des Aufbegehrens gehörten lange der Vergangenheit an. Gegenwehr zog Schmerz und Leid nach sich. Nicht für ihn selbst, sondern für andere. Unschuldige Menschen, deren einziges Vergehen darin bestand, seiner Mutter, seinem Vater oder seinen Brüdern zu ähneln – seine wirklichen Angehörigen waren schon vor Ewigkeiten abgeschlachtet worden. Solche armen Seelen wurden hierher verschleppt und vor seinen Augen grausam zu Tode gefoltert. Diese Schreie … diese furchtbaren Schreie. So viel schrecklicher als jene, die aus den Tiefen der Hölle drangen. Und der Anblick … Er erschauderte. Wären solche Grausamkeiten ihm angetan worden, es hätte ihn nicht gekümmert. Ihm nicht mehr als ein Lachen entlockt und ihn nur umso härter kämpfen lassen. Aber Luzifer, Bruder des Hades und Herrscher der Dämonen, brauchte ihn gesund, funktionstüchtig, und so hatte er andere Mittel und Wege gefunden, ihn gefügig zu machen.

Die Erinnerungen würden ihn auf ewig verfolgen. Vielleicht wären sie zumindest in den Nächten einige Stunden lang verblasst, während er schlief. Doch selbst das blieb ihm verwehrt. Er war hellwach, rund um die Uhr; unfähig, jemals zu vergessen.

„Gehorsam. Von dir hätte ich etwas anderes erwartet“, sagte sie. „Du bist ein Krieger, ein Kämpfer, stark und unbeugsam.“

Ja, er war ein Krieger. Aber gleichzeitig auch ein Sklave. Das eine schloss nicht zwangsläufig das andere aus.

„Es tut mir leid, Göttin. Meine Stärke ändert nichts an den Gegebenheiten.“

„Ich bin bereit, dich für deine Hilfe zu entlohnen“, beharrte sie. „Nenn mir einen Preis. Was auch immer du begehrst, es soll dir gehören.“

Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte er abermals. Dann hätte er sie um einen kurzen Moment des Glücks gebeten, nur den Bruchteil einer Sekunde, in dem er den süßen Geschmack ihrer Lippen kosten könnte.

Aber warum so bescheiden? Was auch immer er begehrte. Eine Nacht in ihren Armen. Nackt. Ihre samtweiche Haut berühren, sie fühlen, sie schmecken. Ja. Ja. Jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte sich. Vor Erregung. Vor Sehnsucht.

Vor Verzweiflung.

Nein. Er durfte nicht riskieren, dass ein weiteres Mal Unschuldige leiden müssten – was scherst du dich um die? –, nur damit sein Verlangen nach dieser schönsten, herrlichsten aller Göttinnen Befriedigung fand. Also dann ein Kuss? Oder doch eine ganze Nacht? Nein und nochmals nein.

Jetzt wusste er, was wahre Folter war. Er biss die Zähne zusammen. Warum ihn das Schicksal Fremder kümmerte? Weil es ohne Gutes nichts als Böses gäbe. Und er hatte über die Jahrhunderte so viel Böses gesehen. Zu viel. Er würde nicht zulassen, dass durch seine Schuld noch mehr dazukäme.

„Torwächter?“, riss ihn die ungeduldige Stimme der Göttin aus seinen Gedanken. „Was immer du willst.“

2. KAPITEL

Sag nichts. Tu es nicht. Geryon schluckte trocken. „Es tut mir leid.“ Nein. Hör auf damit. Bitte sie um diesen einen Kuss; wenigstens das, wenn du schon zu allem anderen zu feige bist. „Wie ich bereits sagte, ich kann Euch nicht helfen.“ Nein, nein, nein.

Wie sehr er sich in diesem Augenblick hasste.

Enttäuscht ließ sie die zarten Schultern sinken, und sein Selbsthass wurde umso größer.

„Aber weshalb? Dir muss doch ebenso viel daran gelegen sein wie mir, die Dämonen dort zu halten, wo sie hingehören. Oder nicht?“

„Sicher.“ Geryon wollte ihr die Gründe für seinen Widerstand nicht nennen. Er schämte sich zutiefst, auch nach all dieser langen Zeit. Und doch würde er es tun. Vielleicht würde sie sich dann endlich abwenden und zu ihrer alten Gewohnheit zurückkehren, so zu tun, als existierte er überhaupt nicht. So wie jetzt konnte es jedenfalls nicht weitergehen, er musste diesem Irrsinn ein Ende setzen. Seine Sehnsucht nach ihr wurde von Minute zu Minute stärker, übermächtiger, und sein Körper reagierte, machte sich bereit.

Sie ist nichts für dich.

Wie oft würde er sich das noch in Erinnerung rufen müssen?

„Ich habe meine Seele verkauft“, gestand er leise. Geryon war einer der ersten Menschen gewesen, die dereinst die Erde bevölkert hatten. Trotz seines hünenhaften Körpers und der damit verbundenen Unbeholfenheit war er mit seinem Los zufrieden gewesen. Er hatte das Glück gehabt, eine hinreißende Frau an seiner Seite zu wissen, auch wenn seine Familie sie für ihn ausgesucht hatte und er umgekehrt für sie – wie auch für alle anderen weiblichen Wesen, die er kannte – nicht sonderlich anziehend gewesen war.

Ein Jahr nach ihrer Heirat war sie von einer schlimmen Krankheit heimgesucht worden. Tiefe Verzweiflung hatte ihn gepackt, denn nichts schien ihr zu helfen. Obwohl er sie nicht hatte glücklich machen können, so gehörte sie doch zu ihm, und er hatte es als seine Pflicht angesehen, für ihre Sicherheit und ihr Wohlbefinden Sorge zu tragen. So hatte er in seiner Not die Götter um Hilfe angerufen.

Sie aber hatten seinem Flehen keine Beachtung geschenkt, und die Angst und Ohnmacht waren ins schier Unerträgliche gewachsen.

In jenem Moment war Luzifer auf der Bildfläche erschienen. Was für ein gerissener Bursche.

Um seine Angetraute zu retten – und vielleicht sogar endlich ihr Herz zu gewinnen –, hatte Geryon sich dem Fürsten der Finsternis ausgeliefert. Und kurz darauf hatte die Verwandlung ihren Lauf genommen. Hörner waren aus seinem Schädel gewachsen, die Hände zu riesigen Pranken geworden und die Fingernägel zu scharfen, tödlichen Krallen. Dunkles, rötliches Fell hatte plötzlich seine Beine bedeckt, an deren Enden sich zu seinem Entsetzen keine Füße mehr befanden, sondern Hufe.

Binnen Sekunden war er vom Mann zum Ungeheuer geworden, mehr Tier als Mensch.

Seine Frau indes war tatsächlich gesundet, so wie Luzifer es ihm versprochen hatte. Doch an ihrer fehlenden Zuneigung zu Geryon hatte auch das nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Nicht genug damit, dass seine selbstlose Tat ihr nicht das Geringste bedeutet hatte, nein: Obendrein hatte sie ihn für einen anderen Mann verlassen. Einen Mann, mit dem sie sich offenbar von Anfang an heimlich getroffen hatte.

Welch ein Trottel er gewesen war. Ein Rindvieh. Alles umsonst, für nichts und wieder nichts.

„Was beschäftigt dich, Torwächter? Nie habe ich dich so … gebrochen gesehen.“

Er ballte die Fäuste, so fest, dass sich die Krallen tief in seine Haut drückten, und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart zu richten. Und auf die zauberhafte Göttin, die ihn besorgt ansah. Mitgefühl. In ihrem Gesicht ebenso wie in ihrer Stimme. Mitgefühl, von dem er sich nicht erweichen lassen durfte. Kalt und hart, das war es, was er sein musste. Immer. Denn anders würde er seine Zeit hier nicht überleben.

„Mein Handeln unterliegt nicht mehr meinem Willen. Sosehr ich auch wünschte, es wäre anders, ich kann nichts für Euch tun. Nun … bitte. Ihr habt doch sicher Pflichten, denen Ihr nachgehen solltet?“

„Ich tue genau jetzt meine Pflicht. Wie steht es mit dir?“

Er wurde rot.

Sie seufzte erneut. „Verzeih, ich wollte nicht schnippisch sein. Ich bin erschöpft.“

Die Göttin musterte ihn, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Beklommen trat er von einem Bein aufs andere. Ihrem durchdringenden Blick ausgesetzt zu sein machte ihn nervös – schließlich wusste er nur allzu genau, wie abstoßend sein Äußeres war. Doch zu seiner Überraschung zeigte sich in ihren warmen Augen noch immer keine Spur von Abscheu, als sie nachdenklich die Brauen zusammenzog und fragte: „Deine Seele gehört dem Fürsten der Finsternis?“

„Ja.“

„Aber wäre sie dein, würdest du mir in dieser Sache deine Unterstützung gewähren?“

„Ja“, wiederholte er heiser. Und sie? Würde sie ihm nach wie vor eine Belohnung für seine Hilfe anbieten?

„Nun gut. Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Seine Augen weiteten sich entsetzt. Mit Luzifer verhandeln?

„Nein! Das dürft Ihr …“

Doch ehe er sie aufhalten konnte, war sie verschwunden.

In den Gewölben der Hölle:

„Luzifer, höre meine Worte. Ich verlange, mit dir zu sprechen. Du wirst dich mir zeigen. Zu dieser Stunde, heute, in diesem Raum. Allein. Ich werde genauso bleiben, wie ich gegenwärtig bin.“ Kadence, Göttin der Unterdrückung, wusste ihre Forderungen klar und unmissverständlich zu formulieren. Andernfalls nämlich würde der oberste Dämonenherrscher sie „auslegen“, wie es ihm gefiel, was sehr unangenehme Überraschungen mit sich bringen konnte. „Und du wirst vollständig bekleidet sein.“

Hätte sie schlicht um eine Unterredung mit ihm ersucht, wäre es gut möglich gewesen, dass sie sich unversehens in seinem Bett wiedergefunden hätte, an Händen und Füßen gefesselt, splitternackt und von einer Horde geifernder Monster umgeben.

Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass eine Reaktion auf ihre Forderung kam. Doch das hatte sie auch nicht erwartet. Er liebte es, sie warten zu lassen. Es gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Gib dich beschäftigt und desinteressiert.

Eingehend betrachtete Kadence ihre Umgebung, als sei sie nur gekommen, um sich in Luzifers Gefilden umzuschauen. Anstelle von Stein und Beton bestanden die Wände seines Palastes aus Flammen. Ein knisterndes, goldorangefarbenes Inferno. Tödlich bei der leisesten Berührung.

Sein Thron war geformt aus schwarzer Asche und Knochen, zwischen denen weitere züngelnde Flammen tanzten. Daneben, nur wenige Schritte entfernt, stand ein blutverschmierter Opferstein. Darauf lag noch immer ein lebloser Körper – abzüglich des Kopfes. Der allerdings würde bald schon von allein an seinen Platz zurückkehren, auf dass die Folterung von Neuem beginnen konnte. Das war der Lauf der Dinge hier unten.

Keine Seele würde dem endlosen Martyrium jemals wieder entrinnen, wenn sie erst einmal der Unterwelt anheimgefallen war. Nicht einmal im Tod.

Kadence verabscheute alles an diesem Ort. Dichte Schwaden beißenden Qualms stiegen aus den Feuern auf und legten sich um ihre Schultern wie körperlose Finger der Verdammten. Wie gern hätte sie mit der Hand den Gestank wegzufächeln versucht, doch sie tat es nicht. Sie würde keine Schwäche zeigen, und sei es auch nur durch solch eine winzige Geste.

Ließe sie sich etwas anmerken, das wusste sie genau, wäre sie innerhalb von Sekunden in eine riesige Wolke dieses giftigen, pechschwarzen Rauchs eingehüllt. An nichts fand Luzifer mehr Gefallen, als Schwachpunkte zu entdecken und sie auszunutzen.

Diese Lektion hatte Kadence bereits kurz nach ihrer Ankunft gelernt. Gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen – als sie gekommen war, um Hades und Luzifer darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie zu ihrer Wächterin ernannt worden war. Wer wäre besser geeignet als sie – die Verkörperung der Eroberung und der Unterwerfung –, um sicherzustellen, dass Dämonen und Verdammte genau dort blieben, wo sie hingehörten? Zumindest waren die Götter dieser Ansicht gewesen und hatten sie dafür ausgewählt.

Zwar teilte sie deren Meinung hinsichtlich ihrer Fähigkeiten nicht, aber sich zu widersetzen hätte Bestrafung zur Folge gehabt. Mittlerweile war sie jedoch mehr als einmal zu dem Schluss gekommen, dass sie vielleicht besser die Strafe hätte in Kauf nehmen sollen. Mit Steinen beworfen zu werden, blutige Tierleichen auf ihren Eingangsstufen vorzufinden, die man als Warnung hinterlassen hatte … All das wäre erträglich im Gegensatz zu dem Dasein, das sie jetzt führte. Ein Dasein, dessen Tage sie damit zubrachte, in einer nahe gelegenen Höhle zu schlafen – doch es war kein echter Schlaf; es war ein ruheloses Dämmern, währenddessen ihr geistiges Auge in glasklaren Visionen pausenlos über die verschiedenen Dämonenlager schweifte –, und in dessen Nächten sie eine kahle, hässliche Steinmauer bewachte.

Während der Torwächter sie die ganze Zeit über beobachtete.

Das jedoch war kein so hartes Los.

Viele Jahre lang hatte es sie verunsichert, wie er jede ihrer Bewegungen verfolgte. Er unterschied sich so sehr von allem, was sie bis dahin gesehen hatte; halb Mann, halb Ungeheuer, und in seiner Gesamtheit seltsam … anders. Aber nach einer Weile hatte sie sich nicht nur an seinen ausdruckslosen Blick gewöhnt, sondern sogar begonnen, Trost darin zu finden. Er beschützte sie vor Dämonen und bösen Seelen, wenn sie durch das Tor schlüpften und bei ihren Fluchtversuchen jeden angriffen, der ihnen im Weg stand. Der Wächter drängte sie zurück, streckte sie nieder; ganz egal, wie schwer er selbst dabei verletzt wurde.

Dies war das Mindeste, das Kadence für ihn tun konnte.

Ich habe meine Seele verkauft, hatte er gesagt. Wofür? fragte sie sich. Was hatte er im Gegenzug bekommen? Hielt er diesen Tausch für ein gutes Geschäft oder bereute er ihn mittlerweile? Beinahe hätte sie ihn danach gefragt, doch dann war ihr wieder eingefallen, wie unangenehm ihm schon ihr Gespräch über die Risse in der Mauer gewesen zu sein schien. Mit persönlichen Fragen konfrontiert zu werden wäre ihm wohl kaum behaglicher gewesen, und so hatte sie es sein lassen.

Was vermutlich auch besser so war. Im Moment musste sie sich einzig und allein auf das konzentrieren, weswegen sie hier war. Wie hatte ihr entgehen können, welches Unheil sich in den Tiefen der Hölle zusammenbraute? Dass Hohe Herren ein für alle Mal zu entfliehen versuchten?

Sollte Luzifer etwa ihren geistigen Blick von den entscheidenden Gegenden seines Reiches ferngehalten haben? Nur er war mächtig genug dazu. Doch wenn ihr Verdacht tatsächlich stimmte: Was hoffte er zu erreichen, indem er seinen Untergebenen bei ihren Ausbruchsversuchen half? Würde sie ihn direkt darauf ansprechen, bekäme sie nichts als Lügen zu hören. So viel stand fest.

Also, was tun? Sie fühlte sich hilflos, mehr als je zuvor in ihrem Leben.

Nein, das war nicht ganz richtig. Während ihres ersten Besuchs hier in seinem Palast hatte Luzifer sofort ihre Unsicherheit gespürt – und seitdem auch die winzigste Gelegenheit genutzt, sie zu schüren. Eine flüchtige Berührung mit seiner plötzlich flammenlodernden Hand hier, eine anzügliche Bemerkung dort. Jedes Mal, wenn sie ihn aufsuchte, um irgendeine Unregelmäßigkeit zu besprechen, hatte sie erneut feststellen müssen, dass sie ihm nicht gewachsen war. Dass er mit ihr spielte und sie es sich gefallen ließ.

Das enttäuschte die Götter natürlich. Unter anderen Umständen hätten sie Kadence schon lange zurückbeordert, davon war sie überzeugt – wäre da nicht ihre unumkehrbare Verschmelzung mit der Barriere gewesen. So war sie für immer und alle Zeiten an die Mauer gebunden, für deren Unversehrtheit sie die Verantwortung trug. Eigentlich hatte diese Maßnahme dazu dienen sollen, ihr die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern. Doch nicht einmal die Götter selbst hatten damals geahnt, wie tief greifend jene Verbindung sein würde. Was mit ihr geschehen war, ging weit über die bloße Fähigkeit hinaus, reparaturbedürftige Stellen zu erspüren. Nein, Kadence hatte bald schon erkennen müssen, dass die Mauer zu ihrem einzigen Lebenszweck geworden war.

Mit jedem Herzschlag wurde sie von ihrer Essenz durchströmt, als sei das steinerne Bollwerk ein lebendiges Wesen, dessen Empfindungen sie wahrnahm, als wären es ihre eigenen, ob sie wollte oder nicht.

Das erste Mal, dass nach ihrer Ankunft einer der Dämonen von innen wütend daran gescharrt hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt, weil der heftige Stich in ihrer Brust sie vollkommen unerwartet getroffen hatte. Inzwischen hatte sie sich an dieses Gefühl gewöhnt, und es schockierte sie nicht mehr, obwohl sie nach wie vor jede kleinste Erschütterung spürte. Streifte eine Seele im Vorbeiflug den Felsen auch nur leicht, verursachte das ein Prickeln auf Kadence’ Haut. Züngelten die Flammen daran empor, spürte sie ein schmerzhaftes Brennen. Und dennoch, die jüngsten Attacken der Hohen Herren hatte sie nicht bemerkt. Warum?

Natürlich, in letzter Zeit war ihr schleichend bewusst geworden, dass sie immer öfter ohne ersichtlichen Grund mit Müdigkeit und Erschöpfung zu kämpfen hatte. Dann diese unerklärlichen Schmerzen, die sie überkamen wie Blitze, die ihren Körper durchzuckten. Doch ihre Visionen hatten nichts Beunruhigendes gezeigt. Nun, jedenfalls nichts Beunruhigenderes als das, was sie gezwungenermaßen jeden Tag mit ansehen musste.

Zumindest wusste sie jetzt, was die Schmerzen verursachte: der Riss in der Mauer. So eng, wie sie an diese düstere Unterwelt gebunden war, brachte er sie wortwörtlich um.

Du schweifst ab. Konzentrier dich! Unaufmerksamkeit konnte sie teuer zu stehen kommen. Sehr teuer. Dabei war der Ausgang dieser Verhandlung von so immenser Wichtigkeit. Alles hing davon ab, dass sie erfolgreich war. Sich gegen Luzifer durchsetzte.

Die Geräusche, die das Geschehen außerhalb des Palastes begleiteten, wurden immer unerträglicher. Das irre Lachen der Dämonen, die Schreie der Gefolterten, das feuchte Schmatzen von Fleisch, das sich vom Knochen ablöste. Und dieser widerliche Gestank … Der allein war schon eine Hölle für sich.

Inmitten eines solchen Grauens gelassen zu bleiben war nicht leicht. Ganz besonders nicht in einer Situation wie dieser. Bereits seit Wochen musste dieses Rudel der gefährlichsten aller Dämonenherrscher sein heimliches Zerstörungswerk vorangetrieben haben. Denn wenn schon die äußere Seite einen sichtbaren Riss hatte, dann jagte ihr der Gedanke, wie die andere wohl erst aussehen mochte, einen eisigen Schauer über den Rücken. Sie hätte doch zumindest sehen müssen, wie die Dämonen ihre Lager verließen und sich der Mauer näherten. Aber nein, nicht einmal das hatten ihre sonst so unfehlbaren Visionen ihr gezeigt.

Genug jetzt. Offenbar hatte ihre Konzentrationsfähigkeit stärker gelitten, als sie gedacht hatte.

„Luzifer“, rief sie abermals. „Du hast meine Wünsche vernommen. Nun komm ihnen nach. Sonst gehe ich, und du verpasst eine einmalige Chance, einen Handel mit mir abzuschließen.“

Schritte hallten über den Boden, ließen ihn erbeben, und plötzlich teilten sich die Flammen. Endlich. Hindurch kam Luzifer geschlendert, gut gelaunt und frisch wie ein Sommermorgen.

„Selbstverständlich habe ich deine wohlklingende Stimme vernommen“, schmeichelte er in seidigem Tonfall. Und er lächelte, sein Gesichtsausdruck der Inbegriff von Verschlagenheit. „Du erwähntest einen Handel? Was kann ich für dich tun, meine Süße?“

3. KAPITEL

Kadence unterdrückte ein Schaudern.

Luzifer war groß, stattlich und muskulös wie ein Krieger und auf sinnliche Weise attraktiv; trotz des finsteren Infernos, das in seinen Augen loderte. Doch mit dem Biest, welches das Tor zu seinem Reich bewachte, konnte er sich nicht messen. Dem Biest, dessen Gesicht zu grob und kantig war, als dass man es mit einem anderen Wort als „wild“ hätte beschreiben können. Dem Biest, dessen gewaltiger, kraftstrotzender Körper ihr Furcht hätte einflößen sollen, ihr stattdessen jedoch schlicht ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Dem Biest, dessen monströse Erscheinung sie hätte abstoßen sollen, es aber nicht tat. Nein, seine braunen Augen – deren Ausdruck ihr früher teilnahmslos vorgekommen war, und in denen sie seit heute einen tief verborgenen Schmerz erkannte – zogen sie magisch an. Und nicht zuletzt war es sein Beschützerinstinkt, der sein Übriges zu Kadence’ Faszination tat.

Vielleicht hätte sie niemals begonnen, sich für ihn zu interessieren, wäre womöglich bis in alle Ewigkeit weiterhin dem Irrtum erlegen, er sei genauso wie alle anderen widerwärtigen Kreaturen hier. Doch dann hatte er ihr dieses erste Mal das Leben gerettet. Unglücklicherweise konnten selbst unsterbliche Göttinnen niedergemetzelt werden, wenn sie nicht aufpassten – eine Wahrheit, die ihr nie so deutlich vor Augen geführt worden war wie an jenem Tag. Als sich das Höllentor geöffnet hatte, um einer neuen Seele den Eintritt in die Abgründe dahinter zu gewähren – und ein dämonischer Lakai durch den Spalt geschlüpft und auf Kadence zugestürmt war, gierig nach warmem, lebendigem Fleisch.

Wie gelähmt hatte sie dagestanden, überzeugt, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.

Der Wächter – wie hieß er eigentlich? – war dazwischengegangen. Ein Hieb mit der Pranke, und seine vergifteten Klauen streckten den Angreifer nieder, bevor er Kadence auch nur berührt hatte. Danach waren sie zur Tagesordnung übergegangen, als sei nichts geschehen. Keiner von beiden hatte etwas gesagt. Ihr Glaube an seine vermeintliche Bösartigkeit war zwar deutlich angekratzt, aber noch nicht völlig verschwunden.

Von da an jedoch hatte sie ihn mit anderen Augen gesehen, ihn genauer beobachtet und immer mehr Einzelheiten bemerkt, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Seine Vielschichtigkeit beeindruckte sie. Ebenso wie seine Widersprüchlichkeit.

Er war ein Zerstörer, und doch hatte er sie gerettet. Er besaß nichts, und trotzdem lehnte er ihr Angebot ab, ihn für seine Hilfe zu bezahlen. Obwohl er alles von ihr hätte haben können, was er begehrte. Wie selten so etwas war. Wie ungewöhnlich. Wie … wohltuend. Es brachte sie dazu, ihm einen Gefallen tun zu wollen. Alles, egal was, so wie sie gesagt hatte. Und für einen kurzen, magischen Moment hätte sie schwören können, er würde sie um einen Kuss bitten. Sein Blick war zu ihren Lippen gewandert und hatte dort verharrt, sehnsuchtsvoll, aufgewühlt. Jede Faser seines Körpers hatte pures, brennendes Verlangen ausgestrahlt.

Bitte, hätte sie ihn am liebsten angefleht. Sag es. Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, der Mund war ihr wässrig geworden. Wie er wohl schmecken würde? Doch dann war er wieder zu sich gekommen, hatte den Kopf geschüttelt und sich mit hängenden Schultern von ihr abgewandt. Nein.

Wie ein Schlag in die Magengrube hatte die Enttäuschung sie getroffen. Doch ihn bedrängen oder gar nötigen würde sie nicht. Er hatte schließlich schon mehr als genug für sie getan. Und doch, immer wieder kreisten ihre Gedanken um die eine Frage, die eine Hoffnung … Fühlte auch er sich zu ihr hingezogen? In jenem magischen Moment hatte sie geglaubt, ein Glühen in seinen Augen zu sehen. Ein Glühen, das mit dem Fegefeuer nichts zu tun hatte.

„Langweile ich dich so sehr, dass du dich nicht einmal dazu herablässt, mir deine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem du mich gerufen hast? Zweimal?“ Luzifers provokante Bemerkung rief sie in die Gegenwart zurück, und sie hätte sich ohrfeigen können. Willst du etwa dem Fürsten der Finsternis leichtes Spiel gewähren und dieses Kräftemessen verlieren, bevor es überhaupt richtig begonnen hat?

„Langweilen?“ Sie zuckte mit den Schultern. Mit Ja zu antworten käme einer Aufforderung an ihn gleich, ihrem Treffen etwas mehr „Würze“ zu verleihen. Ein Nein dagegen wäre gleichbedeutend mit dem Bekenntnis, sie hätte Interesse an ihm. Zumindest seiner Logik zufolge. Keins von beidem würde für sie zu etwas Gutem führen.

Schweigend ließ er den Blick über ihren Körper schweifen, während er es sich auf seinem Thron bequem machte. Kaum dass er Platz genommen hatte, begannen sich durchscheinende, geisterhafte Schleier zwischen den Knochen zu winden. Ein juwelenbesetzter Kelch tauchte aus dem Nichts auf, materialisierte sich direkt in Luzifers Hand, und genüsslich nippte er daran. Ein Tropfen von tiefroter Farbe rann ihm aus dem Mundwinkel und fiel auf sein blütenweißes Hemd, wo er einen kleinen, dunklen Fleck hinterließ. Blut.

Innerlich schüttelte es sie vor Ekel, ihr Gesichtsausdruck jedoch blieb unbewegt.

„Du bist angewidert von mir, nur zeigst du es nicht“, stellte er mit einem humorlosen Grinsen fest. „Wo ist die verzagte Maus, die mich sonst besuchen kommt? Die zittert und kaum ein Wort herausbringt, ohne zu stottern? Die ist mir sympathischer.“

Stoisch hob Kadence das Kinn. Sollte er sie ruhig beleidigen, so viel er mochte, sie würde nicht darauf eingehen. Dieses Mal nicht.

„Die Barriere wurde beschädigt, und mehrere Hohe Herren sind wild entschlossen, deinem Reich zu entfliehen.“

Das Grinsen gefror auf seinen Lippen. „Du lügst. Das würden sie nicht wagen.“ Seine Wut war nachvollziehbar. In einem Gefängnis ohne Insassen, über wen hätte er da herrschen sollen?

„Du hast natürlich vollkommen recht. Nie im Leben käme deine treu ergebene Bande von Dieben, Vergewaltigern und Mördern auf den Gedanken, sich gegen ihren Patron zu stellen und hinter seinem Rücken eigene Interessen zu verfolgen.“

Er verengte die Augen, offensichtlich verärgert. Was er eiligst mit einem lässigen Schulterzucken überspielte.

„Also schön, die Barriere bröckelt. Was soll ich deiner Meinung nach dagegen unternehmen?“

Eigentlich hätte diese Antwort sie nicht überraschen dürfen. Wusste sie doch, dass es ihm Vergnügen bereitete, es seinem Gegenüber möglichst schwer zu machen.

„Der Torwächter. Er kann mir dabei helfen, die Aufrührer zu stoppen. Doch da seine Seele dir gehört, musst du ihm zuerst deine Erlaubnis geben.“

Luzifer schnaubte verächtlich. „Das schlag dir aus dem Kopf. Dem gestatten, sich frei zu bewegen! Nein, nein, der wird hübsch genau da bleiben, wo er ist.“

Oh ja. Er machte es ihr schwer. „Warum?“

„Ach, ich brauche einen Grund? Tja, dann lass mich mal überlegen. Hmm …“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. „Wie wäre es damit: Sein Vorgänger hat sich von den Lügen eines gerissenen Dämons einlullen lassen, und um ein Haar wäre dadurch eine Legion entwischt.“

War dies eine seiner eigenen Lügen? Der Wächter, den sie kannte, hatte seinen Posten bereits lange vor ihrer Zeit innegehabt, also konnte sie nicht wissen, ob jemals ein anderer an seinem Platz gestanden hatte.

„Diesem könnte dasselbe passieren. Viel zu riskant.“

Das jedenfalls war eindeutig gelogen. Niemand nahm seine Aufgabe ernster als dieser Wächter. Ein solcher Fehler würde ihm nie und nimmer unterlaufen. Nicht ihm.

„Andererseits …“ Nachdenklich schüttelte Luzifer den Kopf. „Nein, Geryon ist nicht empfänglich für ihre Raffinessen.“

Geryon. Endlich. Ein Name. Aus dem Griechischen. Grob übersetzt bedeutete er „Monster“.

Das gefiel ihr nicht. Ihn machte mehr aus als sein Äußeres. Viel mehr.

„Na? Nichts weiter zu sagen, Mäuschen?“, fragte Luzifer. „Sollen wir unsere Unterredung dann als beendet betrachten?“

In letzter Sekunde hielt sie sich davon ab, sich mit der Zunge über die Zähne zu fahren. Was sollte dieses Spiel, das er da mit ihr trieb? Eine intakte Barriere war für ihn ebenso wichtig wie für sie. Nun ja, vielleicht nicht ganz so wichtig. Im Gegensatz zu ihr würde er nicht sterben, wenn die Mauer einstürzte. Doch sein Widerstand zerrte an ihren Nerven.

Mit dieser Erkenntnis hatte sie ihre eigene Frage auch schon beantwortet. Er spielte nicht, um sie abzulenken oder weil er etwas zu verbergen versuchte, sondern einzig und allein zum Spaß. Aber sie würde nicht länger mitspielen. „Ich bin deine Gebieterin“, sagte sie mit fester Stimme. „Du wirst …“

„Gar nichts werde ich – du gebietest hier niemandem“, fiel er ihr in einem regelrechten Wutausbruch ins Wort – ein Wutausbruch, den er so schnell abschüttelte, wie er gekommen war. Ein rascher Atemzug, und er hatte sich wieder unter Kontrolle. „Du bist hier als meine … Anstandsdame. Du beobachtest, berätst und gibst darauf acht, dass alles seine Ordnung hat. Aber Befehle erteilst du nicht.“

Das „weil du zu schwach bist“ sprach er nicht aus. Das war auch nicht nötig. Sie wussten beide, dass es so war.

Wie gern wäre sie anders gewesen. Aufrecht und stark. Und sie hätte es sein sollen. Einst war sie es gewesen. Schließlich war ihre gesamte Natur die der Unterwerfung. Anderer, nicht ihrer selbst. Früher einmal. Weshalb war sie jetzt so anders?

Du weißt weshalb, und du tätest gut daran, dieses Thema ein für alle Mal ruhen zu lassen.

Als ihr klar wurde, dass ihr nichts weiter übrig blieb, als Luzifers Spiel mitzuspielen, straffte sie die Schultern. Es gab keine andere Lösung.

Du kannst es. Für Geryon. „Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dir einen Handel vorgeschlagen und du warst nicht abgeneigt. Wollen wir also beginnen?“, fragte sie in einem seidigeren Tonfall, als sie sich je zugetraut hätte.

Er nickte, als habe er genau darauf die ganze Zeit über spekuliert.

„Lass uns beginnen.“

Im Vorhof zur Hölle

„Ich verstehe nicht“, sagte Geryon und weigerte sich hartnäckig, seinen Posten zu verlassen. Er verschränkte sogar die Arme vor der Brust; eine Geste, die ihn an sein früheres Leben zurückdenken ließ, als er mehr als der Torwächter gewesen war, mehr als das versklavte Ungeheuer ohne freien Willen. „Luzifer würde niemals seine Zustimmung geben, mich … aus seinen Diensten zu entlassen.“

„Ich versichere dir, er hat es getan. Du bist frei.“ Die Göttin schaute auf ihre leichten Sandalen an den zarten Füßen hinunter. „Endlich.“

Verheimlichte sie ihm etwas? Versuchte womöglich, ihn in eine Falle zu locken, aus welchem Grund auch immer? Es war so lange her, dass er mit einem weiblichen Geschöpf zu tun gehabt hatte, und er wusste nicht mehr recht, wie man deren Verhalten richtig deutete. Ihr jedoch wollte er glauben. Alles und jedes. Und das war es, was ihm am meisten Angst machte.

Sie konnte ihn vernichten, ihm das Herz brechen. Oder was davon noch übrig war. Falls es da überhaupt noch etwas gab.

Sie wirkte blasser als sonst. Der zarte rosa Schimmer auf ihren Wangen fehlte, und die Sommersprossen hoben sich deutlicher ab. Die goldenen Locken, die ihr über die Schultern fielen, hatten ihren Glanz verloren, und er konnte Ruß auf den feinen Strähnen erkennen. Nur mit Mühe widerstand er dem Impuls, die Hand auszustrecken und ihr Haar durch seine Finger gleiten zu lassen, um es von dem schwarzen Schmutzfilm zu befreien.

Würde sie schreiend davonlaufen, wenn er es tatsächlich täte? Wahrscheinlich.

Auch ihre Kleidung war heute anders als sonst. Sie trug ein violettes Gewand und eine passende Halskette – an der ein tropfenförmiger Amethyst baumelte, so groß wie seine Faust und hell funkelnd wie die glitzernde Eisschicht, unter der die Erde seiner Heimat den Großteil des Jahres über lag. Eis, das er seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Und sie hatte er noch nie etwas Derartiges tragen sehen. Für gewöhnlich hüllte sie sich in schlichtes Weiß, von Kopf bis Fuß, ein Engel im Zentrum des Bösen, ohne überflüssigen Zierrat.

„Wie?“, bohrte er nach. „Warum?“ Und warum siehst du so traurig aus?

„Spielt das eine Rolle?“ Sie sah ihn an, und ihr Blick durchdrang ihn wie ein präzise geworfener Speer.

Jetzt wurde die Traurigkeit von Wut überlagert. Er mochte keins von beidem. Dieses wunderbare Wesen sollte niemals Kummer erleiden müssen, sondern nichts als Glück erfahren.

„Für mich tut es das.“

Aber nur, weil sein Überleben davon abhing. Wäre das nicht gewesen, er hätte sich zu allem bereit erklärt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr gegeben, was immer sie von ihm verlangte. Sogar in die alles verschlingenden Flammen des Fegefeuers wäre er ihr gefolgt, wie sie ihn zu Anfang gebeten hatte.

Sie stampfte mit einem ihrer zierlichen Füße auf. „Um die Mauer vor dem Einsturz zu bewahren, brauche ich deine Hilfe. Das muss dir fürs Erste als Antwort genügen. Du weißt so gut wie ich, dass Luzifer ihre Zerstörung nicht zulassen kann.“ Mit dem Zeigefinger winkte sie ihn zu sich heran. „Komm. Sieh selbst, welche Ausmaße der Schaden auf dieser Seite bereits angenommen hat. Dann wirst du verstehen, warum ich auf die andere gehen muss.“

Diesmal wartete die Göttin nicht auf eine Antwort. Sie drehte sich um und ging zu der gewaltigen steinernen Mauer hinüber. Nein, sie schwebte hinüber, jede ihrer geschmeidigen Bewegungen ein schimmerndes Leuchten im fahlen Zwielicht.

Wozu willst du so unbedingt überleben? Was hat dir das Leben denn bisher Gutes zugestanden? Geryon zögerte nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er ihr folgte. Tief atmete er den süßen Duft von Geißblatt ein, der sie umgab.

Und zu seinem Erstaunen kam niemand plötzlich aus den Schatten gesprungen, um sich auf ihn zu stürzen, nichts lauerte in der Dunkelheit, um ihn für seinen Ungehorsam zu bestrafen. War er wirklich frei? Konnte er es wagen, zu hoffen?

Die Göttin drehte sich nicht zu ihm um, als er neben ihr stehen blieb. Gedankenversunken fuhr sie mit der Fingerspitze über den dünnen Riss in der Mitte des Steins. Ein Riss, der sich ausbreitete und verzweigte, sodass er an viele kleine Wasserläufe erinnerte, die sich von einem reißenden Strom aus unaufhaltsam ins Land fraßen.

„Auf den ersten Blick sieht es nicht besonders schlimm aus, ich weiß. Aber der Riss ist schon jetzt doppelt so breit wie gestern. Wenn niemand die Dämonen aufhält, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Mauer fällt und sie in Legionen in die Welt der Menschen strömen.“

„Gelänge es nur einem Einzigen von ihnen, diese Welt heimzusuchen“, murmelte Geryon, „hätte das fatale Folgen. Chaos, Tod und Zerstörung würden über die Menschen hereinbrechen.“

Ob er nun bestraft würde oder nicht, er beschloss, ihr zu helfen. Er durfte nicht zulassen, dass solch eine Katastrophe geschah. Dass den Unschuldigen ihr Glaube an das Gute geraubt wurde, ihr Vertrauen, ihre Zuversicht. Viel zu kostbar waren diese Dinge.

„Angenommen, ich tue es ... angenommen, ich helfe Euch …“

Noch immer hatte sie ihm den Rücken zugekehrt.

„Ja?“ Ein atemloses Wispern.

„Verdiene ich mir damit immer noch eine Belohnung? Was auch immer ich will?“ Wie selbstsüchtig er war, danach zu fragen, doch er nahm die Worte nicht zurück.

„Ja.“ Kein Zögern. Ihre Stimme immer noch atemlos. Was erwartete sie wohl, worum er sie bitten würde?

„Also gut, so sei es. Ich akzeptiere den Handel. Ich werde Euch in die Hölle führen, Göttin.“

4. KAPITEL

Überrascht holte die Göttin Luft, und ihr Blick flackerte zu seinem Gesicht, ganz kurz nur, ehe sie ihn wieder auf den rauen Stein richtete.

„Du hilfst mir? Obwohl du jetzt weißt, dass du nicht länger ein Gefangener bist? Dass es dir freistünde zu gehen, wohin du willst?“ Diese leuchtenden Augen, die vollen, roten Lippen … Bei ihrem Anblick wurde ihm die Brust eng.

„Ja. Trotzdem.“ Wenn sie die Wahrheit sagte und er wirklich frei sein sollte, gäbe es doch keinen Ort für ihn, an den er gehen konnte. Zu viele Jahrhunderte waren vergangen, und sein einstiges Zuhause existierte nicht mehr. Seine Familie … tot. Und ohne Zweifel würde er mit seiner Erscheinung Angst und Schrecken verbreiten, wo immer er auftauchte. Davon abgesehen, so verlockend die Vorstellung von Freiheit auch war: Seine Bedenken, sich darauf einzulassen, konnte das nicht zerstreuen. Die Göttin selbst mochte vielleicht nichts Böses im Schilde führen, aber Luzifer tat es garantiert.

Bei ihm gab es immer einen Haken an der Sache. Heute frei zu sein bedeutete nicht zwangsläufig, dass er es morgen auch noch wäre. Und die Tatsache, dass er seine Seele nach wie vor nicht zurückerhalten hatte …

Nein. Er wollte sich lieber keine falschen Hoffnungen machen.

„Ich danke dir. Ich hatte nicht damit gerechnet … Ich … Sag mir, warum hast du ihm deine Seele verkauft?“, fragte sie leise, abermals den Riss betastend.

Ein Themenwechsel. Einer, auf den er nicht vorbereitet gewesen war.

„Wie genau kann ich Euch helfen?“, antwortete er rasch mit einer Gegenfrage. Er wollte nicht, dass sie von der Dummheit erfuhr, die ihn in seine missliche Lage gebracht hatte.

Schließlich ließ sie den Arm sinken und sah Geryon direkt an. Sein Blick ruhte auf ihr, und der angespannte Ausdruck wich langsam aus ihrem Gesicht.

„Ich bin Kadence“, stellte sie sich vor, als hätte er nach ihrem Namen gefragt und nicht, wie sie sich den Ablauf ihrer gemeinsamen Mission konkret gedacht hatte.

Kadence. Wie sanft die Schwingungen der Silben in seinem Geist nachklangen, so wunderbar warm, zart wie Seide – bei den Göttern, wie lange lag es zurück, dass er solch einen feinen Stoff berührt hatte? – und süß wie Wein. Wann hatte er das letzte Mal den Geschmack von Wein auf der Zunge gehabt?

„Ich bin Geryon.“ Einst hatte er einen anderen Namen getragen. Doch mit seiner Ankunft hier unten war ihm auch dieser letzte Rest seiner Vergangenheit genommen worden, indem Luzifer ihm kurzerhand einen neuen gab. Monster in der wörtlichen Übersetzung, die tiefer gehende Bedeutung war jedoch „Wächter der Verdammten“. Genau das, was er seit jenem Tag war, und alles, was er jemals sein würde. Mit Seele oder ohne.

In einigen der alten Legenden wurde er, wie ein Dämon ihm einmal hämisch entgegengeschleudert hatte, als dreiköpfiger Zentaur beschrieben. In anderen war die Rede von einem bösartigen Hund. Und manche behaupteten gar, bei dem Torwächter handle es sich um die jämmerlichen Überbleibsel eines Kriegers namens Herkules. Ihn scherten diese Geschichten wenig. Alles war besser als die Wahrheit.

„Ich stehe Euch zu Befehl“, erklärte er. „Kadence.“ Auf seinen Lippen fühlte sich ihr Name sogar noch wunderbarer an.

Ihr Atem stockte. Er hörte, wie die Luft in ihre Kehle strömte, aber nicht wieder heraus.

„Aus deinem Mund klingt mein Name wie ein Gebet.“ Da war kein Erschrecken in ihrer Stimme, nur … Verunsicherung?

Hatte es so geklungen? „Verzeiht bitte.“

„Du musst dich nicht entschuldigen.“ Die Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück, mehr noch, sie errötete richtiggehend. Bezaubernd. Dann klatschte sie unvermittelt in die Hände und lenkte das Gespräch wieder auf das, was momentan ihrer beider dringlichste Sorge sein sollte. „Zuallererst müssen wir die Risse in der Mauer flicken.“

Er nickte zustimmend, gab aber zu bedenken: „Ich fürchte nur, sie könnten schon zu groß geworden sein.“ Oberflächliche Schäden waren leicht zu reparieren. In die Tiefe gehende nicht. Das galt für Mauern ebenso wie für Lebewesen, wie Geryon aus eigener Erfahrung wusste. Seine inneren Wunden mochten vernarbt sein, ganz verheilen würden sie jedoch nie mehr. „Sie provisorisch zu verschließen wird ihre Ausbreitung nur für eine begrenzte Zeit aufhalten.“ Aber nicht den unausweichlichen Einsturz verhindern, dachte er, behielt seinen Pessimismus jedoch für sich. Er wollte sie nicht entmutigen. Obwohl er wirklich nicht wusste, was sie tun sollten, wenn es so weit war. Wenn das Tor zur Hölle sich auftat und verdammte Seelen und Dämonen die Erde überrannten.

Das musste unter allen Umständen verhindert werden. Nur, wie schon gesagt, hatte er keine Ahnung wie.

„Richtig. So wie ich die Dämonen kenne, lassen sie nicht locker, bis sie ihr Ziel erreicht haben.“ Ein weiteres Mal schaute sie zu ihm hoch. In ihrem Blick spiegelte sich Angst, wo doch nichts als Glück und Zufriedenheit hätte sein sollen. Was für eine Schande.

„Geryon“, sagte sie, nur um gleich darauf ihre sinnlichen Lippen zusammenzupressen und wieder zu verstummen.

Was von seinem Herz noch geblieben war, setzte mehrere Schläge aus. Sie war so märchenhaft schön, ihre Zartheit und ihr liebevolles Wesen standen in so krassem Gegensatz zu allem, was er selbst darstellte. Er wollte den Kopf einziehen, sich und seine hässliche Fratze am liebsten verstecken.

„Ja?“

„Ich … ich …“

Warum war sie so nervös? „Ihr könnt offen mit mir sprechen, Göttin.“ Was sie auch brauchte, er würde es ihr geben. Alles.

„Kadence. Bitte.“

„Kadence“, wiederholte er und schwelgte abermals in diesem herrlichen Klang. So gut …

„Ich … wüsste gern … an welche Belohnung hattest du gedacht?“

Das war nicht, was sie hatte sagen wollen, er wusste es, und sprachlos starrte er sie an. Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Er war davon ausgegangen, dass sie diese Frage später klären würden. Zuerst die Arbeit, dann …

„Einen … einen Kuss.“ Er wartete auf den Entsetzensschrei, der nun unweigerlich folgen musste, auf die entrüstete Ablehnung.

Ihr Mund aber formte nur ein stummes O.

„Wenn Ihr wollt, könnt Ihr die Augen schließen und Euch vorstellen, ich wäre jemand anders“, platzte er hastig heraus. „Oder mich zurückweisen, ich würde das verstehen.“ Hör auf zu plappern, du machst es nur noch schlimmer.

„Weshalb sollte ich?“, fragte sie sanft, ihre Stimme plötzlich seltsam belegt.

„Ich … ich ..“ Jetzt war es an ihm, nichts als nervöses Gestammel herauszubringen. Sie wies ihn nicht ab?

Sie feuchtete ihre Lippen an und beugte sich leicht vor. „Möchtest du ihn sofort?“

Sofort? Auf einmal bereitete ihm das Atmen Schwierigkeiten. Das bloße Stehen. Seine Knie zitterten, der Boden begann unter ihm zu schwanken. Dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen. Sofort? schoss es ihm erneut durch den Kopf. Jetzt geriet er in Panik.

Er war nicht vorbereitet. Bestimmt würde er sich zum Trottel machen, auf ganzer Linie versagen. Und dann würde sie sich ernüchtert abwenden, seine Hilfe nicht länger wollen. Oder schlimmer noch, ihm danach heimlich mitleidige Blicke zuwerfen, während sie die Mauer reparierten. Blicke, die er vielleicht nicht sehen, dafür umso schmerzlicher in seinem Rücken spüren würde.

„Später“, presste er hervor.

War das … Enttäuschung, was sie die Stirn runzeln ließ? Sicherlich nicht.

„Also schön“, sagte sie. Ruhig, emotionslos. „Später. Aber Geryon, ich muss dich warnen. Es besteht die Gefahr, dass wir nicht überleben werden.“

„Was meint Ihr?“

„Sobald die Barriere wiederhergestellt ist, werden wir die Dämonen finden und unschädlich machen müssen, die sie zerstören wollen. Bist du dir sicher, dass du warten willst?“

Die Dämonen unschädlich machen. Natürlich. Und was das in der Konsequenz bedeutete, wussten sie beide. Einen der Hohen Herren zu töten war ein Vergehen, das hart bestraft wurde. Ausnahmslos. Unbarmherzig.

„Nun?“, fragte sie. „Noch kannst du deine Meinung ändern.“

Hätte er es nicht besser gewusst, wäre ihm ihr Tonfall fast … ungeduldig erschienen. Erwartungsvoll. Doch er wusste es besser. Sich auf Luzifers Angebot einzulassen war eine schwere Entscheidung gewesen. Jedenfalls hatte er das damals gedacht. Dies hier war tausendmal schwerer.

„Nein.“ Er würde sich diesen Kuss verdienen, und hoffentlich würde sie ihn danach nicht als unwürdig betrachten, wenn sie sich daran zurückerinnerte.

Sie nickte und wandte, wie schon so oft zuvor, den Blick ab.

„Dann lass uns mit der Arbeit anfangen.“

5. KAPITEL

Viele Stunden lang arbeitete Geryon an der äußeren Mauer, während er immer wieder Kadence’ Versuche, ihm zur Hand zu gehen, im Keim erstickte. Er bekniete sie förmlich, hinter ihm zu bleiben. Dämonen seien nicht zu unterschätzen, sagte er. Witterten sie frisches, warmes Fleisch, wurden sie blind vor Gier und waren kaum noch zu bändigen. Es sei klüger, das zu vermeiden.

Was er nicht sagte, war, dass er sie offensichtlich für zu schwach hielt, einen solchen Angriff abzuwehren. Schwach und zerbrechlich, so sah er sie. Er brauchte es nicht auszusprechen. Sie konnte es an der wachsenden Sorge in seinen Augen ablesen.

Ihm wäre es am liebsten gewesen, wenn sie ihn ganz allein gelassen hätte, doch das kam für sie gar nicht infrage. Sie hatte nicht so hoch gepokert und etwas ausgehandelt, womit sie garantiert den Zorn der Götter auf sich ziehen würde, nur um ihn am Ende einen Kampf für sie ausfechten zu lassen, den er ohne sie unmöglich gewinnen konnte.

Sie mochte nicht diejenige sein, die über die Dämonen herrschte – ihnen ihren Willen aufzwingen konnte sie dennoch. Hoffte sie. Außerdem: So schwach und zerbrechlich sie wirken mochte, verbarg sich in ihrem Inneren doch ein stahlharter Kern.

Was sie Luzifer schlussendlich an diesem Tag auch bewiesen hatte. Ihm und sich selbst.

Als Kind war sie eine unbezwingbare Naturgewalt gewesen, ein Tornado, der jeden und alles niedermähte, was ihm in die Quere kam. Sie hatte es nicht absichtlich getan, es war einfach geschehen. Sie hatte nur dem leisen Drängen dieser Stimme in ihrem Geist nachgegeben. Dominiere. Unterwerfe.

Willst du wirklich jetzt daran denken?

Kein Zeitpunkt wäre passender als dieser, befand sie. Das Einzige, womit sie sich sonst hätte beschäftigen können, waren diese anderen, noch unangenehmeren Gedanken, die ihr nicht aus dem Kopf gehen wollten. Wieso hatte Geryon abgelehnt, als seine Belohnung zum Greifen nah war? Was hinderte ihn, sich diesen Kuss schon im Voraus geben zu lassen? Warum hatte ihn ihr Vorschlag so schockiert?

Hierfür gab es mehrere mögliche Erklärungen. Erstens: Er war in Wirklichkeit überhaupt nicht auf einen Kuss aus – doch weshalb hätte er dann ausgerechnet darum bitten sollen? Oder er verübelte ihr, dass sie ihn um seine Hilfe gebeten hatte – das war die wahrscheinlichste. Und letztlich gab es da noch Möglichkeit Nummer drei: Er verzehrte sich schlicht nach einer Frau, irgendeiner, und da sie nun einmal die einzig verfügbare war, musste er zunächst seinen Körper dazu bewegen, entsprechend zu reagieren.

Wie erniedrigend.

Wie ausgesprochen wenig hilfreich.

Sie hätte es vorgezogen, ihm tatkräftig zur Seite zu stehen, anstatt herumzusitzen und aus Langeweile mit dem Grübeln anzufangen. Aber nein, jedes Mal, wenn sie versuchte, mit anzupacken, hatte er sie verscheucht. Zum Schluss sogar gedroht, zu gehen, sollte sie nicht bald endlich Ruhe geben. So hockte sie also hier in ihrer Ecke, das Kinn auf die Hände gestützt, frustriert. Nutzlos.

Ich bin nicht schwach, verdammt. Auch wenn ich mich, zugegeben, lange Zeit wie ein Schwächling aufgeführt habe.

Damals, als Kind, hatte sie eines schrecklichen Tages feststellen müssen, dass sie den Willen ihrer eigenen Mutter gebrochen hatte. Dass von der einst so energischen, lebensfrohen Göttin nur noch eine leblose Hülle übrig geblieben war. Verstört hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen, voller Angst vor den Kräften, die in ihr schlummerten. Vor dem, was sie noch alles anrichten könnte, beabsichtigt oder nicht.

Leider gesellten sich zu dieser Angst bald weitere, als hätte sie eine Tür aufgestoßen und ein Willkommensschild darüber aufgehängt. Nur hereinspaziert. Und das waren sie, eine nach der anderen. Furcht vor Fremden, Orten, Gefühlen. Jahrhunderte lang hatte sie sich wie eine verschüchterte Maus verhalten, genau wie Luzifer gesagt hatte.

Unter all diesen Ängsten jedoch war sie noch immer die Göttin, als die sie geboren worden war. Unterdrückung. Sie forderte heraus. Sie wich niemals zurück, egal, wie übermächtig ihr Gegner auch schien. Bitte lass mich nicht zurückweichen. Nie wieder.

„Mehr kann ich nicht tun. Hoffen wir, dass es lange genug hält“, sagte Geryon.

Kadence hatte sich auf einen Felsbrocken in der Nähe gesetzt und erhob sich nun eilig. Das Gewand fiel ihr über die Knöchel, leicht flatterte der Saum im Luftzug.

„Sobald ich das Tor geöffnet habe“, – das Tor, hinter dem sich der Schlund der Hölle auftat – „müssen wir schnell sein. Es wird nur einen schmalen Spalt weit aufgehen, kaum genug, sich hindurchzuzwängen, aber es geht nicht anders.“ Denn sonst würden sie riskieren, dass jemand – oder etwas – die Gelegenheit nutzte und entkam.

„Ich verstehe“, sagte sie und trat dicht neben ihn.

„Auf der anderen Seite ist weder ein Vorsprung noch sonst etwas, das uns Halt geben würde. Wir müssen uns an der Mauer entlang bis nach unten hangeln.“

Erst als sie ihm mit einem knappen Nicken signalisiert hatte, dass sie bereit war, begann er die Steine auseinanderzuschieben, und laut knirschend gab das Tor langsam nach.

Kaum war der besagte Spalt entstanden, schossen auch schon glühend heiße Flammen und schuppige Arme daraus hervor, und schrille, wahnsinnige Schreie erfüllten die Luft. Geryon ging als Erster hinein und brüllte den herbeigeströmten Massen entgegen, sie sollten gefälligst verschwinden. Zu ihrer Überraschung sah sie die Dämonen tatsächlich auseinanderstieben, als sie ihm kurz darauf folgte. Die Flammen erloschen, und die Schreie verstummten. Ein Teil von ihr wollte glauben, dies wäre geschehen, weil sie Angst vor ihr hatten. Der andere wusste, es waren Geryons tödliche Klauen, die sie fürchteten.

Mit aller Kraft klammerte sie sich an der steil nach unten führenden Steinwand fest, während Geryon den Spalt von innen wieder schloss. Loszulassen hätte den freien Fall in den Höllenschlund bedeutet, ein klaffendes, brodelndes Loch, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen.

Handflächen … schweißnass …

„Bereit?“ Zentimeter für Zentimeter kam Geryon vorsichtig auf sie zugeklettert. Er hatte sich auf die linke Seite des Tores geschwungen, sie auf die rechte. „Bereit?“, fragte er noch einmal und streckte ihr die Hand entgegen.

„Ja.“ Endlich erfahre ich, wie er sich anfühlt. Sicherlich nicht so traumhaft, wie ich es mir erhoffe. Nichts kann so wunderbar sein. Doch kurz bevor es so weit war, glitt sein Arm über ihren Kopf hinweg und er befand sich plötzlich hinter ihr, dann neben ihr – und das alles, ohne sie auch nur zu berühren. Sie seufzte enttäuscht und krallte die Finger noch fester in die Mauerritzen, während sie versuchte, auf einem winzigen, bröckligen Vorsprung unter ihren Füßen die Balance zu halten, so gut sie konnte.

„Dort entlang.“ Er nickte zu dem Riss hinüber, den die Dämonen verursacht hatten. Auf dieser Seite war er deutlich breiter, als es von außen den Anschein machte.

„In Ordnung. Und Geryon? Danke. Für alles.“ Normalerweise teleportierte sie sich direkt in Luzifers Palast, ohne das Tor auch nur zu berühren, so groß war ihre Angst davor. Doch heute konnte sie das nicht tun. Denn Geryon konnte sie nicht teleportieren. Geschweige denn irgendjemand anderen. Diese Fähigkeit erstreckte sich nur auf ihren eigenen Körper.

„Gern geschehen.“

Im Vorbeihangeln erhob Kadence kurz die Hand über den nun wieder geschlossenen Spalt. Da es draußen keine zweite Verteidigungslinie in Form eines Wächters mehr gab, war eine zusätzliche Stabilisierung der ersten bitter nötig – ungeachtet der Tatsache, dass diese Verdichtung Kadence schwächte, denn für so etwas musste sie jedes Mal etwas von sich selbst opfern.

Auch als die so freigegebenen Funken ihrer Energie mit den Steinen des Tores verschmolzen, hütete sie sich davor, ihm zu nahe zu kommen. Geryon war vermutlich der Einzige, der ungestraft die gigantischen Torgriffe berühren konnte. Abgesehen von Hades und Luzifer natürlich. Jeder andere, der damit in Kontakt kam, gewollt oder nicht, spielte mit seinem Leben, hieß es. Sie hatte es nie gewagt, diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Plötzlich fiel ihr etwas auf, und mit nachdenklichem Blick auf ihren Begleiter legte sie den Kopf schief. Wenn Geryon fort war, wer öffnete von außen das Tor, um die Seelen der Verdammten hineinzulassen?

Vielleicht hatte Luzifer in der Zwischenzeit schon für Ersatz gesorgt. Vielleicht? Kopfschüttelnd lachte sie in sich hinein. Auf jeden Fall hatte er das. Er würde das Tor niemals unbewacht lassen, selbst wenn er wusste, dass Kadence es verstärken würde, so gut sie konnte.

Die Vorstellung, dass Geryon in Zukunft nicht mehr derjenige wäre, den sie jeden Tag sah … bedrückte sie. Sobald die Barriere nicht länger in Gefahr war – die Möglichkeit ihres Versagens verdrängte sie rigoros –, stand es Geryon frei, zu gehen. Sie aber blieb weiter hier gefangen.

Denk jetzt nicht darüber nach. Sonst würden ihr am Ende noch die Tränen kommen. Ihre Sicht würde verschwimmen. Wenn das passierte, könnte sie bei der nächsten Vertiefung im Stein leicht danebengreifen, und ihre Hand würde abrutschen. Ihre klatschnasse Hand.

Sie blickte sich um. Die Luft wurde bereits stickiger, bemerkte sie, heißer. So heiß, dass nicht nur ihre Hände, sondern auch Arme, Nacken, sogar ihr Gesicht mit einem Schweißfilm überzogen waren. Tropfen sammelten sich an ihrem Haaransatz und rannen ihre Schläfen hinab. Gelangten in ihre Augen, die sofort anfingen zu brennen und sich mit Tränen zu füllen, was ihre Sicht verschwimmen ließ.

„Geryon“, rief sie, hektisch umhertastend.

„Ich bin hier, Kadence.“ Im nächsten Moment kletterte er halb über sie hinweg und blieb dieses Mal schützend hinter ihr stehen. Sein herber, männlicher Duft hüllte sie ein, verscheuchte die fauligen Schwaden der Verwesung, von denen ihr langsam übel geworden war. „Alles in Ordnung?“

„Ja“, flüsterte sie. Aber bei den Göttern, in was für eine Lage hatte sie sich da nur manövriert?

6. KAPITEL

„Folge einfach meinen Bewegungen“, forderte Geryon sie auf. „Meinst du, du schaffst das?“

„Ja. Natürlich.“ Wirklich? Sie presste die Lippen aufeinander und begann, sich synchron mit ihm an der zerklüfteten Mauer entlangzuschieben. Schrecken erfüllte sie beim Gedanken an das bodenlos erscheinende Loch, das unter ihr wartete – weit mehr noch war sie allerdings mit dem männlichen Wesen hinter sich beschäftigt, das sie mit seinem breiten Rücken schützte, ihr Halt gab. „Wer weiß, vielleicht ist die Mauer ja gar nicht so schlimm beschädigt, wie ich befürchtet hatte. Eine Göttin wird doch noch hoffen dürfen, nicht wahr?“

„Richtig. Eine Göttin darf hoffen.“

Wie sehr ihr Körper danach hungerte, sich an seinen zu schmiegen. Sie wollte seine Stärke spüren, ihm nah sein, wenn auch nur für einen Augenblick. Doch sie tat es nicht, zu groß war ihre Angst, ihn abzulenken. Oder zu erschrecken. Oder durch die plötzliche Verlagerung ihres Gewichts aus der Balance zu bringen.

Ein Felsstück löste sich von der schmalen Erhebung, auf die sie gerade ihren Fuß gestellt hatte, und sie schrie auf.

„Ruhig bleiben. Du darfst auf keinen Fall deine Angst zeigen, egal wodurch“, raunte er ihr zu. „Die Dämonen und das Feuer weiden sich daran. Sie werden mit allen Mitteln versuchen, mehr davon in dir auszulösen.“

„Sie sind lebendig? Die Flammen?“

„Einige von ihnen, ja.“

Bei allen Gottheiten, wie viele Dinge gab es denn noch hier unten, von denen sie nichts wusste? „Ich hatte nicht erwartet, dass der Abstieg so schwierig sein würde. Wenn ich uns doch nur beamen könnte.“

„Beamen?“

„Sich von einem Ort zum anderen bewegen, nur mit der Kraft der Gedanken.“

„Du hast diese Fähigkeit?“

„Ja.“

„Und du kannst dich überall hindenken?“

„Überall hin, wo ich schon einmal war. Sich an ein unbekanntes Ziel zu beamen ist … nicht ganz ungefährlich.“

Er dachte einen Moment nach. „Bist du schon einmal auf dem Grund dieser Höhle gewesen?“

„Nein.“ Wahrscheinlich wunderte er sich darüber, dass sie, als einer der Hüter der Hölle, hier nicht jeden kleinsten Winkel erkundet hatte. Zumindest nicht, indem sie sich körperlich dorthin begab. Sie hatte sich für so wahnsinnig schlau gehalten. Einfach ihren Geist aussenden, das reichte doch. Nun wurde ihr klar, was für einen furchtbaren Fehler sie gemacht hatte.

„Dann möchte ich dich darum bitten, es nicht zu versuchen. Du könntest die Entfernung falsch einschätzen und an einer Mauerstelle landen, wo du dich nirgends festhalten kannst.“

Oder zehn Meter tief im Boden, aber das sagte sie ihm nicht.

„Trotzdem, es hört sich sehr praktisch an. Ich beneide dich.“

Der Ärmste. Er war seit unzähligen Epochen an seinem Platz gefangen gewesen. „Wenn du dich an jeden beliebigen Ort auf der Welt wünschen könntest, welcher wäre das?“ Vielleicht, wenn sie die fluchtwilligen Dämonen vernichtet hatten, könnte sie ihn dorthin begleiten. Natürlich wäre es ihr nicht möglich, bei ihm zu bleiben, denn sie hätte nach wie vor eine Aufgabe zu erfüllen – aber ihn glücklich zu sehen würde auch noch viele Jahre danach ihre Fantasie beflügeln und ihre Träume versüßen.

Er brummte in sich hinein. „Ich will dich nicht belügen, also verzeih bitte, dass ich diese Frage lieber nicht beantworte.“

Oh. „Sicher. Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.“ Warum erzählt er es mir nicht? Die Neugierde zerrte an ihren Nerven. Schämte er sich etwa für die Antwort? Und falls ja, weshalb? Sie wollte es unbedingt wissen, ließ das Thema jedoch widerwillig ruhen. Für den Augenblick.

„Wir sind fast da“, sagte er. Beinahe beim Riss auf der inneren Seite der Mauer.

„Gut.“ Er blieb weiterhin dicht hinter ihr, schien aber sorgsam darauf zu achten, sie nicht zu berühren. Seine Körperwärme hingegen konnte er nicht daran hindern, sich um Kadence zu legen, sie zu umschließen. Ein angenehmes Gefühl, selbst inmitten der Hitze dieses glühenden Schmelzofens der Hölle, in dem sie sich befanden. Seine Hitze war anders … aufregend.

Er hielt inne, was sie dazu zwang, dasselbe zu tun. „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es ist schlimmer, als ich erwartet hatte.“ Sein Atem kitzelte die feinen Härchen in ihrem Nacken.

„W…was?“, fragte sie verwirrt.

„Der Schaden an der Mauer. Er ist größer, als ich dachte.“

Du törichtes Weib, schalt sie sich selbst. Ihr Leben hing davon ab, dass diese Barriere unter keinen Umständen fiel, und was tat sie? Sich in Tagträumereien verlieren.

Sie holte tief Luft, richtete dann den Blick stur geradeaus und ihre gesamte Konzentration auf den Grund, aus dem sie hier waren. Anstatt auf den atemberaubenden Mann hinter ihr. Zuerst sah sie nur verstreute Krallenspuren, die sich kreuz und quer über das Gestein zogen. Doch dann erkannte sie langsam das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die verhältnismäßig dünnen Risse, die von außen sichtbar gewesen waren, stellten sich nun als die bloße Spitze des Eisbergs heraus. Auf dieser Seite klafften tiefe Furchen, jede einzelne so breit wie Geryons Oberarme.

Schlagartig wurde ihr klar: Hier war jegliche Hoffnung vergebens.

Unmöglich, das zu reparieren. Da gab es nichts zu beschönigen.

„Sie scheinen entschlossener zu sein, als ich vermutet hatte“, war alles, was sie herausbrachte, bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Es gab keine Veranlassung, ihre Befürchtungen laut auszusprechen. Geryon könnte denken, sie sei mit seiner Arbeit nicht zufrieden oder würde seine Fähigkeiten anzweifeln.

Er veränderte seine Position ein wenig, um sich besser festhalten zu können, sodass sein Arm jetzt unmittelbar über ihrer Schulter war. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, würde sie seine Haut durch den hauchdünnen Stoff ihres Umhangs spüren. Obwohl es Hunderte von Jahren zurücklag, dass sie zum letzten Mal einen Mann gehabt hatte, erinnerte sie sich doch daran, wie wohltuend eine so simple Berührung sein konnte.

„Sei unbesorgt, Kadence. Ich werde nicht zulassen, dass du verletzt wirst.“

Endlich gebrauchte er ihren Namen freimütiger, duzte sie inzwischen sogar ganz selbstverständlich. Die anfängliche Distanz, die er zu ihr gehalten hatte, wich immer mehr einer gewissen Vertrautheit, und das tat ihr ebenfalls gut.

„Nur damit du es weißt, ich lasse auch nicht zu, dass du verletzt wirst.“ Das war nicht einfach nur so dahingesagt, sie meinte es.

Es entstand eine kurze Pause, dann sagte er: „Danke.“ Er schien etwas verunsichert.

„Bitte, bitte.“

Er schluckte, oder wenigstens glaubte sie, ein Geräusch zu hören, das so klang. „Soll ich versuchen, auch die Risse auf dieser Seite zu verschließen?“

„Nein, nicht nötig.“ Zu viel Aufwand für zu wenig Nutzen, das war ihr jetzt klar. „Besser, wir konzentrieren uns darauf, so schnell wie möglich den Boden zu erreichen. Die Vernichtung der Hohen Herren ist der einzige Weg, noch ernstere Schäden zu verhindern.“

Hinter ihnen ertönte auf einmal schallendes, bösartiges Gelächter, und sie erstarrten beide.

Dämonen.

„Macht, dass ihr wegkommt!“, drohte Geryon.

Das Lachen wurde lauter. Kam näher.

Er seufzte. „Ich kann sie hier nicht abwehren, und das wissen sie“, brummte er frustriert und umfasste Kadence’ Taille.

Sie keuchte. Endlich. Er hatte sie angefasst. Es fühlte sich wundervoll an, überwältigend, sein Griff rau und unnachgiebig. Kein Balsam für die Seele, wie sie erwartet hatte. Nein, stattdessen wurde sie von glühender Leidenschaft durchzuckt. Und einem brennenden Verlangen nach mehr.

„Was hast du vor?“

„Zeit, unseren Abstieg etwas zu beschleunigen, Kadence“, sagte er, dann ließ er den Felsvorsprung los und riss sie mit sich in die Tiefe.

7. KAPITEL

Ihr Fall schien niemals enden zu wollen. Und die ganze Zeit über blieb Geryons Griff unverändert fest. Eisernen Klammern gleich umschloss er mit den Armen die zitternde Kadence, während ihre Locken ihn umspielten wie flatternde Seidenbänder. Sie schrie nicht, was er eigentlich erwartet hatte. Stattdessen drehte sie sich um und schlang die Beine um seine Hüften – was er absolut nicht erwartet hatte.

Sein erster Kontakt mit dem Paradies. In diesem Leben und in seinem vorherigen.

„Ich halte dich“, sagte er beruhigend. Ihr Körper schmiegte sich perfekt an seinen, weich, wo er hart war, glatt, wo er rau war.

„Wann ist es vorbei?“ Sie flüsterte, trotzdem hörte er die unterschwellige Panik in ihrer Stimme.

Sie trudelten nicht, sondern fielen einfach schnurgerade nach unten, aber er wusste, wie beängstigend dieses Gefühl sein konnte. Ganz besonders, fiel ihm wieder ein, für jemanden, der daran gewöhnt war, sich von einem Ort zum anderen zu beamen.

„Bald.“ Er selbst hatte bisher auch nur ein einziges Mal einen solchen Absturz erlebt. Als Luzifer ihn damals zu sich in seinen Palast rief, um ihn in seine neue Aufgabe einzuführen. Aber er hatte diese schreckliche Erfahrung nie vergessen.

Wie schon zuvor loderten Flammen überall um sie herum, goldfarbene Blitze in der Finsternis. Anders als zuvor jedoch schossen sie nicht mehr empor wie züngelnde Schlangen und versuchten, ihn zu versengen. Dass sie das nicht taten … fürchteten sie ihn? Oder die Göttin?

Von allem, das Geryon in ihr gesehen hatte, besaß sie noch mehr als erwartet, wie sich jetzt zeigte. Mehr Mut. Mehr Entschlossenheit. Mit jeder Minute, die sie zusammen verbrachten, wurde sein Verlangen nach ihr stärker. Sie war der Sonnenaufgang in der Ödnis seines Lebens. Das kühlende Eis in der sengenden Hitze.

Sie ist nichts für dich.

So abscheulich und hässlich, wie er war, würde sie augenblicklich davonlaufen, so weit sie nur konnte, hätte sie auch nur eine Ahnung davon, welche Fantasien sich in seinem Geist abspielten. Welche Bilder ihm durch den Kopf gingen. Er, wie er sie auf eine Wiese legte, sie auszog, mit der Zunge jeden Millimeter ihres betörenden Körpers erkundete. Sie, atemlos aufstöhnend, während er ihre feuchte, heiße Mitte kostete. Dann der Moment, in dem er sie mit seinem Schaft ausfüllte und sie in Ekstase aufschrie. Sehr viel mehr als der Kuss, den sie ihm gestatten wollte.

Ein Kuss, gediehen aus … Mitleid? Dankbarkeit?

Beides war nicht das, was er sich wünschte. Er wollte, dass sie es wollte, seinen Kuss erwiderte, ihn genoss. Doch so oder so, verdammt sei er bis in alle Ewigkeit, warum hatte er sich diesen Kuss nicht geholt, als sie es ihm angeboten hatte? Ob aus Mitleid, Dankbarkeit oder was auch immer. Was für ein Narr er war. Was für ein Feigling.

Sollte sich die Gelegenheit ein zweites Mal bieten, würde er sie ergreifen.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie, und erneut wallte Panik in ihren Augen auf.

„Nein, alles in Ordnung“, log er. „Einige nennen das hier den bodenlosen Trichter, aber ich versichere dir, es gibt einen Boden. Nicht mehr lange, bis wir aufschlagen. Das könnte etwas ungemütlich werden, obwohl ich versuchen werde, den größten Teil des Aufpralls abzufangen.“ Er fuhr mit einer Hand über ihren Rücken, hinauf bis zum Halsansatz. Um sie zu beruhigen, sagte er sich selbst. Er hatte sich wirklich nach Kräften bemüht, sie nicht anzufassen, hatte bis zuletzt alles getan, es zu vermeiden, aber jetzt gab es keine andere Möglichkeit mehr, sie zu beschützen.

Und außerdem, was schadete es schon, eine bloße Handfläche in ihren Nacken zu legen.

„Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut gehen.“

Ich muss mit diesen Fantasien aufhören. Ihre Haut war so zart, so weich, und er spürte kleine Verspannungen darunter, die er unwillkürlich begann zu massieren. Zu seiner Freude lockerten sich ihre Muskeln augenblicklich, nach nur wenigen, vorsichtigen Fingerstrichen.

Allem Anschein nach konnte selbst eine im Grunde harmlose Berührung wie diese ganz beträchtlichen Schaden anrichten. Er spürte, wie er hart wurde, und die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Zum Glück war es dunkel, sodass sie es wahrscheinlich nicht sah. Was aber, wenn sie das verräterische Anzeichen seiner Erregung fühlen konnte? Es war unter dem einzigen Stück Rüstung verborgen, das er trug, also nahm sie bestimmt an, es sei das Metall.

Sicher doch.

„Sag mir, was los ist“, verlangte sie. „Du verheimlichst mir etwas, das merke ich. Ich weiß, dieser Weg ist für körperlose Seelen gemacht, nicht für atmende, lebendige Wesen aus Fleisch und Blut. Bedeutet das also, wir werden …“

„Nein. Ich verspreche dir, es wird uns nicht töten.“ Reden schien sie von ihrer Angst abzulenken, und so ließ er sich rasch ein neues Thema einfallen. „Erzähl mir von dir. Von deiner Vergangenheit, deiner Kindheit vielleicht?“

„Ich … gut, meinetwegen. Nur gibt es da nicht viel zu erzählen. Als Kind war es mir nicht erlaubt, mein Zuhause zu verlassen. Zum Wohl der Allgemeinheit“, fügte sie hinzu, als sei ihr dieser Satz immer wieder eingeschärft worden.

Seine Reaktion traf ihn unvorbereitet, und wäre ihm bewusst geworden, was er da tat, hätte er sich davon abgehalten. Doch als er es bemerkte, war es schon zu spät. Er drückte sie an sich, tröstend, verständnisvoll. Ihre Natur, für die sie nichts konnte, hatte sie zum Außenseiter werden lassen, so wie er einer war.

„Kadence, ich …“ Die Luft um sie herum wurde stickiger, aus den Feuern schossen feine Tröpfchen nach oben, die aussahen wie geschmolzene Tränen. Er wusste, was das bedeutete: Sie näherten sich dem Grund. „Lös deine Beine von mir, aber pass auf, dass sie nicht den Boden berühren.“

„Ja, gu…“

„Jetzt!“

Doch da krachten sie schon auf den harten Untergrund. Verzweifelt versuchte Geryon, aufrecht zu bleiben und die Göttin vor einer Berührung mit den überall verstreuten Knochen zu bewahren, aber der Aufprall war zu heftig, und er kippte hintenüber.

Kadence blieb, wo sie war, in seinen Armen, die Beine, wie er sie gebeten hatte, von seinen Hüften gelöst, sodass sein Rücken den Großteil der Erschütterung auffing. Die Wucht presste ihm die Luft aus den Lungen.

Einen Moment lang lag er hilflos da und rang nach Atem. Hier waren sie also. In den Abgründen der Hölle.

Nun gab es kein Zurück mehr.

8. KAPITEL

„Geryon? Bist du verletzt?“

Im Gegensatz zu der Dunkelheit im Trichter war es hier unten überraschend hell, das Feuer leuchtete jede Richtung aus. Kadence hatte sich über ihn gebeugt, ihr Gesicht wie die Sonne, die er manchmal in seinen Tagträumen sah, warm, strahlend und wunderschön.

„Es … geht mir gut.“

„Sicher nicht. Du bekommst ja kaum Luft. Wie kann ich dir helfen?“

Erst jetzt bemerkte er verwundert, dass sie sich nicht von ihm heruntergerollt hatte, obwohl sie doch sicher gelandet waren. Nun ja, verhältnismäßig. „Ich muss nur kurz verschnaufen. In der Zwischenzeit könntest du mir mehr von dir erzählen. Wenn du willst.“

„Ja, natürlich, gern.“ Während sie sprach, strich sie mit ihren zierlichen Händen über seine Augenbrauen, die Wangen, den Kiefer, die Schultern. Auf der Suche nach Verletzungen? Um ihm Trost zu spenden? „Was möchtest du wissen?“

„Alles.“ Eigentlich hatte er sich bereits weitestgehend erholt, spielte aber noch ein wenig den Erschöpften. Genoss ihre Berührungen, ihre Nähe. „Ich will alles über dich wissen.“ Das immerhin war die Wahrheit.

„Gut. Ich … Himmel, das ist gar nicht so leicht. Am besten fange ich wohl beim Anfang an. Meine Mutter ist die Göttin der Glückseligkeit. Merkwürdig, ich weiß … Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet sie ein Kind wie mich zur Welt bringen würde.“

„Warum merkwürdig?“ Wenn doch ihr bloßer Anblick, der Klang ihrer Stimme, ihr herrlicher Duft ihn glücklicher machte, als er jemals zuvor gewesen war?

„Weil ich … anders bin“, erklärte sie, sichtlich beschämt. „Ich bin ein Quell unvorstellbarer Zerstörung.“

„Solange ich dich kenne, bist du für mich immer nur ein Quell der –“ Verführung, Sehnsucht, Leidenschaft – „Güte gewesen.“

Sie hielt in der Bewegung inne, und er spürte, wie ihr Blick auf ihm ruhte. „Meinst du das ehrlich?“

„Ja, das tue ich.“ Hör nicht auf, streichle mich weiter, bitte. Es lag etliche Jahrhunderte zurück, dass er auch nur den winzigsten Körperkontakt zu einem anderen Lebewesen gehabt hatte. Dies hier war das Nirwana, das Paradies, ein süßer Traum, alles zusammen zu einem Geschenk aus purer Wonne verpackt. „Mein Kopf“, hörte er sich mit einem leidenden Stöhnen sagen.

„Warte, das haben wir gleich“, raunte sie und begann, sanft seine Schläfen zu massieren.

Beinahe hätte er gelächelt. Nein, jetzt war nicht der richtige Moment hierfür. Sie befanden sich im Höllenschlund, auf offenem Gelände, ein leichtes Ziel für eventuelle Angreifer. Die Dämonen könnten ihnen gefolgt sein und sie jeden Augenblick überraschen. Aber er schaffte es nicht, sich loszureißen, zu groß war sein verzweifeltes Verlangen, seine Gier nach mehr. Nur noch ein bisschen länger.

„Und weiter?“, erinnerte er sie daran, dass sie gerade dabei gewesen war, ihm von sich zu erzählen.

„Richtig. Wo war ich? Ah ja, ich weiß.“ Ihr Geißblattduft umhüllte ihn und verjagte den scheußlichen Verwesungsgestank, der einem hier unten entgegenschlug. „Ich war ein ziemlich gemeines kleines Mädchen, hab nie mein Spielzeug geteilt und die anderen Kinder oft zum Weinen gebracht. Ständig habe ich ihnen unabsichtlich meinen Willen aufgezwungen, und sie mussten mir gehorchen.“ Sie zog eine Grimasse. „Schon gut, vielleicht war es nicht immer unabsichtlich. Ich glaube, das ist einer der Gründe, weshalb ich in die Hölle gesandt wurde. Obwohl das natürlich niemand jemals laut ausgesprochen hätte. Die Götter wollten mich loswerden, ein für alle Mal.“

Wie niedergeschlagen sie klang. „Jedes lebende Geschöpf hat in seinem Dasein schon den einen oder anderen Fehler begangen. Außerdem warst du schließlich noch ein Kind, und Kinder können nun einmal grausam sein, das galt sicher nicht nur für dich. Rede dir nicht ein, du hättest diese Strafe verdient.“

„Was ist mit dir?“, fragte sie, und ihr Tonfall hörte sich schon wieder viel gelöster an.

Und das ist mein Verdienst. Ich habe sie wirklich aufgemuntert.

„Was willst du wissen?“, fragte er zurück.

Sie lächelte verschmitzt. „Alles, was dachtest du denn?“

Dieses Lächeln … zweifellos eines der schönsten Kunstwerke, die je von den Göttern geschaffen worden waren. Sein Magen zog sich zusammen – und in seinen Lenden pochte es schon wieder verdächtig.

„Ich muss kurz überlegen.“ Seine menschlichen Erinnerungen hatte er in die hinterste Ecke seines Geistes verbannt, wo sie ihm keinen Kummer bereiten konnten. Früher hatte es jedes Mal schrecklich geschmerzt, an jene Zeiten zurückzudenken und zu wissen, dass sie für immer verloren waren – auch wenn er sich immer wieder sagte, dass es angesichts dessen, was seine Frau ihm angetan hatte, vermutlich auf diese Weise besser war. Heute jedoch, angesteckt von Kadence’ Lebensfreude, fühlte er Bedauern bei dem Gedanken an das, was hätte sein können.

„Ich war ein wildes Kind, unbezähmbar, ein Unruhestifter“, sagte er. „Meine Mutter wäre fast an mir verzweifelt. Sie hat immer gesagt, eines Tages würden sie und meine komplette Familie noch mal vor Schreck tot umfallen. Ich hatte eben eine Vorliebe fürs Abenteuer, je gefährlicher, desto besser.“ Er lachte, und es war ihm, als sähe er das liebevolle, gealterte Gesicht seiner Mutter direkt vor sich. „Dann, als ich alt genug war, haben sie mich Evangeline vorgestellt, in der Hoffnung, sie würde einen guten Einfluss auf mich haben. Und ich wurde tatsächlich ruhiger, ich wollte ihr ja gefallen. Wir haben geheiratet, wie unsere Familien es sich gewünscht hatten.“

Kadence erstarrte. Wurde blass. Reglos verharrte ihre Hand auf seiner Schläfe. „Du bist … verheiratet?“

„Nein. Sie hat mich verlassen.“

„Das tut mir leid“, sagte sie, aber in ihrer Stimme schwang ein erleichterter Unterton mit. Erleichtert? Weswegen?

„Das muss es nicht.“ Hätte er nicht seine Seele für Evangeline geopfert, wäre sie gestorben. Und wäre sie ihm nicht einfach weggelaufen, hätte er sich womöglich mit aller Kraft gewehrt, als Luzifer ihn holte, um ihn zu seinem Torwächter zu machen. Und dann wäre er Kadence vielleicht nie begegnet.

Er war noch niemals so glücklich über etwas gewesen wie in diesem Moment.

Plötzlich hallte in der Ferne ein irrer Schrei über die zerschundene Landschaft, gefolgt von Dämonengelächter. Sie waren ihnen also wirklich gefolgt.

Abrupt gab Geryon sein Possenspiel des verwundeten Kriegers auf, zog Kadence im Aufspringen mit sich hoch und suchte mit den Augen angespannt die Umgebung ab.

Die Meute war noch mehrere Hundert Meter entfernt. Doch auf einmal löste sich einer von ihnen aus der Gruppe und raste geradewegs auf Kadence und ihn zu.

9. KAPITEL

Geryon schob Kadence hinter sich. Schon wieder berührte er sie – Wärme, seidenweiche Haut, Vollkommenheit –, und er wünschte, er könnte darin schwelgen. Doch er tat es nicht, konnte es nicht. Er hatte sich bereit erklärt, mit ihr zu gehen, um das Menschenreich zu retten, ja. Aber auch, damit ihr nichts zustieß. Nicht, weil sie eine Göttin war, oder das schönste Geschöpf des Universums, sondern weil sie ihm innerhalb eines einzigen Tages das Gefühl zurückgegeben hatte, ein Mann zu sein. Kein Monster.

„Ich habe versprochen, dass dir kein Leid geschehen wird“, erinnerte er sie. Noch eine Minute, höchstens zwei, und die Kreatur würde bei ihnen sein. So schnell der Dämon auch war, er hatte nach wie vor eine große Distanz zu überbrücken, denn die Ebenen der Hölle erstreckten sich über endlose Weiten. „Und ich werde mein Versprechen halten.“

„Geryon. Ich könnte vers...“

„Nein.“ Er wollte nicht, dass sie in diesen Kampf verwickelt wurde. Schon jetzt zitterte sie wie Espenlaub. Die Angst lähmte sie so sehr, dass sie nicht einmal zu bemerken schien, wie sie die Finger in seinen Rücken grub und damit erbarmungslos einen wohligen Schauer nach dem anderen durch seinen Körper schickte. Wäre ihr bewusst gewesen, was sie da auslöste, hätte sie gewiss erschrocken die Hände weggezogen. „Ich erledige das.“ Sollte sie versuchen, sich einzumischen, würde der Angreifer ihre Furcht aufsaugen wie ein Schwamm und nur noch gieriger nach frischem Fleisch lechzen.

Wie bei den meisten Lakaien bestand der Kopf des heranstürmenden Dings aus nichts weiter als dem nackten Schädel. Sein Körper war dafür umso muskulöser und mit grünlichen Schuppen bedeckt. Die lange gespaltene Zunge schnellte wieder und wieder aufgeregt hervor, als sei die Luft bereits blutgeschwängert. Rot glühende Augen starrten Kadence und Geryon an, ein Meer aus tausend Sünden, wo Pupillen hätten sein sollen.

Sein Kämpfer-Instinkt befahl Geryon, vorzupreschen und dem Bastard auf halber Strecke entgegenzutreten. Dort sollten sie es austragen, wie wahre Krieger. Doch der Beschützerinstinkt in ihm war stärker und ließ ihn nicht von Kadence’ Seite weichen. Sie hier allein zu lassen könnte sie zusätzlich in Gefahr bringen. Ein anderer Dämon lauerte vielleicht schon in der Nähe und wartete nur auf seine Chance, sie anzufallen. Es könnte sich auch ein zweiter von der Meute trennen, sich im großen Bogen anschleichen und versuchen, sie von hinten zu überraschen.

„Das ist meine Schuld“, sagte sie. „Auch wenn ich gerade angefangen hatte, mich zu beruhigen, meine Angst sitzt einfach zu tief. Und dadurch ziehe ich sie an wie ein Magnet, nicht wahr?“

Er beschloss, ihr die Antwort darauf schuldig zu bleiben. Hätte er ihr recht gegeben, wäre sie nur noch unsicherer geworden.

„Sobald er in meiner Reichweite ist, will ich, dass du zur Felswand zurückläufst. Drück dich ganz dicht an die Wand, und sobald du auch nur den kleinsten Schatten siehst, rufst du mich.“

„Nein, ich helfe dir, ich werde …“

„Genau das tun, was ich sage. Anderenfalls schlage ich nur noch diesen hier zurück und verschwinde. Verstanden?“ Sein Tonfall war bestimmt, er würde keine Kompromisse machen. Schon jetzt bereute er, sie überhaupt an diesen verfluchten Ort gebracht zu haben, ob die Barriere nun vor dem Einsturz bewahrt werden musste oder nicht. Ob Unschuldige gerettet werden mussten oder nicht.

Sie war ihm wichtiger.

Kadence stemmte die Hände in die Hüften, wagte aber keinen weiteren Widerspruch.

Ein schrilles „Meins, meins, meins!“ gellte über die schrundigen Hügel.

Das Wesen kam näher, immer schneller … gleich würde es … Es war da. Mit reißenden Klauen schlug der dämonische Lakai nach Geryon, als er ihn beim Hals packte. Mehrere tiefe Kratzer öffneten sich auf seinem Gesicht, füllten sich mit warmem Blut. Wild fuchtelnde Arme, tückisch ausschlagende Beine.

Erst als Kadence die Hände von seinem Rücken nahm und nicht länger ein Teil seiner Aufmerksamkeit von der Verlockung ihrer Berührung gefesselt war, fing Geryon wirklich an zu kämpfen. Er schleuderte die Kreatur zu Boden, warf sich auf sie, rammte ihre Schultern mit den Knien in den Boden. Ein Schlag, zwei, drei.

Es bäumte sich auf, blindwütig, geifernd. Feucht und klebrig glänzte der giftige Speichel auf seinen nadelspitzen Zähnen, als es eine Reihe frenetischer Flüche ausstieß. Noch ein Haken. Und noch einer. Doch die Schläge schienen es nicht zum Aufgeben zwingen zu können.

„Wo ist Zweifel? Gewalt? Tod?“, brüllte Geryon. Wegen ihnen war er schließlich hier.

Die Gegenwehr ebbte nicht ab, im Gegenteil, das Ding wehrte sich immer heftiger, in seinen roten Augen flackerte Panik. Nicht aus Furcht vor dem, was Geryon mit ihm machen würde, das wusste er. Es war die nackte Angst vor der Rache seiner Brüder im bösen Geiste, sollten sie dahinterkommen, dass es sie verraten hatte.

Auch wenn Geryon die Vorstellung verabscheute, wie Kadence ihm beim Töten zusah, brutal, gnadenlos – wieder einmal – es ließ sich nicht vermeiden. Er erhob die Hand, fuhr seine messerscharfen, giftgetränkten Krallen aus und stach zu. Die tödliche Flüssigkeit war ein „Geschenk“ von Luzifer, das Geryon die Ausführung seiner Pflichten erleichtern sollte und augenblicklich wirkte, sich ohne Erbarmen durch den Körper seines Gegners fraß und ihn von innen heraus zersetzte.

Der Lakai kreischte und ächzte in seiner Qual, seine Gegenwehr verwandelte sich in unkontrollierte Zuckungen. Dann begannen seine Schuppen zu brennen. Als sie leise knisternd verglommen, ließen sie nichts als noch mehr dieser hässlichen Knochen zurück. Doch auch die zerfielen, und es dauerte nicht lange, bis eine Wolke schwarzer Asche aufstieg und sich in alle Richtungen zerstreute.

Mit zitternden Beinen erhob sich Geryon. „Ihr seid die Nächsten“, rief er den anderen zu.

Die suchten schleunigst das Weite.

Die Frage war nur, wann sie wiederkommen würden. Nicht ob.

Er sollte sich auf den Weg machen, die Hohen Herren finden. Stattdessen blieb er mit dem Rücken zu Kadence stehen. Minutenlang, wartend, hoffend – fürchtend –, dass sie etwas sagte. Was dachte sie jetzt von ihm? Würde sie sich noch immer so hingebungsvoll um ihn kümmern wie vorhin? Würde sie ihr Angebot zurückziehen, ihm einen Kuss zu erlauben?

Schließlich konnte er die Ungewissheit nicht mehr ertragen und drehte sich langsam zu ihr um.

Sie stand, genau wie er sie angewiesen hatte, eng an die Felsenwand gepresst. Ihre üppigen Locken umrahmten ihr ungläubiges Gesicht. In ihren Augen spiegelte sich … Bewunderung? Sicher nicht.

„Kadence.“

„Nein. Sag nichts. Komm zu mir“, raunte sie und lockte ihn mit dem Zeigefinger zu sich.

10. KAPITEL

Kadence hatte die Worte nicht zurückhalten können. Wenige Meter entfernt stand Geryon da, erschöpft keuchend, die Wangen aufgeschnitten und blutend, und an den Händen tropfte ihm der Lebenssaft seines besiegten Gegners herab.

Seine dunklen Augen waren von mehr Schmerz erfüllt, als sie jemals zuvor bei ihm gesehen hatte.

„Komm zu mir“, sagte sie abermals, und abermals unterstrich sie ihre Worte mit der auffordernden Geste von eben.

Beim ersten Mal hatte er keinerlei Reaktion gezeigt. Als glaubte er, er hätte sich verhört. Nun blinzelte er. Schüttelte den Kopf.

„Du willst mich … bestrafen? Für das, was ich getan habe?“

Wie bitte? Ihn bestrafen? Wo er ihr gerade das Leben gerettet hatte? Ja, ein Teil von ihr war wütend auf ihn, weil er sie nicht an seiner Seite hatte kämpfen lassen. Weil er ihr gedroht – geschworen – hatte, er würde gehen und ihre gemeinsame Mission abbrechen, wenn sie nicht tat, was er sagte. Schon wieder. Aber der andere Teil von ihr war erleichtert. Als der Lakai nach ihm geschlagen hatte, war in ihr eine verloren geglaubte Energie aufgewallt. Eine unbeschreiblich starke, schillernde Energie. Erst durch Zorn geweckt, das mochte sein, aber so oder so geweckt.

Ich bin kein Feigling. Nicht mehr. Nächstes Mal werde ich handeln. Egal, ob es ihm gefällt oder nicht. Oder mir. Er verdient es. Verdient es, jemanden zu haben, der auf ihn aufpasst.

„Kadence“, flüsterte Geryon, und sie bemerkte, dass sie ihn angestarrt hatte. Schweigend.

„Ich würde dich niemals dafür bestrafen, dass du mich beschützt hast. Was auch immer du zu diesem Zweck tust. Selbst wenn du sonst nichts über mich im Gedächtnis behältst, merk dir dieses eine.“

Erneut blinzelte er. „Aber … ich habe getötet. Einer anderen Kreatur Gewalt angetan.“

„Und du wurdest dabei verletzt. Komm, lass mich deine Wunden reinigen.“

Noch immer sträubte er sich. „Aber dazu musst du mich anfassen.“ Die Art, wie er das sagte, klang, als müsste dieser Umstand etwas überaus Heikles für sie sein. „Ja, ich weiß. Ist dir der Gedanke unangenehm? Ich meine, ich habe dich schon vorher berührt, und du hast nicht gewirkt, als … also, ich meine …“

Mir unangenehm?“ Ein zögerlicher Schritt vorwärts, ein zweiter. In diesem Schneckentempo würde er niemals bei ihr ankommen.

Seufzend ging sie ihm entgegen, nahm seine Hand, verschlang ihre Finger mit seinen – was ein elektrisches Kribbeln zur Folge hatte, das ihr den Atem verschlug – und führte ihn zu einem flachen Felsbrocken.

„Bitte, setz dich.“

Als er gehorchte, entzog er ihr seine Hand wieder und rieb abwesend die Stelle, wo eben noch ihre Hand gelegen hatte. War dasselbe Kribbeln auch über seine Haut gehuscht? Sie hoffte es. Denn falls nicht, hieße das, diese Anziehung, die sie verspürte, wäre einseitig. Ja, sie fühlte sich zu ihm hingezogen, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde. Körperlich. Sinnlich. Die Sorte Anziehung, die eine Frau dazu trieb, ihre Hemmungen über Bord zu werfen und einen Mann in ihr Schlafzimmer zu locken.

Ob diese offene Einladung angenommen wurde oder nicht, war eine andere Sache.

So zurückhaltend, wie Geryon sich verhielt, war sie sich sicher, er würde sie zurückweisen. Wie er schon ihr Angebot mit dem Kuss ausgeschlagen hatte. Und vielleicht war es gut so, überlegte sie. Ihre Art zu lieben überforderte und verschreckte ihre Partner für gewöhnlich. Sobald nämlich die Leidenschaft von ihr Besitz ergriff, konnte sie ihr Wesen nicht mehr unter Kontrolle halten. Die Fesseln, die sie sich angelegt hatte, zerbarsten, und ihr Drang zu beherrschen, alles und jeden, brach mit überwältigender Gewalt aus ihr heraus.

Körperlich wurden ihre Liebhaber zu ihren Sklaven. Geistig verfluchten sie Kadence, die ihnen ihren freien Willen genommen hatte, wie unabsichtlich es auch geschehen sein mochte.

Mit keinem Mann war sie jemals ein zweites Mal zusammen gewesen, und nach insgesamt drei Versuchen mit desaströsem Ausgang hatte sie es endgültig aufgegeben. Ging es einmal schief, hatte sie sich gesagt, war es schlicht Pech. Zweimal – ein unglücklicher Zufall. Aber bei drei Malen hintereinander lag die Schuld unbestreitbar bei ihr.

Trotzdem fragte sie sich, wie Geryon auf sie reagieren würde. Sie hassen, so wie die anderen es getan hatten? Wahrscheinlich. Er wusste bereits zur Genüge, was es bedeutete, dem Willen eines anderen unterworfen zu sein. Es hätte sie nicht überrascht, wenn Freiheit für ihn das kostbarste Gut auf Erden darstellte.

Und so sollte es auch sein. Das war vollkommen natürlich. Normal. Zwei weitere Dinge, nach denen er sich vermutlich sehnte.

Sie würde ihm mehr Kummer bereiten, als sie wert war.

Mit einem Seufzen riss sie vom Saum ihrer Robe mehrere Streifen ab und kniete sich vor ihm hin, zwischen seine Beine. Sein Schaft war nur durch eine kurze, mit Metallplatten besetzte Schürze aus derbem Leder verdeckt. Der Lendenschurz eines Kriegers. Vielleicht war es ungehörig von ihr, aber sie wollte ihn dort sehen. Entgegen aller Vernunft. Sie leckte sich über die Lippen und fragte sich, was wäre, wenn sie einen heimlichen Blick wagte? Dadurch würde sie nicht gleich sein Leben ruinieren und …

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, atmete er scharf ein. „Nicht“, sagte er.

„Es tut mir leid, ich …“

„Nein. Nicht aufhören.“

11. KAPITEL

Nicht aufhören. Meinte er damit, sie sollte sich ruhig ein Herz fassen und seinen Lendenschurz beiseiteschieben? Oder schlicht anfangen, sich um seine Wunden zu kümmern, wie sie es versprochen hatte? Schon jetzt schien er nervös, angespannt, und sie hatte ihn regelrecht überreden müssen, wenigstens dieses kleine bisschen Fürsorge zuzulassen. Aus Angst, ein Missverständnis zu riskieren, lehnte sie sich vor und tupfte mit einem der Stoffstreifen vorsichtig das Blut von seinem Gesicht. Markieren wir also wieder mal den Feigling, ja?

Sein herber, männlicher Duft stieg ihr in die Nase, wie eine mitternächtliche Brise, die vom Meer herüberwehte. Unerklärlicherweise erinnerte sein Geruch sie an ihr Zuhause. Eine blühende, farbenfrohe Welt voller Schönheit, die sie seit ihrem widerwilligen Amtsantritt als Hüterin des Höllentors nicht mehr gesehen hatte. Wie sie ihr fehlte.

„In all dieser Zeit, die ich dich nun schon kenne“, sagte sie, während sie sorgsam darauf achtete, den tiefsten Schnitt auszusparen, „habe ich dich nicht ein einziges Mal deinen Posten verlassen sehen. Isst du niemals?“ Beim ersten Kontakt ihres improvisierten Tuchs mit seiner aufgeschürften Haut war er kurz zusammengezuckt. Doch sie machte unbeeindruckt weiter, und allmählich entspannte er sich unter dem stetigen Rhythmus der langsamen, kreisenden Bewegungen, mit denen sie die geschwollenen Wundränder säuberte.

Vielleicht, eines Tages, würde er ihr erlauben, mehr für ihn zu tun als das. Und dann? Würde sie ihn rücksichtslos unterwerfen, wie sie es mit den anderen getan hatte? Diese Frage geisterte noch immer in ihrem Kopf umher. Falls es eine Chance gab, dass es mit ihm anders … Was soll das denn? Sie war doch schon zu dem Schluss gekommen, es wäre ein zu großes Risiko. Aber Hoffnung konnte ungemein hartnäckig sein.

„Nein“, antwortete er. „Es besteht für mich keine Notwendigkeit dazu.“

„Wirklich nicht?“ Selbst sie, eine Göttin, musste essen. Ihr Körper könnte zwar ohne Nahrung überleben, das ja, aber mehr auch nicht. Nach und nach würde sie zu einer substanzlosen, wandelnden Hülle werden. Deshalb versorgte man sie sogar in der Hölle mit randvoll gefüllten Obstkörben und frisch gebackenen Broten, die ihr einmal wöchentlich gebracht wurden – zusammen mit einer ellenlangen Liste ihrer aktuellen Verfehlungen. „Wie kannst du dann am Leben bleiben?“

„Schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass ich ohne Essen auskomme, seit ich hier bin. Vielleicht beziehe ich meine Lebenskraft aus den Flammen oder dem Rauch.“

„Und du vermisst es überhaupt nicht? Den Geschmack, meine ich, und die verschiedenen Beschaffenheiten?“

„Ich habe schon so lange keinen Krümel Essbares mehr gesehen, ich denke eigentlich kaum noch daran.“

Umso mehr Grund, ihm ein Festmahl zu bereiten. Wenn sie könnte, würde sie ihn aus diesem Albtraum herausholen, ihn in einen Bankettsaal entführen, in dem lange Tafeln mit unzähligen Leckereien jeglicher Art, Form und Farbe beladen waren. Wie gern hätte sie ihn dabei beobachtet, wie er sich begeistert von allem eine Kostprobe auf seinen Teller lud, genussvoll den ersten Bissen in den Mund schob, die Augen schloss. Niemand sollte auf so grundlegende Freuden des Lebens wie diese verzichten müssen.

Als sie mit seinem Gesicht fertig war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit seinem rechten Arm zu. Böse Klauenspuren starrten ihr entgegen, dem Aussehen nach zu urteilen sehr schmerzhaft. Was sich jedoch weder in seinen Worten noch in seinem Verhalten niederschlug. Nein, er schien sogar … geradezu selig zu sein.

„Leider habe ich keine Medizin, um deine Schmerzen zu lindern.“

„Das macht nichts. Ich bin dankbar für deine Hilfe, und ich hoffe, es dir eines Tages vergelten zu können. Was nicht heißen soll, ich würde mir wünschen, dass du verletzt wirst“, fügte er rasch hinzu. „Das ist das Letzte, was ich will.“

Wieder einmal hoben sich ihre Mundwinkel langsam zu einem bezaubernden Lächeln. „Ich hatte schon verstanden, was du sagen wolltest.“

Nachdem sie die notdürftige Versorgung seiner Wunden abgeschlossen hatte, legte sie die Hände locker in den Schoß. Sie rutschte nicht von ihm weg, sondern blieb zwischen seinen Beinen hocken, denn gerade war ihr eine Idee gekommen. Er mochte noch nicht bereit sein, sich vor ihr zu entblößen, aber das bedeutete nicht zwingendermaßen, dass er ihr deshalb auch andere … Dinge abschlagen würde. Und allem Anschein nach gefiel es ihm immerhin, sich ein wenig von ihr umsorgen zu lassen.

Vorsicht, überfall ihn nicht. „Darf ich dich etwas fragen, Geryon?“

Er nickte zögerlich. „Du darfst mit mir alles machen, was du willst.“

Hatte er den sinnlichen Tonfall beabsichtigt, in dem diese Worte über seine Lippen kamen? Heiser und impulsiv? Sie bekam Schmetterlinge im Bauch dabei. „Bist du … magst du mich?“

Er wich ihrem Blick aus und nickte wieder. „Mehr, als ich sollte“, murmelte er.

Die Schmetterlinge verwandelten sich in Raben, die begannen, wild mit ihren schwarzen Flügeln zu schlagen. „Dann hätte ich jetzt gern endlich diesen Kuss von dir.“

12. KAPITEL

Sie küssen? „Ich sollte nicht … Ich kann nicht.“ Was redest du denn da? Hast du dir nicht vorhin geschworen, eine Gelegenheit wie diese nicht noch einmal verstreichen zu lassen? Geryons Blick wanderte zu ihren Lippen. So voll und rosig. Glitzernd. Sein Gaumen begann zu kribbeln. Seine Hörner, sensibel für seine Empfindungen, fingen an zu pochen.

Unsicher verzog sie jene einladenden Lippen.

„Warum nicht? Du hast gerade gesagt, du magst mich. War das gelogen, um meine Gefühle nicht zu verletzen?“

Ach, wäre es doch so einfach.

„Ich würde dich niemals belügen. Und ich habe dich wirklich gern, sehr sogar. Du bist so schön und stark … Jemanden wie dich habe ich noch nie getroffen.“

„Du findest mich schön? Und stark?“ Ihr Gesicht schien aufzuleuchten. „Aber weshalb willst du mich dann nicht küssen?“

Genau, du Trottel. Was hast du jetzt noch für Argumente zu bieten?

„Ich würde dir wehtun.“ Oh. Richtig. Wieso hatte er daran nicht früher gedacht? Es war eine unwiderlegbare Tatsache. Und die einzige Garantie dafür, dass er seine Zunge bei sich behielt.

In ihrer Verwirrung verzog sie das Gesicht auf ganz entzückende Weise.

„Ich verstehe nicht. Du hast mir noch nie etwas zu Leide getan.“

„Meine Zähne … Sie sind zu scharf.“ Dass er außerdem Gefahr lief, sie versehentlich mit seinen Krallen zu vergiften oder ihr sämtliche Knochen zu brechen, sagte er nicht. Falls er die Kontrolle verlöre und sie auch nur ein bisschen zu fest an sich drückte – was nur zu leicht passieren könnte, so sehr, wie er sie begehrte –, war beides nicht auszuschließen. Und selbst wenn er sie nicht gleich umbrächte, Angst machen würde er ihr auf jeden Fall.

„Das Risiko gehe ich ein“, sagte sie, legte die Hände auf seine Hüften und erschütterte ihn damit bis ins Mark.

In diesem Moment hasste er seinen Lendenschurz und war gleichzeitig dankbar dafür, ihn zu haben. Hasste ihn, weil er verhinderte, dass er die Wärme ihrer Haut direkt auf seinem Fell spürte. War dankbar, weil er bestimmte Teile seines monströsen Körpers vor ihrem Blick abschirmte.

„Warum willst du das tun?“ Welche Gründe sollten sie dazu bewegen können, mit ihren zarten Lippen etwas so Abstoßendes zu berühren? Bloße Neugierde reichte wohl nicht aus, um eine Frau ihren Ekel überwinden zu lassen. Evangeline hatte sich übergeben, als sie ihn das erste Mal in seiner neuen Gestalt gesehen hatte. „Ich konnte mit dem leben, was du früher warst, aber das …“, hatte sie ihm an den Kopf geworfen.

„Weil …“ Sie errötete, wandte aber das Gesicht nicht ab.

„Weil?“, hakte er nach. Legte seine Hände auf ihre. Schluckte, als er einmal mehr diese herrliche Seidigkeit spürte. Und die Unbefangenheit, mit der sie ihn so selbstverständlich berührte.

„Du hast mich gerettet.“

Aha, das war es also. Dankbarkeit. Genau wie er erwartet hatte – und das, was er sich am wenigsten gewünscht hatte. Enttäuscht ließ er die Schultern hängen. Hast du wirklich gedacht, sie will dich? Nein, gedacht nicht. Gehofft.

„Es wäre unehrenhaft, dir deshalb so etwas abzuverlangen.“

„Aber ich stehe in deiner Schuld.“

„Jetzt nicht mehr. Ich entbinde dich davon.“ Dummkopf. Du wirst es nie lernen.

„Schön.“ Sie blieb auf den Knien hocken, richtete sich jedoch auf, bis ihre Stirn beinahe auf seiner Kinnhöhe war. „Dann tu es, weil ich verzweifelt bin. Weil ich es brauche. Tu es, weil mir plötzlich klar geworden ist, wie schnell alles vorbei sein kann, und ich dir wenigstens für einen kurzen Moment lang nah sein will, bevor ich …“

„Bevor du …“, schaffte er gerade so hervorzupressen. Sie war verzweifelt? Brauchte … seine Nähe?

„Tu es“, drängte sie ihn.

Ja. Ja! Geryon konnte nicht länger widerstehen, unehrenhaft oder nicht. Risiko oder nicht. Er würde vorsichtig sein. Unendlich vorsichtig. Aber er konnte sich nicht mehr sperren. Würde sich nicht sperren.

Langsam beugte er sich zu ihr hinab, drückte sanft den Mund auf ihren. Erlesen. Sie wich nicht zurück. Mit einem leisen, keuchenden Seufzer öffnete sie die Lippen, und er schob seine Zunge in ihren Mund. Sie schmeckte so … süß, so frisch, wie ein Schneesturm nach einem Millennium des Feuers. Mehr als erlesen.

„Weiter“, raunte sie. „Tiefer. Härter.“

„Sicher?“ Bitte, bitte, bitte.

„Sicherer, als ich es jemals war.“

Den Göttern sei Dank. Es lag Jahrhunderte zurück, dass er eine Frau geküsst hatte, und niemals in dieser Gestalt. Aber er begann, seine Zunge gegen ihre zu stoßen, sich zurückzuziehen, wieder vorzuschnellen, hungrig nach mehr. Als er spürte, wie seine Zähne sie streiften, erstarrte er in der Bewegung. Und als sie stöhnte, wollte er sie schon loslassen, doch ihre Arme glitten hastig über seine Brust und nach oben, mit der einen Hand umfasste sie seinen Nacken, mit der anderen streichelte sie eines seiner Hörner. Er musste die Finger fest in seine Oberschenkel krallen, um seine Klauen von ihr fernzuhalten.

„Gut?“, fragte sie.

„Ja“, presste er erstickt hervor.

„Für mich auch.“ Ihre üppigen Brüste schmiegten sich an seine Brust, und die Knospen, aufgestellt und hart, rieben köstlich über seine fellbedeckte Haut.

Sie genoss seinen Kuss tatsächlich? Ein inneres Beben erschütterte ihn, während ihre Zunge den Tanz aufs Neue begann. Mit stahlhart angespannten Muskeln zwang er sich, genau in der Position zu verharren, in der er war. Mit jedem Moment, den der Kuss andauerte, mit jedem atemlosen Seufzen, das ihr entfuhr, schwand seine Selbstbeherrschung ein Stückchen mehr. Er wollte sie auf den Boden pressen, sich über sie werfen und stoßen, stoßen, so hart, dass er sich für immer in sie einbrannte. In jede Zelle ihres wunderbaren Körpers.

Mehr, mehr, mehr. Er musste mehr haben. Alles haben.

Hatte schon alles gegeben.

Diese Erkenntnis ließ ihn erbeben.

„Halt“, sagte er schließlich. „Wir müssen damit aufhören.“ Er stemmte sich hoch, wandte sich ab, vermisste schon jetzt ihren herrlichen Geschmack. Ein Zittern überlief ihn. Er blieb mit dem Rücken zu ihr stehen, keuchend, sein Herz raste.

„Habe ich etwas verkehrt gemacht?“, fragte sie leise, und er hörte den verletzten Unterton in ihrer Stimme.

Oh ja. Du hast ein Herz gestohlen, das ich nicht entbehren konnte. Er hatte sich geschworen, sie niemals zu belügen, deshalb sagte er nur: „Komm. Wir haben lange genug gewartet. Wir haben Dämonen zu jagen.“

13. KAPITEL

Sie hielten bei dem ersten Gebäude, das sie sahen: einer Taverne. Eine echte Taverne, wie es sie auch auf der Erde gab – mit dem Unterschied, dass statt Alkohol Blut ausgeschenkt wurde und als schnelle Snacks für zwischendurch abgetrennte Körperteile auf der Karte standen. Kadence hatte gewusst, dass solche Dinge hier unten existierten, trotzdem erschien es ihr bizarr. Dämonen, die sich wie Menschen benahmen. Auf ihre eigene, schauerliche Art und Weise.

Sie und Geryon hatten einen Zwei-Meilen-Marsch hinter sich, als sie dort ankamen. Einen Zwei-Meilen-Marsch, den sie abwechselnd damit verbracht hatte, in der Erinnerung an seinen Kuss zu schwelgen, den mit Abstand grandiosesten Kuss ihres Lebens – und Geryon zu verfluchen, weil er ihn so plötzlich abgebrochen hatte. Ohne ihr wenigstens eine Erklärung zu geben, ihr seine Gründe zu nennen. Welche auch immer das sein mochten.

In ihrem ganzen langen Leben hatte sie nur diese drei Liebhaber gehabt, und die waren allesamt Götter gewesen. Wenn nicht einmal ein Gott in der Lage war, mit ihr fertigzuwerden, wie sollte Geryon es können? Unmöglich. Aber gehofft hatte sie es dennoch. Zum ersten Mal, während dieses viel zu kurzen Zusammenseins mit ihm, hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, sich zurückhalten zu müssen. Sie hatte sich einfach gehen lassen und es genossen. Und wie sie es genossen hatte. Seinen göttlichen Geschmack, seine heiße, feuchte Zunge, seinen Körper, ein vollendetes Meisterwerk aus Muskeln und Fell. So sehr hatte sie sich gewünscht, er würde sie in seine Arme ziehen. Ihr die Kleider vom Leib reißen und sie nehmen. Sie in Besitz nehmen, voll und ganz.

Doch Geryon hatte sich von ihr abgewendet, genau wie die Männer vor ihm.

Bin ich so schrecklich? Dass ich sie alle verscheuche?

Dabei wollte sie, viel mehr als bei den anderen, dass Geryon Glück mit ihr fand. Denn er bedeutete ihr mehr. Bei ihm hatte sie das Gefühl, jemand zu sein. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl. Wertvoll. Besonders. Und doch hatte sie ihn … abgestoßen? In die Flucht geschlagen? Jämmerlich darin versagt, auch nur den leisesten Funken Leidenschaft in ihm zu entzünden?

„Bleib hinter mir“, flüsterte er ihr zu, als er die Schwingtüren der Taverne aufstieß. Es waren die ersten Worte, die er seit ihrem Aufbruch sprach. „Und behalt die Kapuze auf. Nur zur Sicherheit. Wobei … Beherrschst du die Kunst der Täuschung?“

Seine Stimme war tief und rau und ließ jeden ihrer alarmbereiten Sinne erschaudern. Nein, bestimmt fand er sie nicht abstoßend. Und sie hatte ihn auch nicht in die Flucht geschlagen. Sicher, sie hatte gespürt, wie er sich während des Kusses zurückhielt, und er hatte ihn abrupt abgebrochen. Doch wenn er sie ansah, gab er ihr das Gefühl, die einzige Frau auf der Welt zu sein. Die schönste, die begehrenswerteste.

Er blieb im Eingang stehen. „Kadence?“ Ein Räuspern. „Göttin?“

„Ja. Ich werde ihren Sinnen vorgaukeln, ich wäre nur ein Lakai, und hinter dir bleiben“, antwortete sie. Innerlich aber hätte sie ihn am liebsten geschüttelt und gefragt: Warum stößt du mich ständig von dir weg? Sie wollte ihm doch einfach nur nah sein.

Anders als er offensichtlich. Er nickte und ging hinein. Sie hielt sich im Hintergrund, wie abgesprochen, und ließ durch die Kraft ihres Geistes eine Illusion aus Knochen und Schuppen um sich herum entstehen. Jeder, der in ihre Richtung blickte, würde glauben, er sähe einen von ihnen. Sie konnte nur hoffen, dass den Dämonen ihre Furcht ebenso gut verborgen blieb wie ihre wahre Gestalt. Beim kleinsten Anzeichen von Schwäche würden sie nicht davor zurückschrecken, auch ihresgleichen zu fressen.

Grausames Lachen und gequälte Schreie dröhnten in ihren Ohren, sobald sie eintrat. Schluckend blickte sie sich um. So viele Dämonen … jeglicher Art und Größe. Einige sahen aus wie das Trugbild, das sie ihnen vorspiegelte, knochig und mit Schuppen bedeckt. Andere waren halb Mensch, halb Stier. Wieder andere hatten Flügel wie Drachen und mit gewaltigen Zähnen bewehrte Schnauzen. Und sie alle drängten sich um eine steinerne Platte. Die sich bewegte?

Nein, nicht die Platte bewegte sich. Die grausame Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu. Sich windende menschliche Seelen lagen darauf. Und die Dämonen rissen sie auseinander, fraßen ihre Eingeweide. Allmächtige Götter.

Unglücklicherweise war den Verdammten niemals Frieden vergönnt. Für sie gab es nur endlose Qualen.

„Abscheulich“, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand. „Wie sollen wir uns gegen ein ganzes Heer von denen verteidigen?“

„Uns bleibt nur, unser Bestes zu geben.“

Ja. Bedauerlicherweise gab es keine Garantie, dass sie auch erfolgreich sein würden. Aber ich habe ihm versprochen, ihn zu beschützen, und das werde ich auch tun.

„Komm.“ Er zog sie mit sich in eine Ecke, damit sie das Geschehen beobachten konnten, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Die Kreaturen, die du hier siehst, sind nur die kleinen Fische. Diener und Soldaten. Nicht das, womit wir es zu tun bekommen werden.“

Richtig, dachte sie, und ein eisiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Gewalt, Tod und deren Kumpane waren Hohe Herren. Während ihre Untergebenen das Leid ihrer Beute zwar genossen, galt ihr Hauptinteresse der Befriedigung eines einzigen Grundbedürfnisses: fressen.

Die Hohen Herren dagegen interessierten sich ausschließlich für das Leid. Es zu verlängern und ins Unerträgliche zu steigern, bis zum Wahnsinn und darüber hinaus, das war ihr Lebenselixier. Und je mehr Schmerz sie ihren Opfern zufügten, je mehr Schreie sie ihnen entlockten, desto stärker und mächtiger wurden sie.

Oh ja. Sie waren tausendmal gefährlicher als alles, was sich in dieser Taverne tummelte.

Nie und nimmer würde sie Geryon beschützen können.

14. KAPITEL

„Riecht gut, nach Angssst“, zischte plötzlich etwas neben Kadence. „Mmmh, Hunger.“

Schockiert starrte sie das Ding an. Ich habe mich schon verraten?

Gerade hatte sie beschlossen, etwas zu unternehmen, irgendeinen Weg zu finden, Geryon zu überzeugen, zum Tor zurückzugehen. Und jetzt das. Zur Hölle. Nein, dachte sie.

Geryon versuchte, sie hinter sich zu schieben, aber sie widersetzte sich. Dieses Mal würde sie sich nicht verstecken und ihn die Sache für sie regeln lassen. Dieses Mal kämpfte sie.

„Scher dich fort oder stirb“, drohte sie dem Dämon.

Das Wesen sah sie argwöhnisch an. „Sssieht ausss wie ich, nur warum riecht esss ssso gut?“ Es leckte sich über die Lippen, und Speichel troff ihm aus den Mundwinkeln. Mit schmutzig gelben Schuppen übersät reichte es Kadence gerade einmal bis zum Bauchnabel. Doch sie wusste, seine schmächtige Erscheinung täuschte. Unter diesen Schuppen konnten sich ungeahnte Kräfte verbergen.

Innerlich bebte sie. Vergiss nicht, wer du bist. Wozu du fähig bist.

Es kam näher. „Will sssschmecken.“

„Ich habe dich gewarnt“, sagte sie und bereitete sich mental auf die Konfrontation vor.

„Warte draußen, Kadence, bitte.“ Erneut wollte Geryon sich schützend vor sie stellen. „Lass mich das übernehmen.“

Sie hielt ihn mit dem Ellenbogen auf Abstand. „Nein. Es sind zu viele für dich allein.“

Während sie diskutierten, rückte der Dämon langsam dichter heran, die Klauen gierig ausgestreckt.

„Bitte, Kadence.“ Geryon legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich muss wissen, dass du in Sicherheit bist. Sonst werde ich abgelenkt sein, und ein unkonzentrierter Krieger ist ein toter Krieger.“

Nein, sie würden nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt.

„Verlang nicht von mir, mich wie ein Feigling zu verkriechen. Ich kann das nicht mehr, und ich will es auch nicht. Und außerdem: Wenn mein Plan funktioniert, musst du überhaupt nicht kämpfen.“ Sie war die Hüterin des Höllentors; es wurde langsam Zeit, dass sie sich auch so benahm. Früher hatte sie schließlich auch gehandelt, bestimmt, beherrscht, statt bloß tatenlos zuzusehen, was um sie herum geschah.

Wenn reicht mir nicht. Nicht, wenn es um dein Leben geht.“

Ihr fehlte leider gerade die Muße, sich über seine rührende Besorgnis zu freuen. Jeden Augenblick konnte der Lakai zum Sprung ansetzen. Sie wusste es, fühlte es. Kadence drehte den Kopf, blickte dem Dämon tief in die Augen und griff dabei nach ihrer inneren Macht, überrascht, wie leicht sie Zugang dazu fand. Eigentlich hätte es sie nicht wundern sollen. Sie mochte versuchen, ihre Natur zu unterdrücken, doch unter der Oberfläche war sie immer da, ruhte niemals. Ein alles vernichtender Tornado, der nur darauf wartete, loszubrechen.

War das wütende Aufbäumen dieser Kraft, das sie bei Geryons letztem Kampf verspürt hatte, nicht ein eindrucksvoller Beweis dafür?

„Keinen Schritt weiter“, befahl sie der Kreatur. Die blinzelte … und blieb wie angewurzelt stehen. Anscheinend war der Lakai zwar weiterhin bei vollem Bewusstsein, sein Körper allerdings gehorchte jetzt Kadence, der Göttin der Unterdrückung.

Für einen langen Moment erfreute sie sich an ihrer Leistung, verblüfft, wie einfach es gewesen war, und zugleich stolz. Sie hatte es geschafft. Der Dämon machte nicht einen einzigen Versuch, sie anzugreifen, obwohl in seinen schwarzen Augen purer Hass glühte.

„Irgendetwas ist passiert“, sagte Geryon, hörbar verwirrt.

„Ich bin passiert“, erklärte sie mit hoch erhobenem Kinn. „Und das ist noch lange nicht alles. Pass auf.“ An den Dämon gewandt sagte sie: „Heb die Arme über den Kopf.“

Prompt fügte er sich und riss beide Arme hoch, ohne den leisesten Widerspruch von sich zu geben. Kein Wunder, schließlich erstreckte sich ihr Einfluss nicht nur auf seine Gliedmaßen, sondern ebenso auf seine Fähigkeit zu sprechen.

Ein bisher ungekanntes Hochgefühl durchströmte sie. Endlich, zum allerersten Mal, war es ihr gelungen, ihre Gabe für etwas Gutes einzusetzen: dass sie jemanden beschützte, den sie unendlich lie… bewunderte. Bei den Göttern. Liebe? War es etwa das, was sie für Geryon empfand? Sie liebte es, mit ihm zusammen zu sein, und auch dieses Gefühl der Zuversicht, das er ihr vermittelte. Aber bedeutete das, sie hatte ihr Herz an ihn verloren? So leichtsinnig war sie nicht, oder?

Bald schon würden sich ihre Wege wieder trennen.

„Sieh doch, Kadence.“ Geryon zeigte auf die Meute, die sich um die Steinplatte geschart hatte. „Sieh, was geschehen ist.“

Sie folgte seinem Finger mit dem Blick und keuchte fassungslos. Jeder ihrer Feinde stand reglos da, wie vom Donner gerührt, die Arme in die Luft gestreckt. Selbst die gefolterten Seelen hatten aufgehört, sich zu bewegen. Kein Gelächter mehr, keine Schreie. Nur das Geräusch ihres eigenen Atems durchbrach die Stille.

„Du hast das getan?“, fragte Geryon.

„Ich … ja.“

„Ich bin beeindruckt. Überwältigt.“

Sie hätte platzen können vor Freude. Er bewunderte sie. War vermutlich sogar stolz auf sie.

„Danke sehr.“

„Können sie mich hören?“ Als sie nickte, breitete sich ein kaltes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Dann brüllte er die Kreaturen an: „Aufgemerkt, ihr Gesindel. Geht und bestellt euren Herrschern, dass der Wächter hier ist und dass er die Absicht hat, sie ein für alle Mal zu vernichten.“ An Kadence gerichtet fügte er hinzu: „Du kannst sie jetzt freilassen.“

„Bist du sicher? Ich könnte ihren Körpern befehlen, zu zerfallen und zu sterben.“ Und diese Körper würden sich ihrem Willen beugen. Macht … so unermesslich süß …

„Ich bin sicher. Sie sind hier, um zu bestrafen, sie erfüllen also eine Funktion. Davon abgesehen: Dank dir werden sie uns den Gefallen tun, die Herrscher zu uns zu führen.“

Obwohl sie große Lust gehabt hätte, die Dämonen wenigstens noch das eine oder andere Kunststück vorführen zu lassen, tat sie, worum Geryon bat. Im Bruchteil einer Sekunde waren die Kreaturen frei und stürzten aus der Taverne, so schnell sie nur irgend konnten.

„Wir müssen uns vorbereiten“, sagte Geryon ernst.

„Auf?“

„Die Schlacht.“

Sie konnte ihn nicht davon abhalten, mit ihr in diesen Kampf zu ziehen. Es sei denn, sie würde ihn dazu zwingen, allein zum Tor zurückzugehen. Was sie durchaus tun könnte – und nun, da sie sich wieder erinnerte, wie man die Kontrolle erlangte, müsste er ihr gehorchen. Macht … Doch sobald er ihren Einflussbereich verlassen hätte, würde er auf dem Absatz kehrtmachen und wiederkommen, da war sie sich sicher. Zu groß war die Entschlossenheit, die in seinen Augen funkelte.

Aber jetzt kannst du ihn beschützen, dachte sie dann, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Die Schlacht“, wiederholte sie mit einem knappen Nicken. „Klingt nach Spaß.“

15. KAPITEL

Geryon verbarrikadierte das Gebäude, so gut er konnte, was hinsichtlich des Mangels an geeignetem Material und Werkzeug ein recht schwieriges Unterfangen war. Kadence unterstützte ihn nach Kräften, indem sie ihm das zeitraubende Heranschleppen der Bretter und Steine abnahm, die sie durch ihren Willen dazu brachte, sich von allein zu den Fenstern zu bewegen.

Obwohl er beschäftigt war, fiel ihm auf, dass sie von Minute zu Minute blasser wurde. Eine Blässe, die umso mehr auffiel, als sie noch vor Kurzem das blühende Leben gewesen war; stark und gebieterisch die Dämonen gezwungen hatte, sich ihr zu beugen.

Warum baute sie plötzlich so ab?

Stand es ihm zu, sie danach zu fragen? Sie war immerhin eine Göttin. Diese Fahlheit zeugte jedenfalls nicht von simpler Erschöpfung, es steckte mehr dahinter. Etwas Ernsteres.

„Wie sieht unser Schlachtplan aus?“, fragte sie, als sie fertig waren. Sie lehnte sich an die Wand im hinteren Teil der Taverne. An den einzigen Fleck, an dem kein Blut klebte … oder andere Dinge.

Dich am Leben halten, um jeden Preis. Er gesellte sich zu ihr, achtete aber peinlich genau darauf, sie nicht zu berühren. Eine Berührung, und er würde sie zurück in seine Arme ziehen. Aber er musste aufmerksam bleiben, bereit, sofort zu reagieren.

„Sobald sie durchbrechen, hältst du sie an Ort und Stelle und ich erledige sie einen nach dem anderen.“

„Schnell und einfach“, sagte sie, und aus ihrer Stimme klang Befriedigung.

Trotz der gerade gezeigten Demonstration ihrer Macht überraschte es ihn, dass sie überhaupt keine Angst zu haben schien. Vielleicht, weil er sie lieber ängstlich gehabt hätte. Nur ein kleines bisschen. Gerade genug, um sie aus dem Gemetzel herauszuhalten. In sicherem Abstand.

„Ja, allerdings müssen wir abwarten, bis sie vollzählig sind. Schlagen wir zu früh zu, werden die anderen gewarnt sein und flüchten. Wer weiß, wohin. Die kennen sich hier besser aus als wir, und es könnte schwer werden, sie zu finden.“

Sie dachte über seine Worte nach. „Was denkst du, wie lange wird es dauern, bis sie hier sind?“

„Ein paar Stunden. Die Nachricht unserer Ankunft muss sich erst verbreiten, und dann werden die Herrscher noch ein Weilchen brauchen, um ihren Angriff zu planen.“ Geryon schrammte mit einer Klaue über die Holzdielen, um das darin eingeschnitzte Schadenszauber-Symbol zu zerstören. Späne flogen durch die Luft. „Ich habe eine Frage an dich.“

„Nur zu. Frag.“

Konnte er es wagen?

Ja, beschloss er, einmal mehr ihre Schönheit bewundernd. Er konnte.

„Ich verstehe, weshalb Luzifer daran gelegen ist, dass du die Hohen Herren vernichtest, die versuchen, aus der Hölle zu entkommen. Dadurch verhinderst du immerhin eine Massenflucht. Aber warum ist dir das so wichtig? Du wurdest im Himmel geboren. Da oben könntest du dir mit weitaus angenehmeren Beschäftigungen die Zeit vertreiben – zwischen den Wolken umhertollen, dich an den Speisen der Götter erfreuen.“

„Oh, ich habe mir oft gewünscht, in meine Heimat zurückzukehren. Aber mir wurde diese Aufgabe übertragen, und ich habe mich bereit erklärt, sie zu erfüllen. Und das werde ich. Davon abgesehen ist bei meinem Übertritt in dieses Reich eine Bindung entstanden zwischen mir und …“

„Eine Bindung? Was meinst du?“

„Wenn die Mauer fällt … bedeutet das meinen Tod.“

Sie würde sterben?

„Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?“, brauste er auf. „Und wieso in aller Welt lässt du dich auf so etwas ein? Was ist in dich gefahren, freiwillig hierherzukommen?“

Sie knetete einen Zipfel ihrer Robe zwischen den Fingern.

„Hätte ich mich geweigert und wäre im Himmel geblieben, wäre ich unaufhörlich für meinen Ungehorsam bestraft worden. Ich hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. In dieser Hinsicht ist niemand konsequenter als die Götter. Sie wollten mich hier haben, also bin ich hier. Aber weder sie noch ich hatten eine Vorstellung davon, wie stark diese Bindung sein würde. Wie unumstößlich. Und ich habe dir deshalb nicht eher davon erzählt, weil …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dir wurde gestattet, deinen Posten zu verlassen, nach all dieser langen Zeit, und trotzdem hast du dich entschieden, mir zu helfen. Ich wollte dich nicht unnötig belasten. Aber du hast gefragt, und ich möchte dich nicht anlügen. Und etwas zu verschweigen ist auch eine Form des Lügens.“

„Kadence“, seufzte er, dann schüttelte er den Kopf. Er konnte nicht glauben, dass das hier wirklich passierte. Dass er sie verlieren könnte – und keine Möglichkeit hätte, ihren Tod abzuwenden. „Ich hätte allein durch das Tor gehen sollen, dort auf die nächste Attacke der Hohen Herren warten und sie allesamt abschlachten. Jetzt ist die Barriere vollkommen ungeschützt, und du bist in größerer Gefahr, als du es sonst je gewesen wärst.“

„Nein. Sie hätten dich gesehen und sich nicht dicht genug herangewagt. Oberhalb des Trichters gibt es keine Versteckmöglichkeiten, sie hätten sich nicht anschleichen können.“

„Und das wäre für mich völlig in Ordnung gewesen. Sie hätten die Mauer in Ruhe gelassen und könnten dir so nichts anhaben.“

„Mag sein, aber was wäre das für ein Leben für dich? Ständig auf der Lauer liegen, für alle Ewigkeit?“

„Genau das Leben, an das ich gewöhnt bin.“ Wohl wahr. Der einzige Unterschied bestünde darin, dass er es für sie täte. Und er konnte sich keinen wichtigeren Beweggrund vorstellen, keinen, der ihn glücklicher gemacht hätte.

„Du verdienst mehr als das!“ Sie wandte ihm den Rücken zu und fuhr mit der Fingerspitze über den Kratzer, den er im Holz hinterlassen hatte. „Wir mussten das hier tun. Oder vielmehr, ich musste es. Aber es gibt noch etwas, das ich dir sagen will. Sollte ich fallen, wird es keine Auswirkungen auf die Barriere haben, sie ist nicht an mich gebunden, nur umgekehrt. Ich bin mir deshalb so sicher, weil ich über die Jahrhunderte oft verletzt wurde, ohne dass die Mauer irgendwelche Anzeichen der Beschädigung gezeigt hätte.“

„Die verfluchte Mauer ist mir egal!“ Ebenfalls wahr.

Ihre Augen weiteten sich. Dann schluckte sie und fuhr fort, als hätte er nichts gesagt. Oder gebrüllt.

„Wenn ich nicht mehr da bin, gibt es allerdings auch niemanden, der frühzeitig spürt, wenn etwas nicht stimmt. Die Götter werden jemand anderen an meinen Platz setzen müssen. Ich weiß, du bist jetzt frei, aber würdest du mir den Gefallen tun, so lange zu bleiben, bis sie einen geeigneten Ersatz gefunden haben? Selbst falls Luzifer bereits einen neuen Wächter verpflichtet hat?“

„Hör auf mit diesem Gerede. Du wirst nicht sterben, verstanden? Und jetzt erklär mir, wie du Luzifer dazu überredet hast, dich auf diese Seite zu lassen. Nach dem, was du mir erzählt hast, geht er damit ein ziemlich großes Risiko ein, oder?“

Sie wurde rot. Aus Verlegenheit? Schuldgefühl?

„Für ihn steht auch einiges auf dem Spiel, und er will die Mauer um jeden Preis schützen.“

Schuldgefühl, ganz eindeutig. Es schwang in jedem ihrer Worte mit, hallte von den Wänden wider.

„Er hätte die Hohen Herren einfach selbst vernichten oder sie mit einem Bann belegen können.“

„Nur dass er sie dazu erst einmal in die Finger bekommen müsste.“

Widerwillig nickte Geryon. „Der Punkt geht an dich.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf den Boden, durchdachte die Situation.

„Wie auch immer, Luzifer gibt nicht einfach so seine Erlaubnis. Nicht einmal zu etwas, das ihm einen Vorteil einbrächte. Er verlangt immer eine Gegenleistung.“ Was bedeutete, Kadence hatte ihn in irgendeiner Form bezahlt. „Was musstest du ihm geben? Warum hat er auf meine Seele verzichtet? Und wenn sie nicht länger in seinem Besitz ist, wo ist sie dann?“ Noch während er sie mit diesen Fragen bombardierte, formten sich in seinem Geist einige der unschönen Antworten darauf. „Du hast mich ihm abgekauft.“

Die Röte ihrer Wangen verstärkte sich. „Geryon, ich …“

„Ja oder nein?“

„Ja“, flüsterte sie. Ihre Lider flatterten, und sie schloss die Augen, die langen Wimpern warfen tiefe Schatten auf ihr Gesicht. Eine ihrer Hände wanderte zu dem Amethysten hinunter, der an einer Kette zwischen ihren Brüsten hing. „Und ich bereue es nicht.“

Befand sich seine Seele in diesem Edelstein?

„Hast du meine Freiheit etwa … mit deinem Körper erkauft?“ Falls ja, würde er diesen Mistkerl eigenhändig in Stücke reißen, ehe er zuließe, dass der auch nur einen einzigen seiner dreckigen Finger an sie legte.

Eine kurze Pause, dann öffnete sie langsam die Augen. „Nein. Und ich möchte jetzt wirklich nicht weiter darüber sprechen.“

„Aber ich. Sag es mir.“ Wut kochte in ihm hoch. Auf sie, auf Luzifer und am meisten auf sich selbst. Wie hatte er es nur so weit kommen lassen können? Welches Opfer hatte diese wundervolle Frau für ihn gebracht? Er legte die Hände auf ihre, nicht um sie festzuhalten, was ihm – nach dem, was er vorhin gesehen hatte – vermutlich ohnehin nicht möglich gewesen wäre, sondern um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Er war hier, bei ihr, komme was da wolle. Nichts, was sie sagte, würde ihn von ihrer Seite weichen lassen. „Bitte.“

Ihr Kinn zitterte. „Ich … ich habe ihm ein Jahr auf der Erde versprochen, ungestört, in dem er tun kann, was immer er will.“

„Oh, Kadence“, seufzte Geryon. Er wusste, dass die anderen Götter diesen Tauschhandel respektieren mussten – und sie bitter dafür bestrafen würden. Alles in ihm rebellierte bei diesem Gedanken. Wenn sie ihr auch nur ein Haar krümmten … kannst du rein gar nichts dagegen tun, du größenwahnsinniger Tölpel. „Wie konntest du das tun?“ Ein bestürztes Flüstern. Doch sie allein zu lassen … Nein, das brächte er trotzdem nicht übers Herz.

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Um dich zu retten. Um mich zu retten. Und die Welt jenseits unseres Einflussbereichs. Ich habe einfach keinen anderen Ausweg gesehen. Ihn sich ein Jahr lang austoben zu lassen erschien mir das geringere Übel – verglichen mit einer Ewigkeit, in der Tausende von Dämonen die Erde bevölkern und sie unwiederbringlich zerstören.“ Sie setzte an, weiterzusprechen, doch statt Worten drang nur ein erstickter Schrei aus ihrer Kehle.

Von einem Moment auf den anderen wurde sie kreidebleich und brach ohne Vorwarnung zusammen.

Geryon beugte sich über sie, schob hastig eine Hand unter ihren Kopf. „Was ist mit dir, Kleines? Rede mit mir.“

„Die Dämonen … Ich glaube … Sie sind an der Mauer.“

16. KAPITEL

Hatte Luzifer den Hohen Herren von ihrer Bindung an die Mauer erzählt? Zuzutrauen wäre es ihm, dachte Kadence und biss grimmig die Zähne zusammen, als eine erneute Schmerzattacke sie durchzuckte. Statt sich dem offenen Kampf zu stellen, waren sie dorthin gegangen. Warum sollten sie so etwas tun, wenn sie nicht wüssten, dass jede weitere Beschädigung der Barriere ihre Feindin schwächen würde? Und letztlich töten.

Oder aber sie versuchten, sie und Geryon auf diese Weise zu trennen. Möglicherweise hofften sie, er würde ihnen folgen und Kadence allein und schutzlos zurücklassen. Vielleicht wollten sie auch, dass sie ihnen folgte. So viele Möglichkeiten, allesamt mit düsteren Aussichten.

Der Fürst der Finsternis fand diese unerwartete Wendung vermutlich überaus amüsant. Wahrscheinlich war er … In ihrem Geist nahm plötzlich ein schrecklicher Gedanke Gestalt an. Wenn sie aus dem Weg wäre, könnte er seinen Aufenthalt auf der Erde ungehindert um ein Vielfaches des vereinbarten Jahres verlängern, sich Tausende unschuldiger Seelen holen, die Welt ins Chaos stürzen. Er könnte bis in alle Ewigkeit dort verweilen, wenn es ihm beliebte, und seine Gefolgsleute einfach mitnehmen. Über die Dämonen und die Menschen herrschen. Ja, das würde ihm gefallen.

Er war ebenfalls ein Gott, ein Bruder ihres Herrschers. Damit gab es keine Garantie, dass man ihn fassen und zurückschicken würde.

Natürlich. Der perfekte Plan. Genauso musste er es sich von Anfang an überlegt haben. Sie sollte hierherkommen. Und Geryon mitbringen. Luzifer wollte sie beide – die einzigen Hindernisse, die zwischen ihm und der Freiheit standen – tot sehen.

Um der Götter Willen, sie war blind in seine Falle getappt. Ihr wurde schlecht. Wie hatte sie nur darauf hereinfallen können? Ihm bereitwillig den Weg ebnen, indem sie exakt das tat, was er von ihr erwartet hatte? Was bin ich nur für ein naiver Dummkopf. Mehr noch als die Übelkeit quälte sie die Schmach.

So leicht. Sie hatte es ihm so leicht gemacht.

„Kadence, sag doch etwas. Was hast du?“ Geryon hockte sich vor sie, kniete sich dann zwischen ihre Beine und strich ihr mit einer Klaue sanft das schweißnasse Haar aus der Stirn.

Sie hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich. Die Sorge in seinen wunderschönen braunen Augen verscheuchte das beschämende Gefühl, versagt zu haben – der Schmerz jedoch blieb unverändert. Dennoch, sie bereute ihre Entscheidung nicht. Ganz egal, wie es ausging, er würde frei sein. Dieser gute, starke Mann hätte endlich seine Freiheit zurück. So, wie er es verdiente.

„Es … geht … schon wieder“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. In Wirklichkeit fühlte sie sich, als würde sie von innen zerfleischt, ihre Organe in Fetzen gerissen.

„Tut es nicht, du kannst ja kaum atmen. Aber dagegen werden wir etwas tun.“ Er hob sie hoch und trug sie in den hinteren Teil der Taverne. In einen abgetrennten Raum, den der Besitzer genutzt haben musste. Dort legte Geryon sie auf eine Fellpritsche. „Darf ich?“, fragte er, den Amethysten mit zwei Fingern leicht in die Höhe hebend.

„Ja.“ Sie hatte vorgehabt, ihm dieses letzte Geschenk, das sie ihm machen konnte, nach Abschluss ihrer Mission zu geben, als Dank für seine Hilfe. Aber jetzt nickte sie und ließ ihn gewähren. Im Moment sah es eher nicht so aus, als würde sie noch irgendetwas abschließen.

„Meine Seele ist in diesem Stein?“

„Ja. Du musst ihn einfach nur dicht über dein Herz halten.“

„Das ist alles?“

„Ja“, wiederholte sie. Zu mehr war sie nicht in der Lage.

Langsam, vorsichtig, nahm er ihr die Kette ab und hielt den Anhänger vor seine Brust, wie sie gesagt hatte. Er schloss die Augen. Und dann … geschah zunächst überhaupt nichts. Doch gerade als er ihr einen fragenden Blick zuwerfen wollte, begann der Edelstein auf einmal zu glühen.

Geryon verzog den Mund und keuchte. „Brennt.“

„Ich kann ihn für dich ha…“

Aus dem Glühen wurde ein grelles Leuchten, das sich in einem Feuerwerk gleißender Funken entlud – und Geryon brüllte, laut und lang.

Als das letzte Echo seines Schreis verklungen war, entstand eine gespenstische Stille. Die Funken schwebten zu Boden und erloschen. Nur die Kette, die den Stein gehalten hatte, lag noch in Geryons Handfläche.

Der schmerzverzerrte Ausdruck in seinem Gesicht wich einem Lächeln, und langsam öffnete er die Augen. Doch als er an sich hinunterblickte, seine Arme, dann den restlichen Körper betrachtete, runzelte er die Stirn. „Was … ich bin nicht … ich hatte gehofft, mit meiner Seele würde ich auch meine alte Gestalt wieder annehmen.“

„Warum?“ Sie liebte ihn so, wie er war. Hörner, Fangzähne, Klauen, alles an ihm. Ja, liebte. Zweifellos. Sie hatte es schon früher vermutet, dann aber verleugnet. Jetzt konnte sie es nicht mehr abstreiten. Das war genau, was sie für ihn empfand, selbst im Angesicht des Todes.

Kein Mann hätte ein besserer Partner für sie sein können. Ihre Natur schreckte ihn nicht ab, im Gegenteil, er fand sie aufregend. Er fürchtete sich nicht vor dem, wozu sie fähig war, nein, er bewunderte sie dafür, war stolz auf sie. Er machte sie glücklich, hatte sie ihre innere Kraft wiederfinden lassen. Er ließ sie träumen, von Dingen, die sie geglaubt hatte, niemals haben zu können. Er war perfekt.

„Weil ich …“ Er schluckte. „Ich dachte, wenn … wenn du dich mit etwas anderem vereinen würdest, dann könnte das vielleicht deine Bindung an die Mauer abschwächen. Dann hätten die Schäden nicht mehr so schlimme Auswirkungen auf dich. Vielleicht würden die Schmerzen nachlassen.“

„Mit etwas anderem?“, fragte sie, plötzlich atemlos aus Gründen, die nichts mit Schmerz zu tun hatten. „Mit dir?“

„Ja. Mit mir. Ich verstehe natürlich, wenn du das nicht tun willst, aber ich wollte es dir wenigstens vorschlagen, damit …“

„Geryon?“

„Ja?“

„Halt den Mund und küss mich.“

17. KAPITEL

Geryon machte keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. Stattdessen drehte er den Kopf weg und wich ihrem Blick aus.

„Lass mich zuerst ausreden. Ich weiß, ich bin hässlich. Ich weiß, die Vorstellung, in einer solchen Weise mit mir zusammen zu sein, ist bestimmt scheußlich für dich, aber ich …“

„Du bist nicht hässlich“, unterbrach Kadence ihn. „Und es gefällt mir nicht, dass du das denkst. Ich mag es nicht, wenn du dich selbst so gering schätzt.“

Erstaunt hob er den Blick und sah sie an, ungläubig blinzelnd.

Sie sprach weiter: „Die Vorstellung, mit dir zusammen zu sein, ist verlockend. Mehr als das, glaub mir. Kannst du mich jetzt bitte küssen?“

Sein Mund öffnete sich, klappte wieder zu.

„Verlockend?“

Was für eine Frage.

„Ja. Aber ich möchte nicht, dass du dich nur mit mir vereinigst, um mein Leben zu retten.“ Es war noch nicht lange her, da hatte sie sich nicht getraut, zuzugeben, wie sehr sie ihn wollte. Stattdessen hatte sie vorgegeben, sie wäre schlicht dankbar für einen Kuss, für ein wenig Trost. Damit war jetzt ein für alle Mal Schluss. „Ich wünsche mir, dass du es willst. Weil ich … Ich will dich in mir spüren, eins mit dir werden, hundertmal mehr als ich darauf brenne, den nächsten Tag zu erleben. Ich will dein sein, heute und für alle Zeiten.“

Bevor er antworten konnte, wurde sie von einem weiteren Schmerzanfall geschüttelt. Es durchfuhr sie wie ein vergifteter Pfeil, und hilflos rollte sie sich zu einer Kugel zusammen. Sie hatten das erste Loch in die Mauer geschlagen; sie sah es in ihrem Geist.

„Geryon?“, wimmerte sie. „Du musst dich entscheiden.“

Mit todernstem Blick sah er ihr in die Augen. „Ich habe mir einmal geschworen, sollte ich jemals das Glück haben, meine Seele zurückzubekommen, würde ich sie um nichts in der Welt ein zweites Mal hergeben. Aber in diesem Moment ist mir klar geworden: Für dich täte ich es, Kadence. Mit Freuden. Die Antwort lautet also Ja. Ich will dich lieben und ein Teil von dir werden. Und jetzt kannst du deinen Kuss bekommen.“

Hungrig suchten und fanden ihre Lippen einander, und langsam streifte Geryon ihr die Kleidung ab. Er begann mit ihrem Umhang, dann folgte das enge, hauchdünne Gewand darunter, und die ganze Zeit achtete er sorgfältig darauf, ihre Haut nicht mit seinen messerscharfen Krallen zu verletzen. Sie litt schon genug. Er fürchtete, mehr könnte sie nicht ertragen. Diese wunderschöne, kostbare Frau. Sie verdiente nichts als Wonne, nichts als tiefe Liebe.

Aus welchem Grund auch immer, sie begehrte ihn. Wollte mit ihm zusammen sein. Bis ans Ende der Zeit. Sie hatte ihm gegeben, wovon er dachte, es sei das Allerwichtigste für ihn – seine Seele. Und bis zu dem Moment, als er mit ansehen musste, wie sie sich quälte, sich vor Schmerzen krümmte, hatte er selbst nicht gewusst, dass es etwas gab, das ihm sogar noch mehr bedeutete. Viel mehr.

Sie. Er wünschte, er könnte ihr die Schmerzen abnehmen, sie selbst ertragen. Egal, was es ihn kosten würde. Für sie spielte keine Rolle, was er war. Ein Monster. Sie sah in sein Herz, und ihr gefiel, was sie dort erblickte.

Überwältigend.

Als sie schließlich nackt neben ihm lag, lehnte er sich ein Stück zurück und sog ihren Anblick in sich auf. Seidige, alabasterweiße Haut mit einem zarten Hauch von Rosa, der darauf schimmerte. Üppige Brüste, eine schmale Taille, ein kleiner runder Bauchnabel, der förmlich dazu einlud, ihn mit der Zungenspitze zu liebkosen. Scheinbar endlos Beine, verführerisch leicht geöffnet.

Er beugte sich vor und nahm eine ihrer Brustwarzen zwischen die Lippen, kreiste mit der Zunge um die empfindsame Spitze, während er die Hände über ihren ganzen Körper gleiten ließ.

Je mehr seine Finger sich ihrer Mitte näherten, desto selbstvergessener wurden ihre heiseren Seufzer, die Schmerzen schienen nachzulassen. „Ich fühle mich schon viel besser“, raunte sie, wie um seinen Gedanken zu bestätigen.

Den Göttern sei Dank. Er wandte sich ihrer anderen Brustwarze zu, strich mit einem seiner Reißzähne ganz zart über die rosige Haut.

Sie stöhnte lustvoll.

„Hilft es noch immer?“ Wieder und wieder umspielte er mit den Fingern ihren sensibelsten Punkt, ohne ihn je zu berühren. Machte er es richtig so? Bitte, Götter, betete er inständig, lasst es mich richtig machen.

„Ja, sehr sogar. Aber ich will dich sehen“, sagte sie und warf einen eindeutigen Blick auf seinen Lendenschurz.

Er schaute auf und kniff unsicher die Augen zusammen. „Bist du sicher, dass du das willst? Ich könnte dich nehmen, ohne auch nur ein Stück von meinem Harnisch ablegen zu müssen.“

„Ich will dich ganz und gar, alles von dir, Geryon.“ Sie strahlte, erwartungsvoll, aufgeregt. „Alles.“

Du wundervolle, kostbare Frau, dachte er abermals.

„Was immer du wünschst, du sollst es haben.“ Er hoffte nur, sie änderte nicht doch noch ihre Meinung, wenn sie ihn sah.

„Du brauchst dich nicht um meine Reaktion zu sorgen. Für mich bist du der schönste Mann, den es gibt.“

So bezaubernde Worte. Aber … Sein ganzes Leben hatte er mit diesen Selbstzweifeln verbracht. Sie waren ein Teil von ihm geworden, der sich nicht so leicht abschütteln ließ.

„Wie ist das möglich? Sieh mich doch an. Ich bin ein Ungeheuer. Ein Monster. Ein Wesen, das man fürchtet und verabscheut.“

„Ich sehe dich, und du bist ein edles, achtenswertes Geschöpf. Du magst nicht aussehen wie andere Männer, aber dafür bist du mutig, aufrichtig, stark und ehrenhaft. Und nicht zu vergessen“, fügte sie hinzu und befeuchtete sich verführerisch die Lippen, „finde ich ein bisschen animalische Anziehungskraft sehr erregend. Und jetzt lass deine Zukünftige nicht länger auf heißen Kohlen sitzen. Zeig mir, was ich sehen will.“

18. KAPITEL

Geryon zog das zerschlissene Tuch aus, das seinen Oberkörper bedeckte, und warf es beiseite, entblößte seine massige zweigeteilte Brust mit ihren Narben und dem dichten Fell. Seine Hände zitterten, als er danach das Leder lockerte, das um seine Hüften geschlungen war, und darunter langsam seine ebenfalls mit Narben übersäten Oberschenkel zum Vorschein kamen – und schließlich sein harter, aufgerichteter Schaft.

Seine Schultern verkrampften sich, während er auf den unvermeidlichen schockierten Laut wartete, den sie jeden Moment ausstoßen würde, ganz unabhängig davon, dass sie ihm eben noch versichert hatte, sie fände „animalische Anziehungskraft“ erregend.

„Wunderschön“, sagte sie ehrfürchtig. „Ein wahrer Krieger. Mein Krieger.“ Sie streckte die Hand aus und ließ die Fingerspitzen über sein Fell gleiten. „Weich. Ich mag es. Nein, ich liebe es.“

Mit einem leisen Geräusch entwich zwischen seinen halb geöffneten Lippen der Atem, den er unbewusst angehalten hatte.

„Kadence. Meine süße Kadence“, flüsterte er. Sie war … Sie war … Sein Ein und Alles. Was hatte er getan, um sie zu verdienen? Wäre er nicht schon lange in sie verliebt gewesen, spätestens jetzt hätte Amors Pfeil sein Herz durchbohrt und lichterloh brennen lassen. „Ich will dich schmecken.“

„Worauf wartest du?“, entgegnete sie verlockend.

Ungezügeltes Verlangen pochte in ihm, heißer, als er es jemals verspürt hatte, und quälend langsam küsste er sich an ihrem Bauch hinab. Nur einen kurzen Augenblick hielt er inne, um seine Zungenspitze in ihren Nabel zu tauchen. Ein wohliger Schauer überlief sie. Als er ihre Hüften erreichte, schenkte er jedem Millimeter, der ihn noch weiter nach unten führte, besondere Aufmerksamkeit, saugte, leckte, knabberte, liebte … Und sie begann sich in Ekstase zu winden.

„Unglaublich“, keuchte sie und krallte die Finger in sein Haar. „Hör nicht auf. Bitte, nicht aufhören.“

Er spürte ihre Macht, wie sie sich um ihn legte, wie sie versuchte, sein Handeln zu lenken. Es war fraglich, ob er ihr hätte widerstehen können, aber es kümmerte ihn auch nicht im Geringsten. Er wollte sie nehmen, sie besitzen, und das tat er.

Doch erst als sie die Kontrolle verlor, ihre Leidenschaft herausschrie, schob er sich nach oben, stützte sich über ihr ab. Er war stolz und begeistert darüber, dass er es geschafft hatte, ihr solches Vergnügen zu bereiten. Jetzt aber zitterte er selbst am ganzen Leib, hatte das Gefühl, innerlich in Flammen aufzugehen. Voller verzweifelter Sehnsucht. Nach ihr, ihr allein.

„Die Schmerzen?“

„Fort.“

Es mochte sein, dass er nur deshalb gewagt hatte, es anzusprechen, weil diese Vereinigung ihr Leben retten könnte. Aber er hätte nicht glücklicher sein können, es getan zu haben. Sie würde ihm gehören. Und sie würde leben.

Sie schlang die Beine um seine Hüften, legte die Hände an seine Wangen und sah ihm beschwörend in die Augen. „Bitte, überleg es dir jetzt nicht anders. Ich will mehr.“

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er an ihrer Pforte innegehalten hatte, abwartend.

„Um nichts in der Welt. Ich muss dich haben. Bereit?“

„Ja.“

Er drang in sie ein, nur ein kleines Stück, einen himmlischen Zentimeter tief. Hielt erneut inne, gab ihr Zeit, sich an ihn zu gewöhnen. Er würde sich zurückhalten, und wenn es ihn umbrachte. Was gut möglich war.

Folter. Die süßeste Folter, die man sich vorstellen konnte. Aber er wollte, dass es gut für sie war, die schönste Erfahrung ihres Lebens.

„Warum habe ich nicht das Bedürfnis, dich zu beherrschen?“, raunte sie ihm ins Ohr und biss in sein Ohrläppchen.

Alles verzehrendes Feuer. „So ist es bisher gewesen?“ Schweiß rann ihm über die Arme, die Stirn, den ganzen Körper.

Sie nickte, hob ihm die Hüften entgegen, um mehr von ihm zu bekommen. Ihn ein weiteres Stück in sich aufzunehmen.

Er unterdrückte ein Stöhnen. „Vielleicht, weil mein Herz dir schon so vollständig gehört, dass nichts mehr übrig ist, das du mir noch entreißen könntest.“

„Oh Geryon. Bitte.“ Sie streichelte seine Hörner, kreiste mit der Fingerspitze über die Rillen darin. „Nimm mich ganz. Gib mir alles.“

Er konnte ihr keinen Wunsch abschlagen.

Endlich gab er den letzten kümmerlichen Rest seiner Selbstbeherrschung auf, an den er sich bis zu diesem Augenblick verbissen geklammert hatte, und fuhr in sie – und sie schrie auf. Nicht vor Schmerz, sondern vor Lust, stellte er erleichtert fest. Ihre Seelen – er hatte eine Seele, endlich wieder eine Seele – tanzten miteinander, umeinander herum, eng umschlungen, verschmelzend. Ja. Ja! Wieder und wieder füllte er sie aus, gab ihr alles von sich. Ihrer beider Willen vermischten sich so vollständig, dass es unmöglich zu sagen gewesen wäre, wer was wollte. Grenzenlose Lust war das einzige Ziel.

Seine Krallen rissen den Boden neben ihrem Kopf auf, in Ekstase biss er ihr in die Schulter, aber all das gefiel ihr, erregte sie, und sie gab sich ihm nur umso hungriger hin, bettelte um mehr. Und als er sich in sie ergoss, ihre Muskeln sich in ihrer eigenen Erfüllung um ihn zusammenzogen, schrie er die Worte, die er ungezählte Male still gedacht hatte, seit dem Augenblick ihrer ersten Begegnung.

„Ich liebe dich!“

Zu seiner Überraschung tat sie dasselbe. „Oh, Geryon, ich liebe dich auch!“

Sie waren vereinigt.

Waren eins geworden.

Eilig zogen sie sich wieder an. Kadence war nach wie vor geschwächt, doch zumindest die Schmerzen schienen fort zu sein.

„Sind sie immer noch beim Tor?“, fragte Geryon. Er wollte diesen Kampf endlich ausgestanden wissen, je früher, desto besser. Nichts wollte er so sehr wie sie aus dem Reich des Bösen führen und alles tun, damit sie fortan in Glück und Zufriedenheit lebte.

Was, wenn sie die Hölle auch weiterhin nicht verlassen kann?

Wie ein Damoklesschwert schwebte der Gedanke über ihm, aber er verdrängte ihn energisch. Es würde ein gutes Ende nehmen. Weil sie zusammen waren. Weil sie wahre Liebe gefunden hatten.

„Ja, das sind sie“, antwortete Kadence. „Sie arbeiten fieberhaft daran, die Mauer zu durchbrechen.“

Er gab ihr einen sanften Kuss auf den Mund und schwelgte eine Sekunde lang abermals in dem Gefühl, der Frau nah zu sein, die er liebte.

„Dann machen wir uns besser auf den Weg. Sobald du sie siehst, lässt du sie erstarren, und ich kümmere mich um den Rest.“

„Ich hoffe nur, dass es funktioniert“, sagte sie. „Ich könnte es nicht ertragen, von dir getrennt zu werden.“

Ebenso wenig wie er.

„Es wird funktionieren. Es muss.“

19. KAPITEL

Beinahe eine Stunde lang waren sie unterwegs, eine endlos lange, quälende Stunde, die gleichzeitig viel zu schnell verstrich, bis Geryon schließlich von Weitem die Mauer erkennen konnte. Als sie näher kamen und das ganze Ausmaß der Verwüstung sahen, traute er seinen Augen kaum. Die Dämonen hatten sich so fanatisch darauf gestürzt, dass die Barriere getränkt war von ihrem Blut. Stück für Stück hatten sie den Fels abgetragen – Fels, von dem nur noch eine papierdünne Schicht übrig war. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis sie ein Loch hineinbrechen würden.

Und da waren sie, die komplette Meute auf einem Fleck versammelt. Gigantische Kreaturen, jeder von ihnen mindestens drei Meter groß, und ihre Schultern so breit, dass selbst Geryon dagegen wie ein Zwerg wirkte. Unter ihrer pergamentartigen Haut schimmerte ihr Skelett hervor. Einige hatten Flügel, andere Schuppen – ihnen allen gemein war jedoch, wie grotesk sie in ihrer Bösartigkeit anmuteten. Rote Augen, Hörner wie Geryons, nur viel gewaltiger, und Klauen wie Dolche.

„Kadence“, zischte er.

„Ich versuche es, Geryon, ich schwöre, ich versuche es ja.“ Mit jedem Wort wurde ihre Stimme leiser, schwächer. „Aber …“

Eins der … Dinger hatte sie erspäht und lachte. Ein Laut, bei dem sich jedes einzelne seiner Haare aufstellte.

„Jetzt“, rief er Kadence zu. Bitte.

„Bleibt, wo ihr seid. Ich befehle es euch!“

Sie dachten nicht daran.

„Versuch es noch mal.“

„Tue ich.“ Sie starrte einem von ihnen so fest in die Augen, wie sie nur konnte. Nichts. Streckte gebieterisch die Hände in ihre Richtung aus – nichts. Stieß einen drohenden Schrei aus, in den sie all ihren Willen legte – doch noch immer geschah nichts. Die Hohen Herren zeigten keine Reaktion.

„Ich schaffe es nicht.“ Sie stöhnte erschöpft.

„Was ist mit dir?“ Alarmiert musterte er sie und bemerkte voller Entsetzen, dass sie kalkweiß geworden war. Genau wie in der Taverne. Er rannte zu ihr, schlang einen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen, gerade noch rechtzeitig, bevor sie umfiel. War sein Plan mit der Bindung fehlgeschlagen? Hatte sich denn gar nichts an ihrer Abhängigkeit von der Mauer geändert? „Sprich mit mir, Kleines.“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Dämonen die Köpfe zusammensteckten. Lachend. Malten sie sich schon aus, wie sie ihn töten würden?

„Ich bin mit dir und der Barriere verbunden. Ich spüre deine Stärke, ebenso wie ich ihre Schwäche spüre, und diese Gegensätze reißen mich auseinander!“ Sie schluchzte verzweifelt auf. „Es tut mir leid. So unendlich leid. All die Strapazen waren umsonst, Geryon. Umsonst! Ich bin verdammt. Das war ich von Anfang an, ich wollte es nur nicht wahrhaben.“

„Nicht umsonst. Sag so etwas nicht. Wir haben uns.“ Aber für wie lange noch? „Ich werde dich nicht sterben lassen.“

„Es ist vorbei, du kannst nichts mehr tun.“

Langsam kamen die Dämonen auf sie zu – Jäger, fixiert auf ihre Beute.

„Ich töte sie alle. Wir fliehen einfach. Wir …“

„Du bist das Beste, das mir jemals passiert ist“, sagte sie schwach und legte die Wange an seine Schulter.

„Ich verbiete dir, so zu reden, Kadence.“ Sich von ihm zu verabschieden. Denn genau das war es, was sie tat.

„Töte sie und rette dich. Flieh. Bitte. Lebe in Frieden und Freiheit, mein Liebster. Beides soll dein sein. Du verdienst es.“

Nein. Nein!

„Du wirst nicht sterben.“ Doch noch während er das sagte, begann die Mauer, bereits irreparabel beschädigt, zu knirschen. Kleine Stücke brachen heraus, das lange gefürchtete Loch erschien. „Versprich es!“

Kadence’ Knie gaben nach, und er wirbelte herum, hielt sie, legte sie sacht auf den Boden. Ihre Augen waren geschlossen.

„… so … leid … Liebster.“

„Nein. Du musst leben. Hörst du mich? Leben!“

Ihr Kopf sackte zur Seite.

Dann … nichts.

„Kadence.“ Er schüttelte sie. „Kadence!“

Keine Antwort. Doch ihre Brust hob und senkte sich noch immer, wenn auch fast unmerklich. Sie war nicht tot. Den Göttern sei Dank, tausendmal Dank.

„Sag mir, wie ich dir helfen kann, Kadence. Bitte.“

Sie rührte sich nicht.

„Bitte.“ Tränen brannten in seinen Augen. Er hatte nicht um die Frau geweint, die ihn verlassen hatte, nicht um das Leben, das er verloren hatte, aber um diese Frau weinte er bitterlich. Ich brauche dich doch. Ihr letzter Wunsch war gewesen, dass er die Hohen Herren aufhielt und dann der Hölle für immer den Rücken zukehrte. Aber er brachte es nicht über sich, von ihrer Seite zu weichen.

Ohne sie gab es für ihn keinen Grund, weiterzuleben. Was sollte er dann noch auf der Welt?

Etwas Scharfes riss die Haut an seinem Hals auf, und er drehte den Kopf. Die Hohen Herren umkreisten sie in der Luft wie Aasgeier, überschlugen sich fast vor Schadenfreude.

„Verschwindet“, grollte er. Er würde hier bei ihr bleiben, so lange es nötig war; sie halten, bis es sicher genug wäre, sie zu bewegen.

„Tötet sie“, krächzte einer der Dämonen.

„Vernichtet sie“, stimmte ein anderer ein.

„Lasst uns sie zerfleischen.“

„Zu spät. Die ist hinüber.“

Mehr Gelächter.

Diese Bastarde! Einer von ihnen flog einen blitzschnellen Scheinangriff und ritzte mit seiner Kralle Kadence’ Wange, sodass Blut hervorquoll, ehe Geryon begriff, was geschah. Sie reagierte nicht. Aber er tat es. Er brüllte mit solch einer Wut, dass der Widerhall seines eigenen Schreis in seinen Ohren dröhnte.

Die übrigen Dämonen witterten den frischen Lebenssaft einer Göttin und schnurrten, berauscht von seinem appetitlichen Duft. Dann wurde es für einen Moment vollkommen still. Die Ruhe vor dem Sturm. Und im nächsten Augenblick stürzten sie sich auf ihre scheinbar hilflosen Opfer.

Wieder brüllte Geryon, warf sich über Kadence’ leblosen Körper, um sie mit seinem zu schützen. Bald schon war sein Rücken mit Striemen und tiefen Wunden übersät, eins seiner Hörner abgebrochen, dicke Büschel seines Fells herausgerissen. Und die ganze Zeit schlug er wild um sich, in der Hoffnung, so viele von ihnen zu erwischen wie nur möglich. Doch nur einer schaffte es nicht rechtzeitig, einem seiner Schläge auszuweichen, und stürzte zu Boden.

Weiter und weiter ging das Gemetzel, das Gelächter wurde immer irrsinniger.

„Ich liebe dich“, flüsterte Kadence plötzlich. „Dein Schrei hat mich … aus der Dunkelheit … geholt. Musste es dir … sagen.“

Sie war zu ihm zurückgekehrt? Seine Muskeln verkrampften sich, er konnte es kaum glauben.

„Ich liebe dich. Bleib bei mir, geh nicht wieder in die Dunkelheit. Bitte. Wenn du nur noch ein bisschen durchhältst, lang genug, um dich zu verteidigen, dann kann ich sie töten. Und danach gehen wir von hier fort.“

„Es tut mir … leid. Keine … Kraft.“

Dann würde er eben einen Weg finden, sie weiter zu beschützen und sie zu retten. Niemals hätte er sie in die Hölle geführt, hätte er geahnt, was sie erwartete. Er wäre für den Rest seines Daseins vor dem Tor stehen geblieben, ein lebendes Bollwerk, an dem nichts und niemand vorbeikam.

Moment. Bollwerk. Vorbeikommen. Diese Dämonen wollten nur eins: entkommen. Deshalb waren sie hier.

„Geht“, schrie er sie an. „Verlasst diesen Ort. Die Erde mit all ihren Bewohnern gehört euch.“ Das Schicksal der Menschen interessierte ihn nicht länger. Nur Kadence war wichtig.

Als hätte die Mauer nur noch auf seine Erlaubnis gewartet, begann sie zu beben und zu knacken … und brach in sich zusammen. Was bedeutete …

„Nein!“, schrie er. Das hatte er nicht kommen sehen. Doch es war zu spät, das Unheil war angerichtet.

Hämisch grinsend ließen die Dämonen von ihnen ab und flatterten in die Höhle hinaus, und binnen kürzester Zeit waren sie außer Sichtweite.

Neue Tränen brannten in Geryons Augen, als er Kadence in seine zerkratzten, blutigen Arme zog.

„Sag mir, dass die Mauer nicht mehr wichtig ist. Sag mir, dass ich dich in Sicherheit bringen kann. Dass wir zusammen sein werden.“

„Leb wohl, mein Geliebter“, hauchte sie und starb in seinen Armen.

20. KAPITEL

Sie war tot. Kadence war tot. Und es gab nichts, was er hätte tun können, um sie wieder lebendig zu machen. Das wusste er so sicher, wie er wusste, dass er den nächsten Atemzug tun würde. Einen unfreiwilligen, verhassten Atemzug. Tränen, heiß und salzig, rollten seine Wangen hinunter, wie um ihn daran zu erinnern, dass er lebte – und seine Kadence nicht.

Er hatte versagt. Sie enttäuscht. Im Stich gelassen.

Sie hatte gewollt, dass er die Mauer rettete, sie rettete. Sie hatte ihn um seine Hilfe dabei gebeten, die Hohen Herren in der Hölle zu halten. Und er hatte in jeder Hinsicht versagt. Versagt, versagt, versagt.

„Es tut mir so leid, Geryon.“

Was zum … An den Schultern hielt er sie ein Stück von sich weg, starrte in ihr unbewegtes Gesicht – und dann sah er fassungslos zu, wie ihre Seele ihren leblosen Körper verließ. Sie war … Sie war … Hoffnung flackerte in ihm auf. Hoffnung und Freude und Schock.

Er hatte sie nicht völlig verloren!

Ihr Leib mochte vergänglich sein, doch ihre Seele lebte weiter. Natürlich. Er hätte es wissen sollen. Jeden Tag hatte er die Geister der Toten gesehen, doch keiner von ihnen war so rein und kraftvoll gewesen wie ihrer. Sie konnten noch immer zusammen sein.

Er sprang auf, schaute ihr in die Augen, das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Knie waren weich. Sie lächelte ihn an. Traurig.

„Es tut mir so leid“, wiederholte sie. „Ich hätte mich niemals an dich binden dürfen. Niemals um deine Hilfe bitten.“

„Warum?“ Wenn er doch nicht glücklicher hätte sein können? Sie war hier, bei ihm. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Ich bin derjenige, der dich im Stich gelassen hat.“

„Sag so etwas nicht, du hast mich nicht im Stich gelassen. Wärest du beim Tor geblieben, wie du es wolltest, hätte all das überhaupt nicht geschehen können.“

„Das stimmt nicht. Über kurz oder lang hätten die Dämonen die Mauer zerstört und damit auch dich, aber mir wäre nie die Möglichkeit, nein, das Geschenk vergönnt gewesen, mich mit dir zu vereinen. Ich bedaure nicht, was geschehen ist.“ Jetzt nicht mehr. Jetzt, da ihr Geist vor ihm stand, mit ihm sprach.

„Geryon …“

„Was ist mit den Dämonen?“, schnitt er ihr das Wort ab. Er würde nicht erlauben, dass sie sich weiter für ihre vermeintlichen Fehler marterte. Sie hatte keine begangen.

„Die Götter werden sicher versuchen, sie zurückzuholen, aber mein Versagen wird niemals in Vergessenheit geraten.“

Er schüttelte den Kopf. „Du hast dir nichts vorzuwerfen, mein Herz. Du hast alles in deiner Macht Stehende getan, um sie aufzuhalten. Die meisten anderen hätten nicht einmal den Schritt in die Hölle gewagt.“ Er neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie eingehender. Sie war so schön wie immer, ein opalisierendes Ebenbild ihres früheren Selbst. Schimmernd, durchscheinend, zerbrechlich. Noch immer fielen ihr die goldenen Locken über die Schultern. Noch immer sah sie ihn aus diesen glänzenden, wundervollen Augen an.

Bevor sie in sein Leben getreten war, hatte er nichts als Eintönigkeit gekannt, war verloren gewesen in einer unwirtlichen, endlosen Wüste. Jeder Augenblick ohne sie war … nun, die Hölle gewesen.

„Danke, mein geliebter Geryon. Aber selbst wenn die Mauer wieder aufgebaut werden könnte und die Dämonen irgendwie eingefangen; ich fürchte, den Göttern würde es nicht gelingen, sie hier zu halten.“ Sie seufzte. „Sie sind jetzt auf den Geschmack gekommen. Sie wissen, wie es ist, frei zu sein.“

„Die Götter finden eine Lösung“, versicherte er ihr. „Das tun sie immer.“ Er streckte die Hände nach ihr aus, um sie an sich zu ziehen, doch seine Arme glitten einfach durch sie hindurch, und verwirrt runzelte er die Stirn. Seine vorherige Freude wurde von plötzlicher Niedergeschlagenheit überschattet. Sie zu berühren war eine Notwendigkeit; wie sollte er ohne ihre Wärme leben, ohne ihre Weichheit?

Immer noch besser, darauf verzichten zu müssen, als auf sie.

„Nun verstehst du“, sagte sie traurig. „Wir können niemals wieder zusammen sein. Nicht auf diese Weise.“

„Das ist mir egal.“

„Aber mir nicht.“ Ihre Augen begannen feucht zu glänzen. „Nach allem, was du durchgemacht hast, verdienst du mehr als das hier. So viel mehr.“

„Ich will nur dich.“

Sie fuhr fort, als hätte sie ihn nicht gehört.

„Ich werde von hier fortgehen und allein auf der Erde umherstreifen.“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf. Die Tränen stoben in feinen, durchsichtigen Tröpfchen durch die Luft. „Ich weiß, Göttern steht die Entscheidung frei, an welchem Ort sie sich nach ihrem Tod niederlassen möchten, aber ich verspüre kein Verlangen danach, in den Himmel zurückzugehen. Oder in der Hölle zu bleiben.“

Während sie sprach, kam ihm ein Gedanke. Ein verrückter Gedanke, doch er tat ihn nicht ab, sondern klammerte sich daran wie an einen Strohhalm.

Hast du wirklich vor, das zu tun?

Er sah sie an, ihre Blicke trafen sich, und er beschloss: Ja, ich habe wirklich vor, das zu tun.

„Als ich die Bindung mit dir eingegangen bin, Kadence, sollte sie für immer und ewig sein. Ich werde dich nicht aufgeben.“

„Aber du wirst mich nie wieder berühren können. Du wirst niemals …“

„Oh doch. Vertrau mir.“ Und mit diesen Worten rammte er sich seine tödlichen Krallen in die Brust.

Er spürte, wie das Gift sich in seinem Inneren ausbreitete, ihn verätzte, sich durch seine Eingeweide fraß. Mit einem markerschütternden Schrei schwankte er, sank auf die Knie. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Er starb.

Als der Schmerz nachließ, verschwand auch die Schwärze. Und dahinter war … nichts. Leere.

Nein, nicht ganz. In der Ferne schimmerte ein Licht. Er lief darauf zu, schnaufend und keuchend, und es kam näher, näher, beinahe … Geschafft.

Seine Lider flatterten. Er schlug sie auf und sah, dass sein Körper zu einem Haufen Asche geworden war. Doch sein Geist schwebte neben dem von Kadence. Ihr Mund stand offen, und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.

So viele Male in den vergangenen Jahrhunderten hatte er daran gedacht, seinem Dasein ein Ende zu bereiten. Doch er hatte es nicht getan, hatte an seinem Leben festgehalten, so trist es auch sein mochte. Wegen Kadence. Um sie zu sehen, sich vorzustellen, wie er sie im Arm hielt, und darauf zu hoffen, dass sich dieser Wunsch irgendwann einmal erfüllen würde.

Und das hatte er getan. Aus dem Traum war Realität geworden.

„Du bist … Geryon … du bist …“

Er blickte an sich hinunter. Alles an ihm war wie vorher. Klauen, Fell, Hufe.

„Bist du enttäuscht?“

„Wie bitte? Ich könnte nicht glücklicher sein! Ich liebe dich genau so, wie du bist, und würde dich niemals anders haben wollen. Aber du hättest dein Leben nicht für mich aufgeben dürfen“, sprudelte es unter Tränen aus ihr hervor – begleitet von einem breiten Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte.

„Jetzt bin ich wirklich frei“, sagte er. „Ich kann mit dir zusammen sein. Und ich würde es jederzeit wieder tun.“ Er legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Endlich. Endlich konnte er sie wieder fühlen. Sie war nicht so warm wie vorher, ihnen beiden haftete nun eine vage Kühle an, doch mit dieser unwesentlichen Veränderung kam er zurecht. Hauptsache, er spürte sie. Seine Kadence.

„Ich liebe dich so sehr“, sagte sie und bedeckte sein Gesicht mit kleinen Küssen. „Nur, wie geht es jetzt weiter?“

„Wir werden leben. Endlich ein erfülltes Leben haben.“

Und das taten sie.

Als die Götter Kenntnis davon erlangten, dass die Barriere zwischen Erde und Hölle zerstört worden und eine Meute Hoher Herren in die Welt der Menschen entkommen war, sandten sie eine Armee unsterblicher Krieger aus, um die Mauer wieder aufzubauen – doch niemand konnte die Dämonen finden und einfangen. Und selbst wenn es jemandem gelungen wäre, die Götter wussten: Sie einfach zurück in die Hölle zu verbannen hätte schon bald einen erneuten Aufstand zur Folge gehabt.

Es musste also eine andere Lösung gefunden werden.

Wenngleich die Mauer auch eingestürzt sein mochte, die sterblichen Überreste der Göttin der Unterdrückung waren noch immer mit dem Tor zur Hölle verbunden. Und so bauten die Götter die Barriere wieder auf. Aus Kadence’ Knochen fertigten sie ein Gefängnis, klein wie ein Schmuckkästchen. Sie waren überzeugt, dass die Macht, die Kadence erst kurz vor ihrem Tod zu nutzen gelernt hatte, tief in ihrem Mark steckte.

Sie sollten recht behalten.

Einmal geöffnet zog die Büchse die Dämonen unwiderstehlich an, zerrte sie aus ihren Verstecken hervor und hielt sie gefangen, wie es nicht einmal die Hölle gekonnt hatte.

Zufrieden mit ihrem Werk gaben die Götter die Büchse in die Obhut von Pandora, der stärksten weiblichen Kriegerin jener Zeit, auf dass sie darauf achtgäbe. Doch dies ist eine Geschichte, die ich euch ein anderes Mal erzählen werde.

– ENDE –

1. KAPITEL

Jede Nacht kam der Tod – langsam und qualvoll. Und jeden Morgen erwachte Maddox im Bett, wissend, dass er später wieder sterben müsste. Das war sein Fluch, seine ewige Bestrafung.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und wünschte sich, seinem Feind mit einer Klinge die Kehle durchschneiden zu können. Der Tag war schon fast vorüber. Er hörte, wie die Zeit verstrich, ein giftiges Ticktack in seinem Kopf. Jeder Stundenschlag der Uhr erinnerte ihn voller Hohn an den Tod und den Schmerz.

In weniger als einer Stunde würde sich der erste Stich in seinen Bauch bohren, und was er auch tat oder sagte – es würde nichts daran ändern. Der Tod käme ihn holen.

„Verfluchte Götter“, murmelte er und stemmte die Gewichte schneller.

„Hurensöhne, jeder einzelne von ihnen“, ertönte hinter ihm eine vertraute Stimme.

Obwohl es ihm nicht passte, dass Torin sich einmischte, verlangsamte Maddox das Tempo nicht. Hoch. Runter. Hoch. Runter. In den vergangenen zwei Stunden hatte er seine Wut schon an dem Sandsack, dem Laufband und den Geräten ausgelassen. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen die nackte Brust und die Arme hinab, was seine Muskeln nur noch mehr betonte. Eigentlich hätte seine Seele genauso erschöpft sein müssen wie sein Körper, doch seine Gefühle wurden immer düsterer und intensiver.

„Was willst du hier?“, fragte er schroff.

Torin seufzte. „Hör zu, eigentlich wollte ich dich nicht stören, aber es ist etwas passiert.“

„Dann kümmere dich darum.“

„Ich kann nicht.“

„Egal, was es ist, versuch es. Ich bin nicht in der Verfassung zu helfen.“ Seit einigen Wochen brachte ihn schon die kleinste Kleinigkeit in Rage – ein Zustand, in dem niemand sicher vor ihm war. Selbst seine Freunde nicht. Besonders seine Freunde nicht. Er wollte es nicht, hatte es nie gewollt, doch manchmal war er machtlos gegen den Drang, andere zu schlagen und zu verletzen.

„Maddox …“

„Es geht nicht, Torin“, krächzte er. „Ich würde mehr Schaden anrichten als euch nutzen.“

Maddox kannte seine Grenzen – schon seit Tausenden von Jahren. Seit dem verdammten Tag, als die Götter eine Frau auserkoren hatten, um eine Aufgabe auszuführen, die eigentlich ihm zugestanden hätte.

Pandora war stark, ja, die stärkste Soldatin jener Zeit. Doch er war stärker. Fähiger. Trotzdem befand man ihn als zu schwach, um dimOuniak zu bewachen – eine heilige Büchse, in der Dämonen eingesperrt waren, die so abscheulich und zerstörerisch waren, dass die Außenwelt selbst dann nicht sicher vor ihnen gewesen wäre, wenn sie in der Hölle geschmort hätten.

Als wenn Maddox es zugelassen hätte, dass die Büchse zerstört würde. Bei dem Angriff war er blind vor Wut gewesen. So wie all die anderen Krieger, die nun hier lebten. Sie hatten gewissenhaft für den Götterkönig gearbeitet, hatten fachmännisch getötet und ihn sorgsam beschützt; sie hätten als Wächter auserwählt werden müssen. Dass es nicht geschah, war eine nicht zu tolerierende Schmach.

Sie wollten den Göttern in jener Nacht nur eine Lektion erteilen, als sie Pandora dimOuniak entwendeten und die Dämonen in die nichts ahnende Umwelt entließen. Wie dumm sie doch waren. Sie wollten ihre Macht demonstrieren und scheiterten kläglich: Die Büchse ging in dem Tumult verloren, und die Krieger konnten nicht einen der bösen Geister wieder einfangen.

Bald herrschten Chaos und Verwüstung, die die Welt in Dunkelheit stürzten, bis schließlich der Götterkönig einschritt und jeden Krieger dazu verdammte, einen der Dämonen in sich aufzunehmen.

Eine passende Strafe. Die Krieger hatten das Böse entfesselt, um ihren verletzten Stolz zu rächen und mussten fortan damit leben.

Damit waren die Herren der Unterwelt geboren.

Maddox wurde der Dämon der Gewalt zugeteilt, der genauso zum Teil seines Körpers wurde wie seine Lunge oder sein Herz. Der Krieger Maddox konnte nicht mehr ohne den Dämon leben, und der Dämon konnte nicht mehr ohne den Krieger existieren. Sie waren untrennbar miteinander verbunden. Zwei Hälften, die zusammen ein Ganzes ergaben.

Von Beginn an hatte ihn die Kreatur in seinem Innern dazu verführt, bösartige und verhasste Dinge zu tun, und er war gezwungen zu gehorchen. So auch, als er dazu verleitet worden war, eine Frau zu töten – Pandora. Er umklammerte die Gewichtstange so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Mit den Jahren hatte er gelernt, besonders abscheuliche Züge seines Dämons zu unterdrücken. Doch es war ein ständiger Kampf, den er jederzeit wieder verlieren konnte.

Was hätte er doch für einen einzigen friedlichen Tag gegeben. Ohne das überwältigende Verlangen zu verspüren, jemandem wehzutun. Ohne gegen sich selbst zu kämpfen. Ohne Sorgen. Ohne Tod. Einfach nur … Frieden.

„Du bist hier nicht sicher“, warnte er seinen Freund, der immer noch in der Tür stand. „Geh lieber.“ Er legte die silberne Stange in die Halterung und setzte sich auf. „Nur Lucien und Reyes dürfen in meiner Nähe sein, wenn ich sterbe.“ Und das auch nur, weil sie dabei – wenn auch unfreiwillig – eine zentrale Rolle spielten. Sie waren ihren Dämonen genauso hilflos ausgeliefert wie Maddox.

„Bis dahin ist noch knapp eine Stunde Zeit“, Torin warf ihm ein Tuch zu, „also lass ich’s drauf ankommen.“

Maddox griff hinter sich, fing das weiße Tuch auf und drehte sich um. Er wischte sich das Gesicht ab. „Was …“

Eine eiskalte Flasche Wasser sauste durch die Luft, noch bevor er die zweite Silbe ausgesprochen hatte. Er fing sie geschickt auf, wobei etwas Flüssigkeit auf seine Brust spritzte. Während er trank, musterte er seinen Freund.

Wie gewöhnlich war Torin ganz in Schwarz gekleidet und trug Handschuhe. Das blonde Haar lockte sich auf seinen Schultern und rahmte ein Gesicht ein, das sterbliche Frauen als Festschmaus für die Sinne bezeichneten. Sie wussten nicht, dass dieser Mann der Teufel im Gewand eines Engels war. Doch sie hätten es wissen sollen. Er strahlte eine unübersehbare Geringschätzung aus, und das gottlose Glänzen, das in seinen grünen Augen lag, verkündete, dass er seinem Gegenüber ins Gesicht lachen würde, während er ihm das Herz herausriss. Oder dass er seinem Gegenüber ins Gesicht lachen würde, während dieser ihm das Herz herausriss.

Um zu überleben, musste er so viel lachen wie möglich. So erging es ihnen allen.

Wie alle Bewohner der Budapester Burg war auch Torin verflucht. Er starb vielleicht nicht jede Nacht, so wie Maddox, aber er konnte kein Lebewesen berühren, ohne es mit einer Krankheit zu infizieren.

Torin war vom Dämon des Siechtums besessen.

Seit mehr als vierhundert Jahren war er von keiner Frau mehr berührt worden. Er hatte seine Lektion gelernt, als er seinem Verlangen ein Mal nachgab und das Gesicht seiner angehenden Geliebten streichelte. Er löste damit eine Seuche aus, die in unzähligen Dörfern Mensch für Mensch dahinraffte.

„Nur fünf Minuten“, verlangte Torin. „Um mehr bitte ich dich gar nicht.“

„Glaubst du, wir werden heute dafür bestraft, dass wir die Götter beleidigt haben?“, erwiderte Maddox. Er ignorierte die Bitte. Wenn er es gar nicht erst zuließ, dass man ihn um einen Gefallen bat, brauchte er auch nicht abzulehnen und sich später schuldig zu fühlen.

Sein Freund seufzte. „Jeder unserer Atemzüge soll eine Bestrafung sein.“

Er hatte recht. Maddox’ Lippen verzogen sich langsam zu einem messerscharfen Grinsen, als er an die Decke starrte. Ihr Bastarde. Na los, bestraft mich weiter. Vielleicht würde er sich dann endlich in Nichts auflösen.

Doch eigentlich glaubte er nicht, dass die Götter sich mit seinem Anliegen befassen würden. Seit sie ihn mit dem Todesfluch belegt hatten, ignorierten sie ihn und taten, als hörten sie sein Flehen um Vergebung und Absolution nicht. Als hörten sie seine Schwüre und seine verzweifelten Verhandlungen nicht.

Aber konnten sie ihm überhaupt noch etwas Schlimmeres antun?

Nichts konnte grausamer sein, als wieder und wieder zu sterben. Oder des Guten und der Rechtschaffenheit beraubt zu werden … oder den Gewaltdämon in der eigenen Seele und dem eigenen Körper zu beherbergen.

Maddox sprang auf und feuerte den mittlerweile nassen Lappen und die leere Flasche in den nächsten Mülleimer. Er schlenderte zum anderen Ende des Raumes, verschränkte die Hände über dem Kopf, lehnte sich gegen den halbrunden Erker aus Buntglas und starrte durch den einzig durchsichtigen Spalt in die Nacht.

Er sah das Paradies.

Er sah die Hölle.

Er sah die Freiheit, ein Gefängnis, alles und nichts.

Er sah … sein Zuhause.

Da die Burg auf einem Hügel stand, hatte er einen guten Blick über die gesamte Stadt. Helle Lichter blinkten – pink, blau und lila –, erhellten den düsteren, samtenen Himmel, glitzerten in der Donau und rahmten die schneebedeckten Bäume ein, von denen es in dieser Gegend so viele gab. Ein Wind wehte und Schneeflocken tanzten durch die Luft.

Hier oben hatten er und die anderen ein Mindestmaß an Privatsphäre und Schutz vor dem Rest der Welt gefunden. Hierher konnten sie kommen, von hier konnten sie weggehen, ohne mit Fragen bombardiert zu werden. Warum werdet ihr nicht älter? Warum hallen jede Nacht Schreie durch den Wald? Warum seht ihr manchmal wie Ungeheuer aus?

Von hier oben hielten sich die Einheimischen fern – aus Angst und aus Respekt. Bei einer seiner seltenen Begegnungen mit einem Sterblichen hatte er ihn sogar „Engel“ flüstern hören.

Wenn sie nur wüssten …

Maddox’ Nägel wurden länger und krallten sich in die Steinwand. Budapest war ein Ort von majestätischer Schönheit, der vom Charme der alten Welt umweht wurde und der dennoch nicht auf die Annehmlichkeiten der Moderne verzichtete. Doch Maddox hatte sich seit jeher ausgeschlossen gefühlt. Von allem. Von dem Burgviertel genauso wie von den Nachtclubs. Vom Obst und Gemüse, das in der einen Passage verkauft wurde, genauso wie von dem lebendigen Fleisch, das in der nächsten Gasse feilgeboten wurde.

Vielleicht verginge das Gefühl der Unverbundenheit, wenn er die Stadt einmal erkunden würde, doch im Gegensatz zu den anderen, die nach Belieben umherstreiften, war er in der Burg und den umliegenden Ländereien genauso gefangen wie der Dämon der Gewalt vor Tausenden von Jahren in der Büchse der Pandora.

Seine Fingernägel wuchsen weiter, jetzt waren es schon fast Krallen. Der Gedanke an die Büchse versetzte ihn immer in eine düstere Stimmung. Schlag gegen die Wand, stachelte sein Dämon ihn auf. Zerstör irgendetwas. Verletze jemanden, töte jemanden. Am liebsten hätte er die Götter ausgelöscht. Einen nach dem anderen. Sie vielleicht geköpft. Ihnen aber auf jeden Fall ihre schwarzen, verfaulten Herzen herausgerissen.

Der Dämon schnurrte zustimmend.

Klar, dass ihm das gefällt, dachte Maddox angewidert. Hauptsache es ist blutrünstig, egal wer die Opfer sind. Er schickte noch einen erzürnten Blick gen Himmel. Er und der Dämon waren schon seit langer Zeit vereint, doch er konnte sich noch immer deutlich an den Tag erinnern, als alles begann. An die Schreie der Unschuldigen. An die Menschen um ihn herum, die bluteten und starben. An die Dämonen, die das Fleisch dieser Menschen in Ekstase verschlangen.

Nur als der Dämon der Gewalt in seinen Körper eingedrungen war, hatte er den Bezug zur Realität verloren. Er hatte nichts gehört und nichts gesehen. Ihn umgab nichts als Dunkelheit. Erst als Pandoras Blut auf seine Brust spritzte, erwachte er. Ihr letzter Atemzug hallte in seinen Ohren wider.

Sie war nicht sein erstes Opfer – oder sein letztes. Aber sie war die erste und einzige Frau, die er mit seinem Schwert traf. Der furchtbare Anblick dieser leblosen weiblichen Gestalt, in deren Adern kurz zuvor noch das Leben pulsiert hatte, und das Wissen darum, dass er für ihren Tod verantwortlich war … Bis zum heutigen Tag hatte nichts seine Schuld und Reue lindern können. Die Schande und die Trauer.

Er hatte geschworen, alles zu tun, um den Dämon in Zukunft zu kontrollieren, doch es war zu spät gewesen. Zeus war verärgerter als je zuvor und belegte ihn mit einem zweiten Fluch: Er sollte jede Nacht um Mitternacht denselben Tod sterben wie Pandora – durch eine Klinge, die sich sechsmal unter höllischen Schmerzen in seinen Unterleib bohrte. Der einzige Unterschied war, dass ihre Qual nach Minuten vorüber gewesen war.

Seine Qualen würden bis in alle Ewigkeit fortdauern.

Er knackte mit dem Kiefer und versuchte, sich zu entspannen, als er den nächsten Ansturm der Gewalt kommen spürte. Er sagte sich, dass er nicht der Einzige war, der leiden musste. Die anderen Krieger hatten auch mit Dämonen zu kämpfen – sowohl buchstäblich als auch bildlich. In Torin wohnte der Dämon der Krankheit. In Lucien der Dämon des Todes. In Reyes der des Schmerzes. In Aeron der des Zorns. In Paris der der Promiskuität.

Warum hatte man ihm nicht den letzten zugeteilt? Er hätte jederzeit in die Stadt gehen, sich eine Frau nehmen und jeden Laut, jede Berührung genießen können.

Doch so konnte er sich weder weit von der Burg weg wagen, noch über längere Zeit mit Frauen umgeben. Wenn sein Dämon die Kontrolle übernähme oder wenn er vor Mitternacht nicht zu Hause wäre und jemand seine blutverschmierte Leiche fände und begrübe – oder schlimmer: verbrannte …

Aber ein Teil von ihm wünschte sich, dass ein solcher Zwischenfall seine klägliche Existenz beenden würde. Am liebsten hätte er sich schon vor langer Zeit von einem Feuer verzehren lassen oder wäre aus dem höchsten Fenster der Burg gesprungen, damit sein Schädel samt Gehirn zerschmetterte. Aber nein. Was er auch tat, er wachte einfach wieder auf – egal ob verkohlt oder erstochen. Ob mit gebrochenen Knochen oder mit tausend Schnitten.

„Du starrst jetzt schon seit geraumer Zeit aus dem Fenster“, bemerkte Torin. „Willst du denn gar nicht wissen, was passiert ist?“

Maddox blinzelte, als er aus den Gedanken gerissen wurde. „Du bist ja immer noch da.“

Sein Freund zog eine schwarze Augenbraue hoch, die einen unheimlichen Kontrast zu den silbrig-blonden Haaren bildete. „Das heißt wohl so viel wie ‚Nein‘. Hast du dich wenigstens wieder beruhigt?“

Konnte er sich überhaupt richtig beruhigen? „Ich bin so ruhig, wie ein Wesen meiner Art es nun mal sein kann.“

„Hör auf zu jammern. Ich muss dir etwas zeigen, und wag es bloß nicht, mir noch einen Korb zu geben. Wir können ja auf dem Weg darüber reden, warum ich dich gestört habe.“ Ohne ein weiteres Wort machte Torin auf dem Absatz kehrt und verließ entschlossen den Raum.

Maddox blieb noch ein paar Sekunden stehen und blickte seinem Freund nach, der gerade um eine Ecke verschwand. Hör auf zu jammern, hatte Torin gesagt, und er hatte vollkommen recht damit. Jetzt bahnten sich die Neugierde und eine ironische Heiterkeit den Weg durch seine düstere Stimmung, und Maddox trat vom Trainingsraum auf den Flur. Er spürte einen kalten Luftzug. Die Luft war feucht und roch nach Winter. Er erspähte Torin wenige Meter vor ihm und schloss zu ihm auf.

„Worum geht’s denn?“

„Na endlich. Interesse“, bekam er zur Antwort.

„Wenn das einer deiner Tricks ist …“ Wie damals, als Torin Hunderte aufblasbare Puppen bestellt hatte und sie überall in der Burg aufstellte, nur weil Paris sich darüber beschwert hatte, dass es in der Stadt zu wenig Frauen gab. Aus allen Ecken starrten die Plastik-Ladys jeden, der vorbeiging, aus großen Augen und mit weit geöffneten „Ich will dir einen blasen Mündern“ an.

So etwas geschah immer dann, wenn Torin sich langweilte.

„Ich würde doch nicht meine Zeit damit verschwenden, dir einen Streich zu spielen“, erwiderte Torin ohne ihn anzusehen. „Du, mein Freund, hast keinen Sinn für Humor.“

Wie wahr.

Maddox hielt weiter mit Torin Schritt. Links und rechts erstreckten sich Steinmauern; in den Wandleuchtern züngelten die Flammen, ihr goldenes Licht verschmolz mit dem Schatten. Das Haus der Verdammten, wie Torin die Burg getauft hatte, war vor vielen Hundert Jahren gebaut worden. Zwar hatten sie es so gut wie möglich renoviert. Doch das Alter zeigte sich in bröckelnden Felsen und abgewetzten Fußböden.

„Wo sind die anderen?“, erkundigte sich Maddox, als ihm auffiel, dass ihnen auf dem ganzen Weg niemand begegnet war.

„Man sollte meinen, Paris kauft etwas zu essen, da unsere Schränke leer sind und er sonst keine Pflichten zu erfüllen hat, aber nein: Er ist auf der Suche nach Frischfleisch.“

So ein Glückspilz. Paris war derart von Sex besessen, dass er mit derselben Frau nicht zweimal ins Bett steigen konnte. Also verführte er jeden Tag eine – oder zwei oder drei – neue. Der einzige Nachteil: Wenn er keine Frau fand, musste er Dinge anstellen, die Maddox sich nicht näher ausmalen wollte. Dinge, nach deren Anblick jeder normale Mensch über der Toilette hängen und sich die Seele aus dem Leib kotzen würde. Obwohl Maddox’ Neid in solchen Momenten abebbte, flammte er immer wieder auf, wenn Paris von seinen Geliebten sprach. Von der flüchtigen Berührung eines Oberschenkels … von heißer Haut auf heißer Haut … von ekstatischem Stöhnen …

„Aeron ist … Mach dich auf was gefasst“, begann Torin, „denn das ist der Hauptgrund, weswegen ich so hartnäckig bin.“

„Ist ihm etwas zugestoßen?“, erkundigte sich Maddox, während sich seine Gedanken verfinsterten und allmählich die Wut Besitz von ihm ergriff. Zerstören, töten, knurrte sein Dämon gierig. „Ist er verletzt?“

Zwar galt Aeron als unsterblich. Aber man konnte einem Unsterblichen dennoch Leid zufügen und ihn sogar töten, wie sie alle auf grausame Art und Weise hatten erfahren müssen.

„Weder noch“, versicherte Torin.

Langsam entspannte er sich und der Dämon der Gewalt wich zurück. „Was denn dann? Hat er unseren Saustall aufgeräumt und dabei einen Wutanfall bekommen?“ Jeder Krieger hatte bestimmte Aufgabengebiete. So stellten sie wenigstens eine äußere Ordnung sicher, wenn schon in ihrem Innern ein Krieg tobte. Aeron gab das Zimmermädchen, worüber er sich täglich beschwerte. Maddox kümmerte sich um Reparaturarbeiten in der Burg. Torin war der Vermögensverwalter. Lucien erledigte den Papierkram, und Reyes versorgte sie mit Waffen.

„Die Götter … haben ihn zu sich gerufen.“

Der Schreck brachte Maddox einen Augenblick lang völlig aus dem Konzept, und er stolperte. „Was?“ Bestimmt hatte er sich nur verhört.

„Die Götter haben ihn zu sich gerufen“, wiederholte Torin geduldig.

Aber die Griechen hatten doch seit Pandoras Todestag nicht mehr mit ihnen gesprochen. „Was wollten sie von ihm? Und warum erfahre ich erst jetzt davon?“

„Erste Frage: Das weiß keiner. Wir haben uns gerade einen Film angesehen, als er sich plötzlich mit ausdrucksloser Miene aufsetzte. Es war, als wäre bei ihm niemand mehr zu Hause. Ein paar Sekunden später sagte er uns, sie hätten ihn gerufen. Keiner von uns hatte Zeit zu reagieren – in dem einen Moment saß Aeron noch bei uns, im nächsten war er weg.

Und zur zweiten Frage“, fügte Torin fast nahtlos hinzu, „ich habe ja versucht, es dir zu sagen. Aber du meintest, es sei dir egal, erinnerst du dich?“

Unter Maddox’ Lid zuckte ein Muskel. „Du hättest es mir trotzdem sagen müssen.“

„Während du die Langhantel in der Hand hattest? Ich bitte dich. In mir wohnt die Krankheit, nicht die Dummheit.“

Das war … das war … Maddox wollte eigentlich gar nicht darüber nachdenken, was es zu bedeuten hatte, aber er konnte die Gedanken nicht abschalten. Manchmal verlor Aeron – auch einfach nur Zorn genannt – vollkommen die Kontrolle über seinen Dämon und fing an, Amok zu laufen. Dann bestrafte er die Sterblichen für ihre Sünden. Wollten die Götter Aeron nun einen zweiten Fluch auferlegen, so wie ihm vor vielen Jahrhunderten?

„Wenn er nicht in derselben Gestalt zurückkehrt, in der er uns verlassen hat, werde ich irgendwie den Himmel stürmen und jeden Gott umbringen, der mir über den Weg läuft.“

„Deine Augen leuchten hellrot“, stellte Torin fest. „Sieh mal, wir sind alle durcheinander, aber Aeron wird bald zurückkommen und uns erzählen, was da vor sich geht.“

Na schön! Maddox zwang sich, sich zu entspannen. Mal wieder. „Wurde sonst noch jemand gerufen?“

„Nein. Lucien ist draußen und sammelt Seelen. Reyes ist Gott-weiß-wo, wahrscheinlich ritzt er sich gerade.“

Der Ärmste. Obwohl Maddox jede Nacht unerträgliche Qualen erlitt, bemitleidete er Reyes, der nicht eine Stunde überstand, ohne sich selbst Schmerzen zuzufügen.

„Gibt es sonst noch was?“ Maddox fuhr mit den Fingerspitzen an den beiden gewaltigen Säulen entlang, die die Treppe flankierten, bevor er die erste Stufe nahm.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du es dir ansiehst.“

Ob es noch schlimmer ist als die Nachricht von Aeron?, grübelte Maddox, als er am Freizeitsalon vorbeiging. Das war ihr Heiligtum. Bei der Ausstattung des Raumes hatten sie keine Kosten gescheut. Überall standen vornehme Möbel und jeglicher Luxus, den ein Krieger sich nur wünschen konnte. Ein Kühlschrank voller guter Weine und Bier. Ein Billardtisch. Ein Basketballkorb. Ein riesiger Flachbildfernseher, auf dem selbst jetzt die Bilder von drei nackten Frauen zu sehen waren, die sich mitten in einer Orgie befanden.

„Wie ich sehe, war Paris hier“, kommentierte er.

Torin erwiderte nichts, beschleunigte jedoch seine Schritte, ohne einen Blick auf den Bildschirm zu werfen.

„Ist ja auch egal“, murmelte Maddox. Torins Aufmerksamkeit absichtlich auf Wesen aus Fleisch und Blut zu lenken, war grausam. Der unfreiwillig im Zölibat lebende Mann musste sich mit jeder Faser seines Körpers nach Sex – nach Berührungen – sehnen, doch er würde diesem Verlangen niemals nachgeben dürfen.

Selbst Maddox gönnte sich hin und wieder eine Frau.

In der Regel waren es Paris’ abgelegte Liebhaberinnen, die so dumm waren, ihm in der Hoffnung nach Hause zu folgen, noch einmal das Bett mit ihm teilen zu dürfen, und nicht wussten, wie aussichtslos dieses Unterfangen war. Sie waren immer so erregt – eine Folge ihres Liebesabenteuers mit dem Dämon der Promiskuität –, dass es ihnen meist egal war, wer am Ende ihre Schenkel spreizte. In der Regel nahmen sie Maddox nur zu gerne als Ersatz. Denn selbst wenn der Akt von emotionaler Kälte bestimmt war, so war er doch körperlich befriedigend.

Aber es musste so sein. Um ihre Geheimnisse zu hüten, erlaubten die Krieger es den Menschen nicht, ihre Burg zu betreten, und so musste Maddox mit den Frauen draußen im Wald schlafen. Am liebsten nahm er sie von hinten, auf allen Vieren, das Gesicht von ihm abgewandt. Ein schneller Paarungsakt, der seinen Dämon nicht wecken und ihn nicht dazu zwingen würde, Dinge zu tun, die ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen würden.

Danach schickte Maddox die Frauen stets mit einer Warnung nach Hause: Komm nie zurück, sonst musst du sterben. So einfach war das. Es wäre dumm gewesen, sich auf eine längere Liaison einzulassen. Womöglich würden die Frauen ihm am Ende noch etwas bedeuten. Auf jeden Fall jedoch würde er ihnen früher oder später etwas antun und damit noch mehr Schuld und Schande auf seine Schultern laden.

Nur ein Mal, dachte er, hätte er eine Frau gern so geliebt wie Paris. Sie küssen und ihren Körper schmecken; in ihr ertrinken, sich ganz und gar in ihr verlieren, ohne Angst haben zu müssen, die Kontrolle zu verlieren und ihr wehzutun.

Als sie Torins Gemächer erreichten, verbannte er diese Gedanken aus seinem Kopf. Solche Wünsche waren vergeudete Zeit, das wusste er nur zu gut.

Er sah sich aufmerksam um. Er war schon zuvor in diesem Zimmer gewesen, erinnerte sich aber nicht daran, dass es mit Computern, Monitoren, Telefonen und anderem elektronischen Zubehör vollgestopft war. Im Gegensatz zu Torin mied Maddox die Technik weitestgehend. Er hatte sich noch nie an den schnellen Wandel der Zeit anpassen können. Außerdem hatte er das Gefühl, sich durch jeden technischen Fortschritt ein Stückchen weiter von dem sorglosen Kriegerdasein zu entfernen, das er einst gefristet hatte. Aber es wäre auch eine Lüge gewesen, wenn er behauptet hätte, dass er die Vorzüge der technischen Spielereien nicht genoss.

Nachdem er alles in Augenschein genommen hatte, wandte er sich an seinen Freund. „Übernimmst du das Kommando über die Welt?“

„Nö. Ich beobachte nur. Das ist der beste Weg, uns zu beschützen und ein bisschen Geld zu machen.“ Torin ließ sich in einen gepolsterten Drehstuhl vor dem größten Bildschirm fallen und begann, auf der Tastatur herumzutippen. Ein anderer Monitor schaltete sich ein, und auf dem Bild wurde ein ineinandergreifendes schwarzweißes Muster sichtbar. „Also, ich möchte, dass du dir das hier mal ansiehst.“

Darauf bedacht, seinen Freund nicht zu berühren, kam Maddox näher. Die undefinierbaren Kleckse auf dem Bildschirm verformten sich allmählich zu dicken, undurchsichtigen Linien. Bäume, wie ihm klar wurde. „Hübsch, aber nichts, was ich nun unbedingt hätte sehen müssen.“

„Geduld.“

„Beeilung“, konterte er.

Torin warf ihm einen ironischen Blick zu. „Wenn du mich so nett bittest … Ich habe Wärmesensoren und Infrarotkameras auf unserem Gelände versteckt, damit ich immer weiß, wann wir Besuch zu erwarten haben.“ Ein paar Eingaben später schwenkte die Kamera nach rechts. Etwas Rotes blitzte auf und verschwand im nächsten Moment wieder.

„Geh zurück.“ Maddox war angespannt. Er war kein Überwachungsexperte. Nein, seine Spezialität war das Töten. Doch selbst er wusste, was der rote Blitz bedeutete: Körperwärme.

Tipp, tipp, tipp und der rote Blitz erschien wieder auf dem Monitor.

„Ein Mensch?“, erkundigte er sich. Die Gestalt war klein, fast zierlich.

„Ohne Zweifel.“

„Mann oder Frau?“

Torin zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich eine Frau. Zu groß für ein Kind und zu klein für einen erwachsenen Mann.“

Zu dieser späten Stunde verirrte sich so gut wie nie jemand auf den düsteren Hügel. Und tagsüber eigentlich auch nicht. Ob es daran lag, dass diese Gegend zu unheimlich und finster war, oder ob es ein Zeichen des Respekts war, den die Stadteinwohner ihnen entgegenbrachten – Maddox wusste es nicht. Aber er konnte die Lieferanten, die neugierigen Kinder und die lüsternen Frauen, die den Ausflug im vergangenen Jahr gewagt hatten, an einer Hand abzählen.

„Eine von Paris’ Liebhaberinnen?“, hakte er nach.

„Möglich. Oder …“

„Oder?“, drängte er, als sein Freund nicht weitersprach.

„Eine Jägerin“, bemerkte Torin grimmig. „Oder besser gesagt: ein Köder.“

Maddox presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Du willst mich doch verarschen.“

„Denk mal nach. Lieferanten haben immer eine Kiste dabei, und Paris’ Mädchen rennen immer direkt zur Eingangstür. Die hier ist mit leeren Händen gekommen, und bewegt sich im Zick-Zack-Kurs. Alle paar Minuten bleibt sie stehen und fummelt an den Bäumen herum. Vielleicht deponiert sie Dynamit, um uns in die Luft zu jagen. Oder Kameras, um uns auszuspionieren.“

„Aber wenn sie mit leeren Händen gekommen ist …“

„Dynamit und Kameras sind so klein, dass man sie verstecken kann.“

Maddox massierte seinen Nacken. „Die Jäger haben uns seit Griechenland nicht mehr verfolgt oder gequält.“

„Vielleicht haben ihre Kinder und Kindeskinder uns seitdem gesucht und nun endlich gefunden.“

Maddox spürte, wie ihm die Angst den Rücken hinaufkroch. Zuerst Aerons Berufung und jetzt der ungeladene Besucher. Reiner Zufall? In Gedanken wanderte er zu den schwarzen Tagen in Griechenland zurück, zu den Tagen des Krieges und des Chaos’, der Schreie und des Todes. Zu den Tagen, in denen die Krieger mehr Dämonen als alles andere gewesen waren. Zu den Tagen, in denen der Hunger nach Zerstörung ihre Handlungen bestimmte und menschliche Leichen die Straßen gepflastert hatten.

Bald waren die Jäger aus der Masse der Gequälten hervorgetreten – sie bildeten ein Bündnis aus sterblichen Menschen, die fest entschlossen waren, jene zu vernichten, die das Böse entfesselt hatten. Eine Blutfehde entbrannte. Bald fand Maddox sich inmitten blutiger Kämpfe wieder, bei denen Schwerter klapperten, Flammen züngelten und Fleisch verbrannte. Sie wurden zur Legende.

Die stärkste Waffe der Jäger war ihre List. Sie bildeten weibliche Köder aus, die den Feind verführten und ablenkten, sodass sie ihn problemlos töten konnten. Auf diese Weise ermordeten sie Baden, den Träger des Dämons des Argwohns. Es gelang ihnen jedoch nicht, den Dämon selbst umzubringen, und so war er aus dem geschwächten Körper gefahren – völlig verwirrt, verrückt und verzweifelt, weil er seinen Wirt verloren hatte.

Maddox wusste nicht, wo der Dämon jetzt lebte.

„Die Götter hassen uns“, sagte Torin. „Und wie könnten sie uns mehr verletzen, als uns genau dann die Jäger auf den Hals zu hetzen, wenn wir uns endlich ein einigermaßen friedliches Leben eingerichtet haben?“

Seine Angst wurde größer. „Aber sie würden doch nicht wollen, dass die Dämonen, die ohne uns verrückt würden, frei in der Welt herumschwirren. Oder?“

„Wer kennt schon die Motive für ihr Handeln.“ Diese Aussage traf den Nagel auf den Kopf. Keiner von ihnen verstand die Götter, selbst nach all den Jahrhunderten nicht. „Wir müssen etwas unternehmen, Maddox.“

Sein Blick wanderte zur Uhr, und er verkrampfte sich. „Ruf Paris an.“

„Hab ich schon. Er geht nicht ans Handy.“

„Ruf …“

„Glaubst du wirklich, ich hätte dich so kurz vor Mitternacht gestört, wenn ich irgendjemanden sonst erreicht hätte?“ Torin drehte sich auf dem Stuhl um und sah ihn mit bedrohlicher Bestimmtheit an. „Es liegt an dir.“

Maddox schüttelte den Kopf. „Ich werde bald sterben. Dann kann ich unmöglich da draußen rumlaufen.“

„Ich ja wohl auch nicht.“ In Torins Blick lag etwas Düsteres und Gefährliches, etwas Verbittertes, das seinen Augen einen giftigen, smaragdgrünen Schimmer verlieh. „Wenigstens würdest du nicht die gesamte Menschheit ausradieren, wenn du rausgehst.“

„Torin …“

„Vergiss es, Maddox, diese Diskussion wirst du eh nicht gewinnen, also hör auf, Zeit zu verschwenden.“

Er fuhr sich mit der Hand durch die kinnlangen Haare, während sein Frust wuchs. Wir sollten es da draußen sterben lassen, verkündete der Gewaltdämon. Das kleine Menschlein.

„Wenn sie wirklich zu den Jägern gehört“, meinte Torin, als hätte er seine Gedanken gelesen, „wenn sie ein Köder ist, dann dürfen wir sie nicht am Leben lassen. Wir müssen sie vernichten.“

„Und wenn sie unschuldig ist und mein Todesfluch zu wirken beginnt?“, konterte Maddox, während er seinen Dämon so gut wie möglich in Schach zu halten versuchte.

In Torins Gesicht blitzte die Schuld auf, als schrie jedes Leben, das er auf dem Gewissen hatte, in seiner Seele auf und flehte ihn an, die Menschen zu retten, die er retten konnte. „Dann müssen wir sie beschützen. Wir sind nicht die Ungeheuer, zu denen uns die Dämonen gern machen würden.“

Maddox biss die Zähne zusammen. Er war kein grausamer Mann; er war keine Bestie. War nicht herzlos. Er hasste die Wellen der Unsterblichkeit, die ihn andauernd zu überrollen drohten. Er hasste, was er tat und wer er war – und wozu er werden würde, wenn er jemals aufhörte, gegen diese dunklen Sehnsüchte und bösen Träume anzukämpfen.

„Wo ist der Mensch jetzt?“, fragte er. Er würde in die Nacht hinausgehen, auch wenn es ihm eine Menge abverlangte.

„Am Donau-Ufer.“

Das war ein Weg von fünfzehn Minuten, wenn er schnell lief. Es bliebe gerade genug Zeit, um sich eine Waffe zu schnappen, den Menschen zu finden, ihn in Sicherheit zu bringen, falls er unschuldig war, oder ihn zu töten, falls es die Umstände verlangten, und zur Burg zurückzukehren. Wenn ihn irgendetwas aufhielt, würde er im Freien sterben. Jeder, der so dumm wäre, den Hügel zu erkunden, wäre in Gefahr. Denn sobald er den ersten Schmerz verspürte, nahm der Gewaltdämon vollständig von ihm Besitz, und die schwarze Begierde fraß ihn auf.

Dann war es sein einziges Ziel, andere zu vernichten.

„Wenn ich bis Mitternacht nicht zurück bin, sorg dafür, dass die anderen nach meiner Leiche suchen. Und auch nach Luciens und Reyes’.“ Tod und Schmerz suchten ihn jede Nacht pünktlich um Mitternacht heim, ganz egal, wo Maddox sich aufhielt. Schmerz versetzte ihm die Stiche, und Tod begleitete seine Seele in die Hölle, wo sie bis zum nächsten Morgen in den Flammen schmorte und von Dämonen gequält wurde, die fast genauso abscheulich waren wie sein eigener.

Leider konnte Maddox unter freiem Himmel nicht für die Sicherheit seiner Freunde garantieren. Er könnte sie verletzen, ehe sie ihre Aufgabe erledigt hatten. Und wenn er sie verletzte, wäre der Schmerz darüber nicht schwächer als die Qualen, die er jede Nacht um Mitternacht erfuhr.

„Versprich es mir“, verlangte er.

Torin nickte. Sein Blick war finster. „Sei vorsichtig, mein Freund.“

Mit eiligen Schritten verließ Maddox das Zimmer. Als er den Flur zur Hälfte durchquert hatte, hörte er Torin rufen: „Maddox! Vielleicht möchtest du dir das hier noch ansehen.“

Er machte kehrt und wieder packte ihn die Furcht. Was jetzt? Konnte es noch schlimmer kommen? Als er vor dem Monitor stand, wandte er sich Torin zu und zog eine Augenbraue hoch, ein stummer Hinweis, sich zu beeilen.

Torin machte mit dem Kinn eine kurze Bewegung zum Bildschirm. „Sieht so aus, als wären noch vier weitere dort. Alles Männer … oder Amazonen. Die waren aber vorhin noch nicht da.“

„Verflucht.“ Maddox betrachtete die vier neuen roten Blitze, von denen einer größer war als der andere. Sie kreisten den kleinen Blitz ein. Es konnte also in der Tat noch schlimmer kommen. „Ich kümmere mich um sie“, versprach er. „Um alle.“ Er setzte sich von Neuem in Bewegung, wenn auch verhaltener als zuvor.

In seinem Schlafzimmer angekommen, ging er direkt zu seinem Schrank. Dabei kam er an dem Bett vorbei, dem einzigen Möbelstück im Raum. In verschiedenen Gewaltausbrüchen hatte er Kommode, Spiegel und Stühle zerstört.

Einmal war er so dumm gewesen, einen Zimmerspringbrunnen, Pflanzen, Kreuze und andere Dinge aufzustellen, die für eine friedliche Atmosphäre sorgen und die Nerven beruhigen sollten. Doch nichts von alledem hatte geholfen, und er hatte alles innerhalb weniger Minuten entzweigeschlagen, als sein Dämon mal wieder Besitz von ihm ergriffen hatte. Seitdem beschränkte er sich auf einen, wie Paris es nannte, minimalistischen Stil.

Er hatte nur deshalb noch ein Bett, weil es aus robustem Metall war und weil Reyes irgendetwas brauchte, woran er ihn festketten konnte, wenn die Geisterstunde näher rückte. In einem Nebenzimmer lagen reichlich Matratzen, Bettlaken, Ketten und Kopfteile aus Metall bereit. Nur für den Fall der Fälle.

Beeil dich! In Windeseile zog er sich ein schwarzes T-Shirt und Stiefel an und befestigte Dolche an Handgelenken, Hüfte und Knöcheln. Keine Schusswaffen. In einer Sache waren er und der Dämon der Gewalt sich einig – der Feind musste im Nahkampf sterben.

Wenn sich einer der Menschen da draußen als Jäger oder Köder entpuppen sollte, konnte ihn jetzt nichts mehr retten.

2. KAPITEL

Ashlyn Darrow fröstelte in dem kalten Wind. Die hellbraunen Haarsträhnen peitschten ihr in die Augen, und sie strich sie mit zitternden Händen hinter ihre Ohren. Nicht, dass sie dadurch mehr gesehen hätte. Die Nacht war pechschwarz und nebelig, und es schneite. Nur das manchmal zwischen den Wolken aufblitzende silberne Mondlicht schenkte ihr ein wenig Orientierung.

Wie konnte eine so schöne Landschaft dem menschlichen Körper so sehr schaden?

Sie seufzte und stieß dabei ein Wölkchen aus warmer Atemluft aus. Eigentlich hätte sie sich jetzt im Flieger, zurück in die Vereinigten Staaten, entspannen sollen, doch am Vortag hatte sie etwas in Erfahrung gebracht, das zu verlockend klang, um zu widerstehen. Am frühen Abend hatte sie die erstbeste Gelegenheit ergriffen und sich ohne nachzudenken oder zu zögern zu dem Hügel aufgemacht. Sie musste unbedingt herausfinden, ob es stimmte.

Irgendwo in der Weite dieses Waldes lebten angeblich Männer mit geheimnisvollen Fähigkeiten, die offenbar niemand erklären konnte. Worin genau sie bestanden, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie Hilfe brauchte. Dringend. Und sie würde alles riskieren, um mit diesen mächtigen Wesen sprechen zu können.

Sie konnte nicht länger mit den Stimmen leben.

Ashlyn brauchte nur irgendwo stehen zu bleiben, und schon hörte sie alle Gespräche, die jemals an diesem Ort geführt worden waren – ganz gleich, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Gegenwart, Vergangenheit, Sprache – das alles spielte keine Rolle. Sie konnte die Worte in ihrem Kopf hören und sogar übersetzen. Einige hielten das für ein Geschenk. Aber für sie selbst war es nichts als ein Albtraum.

Bei der nächsten kalten Brise suchte sie Schutz hinter einem Baum. Als sie gestern mit einigen Kollegen vom Internationalen Institut für Parapsychologie in Budapest angekommen war, hatte sie in der Innenstadt einige Konversationsleckerbissen aufgeschnappt. Das war nichts Neues für sie, doch dann entzifferte sie die Bedeutung der Wörter.

Sie können dich mit einem Blick zum Sklaven machen.

Einer von ihnen hat Flügel und fliegt bei Vollmond.

Der Vernarbte kann sich unsichtbar machen.

Als hätten die Flüsterstimmen in ihrem Kopf eine Tür geöffnet, brach das Geschnatter mehrerer Jahrhunderte über sie herein. Neues und Altes vermischte sich. Die Stimmen waren so intensiv, dass sie sich krümmte, während sie versuchte, das profane Geplapper von den wichtigen Informationen zu trennen.

Sie werden nicht älter.

Das müssen Engel sein.

Sogar ihr Zuhause ist unheimlich – wie in einem Horrorfilm. Es liegt auf einem Hügel versteckt und hat düstere Winkel. Selbst die Vögel wagen sich nicht heran.

Vielleicht sollten wir sie umbringen.

Sie haben Zauberkräfte. Sie haben meine Qualen gelindert.

So viele Menschen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, glaubten ganz offensichtlich daran, dass diese Männer über Begabungen verfügten, die jenseits der menschlichen Fähigkeiten lagen. Konnten diese Wesen womöglich auch ihr helfen? Sie haben meine Qualen gelindert, hatte jemand gesagt.

„Vielleicht können sie mir ja wirklich helfen“, murmelte Ashlyn. All die Jahre hatte sie in jedem noch so entlegenen Winkel der Welt die Geschichten über Vampire und Werwölfe, Kobolde und Hexen, Götter und Göttinnen, Dämonen und Engel, Monster und Feen gehört. Sie hatte die Forscher des Instituts sogar zu den Wohnungstüren dieser Wesen gelotst, um zu beweisen, dass sie tatsächlich existierten.

Das Institut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, übernatürliche Geschöpfe zu beobachten und zu studieren, um herauszufinden, wie die Welt von ihrer Existenz profitieren konnte. Und nun sollte sich womöglich herausstellen, dass ihr Job als Para-Audiologin auch ihre Rettung war.

Anders als gewöhnlich hatte sie das Institut dieses Mal nicht an einen bestimmten Ort geführt. In den Unterhaltungen, die sie in letzter Zeit mit angehört hatte, war nicht ein Mal das Wort Budapest gefallen. Dennoch hatte man sie hergebracht und gebeten, sich nach Gesprächen über die Dämonen umzuhören.

Sie fragte gar nicht erst nach dem Grund. Die Antwort war ohnehin immer dieselbe: streng geheim.

Im Rahmen ihres Auftrags erfuhr sie, dass einige Einheimische die Männer auf dem Hügel für böse, gefährliche Dämonen hielten. Die meisten glaubten jedoch, es seien Engel. Engel, die unter sich blieben – bis auf einen, der angeblich jede Frau flachlegte und von einem kichernden Trio, das „eine einzige fantastische Nacht“ mit ihm verbracht hatte, auf den Namen „Orgasmusgott“ getauft wurde. Engel, die allein durch ihre Anwesenheit die Verbrechenszahlen niedrig hielten. Engel, die Geld in die Gemeinde fließen ließen und dafür sorgten, dass die Obdachlosen zu essen bekamen.

Ashlyn für ihren Teil zweifelte daran, dass solche Wohltäter vom Bösen besessen waren. Denn Dämonen waren durch und durch böse. Andere Lebewesen waren ihnen gleichgültig. Doch ob die Männer nun Engel auf Erden oder einfach nur Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten waren – sie betete, dass sie ihr helfen konnten. Sie betete, sie könnten ihr beibringen, wie sie die Stimmen ausblendete, oder ihr sogar dabei helfen, ihr „Talent“ gänzlich abzulegen.

Der Gedanke war so berauschend, dass sich ihre Mundwinkel hoben. Doch das Lächeln verging ihr schnell wieder, als der nächste eisige Windstoß durch ihre Jacke und den Pullover fuhr und scharf in ihre Haut schnitt. Sie war jetzt schon seit über einer Stunde hier draußen und völlig durchgefroren. Es war nicht gerade gescheit gewesen, noch ein Päuschen einzulegen.

Sie blickte zum Hügel empor. Plötzlich ergoss sich das silberne Mondlicht durch eine Lücke in den Wolken auf die massive, kohlrabenschwarze Burg. Von ihrem Fuße stieg Nebel auf, der sie mit Geisterfingern heranzuwinken schien. Der Ort sieht genauso aus, wie die Stimmen ihn beschrieben haben, dachte sie, düster und am oberen Rand mit Spitzen versehen. Eine wahre Horrorfilmkulisse.

Doch das schreckte sie nicht ab. Im Gegenteil. Ich bin fast da, dachte sie glücklich, als sie weiter hügelaufwärts trottete. Die Oberschenkel schmerzten bereits, da sie die ganze Zeit Ästen ausweichen und über aufragende Wurzeln springen musste, aber das alles war ihr egal. Sie ging weiter.

Zehn Minuten später blieb sie zum tausendsten Mal stehen, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen, so erstarrt vor Kälte waren ihre müden Beine. „Nein“, stöhnte sie. Warum ausgerechnet jetzt? Sie rubbelte sich die Schenkel, um sie zu wärmen, und schaute wieder in die Ferne. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich der Burg kein Stück genähert hatte. Sie schien sogar weiter weg gerückt zu sein.

Ashlyn schüttelte verzweifelt den Kopf. Verflixt noch mal! Was musste sie tun, um dort anzukommen? Sich Flügel wachsen lassen?

Auch wenn ich es nicht schaffe, ich bereue es nicht, hergekommen zu sein. Dass sie ohne Proviant und vollkommen planlos aufgebrochen war, ja, das bereute sie, aber sie hatte es versuchen müssen. So dumm es auch sein mochte, sie hatte es einfach versuchen müssen. Wenn nötig, hätte sie den Weg auch nackt und barfuß angetreten. Für die Chance auf ein normales Leben hätte sie einfach alles getan.

Es freute sie, dass sie und ihre „Gabe“ dazu beitrugen, die Welt sicherer zu machen, aber die Qualen, die sie erlitt, waren zu viel. Es gab mit Sicherheit auch noch andere Möglichkeiten zu helfen. Und hätte in ihrem Kopf auch nur einen Moment lang Ruhe geherrscht, hätte sie sich vielleicht sogar eine Alternative überlegen können. Immerhin gelang es ihr mithilfe von Atemübungen und Meditation, sich ab und an ein wenig zu entspannen.

Sie rubbelte ihre Beine immer noch, und allmählich zeigte die Maßnahme Wirkung. Das Eis schmolz und sie konnte weitergehen. Ö kitt. Tudom ök, vernahm sie, als sie einen knorrigen Baum passierte. Sie sind hier, übersetzte ihr Kopf automatisch. Ich weiß, dass sie hier sind.

Dann eine andere Stimme: „Du bist vielleicht ein hübsches Ding.“

„Danke, ich weiß“, erwiderte sie in der Hoffnung, ihre eigene Stimme würde die anderen übertönen. Doch es half nichts. Tief einatmen, langsam ausatmen.

Während sie weiterging, drangen verschiedene Gespräche aus verschiedenen Epochen in ihr Bewusstsein vor, wo sie sich förmlich übereinanderstapelten. Das meiste war Ungarisch, einiges Englisch, was das Ganze noch chaotischer machte.

Ja. Ja! Berühr mich. Ja, genau da.

Bárhol as én kardom? En nem tudom holvan.

Wenn ich noch ein Mal seine Lippen schmecken darf, verspreche ich, ihn zu vergessen. Ich muss sie nur noch ein Mal schmecken.

Ashlyn stolperte über Zweige und Felsen. Die Worte vermischten sich miteinander und wurden lauter. Immer lauter. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, und sie konnte sich gerade noch davon abhalten, nicht vor lauter Frust loszuschreien. Tief einatmen, langsam ausatmen …

Wenn du an die Tür klopfst, werde ich dich wie ein Tier ficken, und ich verspreche dir, du wirst jede Sekunde genießen.

Sie hielt sich die Ohren zu, obwohl sie wusste, dass es nicht helfen würde. „Geh weiter. Du musst sie finden.“ Noch mehr Wind. Noch mehr Stimmen. „Geh weiter“, wiederholte sie, pro Schritt ein Wort. Sie war nun schon so weit gekommen; sie würde es auch noch ein bisschen weiter schaffen. „Du musst sie finden.“

Als sie Dr. McIntosh, dem Leiter des Instituts und ihrem Vorgesetzten und Mentor, erzählt hatte, was sie über die Männer in Erfahrung gebracht hatte, nickte er nur kurz und sagte: „Gut gemacht.“ Ein größeres Lob bekam man nie von ihm.

Dann bat sie ihn, sie zur Burg auf dem imposanten Hügel bringen zu lassen.

„Auf keinen Fall“, antwortete er und wandte sich von ihr ab. „Es könnten Dämonen sein, so wie einige Einheimische vermuten.“

„Es könnten aber auch sehr gut Engel sein, so wie die meisten Einheimischen glauben.“

„Sie werden kein Risiko eingehen, Darrow.“ Er bat sie, die Koffer zu packen, und ließ einen Wagen bereitstellen, der sie zum Flughafen fahren sollte, so wie jedes Mal, wenn sie ihren Teil des Jobs – nämlich ihre Ohren zur Verfügung zu stellen – erledigt hatte.

Das war das „Standardvorgehen des Instituts“, wie er zu sagen pflegte, auch wenn er die anderen Mitarbeiter nie nach Hause schickte. Nur sie. McIntosh sorgte sich um sie und wollte sie beschützen, das wusste sie genau. Schließlich kümmerte er sich schon seit mehr als fünfzehn Jahren um sie. Er hatte sich damals dem verängstigten Mädchen angenommen, dessen Eltern nicht wussten, wie sie die Qualen lindern sollten, die ihre „talentierte“ Tochter durchlitt. Er las ihr sogar Märchen vor, um ihr zu zeigen, dass die Welt ein Ort voller Magie und endloser Möglichkeiten war, ein Ort, an dem niemand – selbst jemand wie sie – sich sonderbar vorzukommen brauchte.

Sie wusste jedoch auch, dass ihre Gabe – bei aller Sorge – wichtig für seine Karriere war; dass das Institut ohne sie nur halb so erfolgreich wäre und sie in seinen Augen deshalb so etwas wie ein Pfand war. Nur aus diesem Grund fühlte sie sich nicht allzu schuldig, als sie hinter seinem Rücken den Hügel hinaufkraxelte.

Mit tauben Fingern strich Ashlyn sich wieder die Haare aus dem Gesicht. Vielleicht hätte sie sich die Zeit nehmen und die Einheimischen nach dem besten Weg fragen sollen, doch im Stadtkern waren die Stimmen zu laut und störend gewesen. Außerdem hatte sie gefürchtet, ein Angestellter des Instituts könnte sie sehen und mitnehmen.

Trotzdem hätte sie es darauf ankommen lassen können, allein schon, um sich nicht länger als nötig dieser klirrenden Kälte auszusetzen.

Es gibt nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Stich jemandem ins Herz und warte ab, ob er stirbt, sagte eine Stimme und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Oh, das ist gut. Mehr, bitte!

Ashlyn war abgelenkt und stolperte über einen heruntergefallenen Ast. Sie taumelte zu Boden und keuchte vor Schmerz. Scharfe Steine bohrten sich in ihre Handflächen und schabten an ihrer Jeans. Eine ganze Weile lag sie reglos da. Sie konnte sich nicht bewegen. Zu kalt, dachte sie. Zu laut.

Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, während es hinter ihren Schläfen unaufhaltsam pochte. Die Stimmen gaben einfach keine Ruhe. Sie schloss die Augen, zog die Jacke fester um sich, kroch zu einem Baum und kauerte sich dagegen.

Wir sollten nicht hier sein. Sie sehen alles.

Bist du verletzt?

Sieh mal, was ich gefunden habe! Schön, oder?

„Seid still, seid still, seid still!“, schrie sie. Natürlich gehorchten die Stimmen ihr nicht. Das taten sie nie.

Lauf bloß nicht nackt durch den Wald.

Éhes vagyok. Kaphatok volamit eni?

Plötzlich vernahm sie ein Zischen und riss die Augen auf. Sie hörte einen gequälten Schrei neben sich. Er kam von einem Mann. In kurzen Abständen folgten drei weitere Schreie.

Gegenwart. Nicht Vergangenheit. Nach vierundzwanzig Jahren kannte sie den Unterschied.

Die Angst legte sich wie eine Eisenkralle um ihre Brust und quetschte die Luft aus ihr heraus. Durch das Geschnatter der Stimmen hörte sie einen dumpfen Knall, der ihr durch Mark und Bein fuhr. Sie versuchte aufzustehen und wegzulaufen, doch ein jäher Luftzug hinderte sie daran. Nein, kein Luftzug, wurde ihr fast augenblicklich klar, sondern eine Klinge. Sie zuckte zusammen, als sie den Griff eines blutbesudelten Messers knapp über ihrer rechten Schulter aus dem Baumstamm ragen sah.

Ehe sie wegrennen oder schreien konnte, hörte sie noch ein Zischen. Wieder zuckte sie. Ashlyn sah nach links. Über ihrer anderen Schulter steckte noch ein Messer im Baum.

Wie … Was … Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, sprang auch schon etwas aus dem Dickicht hervor. Die trockenen Blätter schlugen in einem seltsamen Tanz gegeneinander. Der Schnee, der sie bedeckte, fiel zu Boden. Dann schnellte dieses Etwas auf sie zu. Im Mondlicht erkannte sie schwarze Haare und glänzende, violette Augen. Ein Mann. Ein großer, muskulöser Mann kam mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu gerannt. Sein Gesicht spiegelte nichts als Brutalität.

„Oh mein Gott“, keuchte sie. „Halt. Halt!“

In der nächsten Sekunde war sein Gesicht direkt vor ihrem. Wie ein Tier beschnüffelte er ihren Hals. „Es waren Jäger“, sagte er in nicht ganz akzentfreiem Englisch. Seine Stimme war genauso scharf und grob wie seine Gesichtszüge. „Bist du auch eine von ihnen?“ Er packte sie am rechten Handgelenk, schob ihren Ärmel hoch und fuhr mit dem Daumen über ihren Unterarm. „Keine Tätowierung. Nicht so wie die anderen.“

Die anderen? Jäger? Tätowierung? Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Der Angreifer war riesig und monströs, seine muskulöse Gestalt wirkte bedrohlich. Ein metallischer Geruch umgab ihn, vermischt mit dem Duft nach Mann und Wärme und noch etwas anderem, das sie nicht identifizieren konnte.

Aus der Nähe sah sie rote Spritzer in seinem rauen Gesicht. Blut? Es war, als würde der beißende Wind durch ihre Haut bis ins Mark ihrer Knochen dringen.

In seinen Augen stand: wild und Raubtier.

Vielleicht hätte ich auf McIntosh hören sollen. Vielleicht sind diese Männer tatsächlich Dämonen.

„Bist du auch eine von ihnen?“, wiederholte der Mann eindringlich.

Bei all dem Schrecken und der Angst dauerte es einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass irgendetwas … anders war. Die Luft, die Temperatur, die …

Die Stimmen schwiegen.

Sie riss erstaunt die Augen auf.

Die Stimmen schwiegen, als wären sie der Gegenwart des Mannes gewahr und fürchteten sich genauso vor ihm wie sie. Stille umhüllte sie.

Nein. Es war nicht vollkommen still, aber ziemlich ruhig. Wunderbar, herrlich ruhig. Wann hatte sie zuletzt einen Moment der Ruhe genießen dürfen, der nicht von Stimmengewirr gestört wurde? Überhaupt jemals?

Der Wind raschelte in den Blättern. Der Schnee summte eine leise, beruhigende Melodie, während er durch die Luft flog. Die Bäume atmeten Leben und Lebendigkeit, die Zweige wiegten sich leicht im Wind.

Hatte sie je so etwas Herrliches gehört wie die Symphonie der Natur?

In diesem Moment vergaß sie ihre Angst. Wie konnte dieser Mann von einem Dämon besessen sein, wenn er ihr doch solch liebliche Stille schenkte? Dämonen waren eine Quelle des Schmerzes, nicht des Friedens.

War er womöglich ein gnädiger Engel, ganz so wie die Einheimischen vermuteten?

Glücklich schloss sie die Augen, trank die Ruhe, versank darin. Umarmte sie.

„Frau?“ Der Engel klang verwirrt.

„Shhh.“ Sie spürte tiefe Zufriedenheit. Selbst in ihrem Haus in North Carolina, das von Bauarbeitern errichtet worden war, die nur das Nötigste hatten sagen dürfen, hörte sie immer ein tiefes Flüstern. „Nicht sprechen. Nur genießen.“

Einen Augenblick lang schwieg er. „Du wagst es, mir zu sagen, dass ich still sein soll?“, brachte er schließlich hervor und konnte die Wut und Überraschung in seiner Stimme nicht verbergen.

„Du redest ja immer noch“, rügte Ashlyn ihn und presste dann schnell die Lippen aufeinander. Engel oder nicht – das war wohl kaum jemand, den sie schelten sollte. Außerdem wollte sie ihn auf gar keinen Fall verärgern. Seine Gegenwart bescherte ihr Ruhe. Und wohlige Wärme. Sie merkte, wie die Kälte ihren Körper auf einmal verließ.

Langsam öffnete sie die Augen.

Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, und sie spürte seinen heilenden Atem auf den Lippen. Im Mondlicht glühte seine Haut wie glatter Kupfer, beinahe überirdisch. Er hatte eine markante Nase und Augenbrauen, so dunkel wie das Herz des Teufels.

Seine violetten Raubtieraugen bohrten sich in sie hinein. Durch die langen Wimpern, die sie umrahmten, wirkte sein Blick noch bedrohlicher. Ich töte jeden, ganz egal wo, schien er zu sagen.

Dämon. Nein, kein Dämon, rief sie sich in Erinnerung. Die Ruhe war zu köstlich, zu rein und zu richtig. Aber er war auch kein Engel. Er hatte ihr zwar die Stille geschenkt, doch er war ohne Zweifel genauso gefährlich wie schön. Jeder, der so mit Messern umgehen konnte …

Was also war er?

Ashlyn schluckte und musterte ihn. Ihr Herz hätte in dem Augenblick nicht höher schlagen und ihre Brüste hätten sich nicht sehnsüchtig zusammenziehen dürfen. Aber es schlug höher. Und sie zogen sich zusammen. Er war wie die Drachen in den Märchen, die McIntosh ihr immer vorgelesen hatte: zu tödlich, um ihn zu zähmen, und zu hypnotisierend, um sich von ihm zu lösen.

Und trotzdem verspürte sie ganz unvermittelt das Verlangen, den Kopf in der Kuhle seines Halses zu vergraben. Sie wollte die Arme um ihn schlingen. Wollte ihn festhalten und nie mehr gehen lassen. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie sich zu ihm hinüberbeugte und kurz davor war, ihren Sehnsüchten nachzugeben.

Halt. Tu es nicht.

Sie hatte in ihrem Leben nicht viel Zuneigung erfahren. Mit fünf Jahren kam sie ins Institut, wo sich die meisten Mitarbeiter fast ausschließlich mit ihrer außergewöhnlichen Begabung befasst hatten. McIntosh war derjenige, der am nächsten an das herankam, was man gemeinhin als Freund bezeichnete, doch selbst er hatte sie nicht oft in den Arm genommen oder berührt, als fürchtete er sich genauso sehr vor ihr wie er sich um sie sorgte.

Auch mit Verabredungen war es nicht einfach. Die Männer flippten förmlich aus, wenn sie von ihrer Gabe erfuhren. Und früher oder später erfuhren sie davon. Sie konnte sie nicht verstecken. Aber …

Wenn dieser Mann das war, wofür sie ihn hielt, würde er sich an ihrem ausgefallenen Talent nicht stören. Er ließe es zu, dass sie ihn berührte. Ihn zu berühren und seine Wärme zu spüren, wäre eine genauso große Sensation wie die Stille, wenn nicht eine noch größere …

„Frau?“, wiederholte er mit heiserer Stimme und unterbrach ihre Gedanken.

Sie erstarrte. Schluckte wieder. Löschte das … Verlangen, das in seinen eiskalten, violetten Augen loderte, den Ausdruck des Tötenwollens vollständig aus? Oder war es ein Verlangen nach Schmerz und Gewalt? War es ihr Todesurteil? Sie war in einem Strudel der Gefühle gefangen, der aus Angst, Ehrfurcht und, ja, weiblicher Neugier bestand. Sie hatte kaum Erfahrung mit Männern und noch weniger mit sexueller Lust.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich einfach zu ihm hinüberzubeugen? Er hätte ihre Berührung als Einladung betrachten und sie ebenfalls berühren können.

Und warum löste der bloße Gedanke daran keine Panik in ihr aus?

Vielleicht weil sie sich irrte. Vielleicht war er am Ende gar kein Drachen, sondern der Prinz, der den Drachen getötet hatte, um die Prinzessin zu retten. „Wie heißt du?“, hörte sie sich fragen.

Eine spannungsgeladene Sekunde nach der anderen verstrich, und sie dachte schon, er würde nicht antworten. Sein Gesicht war verzerrt, als wäre es ihm schon lästig, nur in ihrer Nähe zu sein. Dann antwortete er schließlich: „Maddox. Ich heiße Maddox.“

Maddox … Der Name schlüpfte durch sämtliche Windungen ihres Gehirns, wie ein verführerischer Gesang, der unvorstellbare Befriedigung versprach. Sie zwang sich zu lächeln, als sie sich vorstellte. „Ich bin Ashlyn Darrow.“

Sein Blick glitt zu ihren Lippen. Trotz der Kälte glitzerten Schweißperlen auf seiner Stirn. „Du hättest nicht herkommen sollen, Ashlyn Darrow“, knurrte er, wobei seine Augen den begehrlichen Ausdruck verloren, der ihr so sehr gefallen und vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte. Mit den Händen fuhr er – überraschend sanft – an ihren Armen hoch und hielt inne, als er ihren Hals erreicht hatte. Behutsam strich er ihr mit dem Daumen über die Kehle und spürte ihren schnellen Puls.

Sie schnappte nach Luft und schluckte. Seine Finger folgten der Bewegung. Eine unbeabsichtigt hocherotische Berührung, die sie dahinschmelzen ließ. Im nächsten Moment wurde sein Griff fester, fast schmerzhaft.

„Bitte“, krächzte sie, und er ließ von ihr ab.

Ashlyn blinzelte überrascht. Jetzt, da er sie nicht mehr berührte, fühlte sie sich … nackt?

„Gefährlich“, knurrte er, diesmal auf Ungarisch.

Sie wusste nicht, ob er sich selbst meinte … oder sie. „Bist du einer von ihnen?“, flüsterte sie, ohne die Sprache zu wechseln. Er brauchte nicht zu wissen, dass sie auch das Ungarische beherrschte.

Vor Erstaunen verdunkelte sich sein Blick, und in seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Was meinst du? Einer von wem?“ Jetzt sprach auch er wieder englisch.

„Ich … ich …“ Die Worte wollten ihr einfach nicht über die Lippen kommen. Sein Gesicht spiegelte Wut wider, unermessliche Wut, wie sie es noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Jede Pore seines Körpers strahlte Wut aus. Nein, doch kein Prinz. Definitiv ein Drache, so wie sie zuerst vermutet hatte.

Er blieb in der Hocke, rutschte jedoch einige Zentimeter von ihr weg. Er atmete tief ein und langsam wieder aus, wobei sie eine kleine Wolke um seinen Kopf bildete. Mit der einen Hand fuhr er sich über den Stiefelschacht, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er hineingreifen sollte oder nicht. Endlich sagte er: „Was machst du in diesem Wald, Frau? Und lüg mich nicht an. Ich würde es merken, und meine Reaktion würde dir nicht gefallen.“

Irgendwie fand Ashlyn die Stimme wieder. „Ich suche nach den Männern, die auf diesem Hügel leben.“

„Warum?“ Er spie das Wort geradezu aus.

Wie viel sollte sie ihm verraten? Er musste einfach einer der Männer mit den seltsamen Fähigkeiten sein. Für einen normalen Menschen strahlte er viel zu viel Kraft und Energie aus. Doch was noch viel wichtiger war: Er hatte mit seiner bloßen Anwesenheit die Stimmen vertrieben. Das hatte sie noch nie erlebt. „Ich brauche Hilfe“, gestand sie.

„Ach, wirklich?“ In seinem Ausdruck lagen Misstrauen und Nachsicht. „Und wobei?“

Sie öffnete den Mund um … was zu sagen? Sie wusste es nicht. Und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Mit einem kurzen Kopfschütteln hielt er sie vom Reden ab. „Egal. Du bist hier nicht willkommen, also ist jegliche Erklärung unnötig. Geh in die Stadt zurück. Weshalb du auch gekommen bist, du wirst es nicht kriegen.“

„Aber, aber …“ Sie durfte nicht zulassen, dass er sie wegschickte. Sie brauchte ihn. Ja – sie hatte ihn eben erst getroffen. Und ja – das Einzige, was sie von ihm wusste, waren sein Name und dass er sehr präzise mit Messern umgehen konnte. Aber trotzdem versetzte sie der Gedanke an die wiederkehrenden Stimmen in Angst und Schrecken. „Ich will bei dir bleiben.“ Sie wusste, wie verzweifelt sie klang, doch es war ihr egal. „Bitte. Nur ein bisschen. Bis ich gelernt habe, wie ich die Stimmen alleine kontrollieren kann.“

Ihre Bitte schien ihn nicht im Geringsten zu besänftigen, sondern nur noch zorniger zu machen. Seine Nasenlöcher blähten sich auf, und die Kiefermuskeln zuckten stärker. „Du wirst mich mit deinem Gequatsche nicht einlullen. Du bist ein Köder. Ansonsten würdest du panisch vor mir davonlaufen.“

„Ich bin kein Köder.“ Was auch immer das sein mochte. „Das schwöre ich bei Gott.“ Sie streckte die Hand aus und packte seinen Unterarm. Er war fest und unglaublich heiß und wirkte wie elektrisch aufgeladen. In ihrem Arm prickelte es. „Ich weiß ja noch nicht mal, wovon du überhaupt redest.“

Blitzschnell schoss seine Hand hervor. Er packte sie am Hinterkopf und zerrte sie ins Mondlicht. Sie verspürte keinen Schmerz. Im Gegenteil: nur einen weiteren kleinen Stromschlag. Ihr Magen flatterte.

Er sagte kein Wort, sondern sah sie so intensiv an, dass es an Grausamkeit grenzte. Sie erwiderte seinen Blick und erschrak, als es unter seiner Haut blitzte … als sich etwas bewegte … als etwas anderes Gestalt annahm. Ein Gesicht, stellte sie mit makaberer Faszination fest. Noch ein zweites Gesicht. Ihr Herz schlug schneller. Er kann kein Dämon sein, er kann kein Dämon sein. Er hat die Stimmen zum Schweigen gebracht. Er und die anderen haben wunderbare Dinge für die Stadt getan. Es ist nur eine optische Täuschung. Es liegt bestimmt am Licht.

Während sie Maddox’ Gesichtszüge noch erkannte, sah sie auch den Schatten von jemand – etwas – anderem. Rote, glühende Augen. Skelettartige Wangenknochen. Messerscharfe Zähne.

Bitte lass es eine optische Täuschung sein.

Doch je deutlicher die skelettartigen Gesichtszüge hervortraten, desto weniger konnte sie sich einreden, dass es eine Illusion war.

„Willst du sterben?“, drohte Maddox – oder war es der Totenschädel? Die Worte kamen so tief aus seiner Kehle, dass sie kaum mehr waren als ein animalisches Knurren.

„Nein.“ Doch falls er sie umbrachte, würde sie mit einem Lächeln sterben. Zwei Minuten Stille bedeuteten ihr mehr als ein ganzes Leben voller Stimmen. Verängstigt, aber entschlossen und immer noch von seiner heißen Berührung elektrisiert, hob sie das Kinn. „Ich brauche deine Hilfe. Sag mir, wie ich meine Fähigkeit kontrollieren kann, und ich gehe auf der Stelle. Oder lass mich bei dir bleiben, damit ich lernen kann, wie man es macht.“

Er ließ sie los, packte sie dann aufs Neue, hielt inne und ballte die Hand zu einer Faust. „Ich weiß nicht, warum ich zögere“, bemerkte er, während er ihren Mund fast schon sehnsüchtig betrachtete. „Es ist gleich Mitternacht, und dann musst du so weit weg von mir sein wie nur möglich.“

Beim letzten Wort zog er die Augenbrauen hoch. In der nächsten Sekunde bellte er: „Zu spät! Schmerz sucht bereits nach mir.“ Er kroch wieder von ihr weg. Die skelettartige Maske flackerte immer noch unter seiner Haut. „Lauf. Geh zurück in die Stadt. Sofort!“

„Nein“, erwiderte sie mit erstaunlich fester Stimme. Nur ein Dummkopf verließ freiwillig den Himmel – selbst wenn ein Stück des Himmels ein durchsichtiges Gesicht hatte, das direkt aus der Hölle zu kommen schien.

Maddox fluchte leise, zog die Messer aus dem Baumstamm und sprang auf die Füße. Er blickte gen Himmel, vorbei an dem Schnee und den Baumwipfeln zum Halbmond. Sein Stirnrunzeln wurde grimmig, zornig. Ein Schritt, zwei Schritte – er entfernte sich langsam.

Ashlyn lehnte sich gegen den Baum und stand auf. Ihre Beine hätten fast unter ihrem Gewicht nachgegeben. Auf einmal spürte sie den eisigen Wind wieder und hörte die Stimmen auf sich zukommen. Ein Schrei der Verzweiflung steckte ihr in der Kehle.

Drei Schritte, vier.

„Wohin gehst du?“, fragte sie. „Lass mich hier nicht einfach zurück.“

„Ich habe keine Zeit mehr, dich in Sicherheit zu bringen. Du musst deinen Weg alleine finden.“ Er wirbelte herum und wandte ihr sein breites Kreuz zu. Aber dann drehte er sich noch einmal halb zu ihr um. „Komm nie wieder zu diesem Hügel zurück, Frau. Nächstes Mal werde ich nicht so gnädig sein.“

„Ich gehe nicht weg. Egal, wo du hingehst, ich folge dir.“ Das war eine klare Drohung und ihr voller Ernst.

Maddox blieb stehen, drehte sich um und sah sie an, wobei er Furcht erregend die Zähne fletschte. „Ich könnte dich auf der Stelle töten, Köder, und das sollte ich wohl auch tun. Wie willst du mir dann noch folgen?“

Köder, schon wieder. Ihr Herz hämmerte hart in ihrer Brust, doch sie hielt seinem zornigen Blick stand und hoffte, trotzig und entschlossen und nicht einfach nur versteinert zu wirken. „Glaub mir, ich lasse mich lieber umbringen, als alleine mit den Stimmen hier zu bleiben.“

Ein Fluchen, ein qualvolles Zischen. Er krümmte sich.

Die Sorge war größer als die Angst, und Ashlyn lief zu ihm. Sie fuhr ihm mit der Hand über den Rücken und suchte nach einer Verletzung. Wenn etwas ein so bulliges Wesen wie ihn schier umhaute, musste es sehr schmerzhaft sein. Er stieß sie kräftig weg, und sie stolperte.

„Nein“, wies er sie zurück, und sie hätte schwören können, dass er mit zwei verschiedenen Stimmen sprach. „Keine Berührungen.“

„Bist du verletzt?“ Sie stand wieder auf und versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr seine Reaktion sie gekränkt hatte. „Vielleicht kann ich dir helfen. Ich …“

„Verschwinde oder stirb.“ Er drehte sich ruckartig um, rannte los und verschwand in der Nacht.

Das Stimmengewirr brach über sie herein, als hätte es nur auf seinen Abgang gewartet. Es erschien ihr lauter als je zuvor, ein schreckliches Plärren nach der süßen Stille.

Langnak ithon kel moradni.

Während sie Maddox hinterherstolperte, hielt Ashlyn sich die Ohren zu. „Warte.“ Sie stöhnte. Seid still, seid still, seid still.

„Warte. Bitte!“

Ihr Fuß verfing sich in einem heruntergefallenen Ast, und sie fiel abermals hin. Sie spürte einen stechenden Schmerz im Knöchel. Wimmernd hievte sie sich auf Hände und Knie und krabbelte weiter.

Ate ìtéleted let minket veszeijbe.

Nicht anhalten. Sie musste ihn finden. Der Wind, der genauso scharf war wie die Dolche, die Maddox bei sich trug, schlug ihr entgegen.

Die Stimmen zeterten unaufhörlich.

„Bitte“, weinte sie. „Bitte!“

Ein wütendes Getöse teilte die Nacht und ließ Boden und Bäume erzittern.

Plötzlich war Maddox wieder an ihrer Seite und ertränkte die Stimmen. „Dummer Köder“, zischte er. Dann fügte er – mehr zu sich selbst sprechend – hinzu: „Dummer Krieger.“

Sie schrie erleichtert auf und schlang die Arme um ihn. Hielt ihn fest. Sie würde ihn nie mehr gehen lassen – auch wenn er noch so todbringend ausschauen sollte. Tränen liefen ihr die Wangen hinab und kristallisierten auf ihrer Haut. „Danke. Danke, dass du zurückgekommen bist. Danke.“ Sie vergrub das Gesicht in der Kuhle seines Halses, so wie sie es schon zuvor hatte tun wollen. Als ihre Wange seine nackte Haut streifte, erzitterte sie, und wieder durchfuhr sie dieses warme Prickeln.

„Du wirst es noch bereuen“, meinte er, als er sie hochhob und wie einen Kartoffelsack über die Schulter legte.

Das war ihr egal. Sie war bei ihm, die Stimmen waren fort, und das war alles, was zählte.

Maddox setzte sich in Bewegung und wich geschickt den geisterhaften Bäumen aus. Immer wieder stöhnte er gequält und knurrte, als sei er wütend. Ashlyn bat ihn, sie abzusetzen, damit er nicht auch noch ihr Gewicht tragen musste, doch er verstärkte nur den Druck auf ihre Oberschenkel und gab ihr damit wortlos zu verstehen, dass sie verdammt noch mal die Klappe halten sollte. Schließlich entspannte sie sich und genoss einfach nur den Weg.

Er hätte ewig dauern können.

3. KAPITEL

Geh nach Hause, geh nach Hause, geh nach Hause. Maddox sagte die drei Worte wie ein Mantra auf, um sich von dem Schmerz abzulenken und um dem Drang zu widerstehen, jemandem Gewalt anzutun – einem Drang, der immer stärker wurde. Die Frau – Ashlyn – wippte auf seiner Schulter, was ihn unbarmherzig daran erinnerte, dass sein Wille jeden Moment nachgeben und er alles um sich herum töten konnte. Ganz besonders sie.

Du willst in einer Frau ertrinken?, stichelte der Dämon. Das ist deine Chance. Ertränk dich in ihrem Blut.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Er musste nachdenken, doch die Schmerzen hinderten ihn daran. Sie hatte irgendeine Fähigkeit erwähnt und ihn um Hilfe gebeten. Oder? Einige ihrer Worte verloren sich in dem Gebrüll in seinem Kopf. Er wusste nur eines: Er hätte sie zurücklassen sollen.

Doch er hatte sie gequält schreien gehört, hatte ein verrücktes Stöhnen gehört, das auch Maddox so oft schon hatte ausstoßen wollen. Irgendetwas in ihm reagierte sofort, und er verspürte das intensive Bedürfnis, ihr zu helfen und ihre weiche Haut noch einmal zu berühren. Ein Bedürfnis, das erstaunlicherweise stärker war als sein Dämon.

Also war er zu ihr zurückgekehrt, obwohl er wusste, dass sie bei ihm in größerer Gefahr war als allein im Wald. Obwohl er wusste, dass sie höchstwahrscheinlich geschickt worden war, um ihn abzulenken und den Jägern Zutritt zur Burg zu verschaffen.

Idiot. Jetzt lag sie auf seiner Schulter, ihr weiblicher Duft reizte seine Sinne, und ihre weichen Kurven schmiegten sich an seinen gestählten Körper.

Erstich sie, heizte der Dämon ihn an.

Sie war so unglaublich schön, dass es nicht schwerfiel, zu begreifen, warum die Jäger sie geschickt hatten. Wer würde solch einem sinnlichen Wesen schon etwas antun wollen? Wer würde es schon zurückweisen? Er offensichtlich nicht.

Idiot, fluchte er wieder in sich hinein. Verfluchte Jäger! Sie waren tatsächlich in Budapest. Ihre Tätowierungen hatten die Erinnerung an die schwarzen Tage in Griechenland wachgerüttelt. Ohne Zweifel wollten sie einmal mehr ein Blutbad anrichten, das ließ sich aus den Gewehren und Schalldämpfern schlussfolgern, die Ashlyns Verfolger bei sich getragen hatten. Für Sterbliche kämpften sie ziemlich professionell.

Maddox war zwar als Sieger aus dem blutigen Tête-à-Tête hervorgegangen, doch er war nicht unversehrt geblieben. In seiner Wade klaffte eine Schnittwunde, und es fühlte sich an, als wäre eine Rippe gebrochen.

Anscheinend hatten sie sich mit der Zeit zu noch besseren Kämpfern entwickelt.

Wie Ashlyn wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass sie tot waren. Würde sie weinen? Schreien? Schimpfen? Würde sie vor Kummer auf ihn losgehen?

Warteten in der Stadt noch mehr von ihnen?

Im Augenblick konnte er sich darüber keine Gedanken machen. Während er Ashlyn über der Schulter trug, beseelte ihn ein intensives Glücksgefühl. Die Hölle, in der er sein Dasein fristete, wich zurück, und was blieb, war eine Empfindung, die er nicht richtig einordnen konnte. Sehnsucht vielleicht. Nein. Er strich das Wort sofort wieder. Es wurde der Intensität, der Hitze des Gefühls nicht gerecht.

Situationsbedingte Besessenheit vielleicht.

Was auch immer es war, es gefiel ihm nicht. Das Gefühl war mächtiger als alles andere, was er je erfahren hatte, und es drohte, ihn zu beherrschen. Maddox konnte nicht noch eine unsichtbare Macht gebrauchen, die versuchte, die Kontrolle über ihn zu gewinnen.

Aber die Frau war einfach so … bezaubernd. So bezaubernd, dass es beinahe wehtat, sie anzusehen. Ihre Haut war weich und glatt, wie Zimt, den man zusammen mit Honig zu einer köstlichen Creme verrührt hatte. Ihre Augen waren ebenso honigfarben und blickten so gehetzt drein, dass es ihm die Brust zusammenschnürte. Er hatte bei einem Sterblichen noch nie einen derart gequälten Ausdruck gesehen und fühlte sich auf unerklärliche Art seelenverwandt mit ihr.

Als ihr langes, seidiges Haar, das ebenfalls honigfarben war, jedoch mit Kupfer und Quarz durchsetzt zu sein schien, um ihre feinen Gesichtszüge gestrichen war, hatte er Sehnsucht verspürt. Verlangen. Sie zu berühren, zu schmecken. Zu verschlingen. Zu verzehren. Aber er hatte sie nicht verletzen wollen. Das erstaunte ihn nach wie vor.

Ashlyn … Ihr Name, der genauso bezaubernd war wie die Frau selbst, streifte durch seine Gedanken. Es verstieß gegen die Regeln, sie mit auf die Burg zu nehmen, da es ihre wohl behüteten Geheimnisse in Gefahr brachte. Eigentlich hätte er sich schämen sollen, dass er sie mitnahm, anstatt sie fortzujagen, und sie hätte vor Angst schreien müssen.

Doch offenbar waren die Worte hätte, sollen und müssen für sie beide bedeutungslos.

Warum weinte sie nicht? Und viel wichtiger: Warum hatte sie nicht geweint? Als er sich das erste Mal auf sie gestürzt und sie sein Gesicht gesehen hatte, das vom Blut ihrer Freunde beschmutzt war, hatte sie ihre vollen Lippen zu einem entzückenden Lächeln verzogen und tadellos weiße Zähne enthüllt.

Der Gedanke an dieses Lächeln erregte ihn. Aber noch überwog die Verwirrung. Auch wenn er es schon seit einer geraumen Zeit nicht mehr mit einem Köder zu tun gehabt hatte – er konnte sich nicht erinnern, das die Lockvögel der Jäger ihr Behagen je zuvor so offen demonstriert hatten.

Selbst Hadiee nicht, der Köder, mit dessen Hilfe Baden, der Träger des Dämons des Argwohns, überwältigt worden war. Hadiee hatte die misshandelte, verängstigte Seele äußerst überzeugend gespielt. Bei ihrem Anblick beschloss Baden offenbar, einer anderen Person zum ersten Mal, seit er von dem Dämon besessen war, zu vertrauen. Oder war es vielleicht ganz anders? Maddox hatte sich oft gefragt, ob der Krieger hatte sterben wollen. Falls ja, war sein Wunsch erfüllt worden. Nur wenige Sekunden, nachdem er Hadiee sein Herz öffnete, wurde ihm die Kehle durchgeschnitten. Hadiee hatte im Gegenzug nämlich bewaffnete Jäger hereingelassen.

Diese Verletzung allein hätte Baden vermutlich nicht getötet. Doch die Jäger köpften ihn. Baden hatte keine Chance. Nicht mal ein Unsterblicher konnte eine Enthauptung überleben.

Er war ein guter Mann und ein exzellenter Krieger, und er hatte so ein blutiges Ableben nicht verdient. Maddox hingegen …

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