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Die Kaiserin

Als Buch hier erhältlich:

Eine außergewöhnliche Frau auf der Suche nach ihrer eigenen Stimme

Während ihre Mutter alles daran setzt ihre Tochter zu verheiraten, schlägt die rebellische Elisabeth einen Verehrer nach dem anderen in die Flucht – ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester Helene, die sich auf die Verlobung mit Kaiser Franz von Österreich vorbereitet und von der Aussicht auf die Ehe geradezu begeistert ist. Gemeinsam machen sich die Schwestern auf den Weg nach Bad Ischl, um den Geburtstag des Kaisers zu feiern. Auf einmal steht Elisabeth Franz unerwartet im Schlosspark gegenüber und fühlt sich sofort zu ihm hingezogen. Erschrocken eilt sie davon – schließlich ist er ihrer Schwester versprochen! Doch je näher sie Franz kennenlernt, desto schwerer fällt es ihr, sich seiner Anziehungskraft zu entziehen. Und so wird sie vor die schwerste Entscheidung ihres Lebens gestellt …

Eine unvergleichliche Liebe, Eifersucht, Intrigen und Machtkämpfe am Habsburger Hof – für alle Fans von »Bridgerton« und »The Crown«

»Ein frischer, moderner Blick auf eine legendäre Frau, mit dem Sisi garantiert neue Fans gewinnen wird.« Evie Dunmore


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002445

Leseprobe

Für meine leiblichen und Wahlschwestern:

RJ, Natalia und David

Und auf der Nordsee wilden Wogen,
Geliebter, lagst du hingestreckt;
Mit tausend Fasern eingesogen
Hab’ ich dich, salz- und schaumbedeckt.

AUS DEM TAGEBUCH DER
PRINZESSIN ELISABETH IN BAYERN

Außer sich und mit fliegenden Röcken wirbelte Elisabeths Mutter durchs Haus und zog eine Alkoholfahne hinter sich her.

»Sisi!«

Elisabeth hasste diesen Namen, und ihre Mutter wusste es. Es war der Kosename eines Kinds, aber ihre Mutter behandelte sie ohnehin wie eins.

»Sisi, wo steckst du denn?« Die Stimme ihrer Mutter war jetzt näher.

Elisabeth verbarg sich hinter einem himmelblauen Vorhang, der bis zum Fußboden reichte und auf die Blautöne der Plüschsessel des Wohnzimmers abgestimmt war. Diese wiederum passten hervorragend zu dem walnussfarbenen Holzfußboden. Und alles zusammen entsprach dem Geschmack ihrer Mutter. Das ganze Haus war davon geprägt: hellblaue Bogengänge und Türrahmen, Tagesdecken und Überwürfe in allen Farben von Edelsteinen, Fußböden in warmen Holztönen, dicke Teppiche und überall üppige Blumen- und Rankenmuster.

Verschwörerisch schlüpfte Elisabeths achtjährige Schwester, genannt Spatz, neben ihr hinter den Vorhang. Elisabeth sah ihre kleine Schwester beschwörend an und drückte sich einen Finger auf die Lippen. Spatz machte große Augen, wusste aber selbst, dass sie still sein musste, denn das Spiel »Vor Mutter verstecken« kannte sie längst. Alle Schwestern kannten es. Nur Helene war in letzter Zeit furchtbar ernst geworden und spielte nicht mehr mit.

Bei dem Gedanken daran schloss Elisabeth die Augen. Erst gestern hatte ihre große Schwester mit ihr geschimpft und gesagt, sie solle endlich erwachsen werden. »Du redest wie unser Hauslehrer«, hatte Elisabeth erwidert und konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Heute hatte Helene noch gar nicht mit ihr gesprochen.

»Si-si!«, rief ihre Mutter noch einmal, dieses Mal von weiter entfernt, und betonte beide Silben gleich stark, als könnte sie ihre widerspenstige Tochter auf diese Weise aus ihrem Versteck locken.

Elisabeth wusste, dass ihre Mutter sie frisieren wollte, und konnte sich die nächsten zwei Stunden ihres Lebens ganz genau vorstellen: Sitz still, Sisi! Zappel nicht herum, Sisi! Wir reißen deinen Kopf jetzt in alle Richtungen und pieksen dich mit Haarnadeln, Sisi! Auch wenn sie tat, was ihre Mutter verlangte, war es niemals gut genug. Jeder Atemzug zählte als Zappelei. Jedes unbeabsichtigte Wimmern als Protest. Elisabeth hatte sich Mühe gegeben – wirklich große Mühe –, als erst kürzlich wieder irgendein Herzog zu Besuch gekommen war und um ihre Hand angehalten hatte, aber es hatte geendet wie jedes Mal: Ihre Mutter war wütend, der Herzog abgereist und Elisabeth immer noch entschlossen, nur aus Liebe zu heiraten.

Heute würde sie in ihrem Versteck bleiben.

Sie fuhr mit dem Daumen über den dicken seidigen Vorhang. Ein kleiner Windstoß vom offenen Fenster hinter ihr strich ihr über den Nacken. Unzählige Male hatten alle drei Schwestern beim Versteckspielen – oder wenn sie schnell die Flucht ergreifen wollten – dieses Fenster als Ausgang benutzt. Aber bestimmt würde sich Helene heute nicht mehr dazu herablassen, über das Spalier auf den Rasen hinunterzuklettern. Sie hatte keine Lust mehr herumzutoben, seit ausgemacht war, dass sie den Kaiser heiraten sollte.

Noch schlimmer war, dass Helene nicht nur langweilig und vornehm sein würde, sondern vor allem weg. Den Kaiser zu heiraten, bedeutete, nach Wien zu ziehen. Und Elisabeth allein zu lassen, mit nichts als …

»Wo steckst du?«, rief ihre Mutter und stieß einen wütenden, beinahe animalischen Schrei aus. Es war so erschreckend und kam von so nahe, dass Elisabeth zusammenzuckte und Spatz sich die Hand vor den Mund schlug, damit man ihr Kichern nicht hörte. Keine von beiden hatte bemerkt, dass ihre Mutter ins Zimmer zurückgekommen war, was ziemlich erstaunlich war, weil sie eigentlich einen schweren Gang hatte.

Elisabeth fasste sich und zwinkerte ihrer Schwester zu.

»Um Himmels willen, Sisi! Der Herzog muss jede Minute hier sein.«

Der Herzog. Die größte Hoffnung ihrer Mutter, die Zukunft ihrer mittleren Tochter betreffend, und der aufgeblasenste Kerl, den sie kannte. Ihre Mutter hoffte, er würde heute um ihre Hand anhalten. Elisabeth hingegen hoffte, er würde unterwegs vom Pferd fallen.

Jemand anders kam schnellen Schrittes ins Zimmer. Bestimmt eine Zofe. Helene hatte sich abgewöhnt, schnell zu gehen.

»Sie ist noch nicht einmal angezogen? Das kann doch nicht wahr sein!«, sagte die Mutter.

Elisabeth verdrehte die Augen. Ihre Mutter übertrieb mal wieder maßlos. Der Herzog würde erst in mehreren Stunden ankommen. Elisabeth grinste ihre Schwester an. Tatsächlich war keine von ihnen auch nur annähernd angezogen, beide trugen noch ihre weißen Nachthemden, waren barfuß und ungekämmt.

Neugierig lugten die Schwestern hinter dem Vorhang hervor. Die Zofe hatte das Kleid gebracht, das Elisabeth heute tragen sollte. Es war wunderschön, reich gerüscht und bebändert, hatte aber ein eng geschnürtes Korsett und war so steif, dass es aussah, als könnte es in Form bleiben, wenn man es auf den Fußboden stellte. Vielleicht wäre das die Lösung für diesen schrecklichen Tag: Man könnte dem Herzog das Kleid vorstellen, ohne dass Elisabeth darin steckte. Wahrscheinlich würde der Herzog es nicht einmal bemerken. Womöglich wäre es ihm sogar lieber.

Die Schwestern sahen, wie ihre Mutter theatralisch die Hände in die Hüften stemmte und sich auf die arme Zofe stützte, die ja nichts dafür konnte und ihr Bestes tat, sowohl ihre aufgebrachte Herrin als auch das steife Kleid zu halten.

Obwohl ihre Nerven blank lagen, bot ihre Mutter einen makellosen Anblick, wie üblich. Ihr Kleid war von einem satten Grün, mit tief ausgeschnittenem Dekolleté und Puffärmeln. Eine Kette mit Blütenmotiven lenkte die Aufmerksamkeit auf ihren immer noch ansehnlichen Hals. Ihre Haare waren honigfarben, und alles an ihr war vornehm und gepflegt, ganz im Gegensatz zu den dunklen Locken und verspielten Gesichtern von Elisabeth und Spatz. Helene jedoch hatte die goldenen Farbtöne und graziösen Bewegungen ihrer Mutter geerbt, und mittlerweile verströmte sie genauso viel Anstand und Würde wie sie.

Aus Angst, ihre Mutter könnte sich umdrehen und sie erwischen, schlüpften Elisabeth und Spatz wieder hinter den Vorhang. Als die älteren Frauen in ein anderes Zimmer gingen und ihr Gespräch dort fortsetzten, baute sich Elisabeth vor Spatz auf und stemmte die Hände genauso theatralisch in die Hüften wie ihre Mutter. »Dieses Kind bringt mich noch um. Bring mir einen Schnaps!«

Spatz kicherte und hielt sich wieder die Hand vor den Mund.

Aus der Ferne konnten sie immer noch die schrille Stimme ihrer Mutter hören, aber dieses Mal redete sie auf Helene ein, die offenbar ausgerechnet in diesem unglücklichen Moment aus ihrem Zimmer gekommen war. »Ich werde nicht dulden, dass etwas schiefgeht, nicht schon wieder. Nicht im letzten Moment.«

Das jedoch war genau das Problem: Der Herzog hatte vom ersten Moment an schiefgelegen, und Elisabeth waren seine Absichten schon zuwider gewesen, bevor er zur Tür hereingekommen war. Aber egal, wie höflich Elisabeth das zum Ausdruck gebracht hatte – niemand schien es zu hören.

Spatz warf ihrer großen Schwester einen fragenden Blick zu. »Mutter sagt, er will dir einen Antrag machen.«

»Soll er’s doch versuchen!« Elisabeth beugte sich verschwörerisch vor. »Ich jedenfalls will ihn nicht.«

Sie lächelte schief und fuhr Spatz durch die braunen Haare. Spatz sah aus wie Elisabeth in diesem Alter: eine fein geschwungene Nase, blasse Haut, aber die Wangen vor lauter Abenteuerlust gerötet. Nur ihre Augen waren anders: Elisabeths hatten eine geheimnisvolle Farbe, irgendwo zwischen Blau und Grün, während die von Spatz an das glänzende Braun eines Waldbodens nach dem Regen erinnerten.

»Aber warum denn nicht?«

Elisabeth stupste ihre Schwester an und flüsterte mit gespieltem Entsetzen: »Hast du denn nicht gesehen, wie er sich anzieht?«

Bei ihrer ersten Begegnung anlässlich eines furchtbar peinlichen Diners hatte der Herzog einen so stark gerüschten Kragen getragen, dass er wie ein Truthahn aussah. Schlimmer noch war, dass er während des gesamten Essens immerzu über sich selbst gesprochen und dann auch noch unter dem Tisch besitzergreifend eine Hand auf Elisabeths Knie gelegt hatte. Letzteres brauchte Spatz aber nicht zu wissen. Seine Kleidung war der jüngsten Herzogstochter bestimmt in Erinnerung geblieben.

Spatz verdrehte die Augen, als sie daran dachte.

Dann wurde Elisabeth ernst und strich ihrer Schwester eine lockere Strähne aus der Stirn. »Ich liebe ihn nicht und will mir keinen Mann aufdrängen lassen.«

Spatz nickte ebenso ernst. Aber bevor sie die nächste Frage stellen konnte, verriet ein Geräusch vor dem offenen Fenster hinter ihnen, dass eine Kutsche über den Schotterweg der Einfahrt fuhr. Überrascht hob Elisabeth die Augenbrauen. Sie hatte gedacht, ihre Mutter hätte übertrieben, als sie jede Minute sagte. Wie so oft. Aber jetzt war der Herzog schon da und stieg aus der Kutsche. Durch die Bäume zwischen Fenster und Einfahrt konnte Elisabeth etwas von dem Mann sehen, den sie heiraten sollte: seine blasse Haut, seinen lockigen Bart, seine wichtigtuerische Pose, die umso lächerlicher war, als er den ausladendsten Federhut trug, den Elisabeth je gesehen hatte. Sie schaute ihm nach, bis er um die Hausecke bog.

Sie wandte sich vom Fenster ab, nahm das Gesicht ihrer kleinen Schwester in die Hände, beugte sich zu ihr hinunter und schaute ihr direkt in die vor Neugier aufgerissenen Augen. »Ich will einen Mann, der meine Seele satt macht. Kannst du das verstehen?«

Spatz nickte, dann schüttelte sie den Kopf und kicherte.

»Dir wünsche ich eines Tages das Gleiche.« Elisabeth küsste ihre Schwester auf die Stirn mit der warmen, weichen Haut, die nach ihrer mit Honigtee parfümierten Seife duftete.

»Sisi!« Die Stimme ihrer Mutter war wieder ganz nah. Zu nah.

Bevor ihre Mutter sie finden und ins Verderben führen würde, raffte sie ihr Nachthemd, kletterte auf die Fensterbank und ließ sich auf den kalten, von Tau getränkten Rasen fallen.

Als sie ums Haus lief, hörte sie ihre Mutter kreischen. »Wo steckt sie nur?«

Und Spatz, die liebe kleine Spatz, erwiderte ganz ernst: »Sie sagt, sie will einen Mann, der ihre Seele satt macht.«

Ja, kleine Schwester. Elisabeth würde die große Liebe finden oder gar keinen Mann nehmen. Das stand für sie fest.

Franz liebte alles am Fechten: den kalten Luftzug am Hals, die wie eine Bogensehne gespannte Schultermuskulatur, den süßlichen Duft des feuchten Rasens und dass die Welt plötzlich ganz klein wurde, bis man nur noch die eigenen Bewegungen und die des Gegners wahrnahm. Nur beim Fechten fühlte er sich wohl und selbstsicher. Nur beim Fechten war er nicht von Leuten umgeben, die ihm diese oder jene Allianz, diesen oder jenen Adligen als Berater, diese oder jene jugendliche Schönheit als fügsame Kaiserin aufschwatzen wollten. Alle wollten etwas von ihm, und Franz war es leid.

Beim Fechten konnte er all das vergessen und wenigstens für einige Minuten einfach nur Franz sein. Nicht der Kaiser. Nicht der Habsburger. Nicht der Garant für Geld, Allianzen und Thronerben. Nur ein Mann mit Degen, der seine Geschicklichkeit unter Beweis stellte und die königlichen Gärten genoss – die hohen Bäume und weiß gepflasterten Wege. Ganz allein, abgesehen von seinem Trainingspartner, dem Kammerdiener Theo.

»Ah-ha!«, rief der triumphierend und stieß in die Lücke vor, die Franz ihm bot. Doch wie üblich war diese Lücke vorgetäuscht, und Franz parierte den Hieb mit voller Wucht.

»Selber ah-ha!«, gab er zurück und war sich sicher, dass sein Degen treffen würde.

Aber nein. Der andere wehrte den Hieb mühelos ab und griff seinerseits an. »Und jetzt?« Eine vertraute Stimme drang durch seine Maske. »Du kannst nicht jedes Mal gewinnen.«

Irritiert hielt Franz inne. Er glaubte, mit seinem Kammerdiener zu trainieren. Dass sie dabei nicht miteinander gesprochen hatten, war Routine, seit Franz darum gebeten hatte, bei diesen friedvollen Stunden auf jegliche Formalitäten zu verzichten. Aber die Stimme war nicht die von Theo. Sie war zu hoch und Theo würde ihn niemals duzen, auch nicht beim Fechttraining. Nein, es musste sein jüngerer Bruder Max sein.

Doch seit wann war Max im Palast zurück? Der lebenslustige Habsburger-Spross war monatelang mit irgendwelchen Leuten sonst wo gewesen, um was auch immer zu unternehmen. Franz hatte ihn zur Inspektion seiner Truppen nach Italien geschickt, aber wieder einmal hatte er sich von unterwegs nicht gemeldet, sodass man nicht wissen konnte, wo er sich tatsächlich herumgetrieben hatte.

Franz reckte das Kinn vor. Es war typisch, dass Max ihn in einem Moment aufsuchte, wenn er nichts anderes wollte als sich entspannen. Überhaupt tauchte Max oft in den unvermutetsten Situationen auf. Und gerade heute brauchte Franz Ruhe, denn ihm stand noch einiges bevor.

Fast ohne seinen Bruder vorzuwarnen, setzte er sich in Bewegung und attackierte. Max würde sich unerträglich aufführen, wenn er diesen Kampf gewänne. Zu gewinnen war Franz plötzlich wichtiger, als die Form zu wahren.

Klirrend schlugen die Degen aneinander, und die Brüder verhakten sich in einem komplizierten Tanz: zwei Schritte vor, zwei zurück, vor, zurück. Franz machte einen Vorstoß, attackierte und kam beinahe ins Stolpern. Und dann …

Er hatte ihn. Endlich fand Franz’ Klinge den Punkt über Max’ Herz, und ihre abgerundete Spitze dellte den Stoff auf der Brust des Bruders.

»Das war’s.« Franz trat einen Schritt zurück, keuchte und nahm die Maske ab.

Max ließ die Schultern hängen, seine Maske fiel auf den Rasen, und er fuhr sich lässig mit der Hand durch die blonden Haare. Er schien vollkommen unbeeindruckt zu sein, und Franz wünschte, er selbst könnte sich so sorglos geben. Hätte er Max nicht besser gekannt, hätte er glauben können, die Niederlage machte ihm nichts aus. Aber so war es nicht, ganz und gar nicht, niemals. Beide wollten immer gewinnen. Als jungen Männern lag ihnen der Wettbewerb im Blut. Davon war zumindest ihre Mutter überzeugt, und in diesem Geist hatte sie die beiden erzogen, sodass keiner eine Niederlage ertragen konnte.

»Du hast dein Training also nicht vernachlässigt, Bruder.« Max lächelte, aber seine Augen lächelten nicht mit. »Offenbar sind die Gerüchte über dein drohendes Ableben übertrieben.«

»Du machst dir Sorgen um meine Gesundheit? Warum kommst du dann erst jetzt?« Es war eine giftige Bemerkung. Franz wusste, dass er nicht gekränkt sein sollte, denn die Sorglosigkeit seines Bruders war ihm nur zu vertraut. Aber er war gekränkt. Immerhin hatte er mit dem Tod gerungen, und sein Bruder war nicht heimgekommen.

Max machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nun, ich war verhindert. Außerdem bist du ja davongekommen und im Nu wieder auferstanden wie Phoenix aus der Asche. Mir war klar, dass es so kommen würde.«

Das stimmte. Die Ärzte hatten die erstaunlich rasche Genesung kaum fassen können. Ein Messerstich in den Hals – und doch war er aufgestanden, herumgelaufen, hatte trainiert und die Regierungsgeschäfte wieder aufgenommen, lange bevor die Ärzte es für möglich gehalten hatten.

Er war dazu gezwungen gewesen. Hätte er das Krankenbett nicht verlassen, wäre er zugrunde gegangen. Die Halswunde heilte wie von selbst, aber der Schock saß tief. Ein Geräusch, ein Geruch, ein Lichtreflex – und die Hölle brach in ihm los. Tag für Tag spürte er erneut, wie die Klinge in ihn eindrang und das Leben aus ihm wich. Spürte den Hass, der hinter dem Anschlag steckte. Das Einzige, was half, war, ständig in Bewegung zu bleiben, zu handeln, alles unter Kontrolle zu halten.

Franz lockerte die Schultern, um diese Gedanken zu vertreiben. Gerade heute durfte er nicht ins Grübeln geraten. Er hoffte, dass es aussah, als mache er nur eine Dehnungsübung nach dem Kampf. Max sollte auf keinen Fall den Eindruck bekommen, dass er schwächelte.

»Es ist Zeit, Eure Majestät.«

Franz drehte sich zu Theo um, seinem Kammerdiener und seit einigen Monaten engsten Vertrauten. Er war der Einzige im Palast, der seine Geheimnisse kannte und über seine Witze lachte. Es reichte schon, wenn sie einander kurz zunickten, um Franz Kraft zu geben. Franz wusste nicht, wie er die letzten Monate ohne Theo durchgestanden hätte.

Franz ließ den Blick hinter Theo Richtung Palast schweifen. Im frühen Morgenlicht leuchtete die weiße Fassade golden, doch hinter dieser wunderbaren Fassade steckte etwas Kaltes, Harsches. Franz ballte die Faust.

Max beobachtete ihn, deswegen lockerte er noch einmal die Schultern und versuchte zu lächeln. Es fühlte sich falsch an, seine Gesichtsmuskeln hatten das Lächeln verlernt.

Max hob seine Maske auf und folgte Theo den sacht ansteigenden Hang hinauf. Franz ging kurz hinter ihnen – langsam und widerstrebend. Je weiter er sich vom Garten entfernte, desto schneller raste sein Herz, und Angst machte sich in ihm breit. Er streckte die Hand nach einer Rose aus und strich über die seidigen Blütenblätter, um sich zu vergewissern, wo er sich befand und dass er hier und jetzt nichts zu befürchten hatte.

Nicht du wirst sterben, Franz. Du bist nicht in Gefahr.

Du wirst lediglich einer Hinrichtung beiwohnen.

Jetzt zeigte Elisabeth so viel Temperament wie vorher ihre Mutter. Ihr ungestümes Pferd, Puck, wurde immer schneller und raste schließlich im Galopp dahin. Ihr Nachthemd flatterte und ihre Haare flogen im Takt der Pferdehufe auf und ab. Beim Reiten gewann sie Distanz von selbstverliebten Herzögen und Müttern, die sie kleinmachen und ihre Seele einschnüren wollten, wie in ein Korsett. Aber sie würde sich nicht kleinmachen lassen, von niemandem.

Sie wusste, dass sie sich eines Tages verlieben würde, und diese Liebe würde ihre Welt größer machen, nicht kleiner. Darüber hatte sie Gedichte geschrieben, und ihre Lieblingszeilen hatten sich in ihre Seele gegraben. Während sie mit Puck durch den Wald galoppierte und über gewundene Flüsse sprang, sprach sie einige davon vor sich hin:

Bald in tiefen Felsenschluchten,

Bald in weinumkränzten Buchten,

Sucht die Seele stets nur ihn.

Nur ihn. Aus tiefstem Herzen glaubte sie daran, dass sie ihn erkennen würde, sobald er vor ihr stünde. Ihre Seele würde sich auf der Stelle mit seiner verbinden. Und er – das war nie und nimmer der pompöse Herzog. Also ritt sie weiter. Weiter und weiter. Wie der Wind, ein Sturm, ein Gewitter. Die Hügel hinauf, wo sich der Blick in alle Richtungen über Bäume und Büsche, Wiesen und Felder, spiegelglatte Seen und in der Ferne zum Hochgebirge weitete.

Sie wünschte, Helene käme mit ihr hierher und würde wieder sie selbst. Sie könnten Beeren ernten und ihre Kleidersäume im Tau tränken. Nachts unter dem Sternenhimmel schlafen. Leben, atmen und aufhören, sich zu verbiegen. Wozu auch? Nichts war es wert, sich selbst zu verlieren: nicht die Wünsche ihrer Mutter, nicht einmal ein Kaiser. Genau das hatte sie letzte Woche zu ihrer Schwester gesagt, als Helene bei einer Lektion über Hofetikette die verschiedenen Gabeln des Silberbestecks falsch zugeordnet hatte. »Wenn er dich nicht um deiner selbst willen liebt, verdient er dich nicht.« Wenn sie immerzu brav und sittsam sein und alle Gabeln korrekt benennen musste … würde sie dann nicht in der Schublade ersticken, in die man sie steckte?

Außerdem hatte Elisabeth die Gerüchte gehört. Jemand hatte ein Attentat auf den Kaiser verübt. Helene verdiente einen mitfühlenden, bescheidenen Mann – keinen stets um seine Vormachtstellung ringenden Herrscher, der seine Familie wer weiß welchen Gefahren aussetzte. Sie verdiente die wahre Liebe – kein politisches Arrangement, um das Image des Kaisers aufzupolieren. Bei diesem Gedanken zog sich Elisabeths Herz zusammen.

Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, straffte die Zügel und trieb Puck weiter an. Sie war ein Wildfang, so unbezähmbar wie Sturm oder Feuer. Niemals würde sie werden, wie ihre Mutter es wollte: eine junge Frau ohne Hoffnung, ohne Träume, ohne Liebe. Sie würde die große Liebe finden, und dann würden sie und er zusammen unbezähmbar sein. Sollte sie nicht die große Liebe finden – wozu sollte sie dann überhaupt heiraten? Sie würde auch allein bestens zurechtkommen.

Heute war Puck der Einzige, der sie verstand. Nur ihr geliebtes Pferd kannte sie wirklich, nur das Pferd wusste, was Freiheit bedeutete. Ein zärtliches Gefühl durchflutete sie, als sie den Gipfel eines Hügels erklommen, und sie drosselte das Tempo. Sie befand sich jetzt auf der Bergkuppe, ein schmaler Grat mit steil abfallenden Felsen zu beiden Seiten. Die Sonne stand als rosa-gelber Ball am Himmel.

Sie schloss die Augen, genoss den Kitzel von Sonne auf ihrer Haut, den Duft des Kiefernwalds und die Kraft des Pferds unter ihr. Sie wünschte, alles im Leben fühlte sich so an – so lebendig, so real.

Doch dann schien die Welt plötzlich zu kippen. Puck buckelte, Elisabeth flog durch die Luft und landete unsanft auf dem Rücken. Sie keuchte, ihre Knie brannten, und sie griff ins Gras, als könnten die zarten Halme ihr Halt geben.

Als sie aufschaute, sah sie Puck über den Grat galoppieren, immer noch in Panik vor dem, was ihn ursprünglich erschreckt hatte.

Dann sah sie es: Eine Schlange wand sich im Gras. Keine giftige, aber das wusste Puck nicht. Er hasste Schlangen ebenso sehr wie sie Herzöge. Beide zogen es vor, die Flucht zu ergreifen, bevor der Gegner zuschlagen konnte.

»Puck!«, rief Elisabeth, aber es klang ziemlich lahm. Das Pferd hatte sich schon zu weit entfernt. Hauptsache, keiner hatte sich verletzt. Sie würde Puck wiederfinden, und alles wäre wieder gut. Besser sogar. Denn jetzt hatte sie eine Ausrede für ihre Abwesenheit beim Besuch des Herzogs.

»Alles wird gut«, sagte sie leise zu sich selbst und folgte dem Pferd den Hügel hinab. Irgendwann sah sie ihn an einem Seeufer stehen, und sein kastanienbraunes Fell leuchtete in der Sonne. Wie schön er war! Wie sehr sie ihn liebte!

Doch dann drehte er sich um – und nichts war gut. Nur widerstrebend und langsamen Schrittes ließ er sich von Elisabeth in den heimischen Stall zurückführen.

Ihr Vater schlief noch, als sie in sein Schlafzimmer kam – allerdings nicht allein. Nicht eine, sondern zwei Frauen lagen neben ihm, und keine davon war Elisabeths Mutter. Das Zimmer war vornehm eingerichtet, wie jedes, bei dessen Möblierung ihre Mutter die Finger im Spiel gehabt hatte, aber Zigarrenqualm hing in der Luft, und überall lagen Weingläser und leere Flaschen herum. Elisabeth ging in das dunkle Zimmer und stieg vorsichtig über die Kleidungsstücke, die die Frauen eigentlich am Leib tragen sollten. Ihr Vater lag zwischen Armen, Beinen und Brüsten – alle nackt. Die Hügel und Kurven, die ihrem Vater Trost spendeten, waren andere als die von Elisabeth bevorzugten.

Es roch nach Sex, schalem Wein und Rauch. Elisabeth rümpfte die Nase, als sie ans Fußende des Betts trat und plötzlich die Brüste einer dritten Frau sah, die sie noch gar nicht bemerkt hatte.

Genau das war der Grund, warum Elisabeth nur und ausschließlich aus Liebe heiraten würde. Sie wollte nicht so leben wie ihre Mutter und so tun, als wisse sie nicht, dass sich ihr Mann mit anderen Frauen unter ihrem eigenen Dach amüsierte. Sie wollte auch nicht wie ihr Vater leben und ständig außerhalb der Ehe nach Geborgenheit suchen. Sie wusste, dass ihr Vater ihre Mutter niemals geliebt hatte.

Ihr ging es dabei nicht um Sex. Sie selbst war noch nie mit einem Mann zusammen gewesen, aber das Draufgängertum ihres Vaters hatte sie einiges gelehrt. Sie war nicht prüde und hatte keine Angst. Schlimm am Sex war für sie nur, dass er die Lieblosigkeit der elterlichen Ehe unterstrich. Zuallererst sollten die beiden doch einander lieben!

Aber heute Morgen hatte Elisabeth keine Zeit zum Grübeln. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihren Vater so vorfand, und sie wusste, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Außerdem hatte Puck sich verletzt, und es galt, keine Zeit zu verlieren.

In die Dunkelheit hinein sagte sie: »Vater? Ich brauche deine Hilfe.«

Etwas benommen schlug er die Augen auf. Wie üblich blickte er forsch und keineswegs verlegen drein. Ganz der Draufgänger.

»Puck hat sich verletzt«, flüsterte Elisabeth.

Ihr Vater sagte nichts, setzte sich nur auf und befreite sich aus den Gliedmaßen, die ihn umschlangen. Elisabeth drehte sich weg. Sie hatte genug gesehen.

Als sich ihr Vater in ihr Blickfeld bewegte, war er angekleidet und hielt in der einen Hand eine Zigarre, in der anderen sein Gewehr – beides hatte er fast immer bei sich. Mit einer Kopfbewegung gab er seiner Tochter zu verstehen, dass sie ihm den Weg zeigen sollte.

»Was ist passiert?«, fragte er, als sie aus dem Haus traten.

»Sein Bein. Wahrscheinlich ist es nur verstaucht.« Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Stimme nicht zitterte, sondern selbstsicher klang.

»Dann schauen wir uns das mal an.« Ihr Vater schritt kräftig voran, aber als ihm plötzlich klar wurde, welcher Tag es war, blieb er stehen und drehte sich grinsend zu seiner mittleren Tochter um. »Ich dachte, du wolltest dich heute Vormittag verloben. Warten der Herzog und deine Mutter nicht auf dich?«

Elisabeth sah ihn verstohlen von der Seite an.

»Ich bin gespannt, wie er sich heute wieder herausgeputzt hat.« Ihr Vater zog eine Grimasse, und sie musste lachen, wenn auch etwas kläglich. Ihr Vater war ein unberechenbarer und unsteter Verbündeter, aber wenigstens erkannte er, wie lächerlich ihre Verehrer waren.

»Du könntest dem ein Ende bereiten«, erwiderte Elisabeth. »Du könntest diese Kerle einfach wegschicken.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du weißt doch, dass deine Mutter sich um diese Angelegenheiten kümmert. Ich habe damit nichts zu tun.« Die gleiche Antwort wie immer. Ihr Vater brachte den Töchtern das Reiten bei und konnte herzlich über ihre Eskapaden lachen. Aber wenn es darauf ankam, unternahm er nichts. Elisabeth wusste selbst nicht, warum sie immer noch auf eine andere Reaktion hoffte.

Im Stall angekommen stand Puck da, ohne das verletzte Bein aufzusetzen. Er atmete schwer, seine Brust zitterte, sein Blick war ganz panisch. Die Wunde war schlimmer, als Elisabeth auf den ersten Blick erkannt hatte. Sie schaute zu ihrem Vater auf. Er kniff die Augen zusammen und senkte die Mundwinkel. Sie bekam Herzklopfen. Es war ihre Schuld. Sie war mit Puck ausgeritten, um sich frei zu fühlen und den Wind im Gesicht zu spüren, und nun …

Der blöde Herzog hatte ihnen beiden den Rest gegeben.

Ihr Vater trat an Puck heran und untersuchte sein Bein. Dabei schimpfte er auf Elisabeth ein.

»Kein Tag ohne Ärger! Du hältst dich an keine Regeln, machst, was du willst. Überhaupt solltest du drinnen sein und dich verloben.«

»Ich will nicht. Da draußen muss es doch noch etwas anderes geben.«

Kopfschüttelnd holte ihr Vater sein Gewehr, das er an die Stallwand gelehnt hatte.

»Gebrochen«, sagte er. »Das heilt nicht wieder.«

»Er wird es überstehen«, sagte Elisabeth verzweifelt.

»Er wird nie wieder richtig laufen können«, hielt ihr Vater dagegen. »Was soll das für ein Leben sein?« Dann reichte er Elisabeth das Gewehr. »Mach es selbst!«

Elisabeth wurde ganz kalt, und ihre Hände begannen zu zittern. Puck war ihr Pferd gewesen, ihr Freund, ihr Trost – über zehn Jahre lang.

»Ich kann nicht«, wisperte sie.

»Du hast den Schaden angerichtet, also bezahlst du den Preis dafür.«

Elisabeth stand wie erstarrt da. Ihr blieb die Luft weg, und sie brachte kein Wort mehr heraus. Die Zeit verging langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Das Vogelgezwitscher verstummte, der Wind legte sich – die ganze Natur schien für ihren geliebten Puck eine Schweigeminute einzulegen.

Ein letztes Mal drückte Elisabeth die Hände an seinen weichen Kopf und schmiegte ihre Wange an seine Nüstern. Sie hoffte, er könne ihre Gedanken lesen. Es tut mir leid, Puck. Du wirst mir fehlen.

»Weg da, Elisabeth«, sagte ihr Vater hinter ihr so entschlossen, dass sie gehorchte. Dann fiel der Schuss.

Ihr Vater wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen und sagte zu ihr: »Der Tod trennt nicht, das Leben vereint nicht. Es ist das Leben, was uns trennt.« Und wie um Elisabeths Kummer noch zu vergrößern, fügte er hinzu: »Das ist von deinem Heinrich Heine.«

Elisabeth war zu aufgewühlt, um ihm zuzuhören. Sie sah nur den toten Puck, beugte sich über ihn, streichelte ihn und weinte.

Glücklicherweise war die Habsburger Uniform steif wie ein Panzer, denn innerlich zitterte Franz wie ein Blatt am Baum. Er konnte nicht aufhören und hasste es. Seine einzige Hoffnung auf ein würdevolles Auftreten war, dass niemand merkte, wie ihm zumute war. Sein Hemdkragen scheuerte an der Narbe an seinem Hals – eine ständige Erinnerung an das Geschehene, aber wenigstens war sie bedeckt. Er würde niemanden sehen lassen, was man ihm angetan hatte, weder die Narbe noch sein Zittern. Und dass ihm Hinrichtungen ohnehin zuwider waren, durfte auch niemand wissen.

Er stand in seinem Schlafgemach, umschwirrt von einer ganzen Armee pomadiger, weiß behandschuhter Diener, die eine komplette Viertelstunde damit verbracht hatten, ihn in seine repräsentativste Uniformjacke zu zwängen. Aus dem Augenwinkel sah er seine elegant-königliche Erscheinung in dem goldgerahmten Spiegel neben ihm. Aber das ganze Zimmer fühlte sich heute so steif an wie seine Uniform: die triste Tapete, die schweren braunen Vorhänge. Es war erstaunlich, wie ein Zimmer die eigene Stimmung widerspiegeln konnte.

Der einzige Anwesende, der sich noch unwohler fühlte als Franz, war der neue Diener, der neben dem Spiegel strammstand. War der Mann überhaupt am Leben? Er wirkte so leblos wie der ausgestopfte Bär in der Zimmerecke, der am Morgen geliefert worden war – ein Geschenk des russischen Zaren und damit ein Hinweis, dass schon wieder jemand etwas von ihm wollte: militärische Unterstützung.

»Theo, tu mir einen Gefallen«, brach Franz das Schweigen.

»Sehr wohl, Majestät.«

»Finde heraus, ob der Neue noch atmet.« Obwohl der Befehl todernst vorgetragen war, grinste Theo, und Franz fühlte sich gleich besser.

Er holte tief Luft und rückte seinen Kragen zurecht. Der neue Diener ähnelte Max ein wenig, um die Augen und am Kinn. Franz fragte sich, wo sein Bruder steckte und ob ihre Mutter von ihm verlangt hatte, an der Hinrichtung teilzunehmen. Franz musste natürlich dabei sein, aber Max schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Was für eine Überraschung! Franz wäre mit so einem Verhalten niemals durchgekommen, aber Max war frei wie ein Vogel. Freier noch. Vögel mussten Nester bauen und ihre Jungen füttern. Max’ Nest war schon bei seiner Geburt fertig gewesen, und obwohl Franz vermutete, dass es viele schreiende Kinder gab, die seinem Bruder verdächtig ähnelten, würde Max niemals die Fütterung übernehmen.

Franz hörte seine Mutter im Korridor. Ihr gesetzter Gang war unverwechselbar. Wenn er sich als Junge vor seinen Pflichten drückte, hatte er das sehr nützlich gefunden. Heutzutage schätzte er den Klang ihrer Schritte als Vorwarnung und nahm Haltung an.

Gräfin Esterházy, die Erste Hofdame, ratterte die Tagesordnung mit ihrer klaren, kühlen Stimme herunter. »Eine kurze Audienz mit der böhmischen Delegation nach dem Frühstück, danach Anprobe für die Wintergarderobe. Zuerst aber die Hinrichtung.«

Im nächsten Moment waren keine Schritte mehr zu hören, und Franz dachte überrascht, dass es seiner Mutter gar nicht ähnlich sah, vor einer Hinrichtung zurückzuschrecken. Empfand sie in diesem Fall etwa ähnlich wie er?

Dann gingen die Frauen weiter, und Franz stellte fest, dass sich der Widerwille seiner Mutter gegen etwas anderes richtete. »Schon wieder eine Anprobe? Verschieben Sie den Termin!«

So war sie, seine Mutter, Erzherzogin Sophie von Habsburg: pragmatisch. Manche bezeichneten sie als den einzigen Mann im Palast. Das richtete sich gegen Franz, aber es machte ihm nichts aus, obwohl er begonnen hatte, ihre politischen Ziele infrage zu stellen. Tatsächlich war sie eine hervorragende Strategin und galt vielen als der klügste Kopf in ganz Wien. Ihre Fähigkeit, immer das Richtige zu tun, hatte nahezu etwas Hellseherisches. Auch Gefahren erkannte sie, bevor dann tatsächlich etwas passierte. So hatte sie beispielsweise am Tag des Attentats zu Franz gesagt, er solle lieber nicht aus dem Haus gehen, weil es Unruhen gebe und er in Gefahr sei.

Was dann geschah, war seine Schuld, weil er nicht auf sie gehört hatte. Nicht einmal einen Bewacher hatte er mitgenommen. Wenn seine Weigerung, auf sie zu hören, zu abfälligen Bemerkungen über ihn führte, musste er es also hinnehmen. Wenigstens das schuldete er ihr.

Als die Tür aufging und seine Mutter hereinkam, drehte er sich zu ihr um. Eine imposante Erscheinung. Wie immer verströmte sie, besonders in dem zweiteiligen Kleid, das sie heute trug, eine Aura von Macht, die sich im ganzen Raum ausbreitete. Über einem schwarzen Unterkleid mit hohem Kragen gab ein senffarbenes Oberkleid, überzogen von schwarzen Spitzen, ihrem Körper eindrucksvolle Konturen: breit geschnittene und gepolsterte Schultern, ein langer, spitz zulaufender Ausschnitt, der zugleich einer Kette mit großem Kreuz zur größtmöglichen Wirkung verhalf, enge Taille und ein weit ausgestellter Rock. Kurz: ein Kleid, in dem Sophie nichts zu sagen brauchte, um sich Respekt zu verschaffen.

»Mutter.«

Sie deutete einen Hofknicks an und lächelte. »Eure Majestät.«

Er ging auf sie zu, küsste ihre Hand und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass seine eigene nicht mehr zitterte.

»Ich höre, du warst bereits draußen, mein Lieber. Konntest du nicht schlafen?«

Franz schüttelte den Kopf. Seit dem Attentat hatte er keine Nacht durchgeschlafen. Er fragte sich, ob er es nach der Hinrichtung wieder können würde. Es hatte aber keinen Sinn, seiner Mutter das alles zu erzählen; sie hätte es ohnehin nicht verstanden.

»Perfekt, Franz«, sagte Sophie und meinte seine Kleidung. Dann wandte sie sich zum Gehen, und Franz folgte ihr in den weitläufigen Korridor, der ihre Schritte von den hohen Decken widerhallen ließ.

An manchen Tagen blieb seine Mutter hier immer wieder stehen, um die Ahnenporträts und die kunstvollen Details der Säulen zu bewundern. Heute tat sie das jedoch nicht. Heute ging es um Politik. Sie sah ihren Sohn von der Seite an und sagte ernst: »Es wird kein angenehmer Vormittag, aber du wirst dich daran gewöhnen müssen.«

Franz erwiderte ihren Blick. »Ich glaube, es gibt Dinge, an die man sich nie gewöhnt.«

Eine Stunde darauf standen Franz und seine Mutter auf einem Platz, auf dem ein Podest mit fünf Galgen aufgebaut war. Fünf verdreckte Männer mit versteinerten Gesichtern standen auf dem grob zusammengezimmerten Podest. Über ihnen hingen die Galgenschlingen. Franz starrte auf ihre Hände mit den schwarzen und pflaumenblauen Fingernägeln; einige waren ausgerissen. Er fragte sich, ob sie immer schon so ausgesehen hatten oder von seinen Wachen so zugerichtet worden waren. Bei diesem Gedanken drehte sich ihm der Magen um. Leid mit Leid zu vergelten, schaffte doch lediglich noch mehr Leid.

»Schau sie an, Franz! Sie müssen dein Gesicht sehen«, unterbrach seine Mutter seine Gedanken. »Ein Herrscher muss Stärke zeigen.«

Franz bemühte sich um Gelassenheit, als er den Blick von den Händen der Männer losriss und ihnen in die Gesichter schaute. Schweißtropfen bildeten sich unter seinem Kragen und seiner Uniformkappe und rannen ihm erst heiß, dann erschreckend kalt in den Nacken und den Rücken hinunter. Er atmete durch die Nase ein und durch den Mund aus, und dennoch ging sein Atem stoßweise, und sein Herz klopfte schneller, als gut war. Seine Oberlippe kribbelte schon wieder, und auch wenn kein anderer es merkte, wusste er, dass ihm gleich wieder schwindelig werden würde. Das passierte manchmal, wenn ihn die Erinnerung an jenen Tag überkam. Erst wurde seine Haut taub, und sein Blickfeld verengte sich, dann wurde alles schwarz. Bisher war es immer nur passiert, wenn er allein war. Lieber Gott, dachte er, lass es nicht jetzt geschehen!

Die Menge auf dem Platz johlte und wurde immer lauter. Franz’ Zustand verschlimmerte sich, und es fiel ihm immer schwerer, seinen Atem zu kontrollieren. Seine Mutter, die neben ihm stand, nickte dem Polizeikommandeur zu.

»Die Schlingen!«, schrie er, und Franz zuckte zusammen, als Beamte den Verurteilten die Schlingen um den Hals legten.

Franz fasste sich ans Revers und zog einen gezackten Orden heraus, schloss die Hand zur Faust und drückte sich die Zacken in die Handfläche. Konzentriere dich, Franz! Fühle die Stiche in der Hand! Du bist hier! Nicht in der Vergangenheit, als es passierte! Wenn er sich das oft genug sagte, würde sein Körper eines Tages vielleicht auf ihn hören, nicht mehr taub werden, ihn nicht mehr in die Vergangenheit zerren.

»Ihr seid zum Tode verurteilt wegen Majestätsbeleidigung, Aufrührertums, Diebstahls und Hochverrats«, verkündete der Polizeikommandeur. »Nur seine Majestät, der Kaiser, ist befugt, zum Tode Verurteilte zu begnadigen.«

Franz umschloss den Orden fester, spannte die Faust an, und die Zacken bohrten sich in seine Haut. Fest schaute er dem Revolutionär in die Augen, der in der Mitte des Podests stand. Er gehörte zum Kreis der Revoltierenden, die ihn zu töten versucht hatten.

Keiner der Männer vor ihm war derjenige, der das Messer gegen ihn erhoben hatte, aber seine Mutter war davon überzeugt, dass alle eine Gefahr darstellten. Sie behauptete, alle zusammen hätten die Tat geplant und sanktioniert. Sie seien die Speerspitze der Volksunruhen und träfen Habsburg mitten ins Herz. Franz dagegen fragte sich, ob es richtig war, alle über einen Kamm zu scheren.

Franz wandte den Blick nicht von ihnen ab.

»Wollen die Verurteilten noch irgendetwas sagen?«, fragte der Polizeikommandeur, und die Menge wurde ganz still. Franz hörte seinen Herzschlag in seinen Ohren dröhnen.

»Ihr thront in euren Palästen, während wir im Dreck hausen.« Es war der Mann in der Mitte, der das Wort ergriff. »Wir haben nichts zu essen. Es fehlt uns am Nötigsten. Wir können uns nicht das Geringste leisten. Aber ihr ignoriert unser Elend. Ihr ignoriert euer eigenes Volk.«

Franz zwang sich, keine Miene zu verziehen und still stehen zu bleiben.

»Eure Majestät«, fuhr der Mann fort und verbeugte sich leicht, was gar nicht so einfach war, da sein Kopf noch in der Schlinge steckte. »Ihr könnt uns töten, aber das ändert gar nichts. Das Volk wird sich trotzdem gegen Euch erheben.«

In der Menge wurde Zustimmung laut. Franz konzentrierte sich aufs Atmen, den Schmerz in seiner Hand, das Blut, das sich an den Stellen sammelte, wo die Zacken des Ordens besonders tief in seine Haut eindrangen.

Immer noch war er in Gefahr. Das war die Botschaft des Mannes. Man würde ihn wieder mit einem Messer bedrohen, mit einem Revolver, einem Degen, Hunderten Fäusten wütender Männer. Ihre Stimmen schwollen an, bis es wie Meeresrauschen toste. Seine Mutter warf dem Polizeikommandeur einen irritierten Blick zu, und Franz wusste, dass sie von der Reaktion des Volks genauso überrascht war wie er. Die Leute sollten doch eigentlich auf ihrer Seite sein, doch stattdessen jubelten sie den zum Tode verurteilten Männern zu.

Der Mann fuhr fort: »Ich sterbe fürs Volk, das …«

Die Menge applaudierte lautstark.

Doch bevor der Mann noch ein Wort sagen konnte, wurde ein Hebel umgelegt, und ein Schacht im Podest öffnete sich krachend. Franz versuchte, ganz ruhig zu bleiben, aber das Krachen hallte in seinen Knochen wider und fuhr ihm bis in die Zehen- und Fingerspitzen. Die anderen Schächte wurden geöffnet, und die anderen Revolutionäre folgten ihrem Anführer in den Tod.

Die Menge wurde still. Die Beamten stiegen vom Podest.

Es war vorbei.

Einatmen, ausatmen.

Mit diesen Worten beschwor Elisabeth sich wieder und wieder, als sie mit pochendem Herzen vor dem Salon stand. Puck war tot. Ihr Nachthemd hatte Gras- und Blutflecke abbekommen, als sie ihn gehalten hatte. Ihr Gesicht spannte vom Salz ihrer getrockneten Tränen. Hinter der Tür befand sich ein lächerlicher Kerl, der sie heiraten wollte. Sie hatte den Tag gut gelaunt begonnen, trotz allem, aber jetzt fühlte sie sich ganz leer.

Sie stand an einer Stelle im Haus, die sie besonders gern mochte – hohe Decken und eine steinerne Treppe, die in sanftem Schwung zum zweiten Stockwerk führte. Die Eingangshalle war von schlichter Eleganz, und es war der einzige Ort im ganzen Haus, dem ihre Mutter mit ihren schweren Stoffen und all dem Blattgold nicht ihren Stempel aufgedrückt hatte. Das Treppengeländer trug reiche Schnitzereien, die Weinranken und Rosen darstellten, und hier und da waren Astknoten im Holz zu sehen, die dort eigentlich nicht hingehörten. Es war, als sei die Natur zur Tür hereingeweht und treibe hier drinnen ihre Spielchen. Normalerweise fühlte sich Elisabeth in der Eingangshalle geborgen, aber heute empfand sie nichts – oder nur, dass sie sich an der Schwelle zu einem Leben befand, das sie nicht führen wollte.

Hinter der Tür hörte sie ihre Mutter sagen: »Sisi wird jeden Moment hier sein. Ihre Morgengebete sind ihr wichtig.«

Hätte Elisabeth genügend Energie gehabt, hätte sie die Augen verdreht.

»Im vergangenen Sommer ist sie aufgeblüht und viel reifer geworden, bereit für die Ehe …«

Ihre Mutter redete und redete, wie immer. Elisabeth hasste es, auf etwas reduziert zu werden, das den Vorstellungen ihrer Mutter von einem guten Mädchen entsprach, und dass niemand wissen wollte, wer sie wirklich war. Sie fragte sich, womit man ihre Mutter bestechen musste, bevor sie von Elisabeths Witz, ihrem Freiheitsdrang und ihrer Spontaneität spräche. Aber bei so viel Ehrlichkeit würde ihr Magengeschwür wahrscheinlich platzen.

»Meine Tochter ist mit einem wachen Verstand gesegnet. Aber natürlich nicht zu wach.«

Elisabeth schnaubte verächtlich.

»Vor allem aber ist sie bescheiden und wird sich Ihren Wünschen unterordnen.«

Elisabeth trat von der Tür zurück. Noch mehr Lügen brauchte sie sich nicht anzuhören.

»Sisi!« Helene kam am Fuße der Treppe auf sie zu. »Ich glaube, der Herzog reist wieder ab, wenn du dich nicht bald sehen lässt.«

Aufmerksam betrachtete Elisabeth die große Schwester: die blonden Haare perfekt hochgesteckt, der Teint rosa, das hellgelbe Kleid raffiniert geschnitten. Vor wenigen Monaten noch hatte Helene sie in einer Truhe versteckt, als ein heiratswilliger Graf zu Besuch gekommen war. Aber inzwischen hatte sie die Seiten gewechselt und vertrat den Standpunkt ihrer Mutter, bei dem nur Pflicht und Anstand zählten. Für Elisabeth war es, als hätte sie eine Schwester verloren, und das schmerzte sie sehr.

»Das ist mir egal, Néné«, erwiderte Elisabeth resigniert.

Helene schüttelte den Kopf. »Aber es ist doch schon alles arrangiert. Er ist hier, um sich offiziell mit dir zu verloben.«

»Nimm du ihn doch«, sagte Elisabeth patzig. Sie hatte keine Mutter, die sie liebte, wie sie war, auch keine Schwester, die sie unterstützte, und keinen Vater, der einschritt. Sie hatte nicht einmal mehr ein Pferd, mit dem sie alledem entfliehen konnte.

Bevor sie an Helene vorbei und die Treppe hinaufgehen konnte, ging die Salontür auf, und der Herzog und ihre Mutter kamen in die Eingangshalle.

Am Fuße der Treppe drehte sich Elisabeth zu ihnen um und betrachtete den Herzog. Heute trug er zum gelben Federschmuck seines Hutes gelbe Strümpfe, eine gelbe Weste und einen dunkelroten Gehrock. Er sah noch lächerlicher aus als das letzte Mal.

Elisabeths Mutter japste erschrocken, als sie Elisabeth sah, aber die machte einen Hofknicks und sagte: »Herzog.«

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