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Die Kirschen der Madame Richard

Als Buch hier erhältlich:

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185 Einwohner zählt das Dorf Montbolo in den französischen Pyrenäen. Als die Hamburgerin Miriam auf der Durchreise ein verwunschenes altes Haus inmitten eines verwilderten Kirschhains entdeckt, steht der Entschluss für sie fest: Sie bricht alle Zelte ab und wird Montbolos Einwohnerin Nummer 186. Miriam nimmt sich vor, ihr Haus im Alleingang zu renovieren und von nun an von der Kirschernte zu leben. Doch sie hat nicht mit der skurrilen Dorfgemeinschaft und den Eigenarten uralter Kirschsorten gerechnet – und schon gar nicht mit dem unverschämt charmanten Nachbarn Philippe, der ihr Herz höherschlagen lässt.

  • »Dieser Roman bietet nicht nur ein liebenswürdiges, sondern auch leckeres Lektüreerlebnis.« NDR Kultur
  • »Ein herrlicher Sommerschmöker.« Neue Presse
  • »Stimmungsvoll schildert die Autorin aus Glückstadt das Leben in dem kleinen Dorf Montbolo (…). Man möchte am liebsten sofort hinreisen.« LandGang

  • Erscheinungstag: 02.05.2019
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750164
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

ALLEINSTEHENDE FRAU VON EULE ANGEFALLEN

Miriam klemmte sich die Flasche Rotwein unter den Arm und suchte nach dem Korkenzieher, der irgendwo in dem Durcheinander auf dem großen Tisch liegen musste. Dabei fiel ihr Blick auf das Handy, und sie griff automatisch danach.

»Was für eine dumme Angewohnheit«, schimpfte sie. Sie erwartete keinen Anruf, abgesehen davon war ein Handy in dieser abgelegenen Gegend Südfrankreichs mehr als unpassend. Zumal an einem lauen Frühlingsabend unter einem blanken Sternenhimmel, der schon fast kitschig war. Sie hatte bisher nicht einmal ausprobiert, ob sie hier überhaupt Empfang hatte. Strom gab es jedenfalls nicht.

Sie wog ihr Telefon in der Hand. Oder sollte sie doch versuchen, jemanden anzurufen? Um zu erzählen, wie schön es hier war und was sie heute getan hatte? Dass sie in einem Anfall von spontaner Verrücktheit dieses kleine Bauernhaus gekauft hatte, in dessen Küche sie gerade stand? Nein, entschied sie dann. Ihr Herz war zwar so voller Glück, dass es für zwei oder mehr Personen gereicht hätte, aber sie wollte den ersten Abend ihres neuen Lebens ganz für sich allein haben. Außerdem war sie sich nicht sicher, wie ihre Freundin Frederike oder ihrer Tochter Merle in Hamburg reagieren würden, wenn sie ihnen erzählte, was sie getan hatte. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass sie ihren spontanen Entschluss für einen Anfall von Wahnsinn halten würden. Sie wollte sich aber nicht die Laune verderben lassen.

Sie legte das Telefon wieder auf den Tisch und ging nach draußen. Neben dem Eingang setzte sie sich auf die von der Sonne ausgeblichene Bank. Vor ihr stand ein altes Weinfass, das sie hinter dem Haus gefunden und hierhergerollt hatte. Es diente ihr als Tisch. Sie stellte das Glas und die Flasche zu dem Teller mit Käse und Brot und seufzte tief auf vor Behagen. Schon vor zwei Wochen hatte sie diesen verwunschenen Platz entdeckt und sich die Freiheit genommen, sich jeden Tag hierhinzusetzen, denn das Haus stand offensichtlich leer. Diese Bank zog sie an und verzauberte sie. Sie war hierhergekommen, um zu träumen. Dabei hatte sie selbst nicht fassen können, wie sentimental sie wurde. Es war doch schließlich nur ein altes Haus. »Nein, genau das ist es eben nicht!«, sagte sie energisch und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Es war viel mehr. Es war alles, wovon Miriam träumte.

Und seit heute Morgen war dies ihr Haus, es waren ihre Bank und ihr Weinfass! Sie konnte immer noch nicht so richtig begreifen, wie das passiert war, und kniff sich in den Oberarm, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

»Ich habe ja gesehen, dass Sie die Überweisung für die Anzahlung ausgefüllt haben. Mit der Unterzeichnung des Vorvertrags gehört die Immobilie nach französischem Gesetz damit Ihnen. Ich gebe Ihnen schon mal den Schlüssel. Die Eigentümerin ist einverstanden«, hatte Oscar Poulenc, der Makler, an diesem Vormittag zu ihr gesagt. Sie standen nach der Besichtigung vor dem Haus. Er schloss ab und überreichte ihr einen schweren Bartschlüssel. »Dann können Sie schon mal die Umbauten planen. Ich könnte Ihnen einen guten Architekten empfehlen. Ich nehme an, Sie wollen einen Pool? Die Sommer werden hier ganz schön heiß, und bis zum Meer sind es nun mal vierzig Kilometer.«

Miriam hatte den Rest gar nicht mehr gehört, nur das mit dem Schlüssel. »Wunderbar, dann ziehe ich noch heute ein.«

Poulenc hatte sie entsetzt angesehen. »Das Haus hat keinen Strom!«

»Es hat auch keine Dusche«, hatte Miriam sanft erwidert. »Aber es ist ja schon ziemlich warm, und im Hof gibt es doch den Brunnen. Erinnern Sie sich? Wir haben gerade nachgesehen, ob die Pumpe funktioniert.«

»Ist ja Ihre Sache.« Er hatte mitleidig mit den Schultern gezuckt. »Ich meine es nur gut mit Ihnen.«

Miriam lehnte sich an die rauen Steine ihres Hauses und spürte die Wärme, die sie über den Tag gespeichert hatten, in ihrem Rücken. Unglaublich, wie warm es hier schon im März werden konnte. In Gedanken ging sie durch ihr Haus. Es war klein, ein altes Bauernhaus aus hellen Natursteinen, ein mas, wie man hier sagte, mit einem flachen Dach aus Schieferplatten. Im Erdgeschoss führte die Tür direkt in die große Küche, die die gesamte linke Hälfte des Hauses einnahm. Hier stand ein alter massiver Tisch. Eine zweite Tür führte von der Küche auf den schmalen Flur, von dem zwei Zimmer abgingen. Am Ende lag ein Bad mit einer frei stehenden Wanne. Miriam hatte einen Luftsprung gemacht. Eine Badewanne! Als sie gesehen hatte, wie dreckverkrustet sie war, war sie wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Und dann war ihr eingefallen, dass die Wasserversorgung abgestellt war.

»Hier hat ja schon seit Jahren keiner mehr gewohnt. Vielleicht sind die Leitungen auch kaputt«, hatte Monsieur Poulenc gesagt, der das Haus mit ihr besichtigt hatte.

Vor Dreck hatte Miriam noch nie Angst gehabt, und um die Wasserversorgung würde sie sich kümmern. Sie beschloss, die Wanne zu lieben. Neben dem Badezimmer führte eine ziemlich wacklige Treppe auf den Dachboden. Den würde sie nicht brauchen und ihn erst mal so lassen, wie er war. Die Räume unten reichten für sie allein völlig aus. In einem der Zimmer stand noch ein altes Bettgestell. Als sie das gesehen hatte, war in ihr der Entschluss gereift, sofort einzuziehen.

»Sie nehmen mich doch mit zurück ins Dorf?«, hatte sie den Makler gefragt, als sie beide nach den Formalitäten vor dem Haus standen. »Ich würde gern meine Sachen aus dem Hotel abholen.« Der Ort lag vielleicht zweihundert Meter den Berg hinunter. Auf der Straße erreichte man ihn über drei scharfe Kurven auf der schmalen Straße.

»Aber selbstverständlich. Ich muss sowieso weiter nach Ceret.«

Ceret hieß der nächste größere Ort an der Straße, die zur Autobahn und ans Meer führte.

»Oh, können Sie mich stattdessen auch nach Ceret fahren? Ich muss ein paar Dinge besorgen, wenn ich hier wohnen will.«

Oscar Poulenc hatte zweifelnd den Kopf geschüttelt, aber dann war er mit ihr in den großen Carrefour-Supermarkt gefahren. Miriam hatte sich eine Matratze, eine Bettdecke und ein Kopfkissen gekauft. Und ein paar Tassen und Teller, einen Campingkocher plus Gasflasche, einen Topf und eine Pfanne sowie ein paar andere Dinge und die allernötigsten Lebensmittel. Monsieur Poulenc hatte ihr geholfen, alles zusammenzusuchen und in seinem Renault zu verstauen und hier wieder auszupacken. Vorher waren sie sogar noch in dem Hotel vorbeigefahren, in dem Miriam bisher gewohnt hatte. Dort hatte sie ihre Sachen in den Koffer geworfen und ausgecheckt. Miriam war Oscar sehr dankbar für seine Hilfe. Wahrscheinlich war er ihr ebenso dankbar, weil sie von ihm ein Haus gekauft hatte. So gut lief sein Geschäft vermutlich nicht, denn er betrieb im Hauptberuf die kleine Autowerkstatt von Montbolo. Aber er war nett und gutmütig, und er war beim Tragen ganz schön ins Schwitzen gekommen.

Dann war er weggefahren, aber nicht, ohne sie vorher noch einmal eindringlich zu befragen, ob sie wirklich ganz allein in diesem Haus, ohne Strom und so …? Miriam wollte. Sie wollte in diesem Augenblick nichts mehr als vor ihrem neuen kleinen Haus sitzen und ihr altes Leben in Hamburg hinter sich lassen. Dass sie jetzt hier wohnte, hatte zudem den Vorteil, dass Monsieur Frochot, der Besitzer des einzigen Hotels von Montbolo, in dem sie bisher gewohnt hatte, sie in Zukunft mit seinen Vorschlägen verschonen würde, ihr das Frühstück ans Bett zu servieren. Meine Güte, er war zwar nett, aber auch mindestens zwanzig Jahre älter als sie! Die winzige Pension hatte nur drei Zimmer, außer ihr gab es keine anderen Gäste. Zum Essen war sie bisher die wenigen Schritte in das Café am Marktplatz hinübergegangen.

Sie nahm einen Schluck Wein. Auch den hatte sie bei Carrefour gekauft, ebenso wie den Korkenzieher. Oscar hatte sie darauf hingewiesen, dass sie den bestimmt brauchen würde.

»Dafür lassen Sie lieber die Pfanne stehen«, hatte er gesagt.

Der Wein schimmerte fast violett im Glas und schmeckte unglaublich gut nach Stachelbeeren, weich umspielte er ihren Gaumen. Miriam schnitt noch ein Stück von dem leicht krümeligen Matoq Bleu ab, einem Blauschimmelkäse aus den Pyrenäen.

»Nehmen Sie den«, hatte Oscar gemeint, als sie ratlos vor dem Riesenangebot in der Käsetheke gestanden hatte. Der Spruch von de Gaulle war ihr in den Sinn gekommen: Wie soll man ein Land regieren, das zweihundertvierundsechzig Käsesorten hat? Seitdem de Gaulle das gesagt hatte, waren bestimmt noch einmal so viele Sorten dazugekommen, und die lagen gerade höchst appetitlich vor ihr in der Käsetheke. »Nehmen Sie unbedingt den, der kommt hier aus der Gegend«, hatte Oscar noch einmal gesagt. »Ein Ziegenkäse, ein Gedicht.«

Er hatte recht. Sie mochte diesen Ziegenkäse, der kräftig und cremig war, und beschloss, Oscars Ratschlag in kulinarischen Dingen in Zukunft blind zu vertrauen. Sie strich den Käse auf das knusprige Baguette, das sie auf dem Heimweg in der Boulangerie von Montbolo gekauft hatten, und ließ sich das Häppchen genießerisch auf der Zunge zergehen.

Sie nahm noch einen Schluck Wein. All diese französischen Köstlichkeiten könnte sie von heute an jeden Tag haben. Jedenfalls solange Carrefour nicht zumachte oder Wein und Käse aus dem Sortiment nehmen würde. Miriam lächelte bei dem Gedanken.

Sie leckte den Rest Käse von der Messerspitze und seufzte behaglich. Meine Güte, wenn sie daran dachte, wie sie hierhergekommen war! Auf diese Terrasse in Südfrankreich unter einem Himmel, der von Sternen übersät war. Wenn man ihr das vor ein paar Wochen prophezeit hätte, hätte sie sich wahrscheinlich halb totgelacht …

AUS DEM GARTENTAGEBUCH VON GASTON BONNEFOI

»Der Garten ist das, was vom Paradies übrig geblieben ist.« Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber es scheint mir richtig zu sein. Wenn ich über dieses kahle Stück Land schaue, das ich gekauft habe, dann stelle ich mir vor, wie es hier in ein paar Jahren aussehen wird, wenn meine Arbeit Früchte trägt.

Ich sehe mich abends, nach getaner Arbeit, durch diesen Garten gehen und mich an seinem Reichtum freuen. An den Früchten, die schwer an den Bäumen hängen, an den Beeren und den Dingen, die in der Erde darauf warten, ausgegraben zu werden. Ich werde die Düfte wahrnehmen, und die bunten Farben des Blumengartens werden mich zum Lächeln bringen. Im Lavendel werden die Bienen summen und die Schmetterlinge flattern.

Meine Kinder sollen in diesem Garten spielen und herumtollen.

Ich habe als Erstes drei Walnussbäume hinter dem Haus gepflanzt. Denn wie heißt es so schön? »Eine Walnuss in der Tasche schützt vor dem Teufel und vor dem bösen Blick.«

SOMMER IN HAMBURG:
NUR NOCH 155 TAGE REGEN, DANN SCHNEIT ES WIEDER!

Sechs Wochen zuvor, an einem verregneten Tag im Februar, war Miriam völlig durchnässt in ihrer Wohnung im Hamburger Stadtteil Barmbek angekommen. Als sie die Tasche mit den Einkäufen und den riesigen Strauß Tulpen auf dem Küchentisch ablegte, hinterließ sie eine Wasserspur im Flur. Sie zog den nassen Mantel aus und zerrte die feuchte Jeans von den Oberschenkeln. Mit einem Stöhnen der Erleichterung streifte sie ihre warme Jogginghose über und rubbelte sich im Bad die Haare einigermaßen trocken. Dann ging sie wieder in die Küche und setzte Wasser für Tee auf, denn ihr war immer noch kalt nach dem Sauwetter draußen. Während das Wasser kochte, packte sie die gekauften Lebensmittel aus. Das Brot, das zuoberst in der Einkaufstasche lag, war durchgeweicht, als wollte sie damit einen Hackbraten zubereiten. Sie fluchte leise, schnitt den unbrauchbaren Teil ab und beförderte ihn mit Schwung in den Mülleimer. Der Käse war gut verpackt und hatte nichts abbekommen, aber die Petersilie war im wahrsten Sinne des Wortes verhagelt. Zum Glück hatten die Tulpen das Wetter erstaunlich gut überstanden. Miriam versenkte ihre Nase in den armdicken Strauß. Es waren mindestens fünfzig, in allen Farben, und sie hatte sie so fest gebunden und in Papier eingeschlagen, dass der Regen ihnen nicht viel anhaben konnte. Das war der Vorteil, wenn man in der Verwaltung des Blumengroßmarkts arbeitete. Es gab immer frische Blumen in Hülle und Fülle. Damit kam Miriam ihrem Traum, mit Blumen und Pflanzen zu arbeiten, aber auch schon so nahe, wie es in einer Großstadt möglich war. Richtig Spaß machte ihr die Arbeit schon lange nicht mehr. Die üppigen Bunde nicht verkaufter Blumen, die die Händler ihr manchmal in die Hand drückten, waren da nur ein Trostpflaster. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie auch keine Lust mehr auf das Leben in Hamburg. Die Stadt strengte sie zunehmend an, auch wenn kein typisches Hamburger Februarwetter war wie heute. Sie mochte Blumen und Bäume, einen weiten Himmel und Platz zum Träumen.

Das Wasser kochte, und sie goss sich einen Becher Sylter Kräuter auf. Mit der dampfenden Tasse setzte sie sich an den Küchentisch und sah den Stapel Post durch, den sie beim Hereinkommen aus dem Briefkasten genommen hatte. Werbung, der neue IKEA-Katalog, eine Einladung zur Eigentümerversammlung. Und eine Postkarte von Merle. Vorne drauf stand ein Spruch: Vorsicht, ich habe eine verrückte Mama, und ich habe keine Hemmung, sie einzusetzen!

Miriam lächelte in sich hinein. Das war Merles Art, ihr zu sagen, dass sie sie liebte, auch wenn sie oft mit den Augen rollte. Sie drehte die Karte herum, um zu lesen, was ihre Tochter ihr geschrieben hatte.

Hallo Mama, nur ganz schnelle liebe Grüße. Ich fahre übers Wochenende mit ein paar Leuten zum Skifahren.

Merle war fünfundzwanzig und studierte in Hannover Jura. Nach dem Abitur war sie eine Zeit lang in der Welt herumgereist, und es war für Miriam selbstverständlich gewesen, ihr ein Zuhause bereitzuhalten, zu dem sie zurückkehren konnte. Allerdings war eine andere Merle aus Neuseeland zurückgekommen. Sie war erwachsen geworden und hatte ihr auf ziemlich schmerzhafte Weise deutlich gemacht, dass sie ihre Mutter nicht mehr brauchte. Miriam platzte manchmal fast vor Stolz, wenn sie sah, wie selbstbewusst Merle durchs Leben ging, wie viel Vertrauen sie in sich und ihre Zukunft hatte. Dass sie aber so unabhängig geworden war, tat schon bisweilen weh.

Seitdem saß sie hier allein in ihrer Wohnung, die viel zu groß war. Manchmal war es ganz schön einsam um sie. Zu Weihnachten war Merle gekommen und mit ihr ihre Freundinnen, die es inzwischen in alle Himmelsrichtungen verstreut hatte. Sie nutzten Miriams Wohnung als Treffpunkt, ihre Küche war ständig belegt, der Kühlschrank immer leer, und die Wäscheberge vor der Waschmaschine wurden immer höher. Als sie dann über Silvester alle in die Berge gefahren waren, war Miriam einerseits erleichtert gewesen, dass der Trubel vorüber war, aber sie war auch wehmütig geworden.

In Gedanken schickte Miriam einen Gruß an ihre Tochter in Hannover, dann nahm sie den nächsten Brief vom Stapel. Als Absender war ein Notariat in Nürnberg angegeben. Das war merkwürdig. Miriam drehte den Brief in den Händen und glaubte an eine Falschsendung. Was hatte sie mit einem Notar in Süddeutschland zu tun? Aber da stand ihre Adresse. Sie öffnete den Umschlag und las. Dann las sie noch einmal, weil sie nicht glauben wollte, was dort stand, und dann begriff sie: Ein Onkel, ein Halbbruder ihres Vaters, war in einem Pflegeheim in Süddeutschland gestorben. Er hatte sie als Erbin seines kleinen Vermögens eingesetzt. Neunundsechzigtausend Euro!

Miriam starrte den Brief lange an. So was passierte doch nur anderen Leuten, aber nicht ihr! Sie suchte in ihren Erinnerungen nach Bildern dieses verstorbenen Onkels. Sie hatte ihn nur einmal gesehen, auf der Beerdigung ihres Vaters vor zehn Jahren. Er hatte im Rollstuhl gesessen, und sie hatte nur einige Worte mit ihm gewechselt. Wie einsam musste dieser Mann gewesen sein, dass er niemanden kannte außer ihr, um ihr etwas zu vererben? Sie sah noch einmal auf den Brief. Am Schluss bat der Notar sie, ihm formlos ihre Bankverbindung für die Überweisung des Betrages mitzuteilen. Das ging Miriam entschieden zu schnell. Sie wollte wenigstens mit dem Pflegeheim telefonieren, in dem ihr Halbonkel gelebt hatte. Die Adresse des Heims stand in dem Brief, Miriam wählte die Nummer. Eine fröhliche Stimme meldete sich, und Miriam bat um Auskunft über ihren Onkel.

»Sie sind die Nichte von Herrn Peters?«

»Ja«, sagte Miriam. »Aber er war mein Halbonkel, ich kannte ihn gar nicht, also, ich meine, nicht richtig. Ich habe ihn nur ein einziges Mal getroffen.«

»Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben. Herr Peters hat sich bei uns wohlgefühlt. So wohl, dass er auch unser Heim in seinem Testament bedacht hat. Einen Teil der Summe wollte er seiner einzigen Verwandten vermachen, das hat er immer bekräftigt. Ich glaube, er mochte seinen Halbbruder, also Ihren Vater, sehr gern. Machen Sie sich keine Gedanken. Freuen Sie sich über den unverhofften Geldsegen.«

»Ich wäre wenigstens gern zur Beisetzung gekommen.«

»Das tut mir leid. Aber Herr Peters wollte keine Trauerfeier. Und wir haben seinen Wunsch natürlich respektiert und nur hier bei uns eine kleine Gedenkfeier mit den Bewohnern gehabt.«

Miriam bedankte sich für die Auskunft und legte auf.

Nach dem Gespräch fühlte sie sich besser. Ein alter Mensch war gestorben, der ihr etwas Gutes tun wollte. Es war in Ordnung, wenn sie das Geld annahm. Was könnte sie damit anfangen? Jeder kennt wohl dieses Gedankenspiel: Was wäre, wenn ich eine Million Euro im Lotto gewinne? Auch sie hatte das schon oft durchgespielt, und es war ihr nie gelungen, das ganze Geld auch nur in Gedanken auszugeben. Aber jetzt hatte sie konkret neunundsechzigtausend Euro. Von denen wahrscheinlich ein Teil abgehen würde für irgendwelche Gebühren, Steuern und so weiter. Trotzdem, was sollte sie damit tun? Ihr Auto war alt, sie könnte sich ein neues kaufen. Aber wer brauchte in Hamburg schon ein Auto? Sie könnte das Geld als Altersvorsorge anlegen. Oder Merle etwas davon schenken. Sie stieß ärgerlich die Luft aus. Nein, sie würde nichts von alldem tun. Sie würde nicht vernünftig sein und das Geld auch nicht verschenken. Wann, wenn nicht jetzt, war die Zeit, endlich mal etwas nur für sich zu tun?

Miriam fing an zu träumen. Ihr Tee in der Tasse wurde kalt, während sie nachdachte. Früher, als junge Frau, hatte sie spontane Einfälle geliebt. Einfach zum Flughafen fahren und den erstbesten Flieger nehmen, sich die Haare grün färben, einen Hund aus dem Tierheim holen … Sie hatte ihre Eltern damit zur Verzweiflung getrieben, aber auch die schönsten Abenteuer erlebt. So ähnlich wie Merle heute. Wer sagte denn, dass man das mit Ende vierzig nicht mehr durfte? Und jetzt war mal wieder so ein Moment. Auf einmal kam ihr eine Idee. Sie holte tief Luft, dann setzte sie sich an ihren Computer und suchte im Internet nach Flügen nach Perpignan. Wieso ausgerechnet diese Kleinstadt in Südfrankreich nahe der Grenze zu Spanien? Es lag an einem Satz, den sie vor Jahren einmal gelesen hatte. Der Maler Salvador Dalí hatte den Bahnhof der Stadt als »Zentrum der Welt« bezeichnet. Wahrscheinlich hatte er das ironisch oder despektierlich gemeint, aber bei Miriam war es hängen geblieben. Diesen Bahnhof und die Gegend wollte sie irgendwann mal sehen. Es war einfach ein lang gehegter Traum. Der genau jetzt in Erfüllung gehen würde. Sie buchte einen Flug für zwei Wochen später und war danach so aufgeregt, dass sie vergaß, zu Abend zu essen. Stattdessen öffnete sie eine Flasche Wein und prostete sich selbst zu.

Am folgenden Morgen ging sie ins Büro ihres Chefs und meldete Urlaub an. Als ihr Chef andeutete, dass das ein schlechter Moment sei, legte sie ihm den Zettel mit dem Resturlaub hin, der ihr noch zustand.

»Ich glaube, damit ist das geklärt«, sagte sie.

Von dem Moment an, als sie mit einem Lächeln auf den Lippen den Großmarkt verließ, fing sie an, sich auf ihre Reise zu freuen …

… Und so war Miriam hier in Montbolo gelandet, einem kleinen Weiler vor den Toren von Ceret. Ceret war die größte Stadt im Tal des Tech und hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine gewisse Berühmtheit als Rückzugsort einiger kubistischer Maler erworben. Die Künstler hatten zahlreiche ihrer Bilder hiergelassen, als Geschenke an Freunde oder weil sie mit ihnen ihre Restaurantrechnungen bezahlt hatten, und sie waren der Grundstock für ein beachtliches Museum für moderne Kunst in der mittelalterlichen Stadt geworden.

Miriam hatte vom Flughafen in Perpignan einfach den Bus genommen, der die Küste hinunterfuhr. Der Bus hatte die Autobahn an der letzten Ausfahrt vor der spanischen Grenze verlassen und war ins Landesinnere gefahren, immer am Fluss entlang. Miriam war durch Ceret gekommen und hatte sich gedacht, dass sie in einer der nächsten Ortschaften aussteigen würde, wenn es ihr dort gefiel. Ganz spontan, so wie früher. Der Bus war in die Berge abgebogen und in ziemlich steilen Kurven hinaufgefahren, bis der nächste Ort kam: Montbolo.

Am Ortseingang stand ein Schild, auf dem bekannt gegeben wurde, dass in dem Ort genau einhundertfünfundachtzig Einwohner wohnten, und das hatte neben der traumhaften Landschaft den Ausschlag gegeben. Kurz darauf hielt der Bus auf einem halbrunden Platz, der von einer niedrigen Steinmauer umgeben war und oberhalb eines Abhangs lag. Von hier aus konnte Miriam über die Spitzen von Libanonzedern und die weißlichen Platanen weit hinunter ins Tal und auf den sich windenden Fluss sehen. Auf der anderen Talseite erhoben sich die Ausläufer der Pyrenäen. In die andere Richtung sah Miriam ein paar kleine enge Straßen, die sich den Berg hinaufwanden, und die bunten Dächer der Häuser. Es gefiel ihr hier. Und die Idee, Einwohner auf Zeit Nummer einhundertsechsundachtzig zu werden und alle anderen kennenzulernen, reizte sie.

»Warten Sie, ich will hier raus!«, rief sie dem Fahrer zu, der schon im Begriff war, weiterzufahren. Die Bustüren öffneten sich mit einem Zischen. Miriam nahm ihr Gepäck und stieg aus.

Auf der anderen Seite des Platzes hatte sie ein Hotel gesehen, ein kleines Haus aus alten Steinen. Vor der Tür blühte Oleander in riesigen Kübeln. Sie ging hinein. An der Rezeption saß ein älterer Mann, der sich als Monsieur Frochot vorstellte. Ihm gehörte das Hotel mit den drei Zimmern.

Als sie an diesem Abend in ihrem altmodischen Bett mit der zu weichen Matratze und der geblümten Bettwäsche lag und durch das geöffnete Fenster die milde Abendluft und das Zirpen der Grillen hereinströmten, war sie sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Zu dieser Jahreszeit war sie der einzige Gast von Monsieur Frochot, der sich rührend um sie kümmerte und ihr am nächsten Morgen ein für französische Verhältnisse opulentes Frühstück servierte. In Frankreich gab es zum Frühstück meistens nur einen Kaffee und ein aufgebackenes Baguette vom Vortag. Er jedoch servierte ihr gesalzene Butter, Marmelade und Honig, Orangensaft und einen Klecks Frischkäse und sogar ein gekochtes Ei.

In den nächsten Tagen genoss sie einfach die schöne Landschaft und das frühlingshafte Wetter. Sie ging die sich windenden Straßen von Montbolo hinauf und hinunter, spähte in Höfe und Gärten, die von Toren verschlossen waren, bewunderte die alten Bäume auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche und die kleinen Häuschen mit ihren Regenrinnen aus dunkelgrüner Keramik, die unten im Maul einer Schlange ausliefen.

Am dritten Tag bot Monsieur Frochot ihr mit einem melancholischen Lächeln an, ihr das Frühstück am nächsten Morgen ans Bett zu bringen. Und Miriam entdeckte auf einem ihrer Spaziergänge dieses unbewohnte Haus, das jetzt ihr gehörte, und etwas geschah mit ihr.

An diesem besonderen Tag spazierte sie die schmale Straße entlang, die vom Kirchplatz von Montbolo weiter in die Berge hinaufführte. Die Vegetation hier faszinierte sie auch heute wieder. Am Wegrand standen ausladende Maronenbäume und knorrige Korkeichen, dazwischen sogar einzelne Dattelpalmen, und ab und zu leuchtete eine gelbe Mimose an dem schmalen Streifen direkt an der Straße. Dahinter verdichtete sich das Gelände in undurchdringlichem dornenbewehrten Dickicht. Ab und zu waren Trampelpfade hineingeschlagen, die über Wurzeln und Steine direkt den Hügel hinaufführten und die Serpentinen der Straße abkürzten. Miriam nahm einen dieser Wege. Sie musste aufpassen, dass sie nicht mit dem Hosensaum in den Dornen hängen blieb. Auf dem felsigen Grund wuchsen winzige Eichenschößlinge und anderes Buschwerk, sie entdeckte rötliche Fruchtstände, die sie noch nie gesehen hatte, an anderen Stellen war der Boden mit Moosen bedeckt. Nach ein paar Minuten eines steilen Anstiegs kam sie weiter oben wieder an die Straße. Sie sah sich um und nahm noch weiter oberhalb, aber nicht weit entfernt, eine ganz zarte rosafarbene Wolke inmitten von Grün wahr. Was war das denn? Woher kam dieses rosa Farbenmeer? Ein Windstoß brachte den süßen Geruch von Obstblüten. Wie an einem Marionettenfaden gezogen näherte sie sich. Jetzt sah sie, dass an der Straße, jenseits eines niedrigen Zaunes, Kirschbäume wuchsen, die ganz am Anfang der Blüte standen. Das Rosa war nur auszumachen, weil es so viele Bäume waren. Sie standen zwar in Reih und Glied, aber ansonsten ziemlich verwildert die Anhöhe hinauf. Zwischen den Ästen hatten sich Schlingpflanzen wie Baumwürger und Ackerwinden mit ihren weißen Blüten breitgemacht, deren lange Ranken einige Bäume wie ein Umhang umwehten. Miriam ließ ihren Blick weiter den Abhang hinauf schweifen. Oberhalb der Bäume gab es noch einen Streifen Gartenland, und im Anschluss daran stand ein Haus. Vorsichtig sah sie sich um. Niemand war zu sehen. Das Haus wirkte unbewohnt, die hölzernen Läden waren verschlossen, und niemand würde einen Garten derart verwildern lassen. Sie ging bis zu der schmalen Auffahrt, die in einer leichten Rechtsbiegung zum Haus führte. Noch einmal sah sie sich um, dann wagte sie es, das Grundstück zu betreten, und ging bis zum Haus. Davor stand eine verwitterte Bank, und sie probierte vorsichtig, ob sie noch stabil genug war, um das Gewicht eines Menschen zu halten.

Die Bank hielt, und Miriam setzte sich. Und war augenblicklich verzaubert. Jetzt lagen die Reihen von Kirschbäumen unter ihr, sie sah auf die rosafarbene Wolke von oben herab. Der Wind trieb immer wieder den Duft der Blüten zu ihr herüber, und sie konnte das Summen der Insekten hören. Noch ein anderes Geräusch drang an ihr Ohr, das Plätschern von Wasser. Sie machte sich auf die Suche und entdeckte seitlich vom Haus einen kleinen Wasserlauf mit dicken abgerundeten Steinen in der Mitte. Das Wasser war nicht tief, es ging ihr nur bis an die Knie, aber an einigen Stellen gab es Vertiefungen wie kleine natürliche Pools, gerade groß genug für einen Menschen. Sie streckte ihre Hand ins Wasser, zog sie aber gleich zurück, denn es war eiskalt. Bestimmt kam es aus den Bergen. Sie balancierte einen Moment lang auf den glatten Steinen herum, dann ging sie langsam zurück zum Haus und setzte sich wieder auf die Bank. Ein tiefer Friede überkam sie. Sie hätte stundenlang einfach hier sitzen bleiben und auf die üppige Natur vor ihr schauen können. Noch nie hatte sie etwas so Schönes gesehen, das ihr Innerstes berührte. Sie bedauerte, kein Buch mitgenommen zu haben. Es musste paradiesisch sein, einfach stundenlang hier zu sitzen und zu lesen.

Konnte man sich in einen Ort verlieben wie in einen Mann? Konnte man von einem Haus sagen, dass man sich so gut aufgehoben fühlte wie in den Armen eines Mannes? In der Nähe dieses Hauses glaubte Miriam fest daran.

In den folgenden Tagen erwanderte sie sich die Gegend um Montbolo, kehrte aber jeden Nachmittag zu dem kleinen Haus über dem Kirschhain zurück, um dort zu sitzen und zu träumen. Sie hatte jetzt auch immer ein Buch in der Tasche und verbrachte Stunden hier. Sie entdeckte weitere Einzelheiten des Grundstücks, wie die Hecke aus dichten Bäumen und Sträuchern, die das Grundstück nach Norden hin abschloss, wahrscheinlich als Schutz gegen den Wind aus den Bergen, der hier bestimmt richtig ungemütlich werden konnte. Als sie neugierig näher kam, um die drei riesigen Walnussbäume in Augenschein zu nehmen, die dort standen, stolperte sie über die Reste eines alten Staketenzauns. Wahrscheinlich hatten die ehemaligen Besitzer damit Hühner oder Ziegen im Zaum gehalten.

Bevor sie zu »ihrem« Haus ging, kaufte sie meistens in der kleinen Bäckerei des Ortes für ein Picknick ein. Hinter dem Ladentisch der Boulangerie stand eine Frau mit wuscheligem blonden Haar, etwa halb so alt wie Miriam, mit knallroten Fingernägeln und meistens in grellen Farben angezogen, über die sie einen weißen Kittel trug. Sie war richtig hübsch und hatte eine entzückende Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. Am Ausschnitt des Kittels hatte sie ein Schild mit ihrem Namen befestigt: Paulette Delbas. Paulette wusste bereits am dritten Tag, dass Miriam ein Croissant au beurre nahm, und packte es ihr ungefragt ein. Die beiden Frauen wechselten immer ein paar Worte miteinander. Miriam fand sie nett. Irgendwie kamen sie auf Miriams Lieblingshaus zu sprechen, und Paulette erzählte ihr, dass es schon seit Jahren leer stehe und zu verkaufen sei. Falls sie Interesse habe, solle sie doch Oscar Poulenc fragen, der die Autowerkstatt am anderen Ende des Dorfes betreibe. Er kümmere sich um das Haus.

Miriam ging »nur mal so« zu Oscar Poulenc, und die Dinge nahmen ihren Lauf …

Miriam musste kurz durchatmen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. Sie fuhr mit der flachen Hand über das raue Holz der Bank und blieb an einem winzigen Splitter hängen. Ein wilder Schrecken überfiel sie. Was hatte sie da bloß getan? Sie hatte die gesamte Erbschaft ihres Onkels in dieses Haus gesteckt, und weil das nicht ausreichte, waren fast ihre kompletten Rücklagen dafür draufgegangen. Und wenn sie jetzt plötzlich eine größere Summe brauchen würde? Darüber wollte sie lieber nicht weiter nachdenken, sonst wurde ihr vor Angst noch ganz schlecht. Auf der anderen Seite, was sollte ihr schon groß passieren? Merle war ausgezogen und lebte ihr eigenes Leben, Miriam musste nur noch für sich selbst sorgen, und sie brauchte nicht viel Geld für sich. »Ich bleibe erst mal den Sommer über hier. Dann sehen wir weiter. Und wenn alles schiefgehen sollte, dann gehe ich eben zurück nach Hamburg und verkaufe dieses Haus wieder. Aber ich habe es dann wenigstens probiert und mache mir nicht für den Rest meines Lebens Vorwürfe. Schließlich bedauert man am meisten die Dinge im Leben, die man nicht getan hat.« Mit dieser Einstellung konnte sie gut leben. Außerdem hatte sie ein gesetzliches siebentägiges Rücktrittsrecht. Darauf hatte sie Monsieur Poulenc zwar nicht hingewiesen, aber Miriam war trotz ihrer Begeisterung nicht völlig naiv an diese Sache herangegangen und wusste Bescheid. Sie hatte sich im Internet informiert, dort gab es verschiedene Foren von deutschen Immobilienbesitzern in Frankreich. Bei einem Hauskauf in Frankreich war der Vorvertrag, den sie gerade geschlossen hatte, entscheidend. Mit dem Vorvertrag wurde eine Anzahlung fällig, und der Käufer durfte nur innerhalb von sieben Tagen zurücktreten, es sei denn, es gab andere aufschiebende Hindernisse wie versteckte Mängel. Allerdings wurden auch sehr, sehr hohe Steuern fällig, wenn man eine Immobilie nach kurzer Frist wieder verkaufte.

Also hängt jetzt alles von den kommenden sieben Tagen ab, dachte sie. Na denn, Prost! Sie nahm einen weiteren Schluck Wein.

Inzwischen dämmerte es, eine samtige Dunkelheit umfing sie. Zu dieser Tageszeit war Miriam noch nie hier gewesen, und die sanfte Stimmung der blauen Stunde erfüllte sie mit tiefer Ruhe. Die Blüten der Kirschbäume leuchteten im letzten Tageslicht wie Wattetupfer. Oder wie gebauschte Segel auf dem Meer. Oder wie gewaschene Laken auf der Leine … Sie riss sich von dem Anblick los, um sich einen Nachtisch aus der Küche zu holen. Sie hatte saftige Erdbeeren gekauft. Oder doch lieber ein Stück Côte-d’Or-Schokolade mit ganzen Mandeln? Sie würde einfach beides nehmen.

Im Haus war es dunkel, und sie stieß mit dem Oberschenkel gegen den Tisch. »Aua!«, schimpfte sie. Sie tastete in dem Durcheinander auf dem Küchentisch, wohin sie ihre kompletten Einkäufe vorhin erst mal gelegt hatte, nach den Teelichtern und den Streichhölzern. Der Tisch und die beiden Stühle waren neben dem Bettgestell bisher die einzigen Möbelstücke im Haus. Auf der Abtropffläche neben dem Spülstein, der wirklich noch aus Stein war, hatte sie zwei alte Weckgläser gesehen, die dort wohl vergessen worden waren und bestimmt schon als Antiquitäten durchgingen. Sie setzte je ein Teelicht in die Gläser. Eines ließ sie in der Küche stehen, damit sie etwas sehen konnte, wenn sie wieder hereinkam, das andere nahm sie mit nach draußen.

Vor dem Haus ließ sie sich wieder auf die Bank fallen und sah zu, wie die hellen Kronen der Kirschbäume langsam von der Dunkelheit verschluckt wurden. Im abnehmenden Licht sahen sie eher weiß als rosa aus. Vorsichtig stellte sie die Sachen neben sich ab. Die Kerze erhellte nur ihr direktes Umfeld, die Bank und den Tisch. Rundherum war jetzt alles schwarz. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Nacht.

Die Stille fiel ihr auf, doch als sie genau hinhörte, vernahm sie ein Knispeln und Rascheln, ein Brummen wie von einem dicken Käfer und leises Knacken. Und da war auch ein leises Fiepen etwa zwei Meter vor ihren Füßen. Mein Gott, was kann das sein? fragte sie sich und kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Plötzlich spürte sie eine Art Windhauch, der ihren Scheitel streifte, und hörte ein Rauschen und wieder dieses Fiepen in Todesangst. Etwas Rundes, Weiches, ein Federknäuel in der Größe eines Kinderballs kullerte ihr vor die Füße. Miriam hob in einem Reflex die Arme schützend über den Kopf und stieß einen erschrockenen Schrei aus, das Federknäuel ebenso, bevor es sich entfaltete und zwei helle Flügel und einen runden Kopf erkennen ließ. Und dann sah Miriam im Kerzenschein die Maus, von der das Fiepen stammte. Sie verschwand in einem Loch an der Hauswand neben der Bank.

Der Vogel zu Miriams Füßen sah verdutzt auf das Loch und stieß dann einen kläglichen Schrei aus. Es musste sich um eine kleine Eule oder einen Kauz handeln, denn der Vogel drehte seinen Kopf um hundertachtzig Grad, und jetzt entdeckte er Miriam. Sie könnte schwören, dass er sie verwundert und ein bisschen peinlich berührt ansah, weil sie ihn bei seinem missglückten Jagdversuch erwischt hatte. Oder guckte er vorwurfsvoll, weil er ihr die Schuld an seinem Missgeschick gab? In jedem Fall starrte er sie an, dann hob er die Schwingen und verschwand im dunklen Himmel. Innerhalb von Sekunden konnte sie ihn weder sehen noch hören.

Miriam blieb mit offenem Mund sitzen. Noch nie hatte sie eine Eule in freier Wildbahn gesehen. Das konnte doch nur ein gutes Zeichen sein, Eulen waren doch Glücksbringer. Und die Eule schien keine übermäßige Angst vor ihr zu haben. Vielleicht war Miriam auch der erste Mensch, den sie zu Gesicht bekam, schließlich hatte hier lange niemand gewohnt.

Sie blieb noch eine halbe Stunde sitzen in der stillen Hoffnung, dass der Vogel wiederkommen würde. Sie merkte, dass sie dabei innerlich ganz ruhig wurde.

»Hoffentlich fängst du dir heute noch etwas zum Abendessen«, sagte sie schließlich in den Himmel hinein. »Ich bin jedenfalls satt und müde und gehe ins Bett.«

Sie war froh, dass sie ihr Bett bereits aufgebaut hatte. Sie ließ sich auf die neue Matratze fallen und stellte fest, dass die Franzosen dicke weiche Matratzen für kleines Geld machen konnten.

Dann schlief sie auch schon.

AUS DEM GARTENTAGEBUCH VON GASTON BONNEFOI

Heute habe ich in dem Beet, das ich vor ein paar Tagen für die Kürbisse vorbereitet habe, ein paar unbekannte Keimblätter aus dem Boden kriechen sehen. Ich habe sie ganz vorsichtig berührt, weil sie so zart waren, und dann habe ich mit dem Herzen gespürt, dass das kein Unkraut war. Es muss eine meiner Blütenpflanzen sein, die sich hier selbst gesät hat. Ich habe sie nicht ausgerissen. Ich werde sie beobachten. Lisette hat mich offensichtlich dabei beobachtet. Auf einmal stand sie hinter mir und sagte: »Hättest du nur halb so viel Liebe für mich wie für deine Pflanzen.«

BEVÖLKERUNGSEXPLOSION IN MONTBOLO

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, hätte Miriam nicht sagen können, wie spät es war. Sie hatte tief und traumlos geschlafen und fühlte sich ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Aber sie wusste sofort, dass sie in ihrem neuen Haus aufgewacht war! Durch einen Spalt in den hölzernen Läden schien die Sonne auf ihr Bett. Sie hatte die Volets am Vorabend extra etwas offen gelassen, um die frische Luft und das Licht hereinzulassen. Miriam spürte die Wärme. Also war es wohl schon etwas später am Vormittag.

»Jetzt aber raus aus den Federn«, sagte sie zu sich selbst, nachdem sie sich ausgiebig gereckt hatte. »Ich habe schließlich viel zu tun, wenn ich hier alles in Ordnung bringen will.«

Sie schlug die Bettdecke zur Seite und schlüpfte in die Sandalen, die vor dem Bett standen. Der Fußboden war zu dreckig, um barfuß zu gehen. »Noch«, drohte sie ihm.

Dann ging sie summend durch die Küche und öffnete die Haustür. Die alten Scharniere machten ein seltsames quäkendes Geräusch. Das Sonnenlicht strömte ins Haus, und vor ihr lag ihr wunderschöner Garten im Morgenlicht.

Das Glück über das, was sie sah, ließ sie einen kleinen Schrei ausstoßen. Die Vorderseite ihres kleinen Hauses lag noch im Schatten, aber der Garten leuchtete bereits in der Sonne. Letzte Tautropfen glitzerten in den Blüten und Blättern. Der Anblick bewegte sie zutiefst, und zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, wie ihr Herz zu einem wummernden kleinen Klumpen wurde, der ihr bis zum Hals schlug.

Sie spürte, wie ihr Tränen des Glücks in die Augen stiegen. Sie ließ sie einfach zu und wunderte sich über sich selbst. Diesen Anblick und das Gefühl am ersten Morgen in meinem neuen Zuhause werde ich nie wieder vergessen, versprach sie sich. Und wenn ich mal zweifeln sollte, dann soll diese Erinnerung mich wieder aufrichten.

Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann machte sie sich von dem Blick los. Auf einmal sprühte sie vor Tatendrang und wollte keine Zeit verlieren. Sie stellte die billige Alu-Espressomaschine, die sie gestern bei Carrefour im letzten Moment noch in den Einkaufswagen gepackt hatte, auf den Gaskocher. Zum Glück hatte sie daran gedacht, denn die Vorstellung, einen Morgen ohne Kaffee zu beginnen, hatte etwas Bedrohliches für Miriam. Dann lieber ohne Zähneputzen oder ohne Brötchen. Sie suchte in dem Durcheinander auf dem Küchentisch nach den Sachen, die sie zum Frühstück eingekauft hatte. Butter und den Rest von dem Baguette. Ach ja, und das Glas Marmelade von Bonne Maman, natürlich Kirsche. »Bald koche ich meine eigene Kirschmarmelade ein«, sagte sie zu dem Glas. Als der Kaffee fertig war, nahm sie alles mit nach draußen. Hier war es noch etwas frisch, also ging sie in ihr Schlafzimmer und holte einen Pulli aus dem Koffer. Jetzt war es perfekt.

Miriam hätte schwören können, dass ihr noch nie ein Frühstück so gut geschmeckt hatte. Während sie kaute, betrachtete sie den Streifen Gartenland, der früher einmal der Nutzgarten gewesen sein musste. Alles war mit Unkraut überwachsen. Dahinter standen die Kirschbäume. Miriam hatte nämlich nicht nur ein altes Haus gekauft, sondern einen dazugehörigen veritablen Kirschgarten. Dazu musste man wissen, dass Ceret und die umliegenden Dörfer, also auch Montbolo, der Kirschgarten Frankreichs waren. Hier wurden die köstlichsten Kirschen des ganzen Landes angebaut, Süß- und Sauerkirschen mit so verführerischen Namen wie Cœur de Pigeon, Taubenherzen, Géant d’Hedelfingen, Riesen von Hedelfingen oder Napoleon. Die ersten Kirschen eines jeden Jahres bekam traditionell der französische Staatspräsident. Es war dieser Kirschhain, der für Miriam letztendlich den Ausschlag gegeben hatte, das Haus zu kaufen. Sie wollte den vernachlässigten Garten wiederbeleben. Hier könnte sie endlich ihre Liebe zu Pflanzen ausleben. »Und wer weiß, vielleicht bekommt der Staatspräsident ja in ein paar Jahren Kirschen aus meinem Garten«, sagte sie.

Sobald sie Zeit fand, würde sie sich diesen Teil ihres Besitzes vornehmen. Aber vorher musste sie sich um das Haus kümmern und es bewohnbar machen. Sie brach ein Stück vom Brot ab, wobei ein paar Krümel auf den Boden fielen. Unwillkürlich musste sie an die Maus von gestern Abend denken und dann an die Eule. Ob sie wohl satt geworden war? Sie suchte nach dem winzigen Mauseloch im Mauerwerk. Musste man so etwas eigentlich reparieren? Und wie machte man das? Kamen da noch andere Reparaturen auf sie zu? Wenn sie daran dachte, was sie sich mit diesem alten Haus aufgeladen hatte, dann wurde ihr kurz ein bisschen mulmig. Würde sie das alles schaffen?

Als sich ein Auto näherte, horchte sie auf. Es fuhr auf die Auffahrt zu dem Grundstück auf der anderen Straßenseite. Das hatte sie natürlich längst bemerkt, war aber einfach davon ausgegangen, dass es unbewohnt wäre, genau wie ihr Haus. Miriam hatte noch nie jemanden dort gesehen. Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Das fand sie aber nicht schlimm, im Gegenteil, es war doch ganz schön, wenn jemand in der Nähe war. Das Nachbarhaus war größer als ihres, es hatte zwei Etagen und ein Nebengebäude. Aber es sah lange nicht so heimelig aus wie ihres, und es hatte auch keinen Kirschgarten. Neugierig sah sie hinüber, wer da gekommen war. Der Wagen hielt ziemlich spritzig vor dem Haus, dann schälte sich ein Mann heraus. Er war groß, mit längerem dunklem Haar und trug Jeans und darüber ein helles Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Alles an ihm wirkte typisch französisch. Er holte einen ziemlich großen Karton aus dem Kofferraum und ging ins Haus, ohne sie zu bemerken. Woher sollte er auch ahnen, dass auf der anderen Straßenseite jemand eingezogen war?

Okay, dann mal los! dachte Miriam und räumte ihr Frühstück ab. Dann zog sie sich Gummihandschuhe an, holte Wasser aus dem Brunnen und begann aufzuräumen und sauber zu machen. Als Erstes nahm sie sich die Küche vor. Sie schrubbte den Ausguss und danach den Fußboden. Unter der dicken Staubschicht kam ein Terrazzoboden zum Vorschein, der rötlich in der Sonne leuchtete. Trotz einiger Risse und Löcher fand Miriam ihn klassisch und beinahe elegant, auf jeden Fall wunderschön. Sie zog ihre Schuhe aus und probierte aus, wie er sich unter ihren Füßen anfühlte – kühl und glatt –, und dort, wo die Sonne ihn aufgewärmt hatte, war er warm.

Sie putzte auch das Herdmonstrum, das noch mit Holz geheizt wurde. Die Ritzen zwischen den Einsatzringen auf der gusseisernen Kochplatte waren dreckverkrustet, und als sie die Ofenklappe öffnete, lag da noch Asche. Sie wusste nicht genau, wie man so einen Herd bediente und ob er überhaupt noch funktionierte, aber sie nahm an, dass der größere eingelassene Behälter für heißes Wasser war. Am Schluss wienerte sie die vier Herdplatten mit ein paar Tropfen Olivenöl, bis sie matt glänzten. Das Öl hatte Oscar Poulenc ihr zum Einzug überreicht, wofür sie ihm unendlich dankbar war. Olivenöl war viel nützlicher als Blumen, und dieses war dickflüssig und grün und brannte ganz leicht am Gaumen. Eigentlich viel zu schade zum Putzen, aber sie hatte nichts anderes. Dann nahm sie sich die Messingstange vor, die um den riesigen Herd lief und auf der die Handtücher zum Trocknen aufgehängt wurden.

Als dieser Teil der Küche sauber war, räumte sie alle ihre Einkäufe vom Tisch auf den Herd, um auch den Tisch gründlich abzuseifen. Die dicken Eichenbohlen waren voller Kerben und Dellen, aber die waren schon so alt und tausendmal abgegriffen, dass sie sich ganz weich unter ihren Fingerspitzen anfühlten. Auch hier wienerte sie, bis sie außer Atem war. Sie trat einen Schritt zurück, um sich das Ergebnis ihrer Arbeit anzusehen. Der große Tisch, an dem locker sechs bis acht Personen sitzen konnten, glänzte jetzt honiggolden. Die Messingstange am Herd blitzte in der Sonne, die durch das seitliche Fenster hereinfiel. Es war allerdings vor Schmutz ziemlich blind. Also nahm Miriam sich das als Nächstes vor. Danach konnte die Sonne ungehindert in den Raum scheinen, der gleich viel heller wurde. Und der alte Spülstein bekam fast so etwas wie Würde mit seinen vielen haarfeinen Rissen. Miriam war stolz auf ihr Werk. Dieses alte Haus hatte wirklich Potenzial. Es war zwar nicht modern und bestimmt auch nicht besonders praktisch, aber es war wunderbar gemütlich und lud zum Wohlfühlen ein.

Sie schüttelte die Arme aus, die ihr nach der Anstrengung wehtaten. Außerdem hatte sie Hunger. Eine Pause wäre jetzt schön, aber dann sagte sie sich, dass sie erst noch das eine der beiden Zimmer sauber machen wollte.

Sie wollte mit dem linken Zimmer beginnen, in dem sie geschlafen hatte. Die Entscheidung war aber eher zufällig gefallen, einfach weil hier das alte Bettgestell stand. Miriam warf noch mal einen Blick in das rechte Zimmer und entdeckte dort ein bodentiefes Fenster, das in den Garten führte. Das hatte sie bisher noch gar nicht richtig wahrgenommen. Sie öffnete die Läden, und helles Sonnenlicht strömte herein. Als sie über die Schwelle trat, verfing sie sich zunächst in Spinnweben, aber dann stand sie vor dem Haus. Das nur nachlässig entfernte Fundament einer steinernen Brüstung sagte ihr, dass hier früher eine kleine Terrasse gewesen sein musste. Sie drehte sich um und sah die Umrisse einer Veranda an der Hauswand. Wie schade! Warum hatte man die Veranda abgerissen? War sie baufällig gewesen? Oder hatte es die Besitzer gestört, dass man hier von dem Haus auf der anderen Straßenseite gesehen wurde?

Miriam riskierte einen Blick nach drüben, ob der Mann von vorhin zu sehen war, aber dort war alles still.

Jetzt hör aber auf, dachte sie und ging wieder ins Zimmer. Es war so groß wie das andere, aber wegen der Tür nach draußen gefiel es ihr besser. In Montbolo war es nachts so still, dass sie mit geöffneter Terrassentür schlafen könnte. Daher beschloss sie, ihr Schlafzimmer hierher zu verlegen.

Sie machte sich an die Arbeit. Die Holzdielen hätten es verdient, abgeschliffen zu werden, aber Miriam begnügte sich vorerst damit, sie gründlich mit Wasser und Seife zu reinigen. Unter dem Schmutz kam ein warmer Rehton zutage. Wie schön würde sich hier der bunte Läufer machen, der in ihrer Hamburger Wohnung unter dem Esstisch lag. Sie ging in die Küche hinüber, um eine Liste der Dinge anzulegen, die sie kaufen oder erledigen musste. Zuoberst notierte sie Wachs für die Holzdielen. Während der Boden trocknete, putzte sie auch hier die Fenster und wischte die Wände ab. Sie waren einfach geweißt, darunter lag Putz. Zum Glück hatte niemand Tapeten geklebt, die hätten sicherlich feucht gerochen, und sie hätte sie abreißen müssen. Ohnehin mochte sie einfach verputzte Wände am liebsten. So, jetzt war der Raum sauber und staubfrei, aber nun kam das Schwierigste: Irgendwie musste sie das Bett herüberbringen. Sie breitete ein Handtuch auf den Fußboden und kippte das Bettgestell auf die Seite, dann schob und zog sie es auf dem Handtuch durch den schmalen Flur in das andere Zimmer. Sie stellte es so in den Raum, dass sie vom Bett aus nach draußen sehen konnte. Dann folgten die Matratze und ihr Bettzeug. Als Nachtschrank diente ihr vorerst eine umgedrehte Weinkiste, die sie draußen gesehen und mit reingenommen hatte. Sie legte das Buch, das sie gerade las, und ihre Sonnenbrille darauf, damit das Zimmer bewohnt aussah. Vor das Fenster drapierte sie einen ihrer Seidenschals, die sie immer mit auf Reisen nahm und die für alles dienten, zum Schutz gegen Zug oder Kälte oder zur Dekoration. Das Sonnenlicht fiel durch den transparenten Stoff und färbte das Zimmer in Rot und Orange ein. Sie stellte ihren Koffer in die Ecke und hängte ein paar Kleidungsstücke an die Porzellanhaken, die noch vom Vorbesitzer hinter der Tür hingen. Jetzt war ihr Schlafzimmer fertig. Miriam seufzte vor Glück auf. Es sah genauso aus, wie sie sich ein Schlafzimmer vorstellte. Nur ein Kleiderschrank fehlte noch.

Das andere Zimmer würde sie erst mal so lassen, wie es war, weil sie es nicht brauchte, und das Bad wäre heute Nachmittag an der Reihe. Sie dachte kurz daran, dass sie ja kein fließend Wasser hatte, aber trotzdem. Das Bad musste sein. Wenn jetzt mal überraschend Besuch kommen sollte! Sie kicherte über ihren eigenen Witz.

Es war schon fast drei Uhr, und sie hatte jetzt richtig Hunger und brauchte eine Pause. Daher beschloss sie, nach Montbolo hinunterzugehen. Wenn sie sich beeilte, bekam sie noch das Tagesgericht im Café du Cèdre. Der Patron dort war nett, und seine Frau kochte gut, das hatte sie schon herausgefunden. Sie schloss Fenster und Türen und machte sich auf den Weg. Ihr Nachbar war nicht zu sehen, das Auto war auch verschwunden. Vielleicht wohnt er gar nicht immer hier, dachte sie. Oder er sieht nur ab und zu nach dem Rechten.

Sie nahm eine der Abkürzungen über die Pfade durch den Wald und machte unten einen Sprung über die schmale Rinne, in der das Regenwasser abfloss. In diesem Augenblick kam ein Auto mit ziemlich hoher Geschwindigkeit aus der Kurve oberhalb von ihr. Miriam erschrak und rettete sich mit einem Satz zur Seite. Der Fahrer bremste kurz vor ihr ab und schob sich die Sonnenbrille ins Haar, wahrscheinlich, um sie besser sehen zu können. Miriam erkannte ihren Nachbarn von gegenüber. Langsam fuhr er an ihr vorbei, ein Arm lehnte lässig aus dem Fahrerfenster. Aus der Nähe sah er verdammt gut aus, aber er war nicht so jung, wie sie auf den ersten Blick gedacht hatte. Er lächelte und bedachte sie mit einem derart intensiven Blick, dass sie sich geradezu abgescannt fühlte. Wortlos wollte sie weitergehen.

»Bonjour«, sagte er.

»Bonjour«, gab sie knapp zurück.

»Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie sich verlaufen?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Äh, na ja, Sie haben da …«

Miriam sah ihn mit hochgezogenen Brauen streng an.

»Ach, nichts.« Er schüttelte den Kopf und fuhr davon. Kleine Steinchen spritzten unter den Reifen hoch.

»Blödmann«, knurrte Miriam und konzentrierte sich auf den intensiven Duft des Thymians, der in dicken Büscheln am Wegrand wuchs. Dabei lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

In dem kleinen Café am Markt standen Hacksteak und Kartoffelpüree auf der Karte. Es roch köstlich nach kräftiger Soße und geschmorten Zwiebeln. Dazu bestellte Miriam sich ein großes Panaché, ein Alsterwasser. Ihre Kehle war von dem vielen Staub ganz ausgedörrt. Während sie auf ihr Essen wartete, kam Paulette Delbas aus der Bäckerei herein. Sie trug ein äußerst knappes giftgrünes Kleidchen und riesige Kreolen. Unter dem Arm hatte sie eine Papiertüte mit golden leuchtenden Brotstangen geklemmt und war von einer weiteren köstlichen Duftnote umgeben. Beim Vorbeigehen nickte sie Miriam zu und blieb stehen.

»Ich habe gehört, Sie haben das kleine Haus von Gaston gekauft? Über das wir neulich gesprochen haben?«

»Gaston?« Miriam sah auf die Baguettestangen.

»Gaston Bonnefoi. So hieß der Vorbesitzer. Der ist aber schon einige Jahre tot, und seine Tochter lebt in Annecy.«

Miriam nickte.

»Dass das noch jemand haben wollte …«

Miriam seufzte.

Paulette setzte ein verträumtes Lächeln auf. »Haben Sie Philippe schon gesehen?«

»Philippe? Wer soll das sein?«

»Ihr Nachbar. Er wohnt gegenüber.« Sie beugte sich vor. »Er ist der beliebteste Junggeselle der ganzen Gegend.«

Philippe, dachte Miriam. Das musste der Autofahrer von vorhin sein. Aber wieso fand Paulette den so toll? Immerhin hatte er sie gerade fast über den Haufen gefahren.

»Übrigens, Sie haben da was …« Sie fuhr sich mit der Handfläche über die Wange.

»Oh, was denn?«

»Sieht komisch aus. Dahinten ist eine Toilette. Ich muss dann mal wieder. Bis bald.«

Miriam stand auf und ging in den Waschraum. Dort sah sie in den Spiegel. Oh Gott, wie peinlich! Sie war im ganzen Gesicht schwarz, und ihr Haar sah aus, als hätte sich dort eine Spinne für den Winter eingerichtet. Die schwarze Farbe musste von den Herdplatten kommen. Zusammen mit dem Olivenöl hatte sich eine Masse gebildet, die irgendwie auf ihre Wangen und ihre Nasenspitze geraten war. Das hatte vorhin ihr Nachbar gemeint!

Während sie das zähe Zeug abrieb, setzte sie in Gedanken einen Spiegel auf ihre Einkaufsliste.

Dann ging sie wieder an ihren Tisch, wo ihr Essen bereits dampfte.

Der Hackbraten war erstklassig, gut gewürzt und reichlich. Dazu gab es Thymiansenf in einem kleinen Schälchen. Miriam aß alles auf und wischte mit dem Brot auch den letzten Tropfen Soße vom Teller. Wie gut, dass es in Frankreich zu jedem Essen immer einen Korb mit frischem Baguette gab!

»Nachtisch?«, fragte der Patron und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals.

Miriam fragte sich in einer Schrecksekunde, ob sie wohl noch schwarze Schmiere am Hals hatte. »Nein danke. Das war wirklich lecker.«

»Sie sind die Frau, die das Haus von Gaston gekauft hat, nicht wahr?«

Miriam nickte stolz.

Der Patron streckte ihr die Hand hin. »Na dann, ich heiße Charles de Maistre.«

Das wusste Miriam natürlich schon, aber sie freute sich über die Willkommensgeste. »Miriam Richard, schön, Sie kennenzulernen. Was gibt es morgen bei Ihnen zu essen?«

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