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Die Landstraße

Als Buch hier erhältlich:

Wer die Erzählungen in diesem Band liest, wird mit einer besonderen Welt konfrontiert, zu der auch eine eigene Erzähllogik gehört. Wilhelm Hausenstein nannte Regina Ullmanns Erzählstil das schöne Umständliche, eine von ihr begründete ästhetische Kategorie. Sie beschreibt Figuren am Rand der Gesellschaft, oft auch in der Peripherie lebend. Naturwesen, Bauernjungen, eine Horde wilder Hirsche. Sie alle scheinen gebunden an die Rolle, die der jeweilige Ort ihnen zuschreibt, in ländlicher Düsternis und Enge gefangen und dem Schicksal ergeben. Die Handlungen bauen sich nur langsam, aber sorgfältig auf, und bleiben nie ohne Symbole und Zeichen, denen die Figuren folgen und deren Wirkungen und Wirrungen sie erliegen.

»Prosagedichte einer ganz besonderen Art.« Ruth Klüger


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013258
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ellen Delp
verehrend zugeeignet

Die Landstraße

Erster Teil

Sommer, aber ein jüngerer Sommer als dieser; ein Sommer, an Jahren noch gleichaltrig mit mir, war damals. Ich war zwar dennoch nicht froh, nicht von Grund aus froh, aber ich musste es sein in der Art, wie es alle sind. Die Sonne zündete mich an. Sie labte sich an dem grünen Kogel, auf dem ich saß, einem Kogel, der beinah eine heilige Form hatte, und auf den ich mich geflüchtet hatte von dem Staube der Landstraße. Denn ich war müde. Ich war müde, weil ich allein war. Diese lange Landstraße vor und hinter mir … Ihr konnten die Schleifen, die sie zog um diesen Kogel, ihr konnten die Pappeln nicht, ihr konnte der Himmel selber nicht ihre Kläglichkeit nehmen. Mir war bange, weil sie mich nach einer kurzen Wanderung schon in ihre Not und Verkommenheit miteinbezogen hatte. Eine unheimliche Landstraße war das. Eine allwissende Landstraße. Da ging nur, wer in irgendeinem Sinne allein gelassen worden war.

Ich zog im Widerspruch dazu meinen Mundvorrat aus dem kleinen Reisegepäck. Er war von der Hitze ungenießbar geworden. Ich musste ihn fortwerfen. Nicht einmal Vögel hätten ihn mehr gemocht. So wurde ich auch dazu von dem Gefühle des Nicht-haben-Könnens noch hungrig und durstig. Und keine Quelle war ringsum. Nur der Kogel selber schien das Geheimnis einer Quelle zu bergen, tief in sich, mir unerreichbar. Und wenn ich auch auf eine nahe Quelle gehofft hätte, so würde ich sie doch nicht zu erreichen gesucht haben. Ich war müde und ohne Tränen, doch dem Weinen nahe.

Wo waren die Bilder, die mich so gesegnet durch meine Kindheit geführt hatten? Sie schienen dem Kogel zu gleichen. Aber auch wiederum nicht, weil ich jetzt darauf war. Ich aber gehörte nicht mehr auf das Bild. Ich zauberte mir ein anderes vor, denn durch die Wahrheit, die ich mir nicht ersparte, war ich dem Leben gegenüber bettlerisch-beharrlich geworden. Ich wollte ein Ideal haben, ein Ideal (wenn mir die früheren schon genommen waren), das auf mein Dasein passte. Und ich erinnerte mich an ein Bild des jungen Raffael, den Traum eines Jünglings darstellend. Die Reinheit dieses Bildes hatte mich immer erquickt. Auch heute. Aber sie war nicht meine mehr. Auf dem Kogel wuchs gleichsam dieses Bild meiner Kindheit und drängte mich ab, auf die staubige Landstraße hinab. Ich war aber noch nicht völlig ermattet.

Da wölbte sich in meinem Sinne hier oben auf dem Hügel das riesige Bett der heiligen Anna. Ein Engel hielt den obersten Bauch des Bettzeltes in die Wolken hinein. Unten waren Frauen, viele, alle liebevoll beschäftigt. Sie badeten ein neugeborenes Kind, Maria. Hier trugen sie Krüge herein, dort hielten sie Tücher bereit. Alles war Liebe auf dem Bild und Freude, reinste Erdenfreude, die es gibt. Ich wandte den Blick ab. Ich schaute mechanisch hinab auf die Landstraße. Von all dem war nichts um mich. Ich war allein auf dem Kogel, gleichsam aus mir hinausgewiesen. Niemand kann wissen, was das ist, dem Busch und Baum als Heimat dient, als Bett, als Truhe, als Schrägen; der überall in allen Lebensstufen ein Sträußlein für sich bereit findet. Für ihn ist es bestimmt. War es Gott, war es der Vater, der jüngere Bruder, der es von Anbeginn an schon in der Hand hielt?

Meine Schuhe waren staubig, beißend von der Hitze. Mein Kleid war eines, das keinem auf der Welt gefallen brauchte. Wenn es auch einmal im Anbeginn den Vorsatz gehabt hatte, es hatte ihn zu bald wieder vergessen. An so etwas muss man erinnert werden. Seien’s die Fische im Wasser oder ein Vogellied oder Liebe, wie sie die Natur nur kennt – irgendetwas muss uns daran erinnert haben. Aber ich war mir selber bereits entfallen.

Da unten gingen müde Händlerinnen. Schon waren sie um mich herum und vorbei wie um einen Halbmond. Da kam eine Herde, ganz in ihren Staub gehüllt wie in eine Wolke. Ein paar Kinder, mit leeren Körben in blauen Händen, folgten ihnen. Sie waren schuldbewusst. Man sah es von oben, dass sie ihren Hunger mit dem spärlichen Funde ihrer Heidelbeerernte gestillt hatten. Es war doch Geld, das sie verschlungen hatten. Das war nicht das Glück beerensuchender Gebirgskinder, die heimgekehrt, den Brei aus der Pfanne verzehrend, immer noch Freude löffelten …

Ich verharrte bei der Erinnerung mit immer gleichem Blick. Ein Drehorgelmann kam, alt, Landstraße … Die stumme Orgel hing ihm auf dem Rücken. Ein Hündchen lief hinter ihm her und war so in seine Schritte vertieft, dass es schien, als ginge es unter ihm, etwa wie unter einem Zeltwagen nach Art dieser Hunde, die nur ein einziges zu bewachen haben.

Ein Fischer kam, denn in der Nähe war ein künstlicher Teich.

Schließlich kam ein abscheulicher Radfahrer. Er war ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich sah nur deutlich das rote Tüchlein aus einer Westentasche wehen. Oh, wie war ich unglücklich über diesen fremden Radfahrer. Nicht einmal, wenn ihn mir die Menschenliebe begütigt hätte und unter eine Betrachtung gebracht, nicht einmal dann hätte ich wieder lächeln können. Und war nicht etwa das zum Lachen, dieser Radfahrer? Hatte ich denn allmählich im Leben alle Heiterkeit verloren, alle Zuversicht?

Ich hatte mit der Hand tastend einen Waldmeister gepflückt. Es war also Mai. Es war nicht etwa Juli oder August, der heißeste Tag des Jahres? Ich hatte über dieser Landstraße alle Zeit verloren. Ich hielt die Blüte wie ein Orakel. Dann legte ich sie auf den Schoß. Ich hauchte ein wenig. Es konnte auch ein Seufzer gewesen sein.

Die Landschaft ringsumher war nicht schön. Nein, es war die wehmütige Landschaft einer sorgenvollen Landstraße. Sie vergaß keinen Augenblick, dass sie sich Staub schuldig war, fußhohen Staub, feingerieben von den Mühlsteinen der Sonne und des aufgehenden Vollmondes.

Eine dunkelnde, eine unabgekühlte Nacht, ein Tag wie dieser hier, wie die Politur des schönsten Malachits, hatten ihn uns gerieben, diesen allüberall seienden Staub. Es war, als habe Großvater ihn uns gelassen wie der Schlange des Paradieses, diesen Staub. Er war der verfrühte Altersschnee der Bäume.

»O Gott!« Dieser Hilferuf kam mir immer wieder unverstanden über meine Lippen. Ich hatte es nicht erfahren seit Langem, dieses Wort. Wahrhaftig, ich erinnerte mich nicht mehr daran.

Und Gott muss man am eignen Leibe erfahren haben.

Ich wusste zwar, der Name Gott war in jegliches Tier gegraben. Jeder Halm trug eine spitze Inschrift. Die Blumen gar hatten ihn in ihrer Rundung. Und was war Duft als noch einmal ein lebend Wesen aus der Hand der Schöpfung. Ich gab vor, keinen Gott zu haben. Aber da hielt ich schon wieder die Waldmeisterblüte in Händen. Die Güte, die diese Blüte aushauchte, rührte mich. Ich schwieg und schaute.

Unten auf der Landstraße wartete ein Gespann vor einer Baracke. Ich hatte die Baracke kaum bemerkt. Das Gespann hatte ich im Nachdenken übersehen. Es stand unter einem Kastanienbaum und wartete. Das Pferd fraß von den Blättern und zog den Brückenwagen hinter sich her. Eine Stimme gebot ihm Einhalt. Das war alles. Über dem Gebäude hing ein Schild: »Gasthaus zur Sonne« stand darauf. Aber ich konnte es nicht lesen. Das Schild zeichnete es einem vor. Ich erhob mich. Es war mir nämlich eingefallen, dass dieser Wagen mich wohl eine Strecke des Weges mitnehmen konnte. Das war schon wieder ein Gewinn, irgendwo anders zu sein. Ich ging hinab. Mir war so schwer, als trüg ich Lasten, unbekannte, aus aller Welt. Und doch war es mein eigenes Dasein nur, das mir so mitgespielt hatte. Ich verstand mit einem Male dieses vertragene Wort. Es passte auch auf die Landstraße.

Ich fasste meine Habseligkeiten von der Erde auf. Noch mit einem Blick ging ich über die Welt. Sie war doch schön?

Ein Kind rief irgendwoher ganz kläglich wie die Kleinsten, die gleichsam noch keine Augen haben. Das hatte der Landstraße gerade noch gefehlt.

Ich stand ganz unten am Wegrand und wartete. Das Pferdchen kam in einem Zirkustrab, als sei die Welt ein Karussell und nähme nie ihr rundes Ende.

Der Mann auf dem Vordersitz – ein Bock war es nicht – schlug nachsichtig mit der Peitsche. Ein junger Mensch war’s. Außer ihm saßen noch einige hagere Frauen auf dem Brett. Hintenauf war allerhand Gepäck geladen. Ich sah es an. Ich sah den Jüngling an und die Frauen. Ich musste nicht lange reden. Sie sahen, dass ich nicht weiter konnte. Mitleid ist keine so seltene Sache, wie viele Menschen glauben. Nur macht sie einem, bis sie an einen herankommt, keinen Eindruck mehr. Man glaubt in seinem verhärteten Sinn, sie, die es einem böten, seien mit einem auf gleicher Stufe. So ist man geworden in seiner tauben Not… Die Frauen reichten mir die Hände zum Aufsteigen. Sie ließen mir die Wahl eines Sitzplatzes.

Ich näherte mich der massivesten Truhe auf dem Wagen. »Ja«, sagten sie, »da können Sie auch sich niederlassen, wenn Sie sich nicht fürchten, es ist eine schlafende Schlange darin.«

Sie öffneten mir sogar bereitwillig den Deckel. Unter Tüchern, unempfindlich ihrer selbst, lag sie. Gelb, grün, ein wenig rot (mich dünkte auf eine teuflische Weise), wiederholten sich Schlangenlinien neben Schlangenlinien auf diesem Getier. Und selber war es zusammengekauert in Biegungen und Wendungen, das Symbol seiner weglosen Wege. Staub, Wüstenstaub, heimatloser, und doch dünkte er mich noch ein königlicher zu sein gegen denjenigen, dem ich hier ausgesetzt war. Denn was tat es, ob ich die Schlange fürchtete oder nicht, sie lag ja gebannt durch ihre eigene Natur, und die Menschen hatten bereits verstanden, dieselbe zu einer Art unsichtbarem Kerker für sie umzuschaffen. Mich schauderte. Aber nicht mehr vor ihr. Lange schaute ich auf das Tier hin, bis die Farben mir matt wurden und die Vorstellung abgestumpft.

Die Decken wurden wieder auf die Truhe gelegt. Der Deckel sorgsam geschlossen. Ich nahm darauf Platz.

Der Wagen ratterte. Hinter mir wirbelte der Staub auf. Ich war ganz darinnen. Ich legte mich auf die Truhe, ganz in das Schüttern ergeben und in den Staub und in die Schlange.

Ich war schon nah am Einschlafen, nur auf meinem eignen Arme ruhend. In gebückter rasender Fahrt überholte uns wieder ein Radfahrer. Alles stand still: die Landstraße, die Pappelbäume, wir und der Hügel. Nur dieser eine kam vorwärts. Er bewegte sich schon in unendlicher Ferne, immer gebückt unter dem Himmel. Wo mochte der Teufel nur hinfahren?

Die Landstraße

Zweiter Teil

Wenn ich der Vertreibung aus dem Paradiese gedenke, so ist es mir, als sei das noch nicht lange her. Es ist eine gute Geschichte, eine tröstliche. Sie ist tröstlicher erzählt worden, als sie in Wirklichkeit ist. Es ist vieles verschwiegen worden in ihr. Es ist nämlich jetzt keine Begebenheit zu zweit mehr und zu vielen, ja eines Volkes, und wieder der Stämme, die dieses Volk gründete …

So wie sie jetzt beginnt, alle Tage, mit jedem neuen Menschenleben, ist es die Begebenheit eines einzigen. (Nicht des Auserwählten. Nicht, dass ihr mich falsch versteht.) Es kann eine Frau sein, die einen kleinen Handel treibt, irgendwo, es kann ein Pudel sein, ein Baum. Irgendetwas muss durchkämpfen bis zum Kindhaftsein »allein zu sein«. Eine Demut muss gelernt werden, eine Niedrigkeit, die beim Nichts endet. Und das Paradies? Das Paradies ist ungewiss. Man hat ja damit begonnen, zum mindesten hat man es mitgebracht. Schaue jeder, dass er es nicht aufbrauche bis zum Letzten. Er muss sterben noch mit dem Glück, gelebt zu haben. Darüber muss er die Augen schließen. Dies ist die noch ihm im Diesseits sichtbare Palme, dies ist sein in die Himmel gehauchtes Gloria.

Der Wagen hielt an. Es wurde abgestiegen. Die Leute mussten hinein ins Haus des Bürgermeisters. Sie mussten verhandeln mit ihm, damit er es genehmige, dass sie ihren Beruf ausübten hier am Ort, dass sie ihr Geld verdienen durften.

Und er tat es vielleicht nicht gerne, denn es kamen viele solche fahrenden Leute. Ich konnte weitergehen. Ich ging bis zu einem Wirtshaus. Wo hätte ich sonst hingekonnt? Es waren ja nur Häuser da mit einem eignen, kleinen Geschicke. Für einen Menschen meiner Art gab es hier an der Landstraße nur das Wirtshaus.

Der Garten war staubig, er war auch dunkel. Obgleich es der sonnigste Tag war, war es hier doch wie Nacht. Und leer war es hier auch. Ich suchte mir einen Platz aus. Das heißt, ich flüchtete mich zu einem dieser Tische hin, an denen niemand saß. Das ist so mein Wesen.

Nun aber gab es hier nichts mehr zu tun. Eine lange, unauszufüllende Zeit schien auf mich zu warten. Da blickte ich auf, weiter hinein in den Garten. Ein Geschöpf nämlich, das ich dem Wesen nach absolut vergessen habe, ging mit einer Mahlzeit auf einen der im Schatten seienden Plätze zu. Es saß jemand daran. Ich hatte es nicht gesehen. Ich sah es auch jetzt nicht gleich. Die Person stand davor. Es hüstelte nur, es kündigte sich gleichsam entschuldigend an: dass hier ein Gast war.

Ich inzwischen dürstete und wurde wirklich einer Mahlzeit bedürftig. Der Staub hatte mich doch nicht ganz gespeist und getränkt. Und nun konnten wir unserer ansichtig werden. Der Gast und ich: Es war der Tod. Ja, es war der Tod! Aber soviel wie bei einem Sterbenden war noch von Haut und Fleisch auch an ihm. Nur waren die Stunden gezählt. Sie waren es vielleicht schon seit Jahren und Monaten. Schwindsüchtige sterben lange. Aber so, wie er im Dunkel saß mit einem Regenmantel angetan, war er, geschont mitgeteilt, nur der Tod selber. Ich war dem Weinen nah. Ich glaube, ich gluckste ein paarmal. Dann schob ich das Essen weg. Er hatte mich sozusagen in die Mitte getroffen, das, was damals meine Mitte war. Denn einmal ist es der Kopf des Menschen, oder gar sein magnetisches Haupthaar selber, sein feuerfühlendes; ein anderes Mal sind es die Hände oder die Brust (bei arbeitenden Männern) oder bei Frauen, in einer Zeit, in der sie noch nichts bedrückt, ihre allumfassenden Arme. Das aber war bei mir die Mitte nicht. Auch war es nur ein Mahnen des Todes und sein Ansehen gewesen. Ich hatte eben mich vergnügen wollen wie andere und Mahlzeit halten wollen auf gebräuchliche Art. Da war der Tod gekommen. Er ging auch nicht wieder, wie es sonst in der Legende erzählt wird. Er blieb. Das heißt, er stellte sich allemal wieder ein, wenn diese Mahlzeit war, diese einzige Mahlzeit, zu der ich Lust gezeigt hätte. Das ist aber immer so. Überhaupt bewies sich hier alles mit einer tödlichen Gewissheit. (Von damals her kenne ich aber auch dafür das Wort.) Während nämlich mir das Leben so alle sorglosen Freuden vorwegnahm, gab es mir dafür die Gewichtigkeit jeglichen Verlustes. Ich verstand diesen Verlust mit der Zeit so zu bewerten, dass er mir bedeutsamer vorkam als alles reiche Leben selbst, zu dem ich so viel Begabung von der Natur glaubte mitgebracht zu haben.

Dennoch aber, ihr sollt mir nicht schreien wie Vögel, deren Worte man plötzlich versteht, in mein Leben hinein: dass ich so mit dieser Kenntnis des Leidens meinen Lohn schon für dieses Dasein voraus erhalten hätte. Ich musste ihn ja immer wieder zurückerstatten mit der täglichen Wiederkehr. Was mich am ersten Tag in seiner Erkenntnis noch aufrichtete, drückte mich in seiner ersten Wiederholung der nächsten Tage zu Boden. Ich hörte und sah es gleichsam nicht mehr, es war nur noch da. Es, sage ich: nämlich ich und der Tod und noch vieles andere, was auch noch ringsum Existenz hatte, sei es auch nur die des Untergangs. Vielleicht aber auch nicht nur des Untergangs, denn wir leben ja viel zu wenig lange, um das beurteilen zu können.

Ein Schreien war draußen, ein leeres Gelärme, das an diesem Orte wohl immer schon um Mittagszeit begann vor einem Feiertage. Das Zirkuspferdchen hupste vorbei. Es war in einem Aufputz, der zum Weinen rührte.

Dann erscholl mit einem Male ein fürchterliches Gebrüll: Schweine. Gewiss war Fütterungszeit. Gegenüber stand nämlich ein niedriges Gehöfte aus Holz, im Geviert gebaut, darin mochten sie untergebracht sein. Und mitten hinein tönte der klägliche Ton jenes ihm ähnelnden Kinderspielzeugs: jener kleinen Schweinsblase, die immer wieder stirbt und unter ihren vier entkräfteten Füßen zusammenbricht. Es war echt Jahrmarkt. Nur war etwas Drohendes dahinter. Nur etwas zu viel Staub war darauf. Und eigentlich keine Leute, keine Zuschauer, respektable Käufer des Vergnügens. Es war Bettlervolk, das Staub fraß.

Ich stand auf, angeekelt von der Speise. Den Gast hatte ich plötzlich vergessen. Es machte die Klage dieser kleinen Schweinsblase so müde, und dahinter das große, wirkliche Geschrei. Und die Mittagszeit, die einen umbiegt… Was sollte ich jetzt nur tun? Sollte ich etwa schlafen? Es wird alles versucht, wenn uns nichts mehr übrig bleibt. Es war zwar greller Tag. Und als ich in meine kleine Stube trat, sah ich erst, wie grell er war. Er war gleichsam für immer da hi-neingestiegen. Und während draußen vielleicht einmal um Dämmerung jegliches Ding, das sich am Tage sinnlos laut selber bei seinem Namen gerufen hatte, mählich vergaß, und auch einmal wieder der Mond aufstieg, und über seine Dächer und Hügelränder ging, und mit den Pappeln spielte wie mit Springbrunnen, blieb hier alles unberührt dasselbe, hier oben in meiner Stube. Es musste so bleiben. Hier das Bett, der Tisch, der Kerzenleuchter, der nicht nottat, die Wände selber, sie alle hatten so viel nüchterne Wirklichkeit aufgespeichert, dass nichts sie bewältigen konnte. Sie, diese Wirklichkeit, war Herr an diesem Orte. Darum muckste ich mich auch nicht. Ich öffnete sogar noch das Fenster.

Müde, wie ich war, stand ich daran und wartete. Vielleicht doch auf die Nacht, vielleicht die Nacht des Schlafes? Ich wusste nicht. Ich stand und schaute hinab. Ich erfasste es endlich: Es war der Hof mit den Schweinen, der mich so interessierte. Und dabei dachte ich noch zugleich an vieles, wie immer, wenn es einem elend ergeht. Ich dachte zugleich an den hämischen Blick des Wirtes, als ich bei ihm eingetreten war, und ich dachte an ein schwatzhaftes Gespräch der Bedienung, das ich von fern mit angehört hatte und das sie von selber halblaut mit dem Tode geführt hatte. Oh, solch Gespräch und solchen Blick vergisst man nie mehr, auch wenn man sie scheinbar mit träumenden Ohren und träumenden Augen vernommen hat. Oh, und ich hatte viel so Nie-zu-Vergessendes. Ich war geradezu reich daran. Und doch beklagte ich mich nicht eigentlich über diese Gabe der Erinnerung.

Wusste ich doch um einen Menschen, der immer und immer unter einem solch hämischen Blicke zu leben hatte, ohne dass jemand zu sagen wusste warum. Ja, ich hatte ihn schon am Orte gefunden, einen von dieser Art: einen Schweinehirten.

Dieser greise Knecht ging, während ich mit hungrig werdendem Blick hinabsah, viele Male über den Hof.

Er ging mühelos, was seinen Eifer anbetraf, weich beinahe, wie ich mir im Jenseits denken könnte, dass einer da noch ginge. Aber er ging gebückt, »beinah zu Tode gebückt«, wie ein alter Volksspruch sagt; und die Dinge, die er fasste, schienen mit ihm zugleich auf ebener Erde zu sein, und waren doch so bald über ihm, höher, als er selbst schien, weil er so alt und gebückt war.

Ich sah es an diesem Nachmittag, und es ist in mich eingekerbt für immer: wie er mit solcher Liebe die Tiere pflegte, dass ihm diese Liebe beinahe ein Lächeln während der Arbeit abgewann. Ein Lächeln freilich mit Seufzern und Räuspern untermischt, wie es nur alten Leuten eigen ist. Ein Lächeln, das ganz ein wenig an das höchste Alter und an die Tiere selbst erinnert. Freilich nicht aus animalischem Fühlen, sondern nur aus Mitgefühl, aus Liebe heraus. Oh, man konnte das sehr wohl auch, wenn man wollte, Beschränktheit nennen, ärgste Beschränktheit. Und ich bin gewiss, dass er oft keine bessere Nahrung bekam als die Schweine selbst. Denn das harte Brot musste seinem zahnlosen Munde wie Stein sein. Immer fauchten die Tiere danach, wenn sie ihn damit kommen sahen, das habe ich dies eine Mal und dann noch viele Male erlebt. Und außer den Tieren wusste es auch der ganze Ort, dass er das harte Brot bekam. Und wie diese Schweine wusste es auch kein Mensch, warum.

Der Wirt, mein Wirt und zugleich der Herr des Schweinehirts, war der Sohn nur dessen, dem er eigentlich gedient hatte. Dieser eigentliche Herr nun, den sein Knecht überlebt hatte, und dem er gleichsam noch als einem Toten diente, war ein guter, rechtschaffener Mann gewesen. Der Sohn aber, wie es ja oft ohne weitere Erklärung und ohne Übergang geschieht: boshaft und herzlos ohnegleichen. Ein Mensch war er, dem das eine Freude machte, was uns Grauen einflößt. Er war es, der täglich selber seinem Knechte dieses Brot gab. Er ging gleichsam täglich verwegen bis jäh an die Grenze dieser Unschuld. Er wusste, dass er nicht abstürzen konnte, dass sie ihn trug. Denn, mochte auch innen in dem Knechte eine Weisheit sein, die das alles sah und fühlte, so doch nicht so nach Menschenart.

Er war zu alt dazu, er war fünfundneunzig Jahre. Und früher, ihr mögt lachen, war er vielleicht zu jung dazu gewesen.

Wenn einem niemand sagt, wo das Kindsein aufhört, weiß man es vielleicht auch nicht.

Er wenigstens, so las ich ihm ab, klagte höchstens über den jähen Rückgang des Anwesens, sodass sein Schweinegehöft nur noch ungefährdet und in immer gleichem Werte blieb. Er klagte vielleicht in diesem eigensten Sinne über das rohe Gebaren des Wirts. Denn die Wirtschaft war immer leer. Da kamen nur fahrende Leute und dieser Tote und eine arme Frau, die seinem Hause durchaus keine Ehre brachte. Und waren auch sie fort (sann ich ihm nach, denn man konnte gleichsam alles durch ihn hindurch lesen), – wer kam dann?

Schließlich würde noch der Schweinekoben selber die Zuflucht seines harten Herrn werden. Und er, der Fünfundneunzigjährige, würde dann hinausgetrieben. Denn schnell geht es bergab in die Armut und Not eines Menschen, wenn sie nur einmal eine Zeit lang heimlich gedauert hat.

Aber eben das machte ihn nicht unruhig, das las man von oben ab.

Eben das war das Geheimnis.

Das steht in dem großen Buch geschrieben an jeder Stelle. Er selbst war ein Wort aus ihm. Ein Wort war er, an eine besondere Stelle gerückt. Im verlorenen Sohn stand er geschrieben.

Ich dachte lange darüber nach. Denn während der Lärm da unten sich immer mehr ergänzte und vervollständigte, entstand innerlich in mir durch diese einfältige Anschauung eine selige Stille.

Und so deuchte mich die Geschichte auf drei Weisen erzählt:

Auf die Weise des hartherzigen Wirtes, auf die Weise des einfältigen Knechtes und auf meine eigne Lebensweise. Jeder von uns dreien war eine Geschichte des verlorenen Sohnes.

Nur, wann sie endlich einmal reifen würden und süß abfallen, in das Paradies, das wusste man nicht. Mit dieser Betrachtung legte ich mich andächtig schlafen. Es war zwar noch nicht einmal Abend geworden. Aber bei mir war es Nacht. Ich hörte nur noch ein Wehen und Rauschen und fühlte, dass ein Wirbelwind über die Straße zog. Und dann legte einer Leitern an meine Mauer an und schlug mit einem gewichtigen Hammer einen Keil ein. Da war ich aber schon weit fort von mir. Und dann rief einer, der wohl Nägel zwischen den Lippen hatte, dem ein Wort zu, der das Seil befestigte, für den Seiltänzer, der es betreten musste …

Die Landstraße

Dritter Teil

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