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Die letzten Tage des Comandante

Für die einen ist Hugo Chávez ein populistischer Diktator, der Venezuela ins Chaos geführt hat, für die anderen ein Befreier, der den Armen und Unterdrückten wieder zu Würde verhilft. Ein tiefer Graben, der auch durch die Familie von Miguel Sanabrias verläuft: Während seine Frau den Lider máximo und dessen Politik verabscheut, ist sein Bruder vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ begeistert. Als die Meldung von Chávez´ prekärem Gesundheitszustand die Runde macht, kehren die Reichen nach Caracas zurück. Doch ihre Wohnungen sind mittlerweile besetzt – und das ganze Land steht kurz vor der Apokalypse. Als Miguel geheime Aufzeichnungen des kranken Führers zugespielt werden, sieht er sich gezwungen, Position zu beziehen.
  • Erscheinungstag: 22.08.2016
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010059
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

Titel der Originalausgabe: Patria o muerte © 2015 Alberto Barrera Tyszka. Published by arrangement with Tusquets Editores, Barcelona

 

Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde vom SüdKulturFonds in Zusammenarbeit mit LITPROM – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. unterstützt.

 

 

 

 

© 2016 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich

© Michel Piccaya / Shutterstock.com

Satz im Verlag

ISBN 978-3-312-01005-9

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Das Läuten des Telefons schabte am Abend. Miguel Sanabria hörte es nicht. Er war im Bad und putzte sich die Zähne. Seine Frau Beatriz saß im Wohnzimmer und schaute fern. Ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen, brüllte sie: Telefon. Wie ein Stein flog das Wort den Flur entlang. Sanabria nahm ab. Es war sein Neffe Vladimir, aufgeregt, nervös; er redete, als stolperten die Buchstaben in seinem Mund. Wir müssen uns treffen, sagte er. Und Sanabria sagte: Jederzeit. Und Vladimir sagte: So bald wie möglich. Und Sanabria sagte: Dringend? Und Vladimir sagte: Ja, sehr. Ich bin gerade gelandet. Zurück aus Havanna. Da sagte Sanabria nichts mehr.

Er wusste nicht genau, worum es ging, war sich aber sicher, dass dieser Notfall mit der Krankheit des Präsidenten zu tun hatte. Vor gut einem Jahr, am 30. Juni 2011, an einem ähnlichen Abend, hatte sein Neffe ihn schon einmal angerufen, kurz nachdem Hugo Chávez im Fernsehen verkündet hatte, er habe Krebs.

«Hast du᾽s gesehen? Hast du᾽s gehört?», hatte Vladimir damals gefragt.

Sanabria war gerade siebzig geworden und in Rente gegangen. Er war Onkologe und hatte am medizinischen Institut der Universidad Central gearbeitet. Den größten Teil seines Berufslebens hatte er der Forschung und Lehre gewidmet. Gegen Ende seiner Karriere hatte er sich immer mehr für Dinge interessiert, die mit OP-Sälen und Spritzen wenig zu tun hatten. Über eine Kooperation mit der Universidad Complutense von Madrid hatte er erreicht, dass sich Venezuela der Möglichkeit öffnete, die Psychoonkologie in den Lehrplan der Medizinischen Fakultät aufzunehmen. Wie alle Menschen war er im Laufe der Zeit flexibler geworden. Am Ende war er zu der Überzeugung gelangt, dass Wissenschaft allein nicht ausreichte, um zu lernen, wie man mit dem Körper in Beziehung trat.

«Was meinst du? Was denkst du?», hatte Vladimir mit zäher Hartnäckigkeit gefragt.

Er hatte nicht gewusst, was er antworten sollte. Eine Krankheit zu akzeptieren, sie zu benennen erzeugt automatisch einen emotionalen Bann. Ein Tumor macht dich sofort zum Opfer. Doch Sanabria wollte sich nicht dazu äußern. Sich nicht zu sehr vereinnahmen lassen. Er wusste, dass sein Neffe am anderen Ende der Leitung gespannt auf eine Antwort wartete. Sie hatten immer eine besondere, sehr enge Beziehung gehabt und es in all diesen Jahren geschafft, dass diese herzliche Verbindung die politische Polarisierung überlebte. Vladimir war ein Spitzenfunktionär der Regierung. Er hingegen hatte nie für Chávez gestimmt.

Außerdem war Sanabria nicht sonderlich gut gelaunt. Seit er die Universität verlassen hatte, fühlte er sich immer heftigeren Gemütsschwankungen ausgesetzt. Häufig verfiel er blitzschnell von Angst in Melancholie. Und genauso häufig und blitzschnell von Melancholie in Angst. Einfach so. Ohne ersichtlichen Grund fühlte er sich schwach und hilflos. Manchmal schreckte er am frühen Morgen aus dem Schlaf, als hätte man ihn auf der Flucht ertappt. Beatriz schlief friedlich an seiner Seite. Dann stand Sanabria auf und ging in die Küche. Normalerweise setzte er sich auf einen Hocker und nahm eine Mandarine aus dem Korb. Lauschte den Autos, die in der Ferne vorbeifuhren, auf der Autobahn. Er saß da, schälte die Frucht und starrte ins Dunkel. Er spürte, wie der intensive Zitrusduft allmählich den Geruch der Nacht vertrieb, den Geruch der Laken, den Geruch des Traums, dem er gerade entflohen war. In das weiche Fruchtfleisch zu beißen entspannte ihn. Den Saft auf seine Zunge spritzen zu fühlen beruhigte ihn. Manchmal war ihm beim Aufwachen zum Weinen zumute. Und es wurde schlimmer. Immer häufiger lag er am frühen Morgen wach und spürte diesen Kloß im Hals. Manchmal blieb er eine Weile liegen und hoffte, dass die Traurigkeit von allein verschwand. Er atmete tief ein und hielt die Luft in den Lungen, als machte er Atemübungen in einem Swimmingpool. Er schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Als wäre aufwachen das Gleiche wie absaufen.

Anfangs dachte er, es wäre eine vorübergehende Krise, die mit seinem siebzigsten Geburtstag zu tun hatte, mit seiner Pensionierung. Er hielt seine Schlaflosigkeit für eine Form von Trauer. Nach und nach begriff er, dass er mit einer wesentlich ernsteren Störung konfrontiert war. Das, was er sich immer vom Leib gehalten hatte, holte ihn nun ein: dieses Land. Zehn Jahre lang hatte Sanabria sich bemüht, am Rand der Realität zu leben, war Konflikten aus dem Weg gegangen, hatte dafür gesorgt, dass ihn das, was man die Revolution nannte, nicht tangierte. Er hatte alle Schwierigkeiten ausgestanden, alle Familienzwiste, die Diskussionen an der Universität, sogar den Fortgang seiner Tochter Elisa nach Panama, er hatte sich stets an den gesunden Menschenverstand geklammert, hatte sich von den Radikalen beider Lager abgegrenzt, hatte gedacht, dass alles, was geschah, nur ein vorübergehendes Ungleichgewicht darstellte, das sich irgendwann schon wieder einpendeln würde, normalisieren. Doch dann kamen die Mandarinen im Morgengrauen und der unerklärliche Drang zu weinen. Er begriff, dass er es satthatte. Im Grunde hatte er die Geschichte satt. Venezuela war ein Scheißland, ja nicht einmal ein Land, sondern ein Orkus. Die Politik hatte sie alle vergiftet, alle waren sie irgendwie verseucht, dazu verdammt, Partei zu ergreifen, unter dem Druck zu leben, für oder gegen die Regierung sein zu müssen. Zu viele Jahre schon waren sie eine präapokalyptische Gesellschaft, eine Nation im Konflikt, immer kurz vor der Explosion. Jeden Tag konnte ein Desaster geschehen. Verschwörungen, Massenmorde, Kriege, terroristische Attentate, Erschießungen, Exekutionen, Sabotageakte, Aufstände, Lynchmorde … Jeden Tag konnte eine Katastrophe passieren. Das Land stand immer kurz davor, in die Luft zu fliegen, aber es flog nie in die Luft. Oder schlimmer noch: Es flog langsam in die Luft, nach und nach, ohne dass jemand sonderlich Notiz davon nahm.

Die Zerstörung verwalten: den Fingernagel in die Schale einer Mandarine bohren.

 

Beatriz war da wesentlich direkter: Für sie war Chávez schuld, dass Elisa nach Panama gezogen war. Hätte das Land eine andere Regierung, hätte ihre einzige Tochter nicht auswandern müssen. Elisa und ihr Mann hatten beschlossen, ein Jobangebot anzunehmen, und waren mit dem kleinen Adrián nach Panama-Stadt übergesiedelt. Sie wohnten im 42. Stock eines Gebäudes mit Blick aufs Meer, in einem warmen und feuchten Klima, während in Caracas Sanabria und seine Frau lernten, über einen Computermonitor Großeltern zu sein.

An dem Abend, als Chávez seine Erkrankung publik machte, empfand Beatriz Genugtuung.

Sanabria rief sich jenen Moment wieder vor Augen. Als hätte der Anruf seines Neffen sein Gedächtnis gekniffen. Es kam ihm unglaublich vor, dass es kaum anderthalb Jahre her war. Gefühlt war wesentlich mehr Zeit vergangen. Anfang Juni 2011 hatte Chávez eine Auslandsreise abgebrochen und sich am 6. Juni nach Kuba zurückgezogen. Vier Tage später erklärte die Regierung, der Präsident habe sich in einem Krankenhaus der Insel einen Abszess im Becken entfernen lassen. Die Nachricht traf das Land überraschend. Aus Überraschung wurde bald Verunsicherung. Ein merkwürdiges Klima der Gereiztheit stellte sich ein. Die Informationen über Chávez waren unklar, ja widersprüchlich. Die Fragen schossen ins Kraut. An jenem Abend saßen Sanabria und Beatriz im Wohnzimmer und sahen sich die Botschaft des Präsidenten im Fernsehen an.

«Wahrscheinlich ist alles nur inszeniert», murmelte Beatriz. «Eine Erfindung der Kubaner, um uns abzulenken.»

Sanabria sagte nichts.

Chávez wirkte dünn und blass. Er stand hinter einem Pult und las seltsamerweise einen geschriebenen Text vor, statt vor den Kameras zu improvisieren. Es war unheimlich, dass ein Mann mit einer solch ausgeprägten Neigung, ein Publikum mit stundenlangen Reden zu traktieren, sich plötzlich auf wenige Buchstaben beschränkte, sich zur Geisel eines kleinen Stücks Papier machte.

«Ich glaube ihm gar nichts», befand Beatriz.

Sanabria quetschte einen Pfiff durch die Zähne, damit sie schwieg. Er wollte zuhören.

Der Präsident erklärte, man habe einen Eingriff an ihm vorgenommen, eine Drainage gelegt; am 20. Juni habe er sich erneut einer Operation unterziehen müssen, weil man einen «tumorartigen Abszess mit Krebszellen» entdeckt habe.

«Tumorartiger Abszess? Gibt᾽s das überhaupt?», fragte Beatriz, ohne ihren Mann anzusehen.

Chávez erläuterte, der Tumor sei vollständig entfernt worden und er befinde sich auf dem freudigen Weg der Genesung. Dann schwadronierte er vom Vaterland und von sich, von sich und von der Geschichte, von der Revolution und von sich, von sich und von Fidel Castro, und endete mit einem Schlachtruf: «Für jetzt und für immer! Wir werden leben und wir werden siegen!»

Beatriz runzelte die Stirn, stand auf und rief:

«Wenn das stimmt: gut gemacht, verdammt! Er hat᾽s verdient!»

Miguel Sanabria sah seine Frau streng an, mit vorwurfsvoll blitzenden Augen.

«Schau mich nicht so an», fuhr sie fort. «Der Typ ist ein Mistkerl und hat in diesem Land viel Schaden angerichtet.»

«Niemand hat Krebs verdient, Beatriz.»

«Das glaubst du!», rief sie und ging in die Küche. Einige Sekunden später schwebte ihre Stimme immer noch im Flur. «Vielleicht ist das eine Strafe Gottes.»

Sanabria schüttelte den Kopf, er hasste es, wenn Beatriz so redete. Auch er war gegen den Präsidenten, und trotzdem konnte er diese Meinungen, diese Gefühle nicht teilen. Vielmehr war er beeindruckt. Chávez hatte keinen Arzt vorgeschickt, hatte das Wort nicht irgendeinem Spezialisten überlassen, wie es in einer solchen Situation überall auf der Welt üblich wäre. Selbst derartig geschwächt wollte er die Kontrolle bewahren. Er hatte es nicht zugelassen, dass man ihm die Hauptrolle wegnahm. Schon gar nicht jetzt, unter diesen Umständen. Und er hatte noch eine andere Botschaft verkündet, nämlich dass nur einer über seinen Körper sprechen durfte: er selbst. Dass allein er der Herr über seine Krankheit war. Herr über das medizinische Wissen, über die Wissenschaft an sich, über das, was man über seine Krankheit wissen und sagen konnte. Im Grunde hatte er klargestellt, dass er auch aus dem OP heraus Politik machen würde.

 

«Wer war das vorhin am Telefon?», fragte Beatriz, legte sich neben ihn ins Bett und zog die Decke über sich.

«Vladimir.»

Sie hielt mitten in ihrer Bewegung inne, und die Gesichtszüge entglitten ihr. In ihrem Blick lag eine diskrete Neugier.

«Weiß man was?»

Anderthalb Jahre später hatte Chávez᾽ Entscheidung immer noch Bestand. Am 8. Dezember 2012 wandte er sich an das Land und erklärte, er müsse sich einer weiteren Operation unterziehen. Er ließ keinen Arzt sprechen, zitierte aus keinem medizinischen Bulletin. Er allein kündigte an, dass er möglicherweise länger abwesend sein würde. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Vladimir zum Beraterteam des Präsidenten. Er reiste mit der Abordnung, die den Staatschef begleitete, nach Kuba. Wenige Tage später war er wieder zurück. Und kaum war er gelandet, hatte er seinen Onkel angerufen. Es musste sich also um etwas Dringendes handeln.

«Hat er dir wirklich nichts erzählt?», fragte Beatriz, bevor sie das Licht löschte.

Sanabria machte ein vages, leicht gelangweiltes Gesicht. Er wollte ihr nichts verraten. Beatriz war in letzter Zeit etwas übernervös. Die allgemeine Ungewissheit nährte nur ihre Intoleranz. Sie anzulügen war die gesündere Option.

«Vladimir meinte, es sei alles gut gelaufen, normal.»

«Hier ist nichts normal.»

 

Wieder wachte er viel zu früh auf. Es war erst halb vier Uhr morgens. Er setzte sich an den Küchentisch, in der Hand eine Mandarine, und hörte in der Ferne die Autobahn.

«Wir machen uns Sorgen», hatte sein Neffe gesagt.

Der Plural hat immer etwas Zwielichtiges. Wer waren sie? Von wem genau sprach er? Die Informationen über den Ausgang der Operation waren alles andere als eindeutig. Chávez’ Gesundheitszustand blieb ein Geheimnis. Dass er die Möglichkeit eines Misserfolgs nicht ausgeschlossen und zudem einen wahrscheinlichen Nachfolger benannt hatte, fügte diesem Geheimnis etwas Kaltschweißiges hinzu. Auf den Straßen brodelte die Gerüchteküche.

«Du musst mir helfen, Onkel.»

Sanabria schwante Böses.

«War die Operation erfolgreich?», fragte er.

Vladimir antwortete nicht. Am anderen Ende der Leitung stellte sich kurz eine Leere ein, das ferne Echo eines Mienenspiels. Sanabria hielt das Schweigen nicht aus.

«Was soll ich tun? Soll ich mir wieder Untersuchungsergebnisse ansehen?»

Sein Neffe hatte ihm einmal einen ärztlichen Bericht vorbeigebracht und ihn um seine Meinung als Fachmann gebeten.

«Nein, Onkel. Diesmal geht᾽s um was anderes», sagte Vladimir. Es war nicht zu überhören, dass er nervös war. «Um etwas Vertrauliches. Sehr Vertrauliches. Kann ich mich auf dich verlassen?»

Sanabria sagte ja, aber seine Zunge fühlte sich plötzlich sandig an.

«Was kann ich für dich tun?»

«Ich muss eine Kiste verstecken.»

 

 

 

Auf seiner Mailbox war eine Nachricht, die folgendermaßen begann: «Sehr geehrter Doktor Sanabria, wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht an mich, ich bin Andreína Mijares, die Eigentümerin von Wohnung 34.» Sie hatte recht, er erinnerte sich nicht. Er schloss die Augen und wiederholte innerlich den Namen. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, musikalisch bekannt. Wie ein vertrauter Ton, den er nicht richtig einordnen konnte.

«Aus persönlichen Gründen», schrieb Mijares, «musste ich mich vor Jahren in Miami niederlassen. Leider verliefen die Dinge nicht so, wie ich es mir erhofft hatte, und nun plane ich, nach Venezuela zurückzukehren. Meine Wohnung habe ich seinerzeit an Fredy Lecuna vermietet. Seit Monaten schon versuche ich mit ihm Kontakt aufzunehmen, um ihn über meine Rückkehr zu informieren, was mir jedoch, so unglaublich es klingen mag, bislang nicht gelungen ist. Vielleicht stimmt die E-Mail-Adresse nicht mehr, vielleicht ist das Telefon kaputt, jedenfalls konnte ich ihn nicht erreichen. Allmählich finde ich es merkwürdig und mache mir Sorgen. Von einem Cousin, der mit der Portiersfrau gesprochen hat, weiß ich, dass Sie inzwischen die Nachbarversammlung leiten, und ich habe mir Ihre E-Mail-Adresse geben lassen. Sie kennen ja die Situation im Land. Im Dezember komme ich zurück und brauche meine Wohnung. Deshalb schreibe ich Ihnen. Glauben Sie mir, es ist mir unangenehm, Sie damit zu belästigen, aber, wie gesagt, es war mir nicht möglich, mich mit meinem Mieter in Verbindung zu setzen. Wenn Sie mir irgendwie weiterhelfen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.»

Als Sanabria in Pension gegangen war, hatte er sich dazu breitschlagen lassen, den Vorsitz über die Nachbarversammlung zu übernehmen. Er dachte, damit könnte er sich ein wenig die Zeit vertreiben und außerdem etwas Nützliches tun. Dass es so anstrengend werden würde, hätte er nie gedacht. Das Gebäude war eher klein, fünf Stockwerke, achtzehn Wohnungen und zwei Penthäuser. Es hatte einen überdachten, wenn auch frei gelegenen Parkplatz und dahinter einen schmalen Garten, eine Art Laube, mit einer Bougainvillea, die in der Saison vor violetten Blüten nur so strotzte.

Naiverweise hatte Sanabria gedacht, es bedeute nicht viel Verantwortung und würde ihn weder Zeit noch Nerven kosten. Beides erwies sich als Irrtum. Eine Gruppe von Menschen, eingesperrt in einem fünfstöckigen Gebäude, erzeugt allerlei Spielarten der Hölle. Bislang war alles glimpflich verlaufen. Doch nun schwebte die E-Mail von Andreína Mijares über diesem Nachmittag und weckte eine böse Vorahnung.

Er kannte die Familie Lecuna gut. Sie wohnte im dritten Stock. Ein junges Ehepaar mit nur einem Kind, Rodrigo, der neun oder zehn sein musste. An Andreína Mijares hingegen konnte er sich nicht erinnern. Die Erinnerung ist so willkürlich wie die Fantasie. Sanabria stellte sich das Gedächtnis wie den Grund eines dunkelblauen oder dunkelgrünen Meeres vor, wo Schatten huschen und unbekannte Menschen und überraschende Gegenstände auftauchen und verschwinden. Warum hatte er kein einziges Bild von Andreína Mijares vor Augen? Warum hatte er sie vergessen? Warum bot sein Gedächtnis ihm lediglich eine riesige, langsam wogende Flut an?

«Wie kann es sein, dass du dich nicht an sie erinnerst?», rief Beatriz. «Du hast ihr sogar mal geholfen, als sie auf dem Parkplatz ein Problem mit ihrem Auto hatte.»

Sanabria schüttelte leicht frustriert den Kopf. Nichts.

«So eine Kleine, etwas schüchtern», half Beatriz ihm auf die Sprünge.

Nein. Sanabria spürte nur die Wellenbewegung zwischen seinen Ohren.

«Was ist mit ihr?»

«Sie kehrt zurück. Kommt wieder. Und will natürlich in ihre Wohnung.»

«Pech gehabt», murmelte Beatriz. «Die Lecunas ziehen garantiert nicht aus. Die können ja nirgends hin.»

 

Fredy Lecuna war Journalist. Er arbeitete bei einer der wichtigsten Zeitungen des Landes, für die Rubrik Verbrechen. Seit Jahren verfolgte er Straftaten, quetschte die kleinen Berichte irgendwo oben oder unten auf der Seite in die Ecke. Beim Schreiben über Tote war er ein wahrer Meister: vollständiger Name, Alter, Familienstand, Beruf. Dann der Fall, die Gründe: Erstickt, überfahren, zwei Kugeln, drei Messerstiche. Und die Umstände natürlich: Es macht einen großen Unterschied, ob einem das letzte Stündlein im Bett schlägt, in einem Stundenhotel oder auf offener Straße, mit einer Pistole an der Schläfe, kurz bevor einem das Auto gestohlen wird. Auf ein besonderes Detail hinzuweisen ist immer hilfreich: dass der Tote eine Glatze hatte oder eine senfgelbe Hose trug. Allgemeinplätze sollte man vermeiden, Allerweltswörter. Gewaltopfer zum Beispiel ist abgenutzt. Gehört zu einem abgelutschten Jargon, der keine Aufmerksamkeit mehr erregt. Der Tod muss auch die Sprache überraschen.

Schon als Praktikant war er der Rubrik Verbrechen zugeteilt worden. Anfangs war es aufregend. Als Reporter fühlte er sich wie eine anständigere Art von Polizist. Doch mit den Jahren stumpfte er ab, empfand immer seltener Verwunderung, Empörung, Ekel. Es geschahen so viele Morde jeden Tag, so viele Raubüberfälle, so viele Entführungen, dass er es sich leisten konnte, den geeignetsten Fall auszuwählen, den Fall mit dem größten literarischen Potential. Natürlich gab es auch Fälle, über die er unbedingt berichten musste. Wie den des Gefreiten Diosny Manuel Guinand, der auf einem Militärstützpunkt im Westen des Landes achtundvierzig Stunden lang gefoltert worden war, bevor er starb. Bei so einem Fall blieb einem keine Wahl. Gegen so einen Exzess konnte man nicht ankämpfen. Solche Verbrechen musste man unweigerlich bringen.

Nach und nach lernte er, Distanz zu wahren, legte sich eine Art zweite Haut zu, eine innerliche Gelatine, an der jeglicher Schlag abprallen oder abgleiten konnte, die verhinderte, dass er sich eine Nachricht zu sehr zu Herzen nahm. Man konnte nicht jeden Tag einer anderen Familie beistehen, die vor Wut und Ohnmacht weinte, weil einer der Ihren ermordet worden war, man konnte nicht ständig darum ringen, ja nicht berührt zu werden, ja kein Mitgefühl zu empfinden angesichts der Tragödie. Man kann den Schmerz nicht ständig an sich heranlassen und ganz normal weiterleben. Laut offiziellem Gewaltbericht waren im Vorjahr 19.336 Morde registriert worden. Das schrieb sich leicht dahin. Neunzehntausenddreihundertsechsunddreißig. Doch diese Zahl war fatal, denn zusammengefasst bedeutete sie, dass im Jahr 2011 zweiundfünfzig Morde pro Tag verübt worden waren. Zwei pro Stunde. Die Statistik des laufenden Jahres, das sich allmählich seinem Ende zuneigte, drohte mit noch wesentlich schlimmeren Zahlen.

Es gibt gar nicht genügend Journalisten, um über so viel Blut zu berichten.

Als Sanabria bei Fredy Lecuna klingelte, um ihm von der Nachricht zu berichten, traf er ihn allein an. Seine Frau war bei der Arbeit, Rodrigo in der Schule. Es war elf Uhr an einem Mittwochmorgen, aber Lecuna war angezogen, als wäre es ein Sonntag um vier Uhr nachmittags.

«Ich bin seit drei Monaten arbeitslos. Bei der Zeitung habe ich gekündigt», sagte er und bat Sanabria herein.

Ausführlich schilderte er, wie die neuen Eigentümer der Zeitung, eine Gruppe von Unternehmern, eine Richtlinie vorgegeben hatten, die bestimmte, was berichtet werden durfte und was nicht.

«Man darf nicht mehr über mangelnde Sicherheit und Gewalt schreiben.»

«Über was dann?»

«Nur noch Positives. Es ist die reinste Selbstzensur», machte er seinem Ärger Luft.

Als sie endlich auf das eigentliche Thema zu sprechen kamen, gestand Lecuna ein, dass sie bereits mehrere Mitteilungen von Andreína Mijares erhalten hatten, Anrufe ihrer Angehörigen und Freunde, E-Mails, einmal sogar einen Brief in einem Umschlag, den jemand bei der Portiersfrau abgegeben hatte. Es ist alles bei uns angekommen, erklärte er, aber wir konnten nicht antworten. Es geht einfach nicht. Sanabria verstand es als Wink, dass auch die Nachricht, die er zu übermitteln hatte, auf taube Ohren stoßen würde. Lecuna hatte gute Argumente.

«Sie müssen mich verstehen, Doktor, für uns ist es auch nicht leicht. Wir haben keine Antwort. Wir können ihr keine geben. Umzuziehen ist ausgeschlossen. Wir wüssten gar nicht, wohin. Oder womit. Die Miete hier ist einigermaßen bezahlbar, jedenfalls würden wir nirgendwo etwas Vergleichbares finden. Die Preise sind in die Höhe geschossen. Wir müssten uns was außerhalb von Caracas suchen. Die Sache ist kompliziert, Doktor, verstehen Sie. Ich bin arbeitslos. Und Tatiana ist freiberufliche Designerin, die ab und zu einen kleinen Job ergattert. Versetzen Sie sich mal in unsre Lage.»

Sanabria hörte zu, ohne zu blinzeln. Innerlich bereute er wieder, dass er den Vorsitz der Nachbarversammlung übernommen hatte.

«Hier kommen wir über die Runden, zumindest, wenn wir den Gürtel enger schnallen. Es wird ja alles immer teurer. Und das Geld reicht hinten und vorne nicht. Wissen Sie, wie viel Schulgeld wir für Rodrigo zahlen? Ein Wahnsinn. Und da fällt dieser Dame plötzlich ein, aus Miami zurückkehren zu wollen, auf einmal, und wir sollen hier raus, so Knall auf Fall, nur weil es für sie nicht so gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt hat. Und wir? Was ist mit uns? Ist das unsere Schuld? Wir müssen in den sauren Apfel beißen und basta? Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will, Doktor?»

Sanabria sagte ja, er verstehe es sehr gut. Aber Andreína Mijares verstehe er eben auch. Schließlich sei das ihre Wohnung, und so wie es aussehe, sei sie fest entschlossen zurückzukommen. Es habe also keinen Sinn, die Sache weiter hinauszuschieben, früher oder später müssten sie mit ihr reden und eine Lösung für das Problem finden. Es gebe keine Lösung, erwiderte der Journalist. Manchmal sei das eben so, manchmal gebe es für ein Problem keine Lösung. Es bleibe einfach bestehen, für immer. Andreína Mijares sehe das garantiert ganz anders, entgegnete Sanabria. Und bevor er ging, wiederholte er noch einmal, dass sie leider keine Wahl hätten, nur die eine: auszuziehen. Die Wohnung gehört nun mal ihr, was soll man da machen?

 

Einige Tage später hatte Fredy Lecuna eine Erleuchtung. Er lag auf dem Sofa und starrte in den Nachmittagshimmel. Er war müde, konnte aber nicht einschlafen. Sein Blick wogte träge hin und her, kam und ging, stand kurz vor dem Eintritt in diese zähe Region, in der man weder schläft noch wach ist, als ihm plötzlich eine Idee vor Augen stand. Wie ein neonfarbenes Insekt. Grün und glänzend. Verblüfft setzte sich der Journalist auf. Er dachte, seine Verzweiflung spiele ihm einen Streich. Oder er hätte Halluzinationen. Doch das Insekt blieb, wo es war, schwebte nervös in der Luft, direkt vor seinen Augen. Die Idee, die alle seine Probleme lösen würde, war einfach, direkt und klar: Er musste ein Buch schreiben.

Es war eine Epiphanie. Wie elektrisiert stand er auf und rief Gisela Vásquez an, eine alte Freundin, die in der Chefetage eines wichtigen Verlags arbeitete. Er redete regelrecht auf sie ein, flehte um Hilfe und erreichte tatsächlich, dass sie ihm noch für diesen Abend einen Termin gab.

«Ich habe aber nur fünfzehn Minuten», warnte sie, bevor sie ihm anbot, Platz zu nehmen.

Das Büro war weiträumig und strahlte Effizienz aus: ein langer Tisch, fast leer, zwei Telefone in der linken Ecke und ein großer Monitor in der Mitte, auf dem ein Statistikdiagramm zu sehen war. Auf einer Seite, gleich neben der Tür, stand ein kleines Regal, in dem sich die Novitäten stapelten. Gisela Vásquez begrüßte ihn herzlich, setzte sich an ihren Schreibtisch und sah ihn fragend an, wartete auf einen Satz, der erklären würde, warum er so sehr auf dieses Treffen gedrängt hatte.

«Ich will ein Buch schreiben», sagte er schließlich.

Einige Sekunden verstrichen, bevor Gisela Vásquez spöttisch grinste, aufstand und sich an das Bücherbord neben der Tür begab. Ihre Absätze hallten. Ein exaktes Ticktack, das von ihren Hüften zu tropfen schien.

«Jeder will einen Bestseller schreiben», sagte sie und kam mit einem Buch in der Hand zurück.

Sie legte es auf den Tisch und nahm ihren Platz wieder ein. Das Exemplar, das nun zwischen ihnen lag, war der dritte Band einer Saga von Erika Leonard, einer englischen Autorin, auch bekannt unter dem Namen Erika Mitchell oder E. L. James. Mit ihrem schnörkellosen Erzählstil, der die weibliche Erotik bediente, hatte sie einen phänomenalen Erfolg gelandet, für den andere Schriftsteller sie nur hassen konnten. Lecuna wusste nicht, was er sagen sollte. Zuerst überlegte er, ob er ihr erzählen sollte, was passiert war, dass er an diesem Nachmittag eine Erleuchtung gehabt hatte, eine Epiphanie. In Form eines neongrünen Insekts, das ihm direkt vor Augen gestanden hatte. Doch dann beschloss er, dass das wenig professionell wäre. Er konnte ihr schlecht sagen, dass ihn bei seiner Siesta im Halbschlaf ein Geistesblitz getroffen hatte und er deswegen ein Buch schreiben wollte. Kurz dachte er auch darüber nach, ob er ihr die Wahrheit erzählen sollte: von seinem Jobverlust, von Tatiana und Rodrigo, von der Mietwohnung, aus der sie ausziehen mussten, von der unsicheren Wirtschaftslage, in deren Strudel sie unwiderruflich geraten waren. Gisela Vásquez jedoch benötigte keine Erklärungen. Sie schien die Zusammenhänge auch so zu begreifen, ohne dass er ins Detail gehen musste. Sie verstaute den Bestseller der englischen Autorin in einer Schublade und erläuterte ihm, dass sich in jüngster Zeit auch einige journalistische Bücher gut verkauft hätten. Kein reißender Absatz, aber doch ein hübscher Erfolg, es sei wichtig, dass er den Unterschied begreife. Lecuna nickte zustimmend. Dreimal nickte er, was weniger ja bedeutete als vielmehr natürlich. Ohne weitere Umschweife schlug die Verlegerin ihm vor, ein Buch über ein Massaker in einem Provinzgefängnis zu schreiben, einen heftigen Bandenstreit, der mit sechzehn Toten geendet hatte, einige davon schrecklich verstümmelt. Dem Anführer der besiegten Bande hatte man das Herz herausgerissen und den Kopf abgeschnitten. Lecuna kannte die Geschichte, er hatte die Reportagen gelesen. Der Verlag könne ihm einen sehr guten Vorschuss anbieten, erklärte seine Bekannte, das Unternehmen sei sich sicher, dass ein Buch über dieses Thema ein noch nie dagewesener Erfolg werden würde. Lecuna zögerte, wirkte nicht sehr überzeugt. Er ließ einige Bemerkungen fallen, wie schwierig es sei, an Informationen heranzukommen, wie gefährlich, sich mit der Mafia anzulegen, die in den Gefängnissen Venezuelas das Sagen hätten.

«Du könntest ein Pseudonym benutzen. Darauf wird neuerdings öfter zurückgegriffen, als man denkt», schlug die Verlegerin vor.

Und dann erzählte sie ihm von dem Argentinier Juan José Becerra, einem höchst gebildeten Romancier, der unter dem Pseudonym Mariano Mastandrea Schundbücher geschrieben und es damit zum Millionär gebracht habe, ganze Regale habe er mit seinen Selbsthilfebüchern gefüllt. So bekannt sei er geworden, dass der Verlag sich gezwungen gesehen habe, einen Schauspieler zu engagieren, der um die Welt reiste, Lesungen hielt und gefühlvolle Widmungen signierte, als wäre er der wahre Autor. Es sei eine faszinierende Geschichte, die beide Seiten hartnäckig abstritten. Mastandrea habe sogar einen Journalisten verklagt, der einmal einen Artikel über den Fall geschrieben habe. Nur einmal sei Becerra beinahe aus der Rolle gefallen, als er einem unabhängigen Radiosender ein Interview gegeben habe. Das sei in Junín gewesen, 2001. Als er auf den Punkt angesprochen worden sei, habe er gezögert, sei kurz unschlüssig gewesen und habe dann nervös und missmutig das Thema gewechselt.

Lecuna fand die Geschichte eher abschreckend.

«Ich will nicht unter Pseudonym veröffentlichen», sagte er. «Das habe ich noch nie gemacht.»

Die Verlegerin schien aufzugeben, trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch, dachte kurz nach. Dann sagte sie:

«Ich habe noch ein anderes Projekt. Kennst du das Model Zuly Avendaño?»

Der Journalist wusste, wer sie war, kannte sie aber nicht persönlich. Es handelte sich um ein klassisches Model, eine Einsfünfundsiebzig-Frau, Brüste Marke Doktor Gómez Tejera, ewiges Lächeln, Ex-Miss-Venezuela, Ex-Miss-World, Moderatorin einer Morgenshow bei irgendeinem Fernsehsender.

«Wir wollen ein Buch machen mit dem Titel ‹Glamour für alle›. Von der Idee her nice, du weißt schon, etwas Naiv-Frivoles. Anekdoten aus der Welt der Mode, tips … Wir geben dir die Infos, du schreibst, sie setzt ihren Namen drunter, und fertig. Was meinst du?»

Lecuna lehnte erneut ab. Er wollte auch kein Ghostwriter sein. Außerdem hatte er von dem Thema keine Ahnung. Diese Art von Stil lag ihm nicht, so leicht und oberflächlich, er wusste gar nicht, ob er das konnte. Gisela Vásquez’ Miene veränderte sich derweil, zeigte unverhohlen, dass sich die letzten Geduldsreserven allmählich ihrem Ende zuneigten.

«Mein Ding ist mehr die Realität, nicht die Fiktion», argumentierte Fredy Lecuna.

«Da irrst du dich: Alles ist Fiktion, auch die Realität.»

Eine unbehagliche Stille machte sich breit. Lecuna hatte das Gefühl, dass das Gespräch zu Ende war, dass dies alles war, dass jenseits dieser Stille nichts mehr kam. Da passierte es erneut. Der Geistesblitz. Der Zauber, die Offenbarung. Gisela Vásquez’ Augen leuchteten. «Es ist direkt vor unserer Nase, und wir sehen es nicht!», rief sie plötzlich.

«Ich verstehe nur Bahnhof.»

«Was ist mit der Krankheit des Präsidenten? Warum schreibst du kein Buch über Chávez?»

 

An diesem Abend schenkte sich Fredy Lecuna zu Hause einen großen Whiskey ein, mit viel Eis und Soda. Er musste nachdenken. Hinter dem Vorhang der Nacht rasten Autos über die Autobahn. Jenseits davon ertönten zwei Detonationen. Er rief sich seinen Job in Erinnerung, seine Aufgabe, vom Tod zu erzählen. Wie oft hatte er das Wort Kugel geschrieben? Manchmal hatte er das Wort sogar angestarrt. In sich versunken angestarrt. Hatte fast das Gefühl gehabt, dass das Wort zurückstarrte. Provokant, irgendwie vorwurfsvoll. Schon wieder? Wie oft hatte er seine Finger über jeden einzelnen Buchstaben gleiten lassen?

Das Wort Kugel tippen: K u g e l. Den Tod schreiben.

Immer nur über Leute schreiben, mit denen es zu Ende geht, über Leute, die verschwinden.

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