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Die schöne Tochter des Senators

Abby, die junge, unscheinbare Tochter des Senators von Virginia, träumt heimlich davon, den attraktiven Boyd Butler zu erobern. Doch der Sohn des US-Vizepräsidenten hat nur Augen für ihre umschwärmte Schwester. Bis aus Abby mit der Hilfe des weltmännischen James Calhoun eine gefeierte Schönheit wird. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt der Gesellschaft, bezaubert jeden Gentleman durch Anmut und geistreichen Charme. Ihre Ausstrahlung entgeht auch Boyd nicht, und sein Heiratsantrag macht schließlich Abbys kühnste Träume wahr! Doch da erkennt sie, dass sie ihr Herz inzwischen an James verloren hat ...


  • Erscheinungstag: 20.12.2014
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955764043
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Die schöne Tochter des Senators

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Rita Langner

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2014 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Halfway To Heaven

Copyright © 2001 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebol&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: by Pino Daeni via Thomas Schlueck GmbH, Garbsen

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95576-404-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Der Brautstrauß flog an einem Dutzend gereckter Arme vorbei genau in Abigail Beatrice Cabots Gesicht und fiel ihr dann in die Hände. Für einen Moment sah sie Sterne; ihr tränten die Augen, und der aufdringlich süße Geruch der Gardenien stach ihr in die Nase. Sie blinzelte zweimal und brach dann in schreckliches Niesen aus.

Zuerst senkte sich Grabesstille über die fröhlichen Gratulanten, danach begannen die jungen Damen in der Nähe zu kichern, und schließlich flüsterten die Hochzeitsgäste erregt, die sich im Ostsaal des Weißen Hauses versammelt hatten.

„Ich bin allergisch gegen Gardenien“, entschuldigte sich Abi-gail, der die Angelegenheit sehr peinlich war. Blütenblätter schwebten an ihrem Gesicht und dem Oberteil ihres Kleides herab und hinterließen eine gelbe Puderspur. Ein Kamm hatte sich aus ihrem Haar gelöst, und sie merkte, dass ihr aufgesteckter Zopf herunterfiel.

Abigail ließ den Brautstrauß fallen, kümmerte sich nicht weiter darum, sondern dachte nur noch daran zu fliehen. Sie hörte, wie die Gäste leise tuschelten, als sie über das blanke Parkett eilte. Obwohl sie sich große Mühe gab, nicht hinzuhören, drangen doch einige nur allzu bekannte Sätze an ihr Ohr: „Wie peinlich für Senator Cabot! Seine Tochter war ja schon immer ein wenig merkwürdig, nicht wahr? Für ihn muss sie eine wahre Prüfung sein ...“

Derweil stand ihr Vater an einer Seite des Saals und warf ihr einen niederschmetternden, enttäuschten Blick zu. Statt seinen Auftritt als Senator aus Virginia zu schmücken, hatte sie es geschafft, allen Anwesenden vorzuführen, dass er sich mit all seinem Geld und dem Einfluss, den er hatte, eben keine ordentliche Tochter zu kaufen vermochte. Am liebsten wäre sie tot umgefallen. Die Miene ihres Vaters, das Kichern ringsum – das war einfach zu viel. In ihrer Hast wäre sie beinahe gestolpert und hingefallen. Sie taumelte ein wenig, und ihre Frisur löste sich noch mehr auf.

Abigail sah alles um sich herum wie durch einen Nebel: den schneidigen Bräutigam in seiner Galauniform, die zierliche Braut im perlenbestickten Gewand, die sehen wollte, was mit ihrem Brautstrauß geschehen war, die Herren, welche sich um den Präsidenten scharten und um seine Aufmerksamkeit wetteiferten, die First Lady mit ihrer Damenschar, die lebhaft über das letzte Missgeschick von Senator Cabots Tochter schwatzte.

Obgleich die Gäste sich vor ihr teilten wie das Rote Meer, wurde Abigail den Eindruck nicht los, alle hätten sich nur versammelt, um ihren Fauxpas mitzuerleben. Sie spürte, wie die Blicke der Anwesenden sich in ihren Rücken bohrten, während sie durch den Ballsaal flüchtete und hoffte, sie würde die Glastüren beim Nordostausgang erreichen, bevor sie erneut niesen musste.

Dass sie sich auf der Hochzeit ihrer Freundin so blamierte, war ihr äußerst unangenehm. Eigentlich hatte sie überhaupt nicht herkommen wollen. Sie hatte all ihre üblichen Gegenargumente angeführt und erklärt, sie sei zu schlicht, zu tollpatschig in der Gesellschaft und zu ungeschickt auf dem Tanzboden.

Ihr Vater hatte jedoch darauf bestanden, dass sie ihn begleitete, und Senator Franklin Rush Cabot setzte stets seinen Willen durch, besonders bei seiner jüngeren Tochter, die es ihm so gern recht machen wollte.

Abigail hielt den Kopf gesenkt, konzentrierte sich auf ihre Flucht und schlängelte sich um Hochzeitsgäste, Topfpflanzen und vorbeikommende Kellner herum. Zwar schaffte sie es, ein erneutes Niesen zu unterdrücken, doch nun war sie beinahe taub. Allerdings nicht so taub, dass sie die Bemerkungen nicht hätte hören können, die wie eine ansteckende Krankheit weitergetragen wurden: „Einfach skandalös, nicht wahr? Sie müsste schon längst verheiratet sein. Hätte ihre Mutter das noch erlebt, wäre sie erschüttert gewesen ...“

Diese Hochzeit findet im Weißen Haus statt, sagte sich Abigail und warf einen verstohlenen Blick auf die Kritikerinnen. Wunderschön gewandet und mit einem Benehmen, das ebenso scharf geschliffen war wie ihre Zungen, stellten sie die Elite der hauptstädtischen Gastgeberinnen dar – Gattinnen von Senatoren, Staatssekretären und Industriellen. Fanden diese Damen denn zu ihrer Belustigung nichts Interessanteres als ausgerechnet Abigail Cabot?

Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Ziel: Flucht! Die Tür zum nordöstlichen Tor stand in dieser Herbstnacht offen und bildete den Rahmen für den tiefschwarzen Himmel mit seinem endlosen Sternenbogen.

Abigail lief, so schnell sie es wagen konnte, aber mit ihrem schlurfenden Schritt war sie wie immer viel zu langsam. Aus Angst vor einer weiteren Blamage drängte sie sich dennoch zur Eile, obwohl sie sich inzwischen an die Erniedrigung gewöhnt haben sollte. Seit frühester Kindheit wusste sie, dass sie anders war als andere. Sie konnte nicht rennen, nicht hopsen und nicht spielen wie andere Kinder. Doch nachts, wenn sie den Himmel nach Sternen absuchte, dann vermochte sie hoch hinaufzufliegen.

Die leere Ostveranda schien sie zu sich zu winken. Abigail hatte es fast geschafft. Sie war beinahe frei.

Sie huschte durch die Glastüren hinaus in den wohltuend leeren Innenhof. Schwarze Schatten lagen auf Gehwegplatten und Pfaden. Die Luft dieses späten Herbstabends war empfindlich kühl. Abigail drückte die Hände an die verzierte Betonbrüstung. Wahrscheinlich beschmutze ich mir daran die Handschuhe, dachte sie. Doch das war ihr jetzt gleichgültig; sie würde ohnehin heute Abend keinen Tanzpartner oder sonst jemanden finden, der ihre Hand halten wollte.

Behutsam zog sie den lockeren Kamm aus dem Haar und steck-te damit den aufgerollten Zopf wieder fest. Als sie danach an dem Geländer entlangging, hörte sie, wie ihr der Rock um die Beine rauschte. Der Windhauch kühlte ihren Hals, und der Nachthimmel übte seinen beruhigenden Zauber auf sie aus. Meistens behinderten Seenebel und Stadtbeleuchtung den Ausblick, aber heute war der Himmel ungewöhnlich klar. Dort erkannte sie Andromeda, die in alle Ewigkeit angekettete Prinzessin. Da, hoch im Süden, galoppierte der große, geflügelte Pegasus. Saturn befand sich im Aufstieg; einen Monat später würde Jupiter an der Reihe sein. Der immer währende Sternenhimmel, der sich langsam zu drehen schien, ließ Abigail für einen Augenblick ihre Schmach vergessen. Der glorreiche Himmel blickte niemals richtend auf bedeutungslose Erdenbewohner herab, die es sich zur Gewohnheit machten, sich ständig zu blamieren.

Doch unausweichlich kamen die Bedenken einer Erdgebundenen dazwischen: Sie vernachlässigte ihre Pflichten und versteckte sich hier draußen wie ein Feigling. Dies hier war schließlich keine beliebige Hochzeitsfeier, sondern eine, bei der der Präsident und die First Lady als Gastgeber fungierten. Die Präsidentengattin hatte zusammen mit der Braut, Nancy Kerry Wilkes, das Lyzeum von Miss Blanding besucht.

Abigail hatte so sehr gehofft, ihrem Vater zu gefallen, doch bis jetzt war es ihr nur gelungen, von dem Brautstrauß getroffen zu werden und davon einen Niesanfall in aller Öffentlichkeit zu erleiden. Doch die Nacht ist ja noch jung, sagte sie sich, richtete sich auf und straffte die Schultern. Wie ein Soldat, der einem Erschießungskommando gegenübertritt, drehte sie sich um und näherte sich wieder den Glastüren.

Samtvorhänge mit goldenen Kordeln und Quasten umrahmten den glitzernden Empfang. Während seiner Amtszeit hatte Präsident Grant den Saal wie einen Gespensterdampfer dekorieren lassen. Um sich davon nicht ausstechen zu lassen, hatte Präsident Arthur Louis Comfort Tiffany beauftragt, die Decke in Silber zu täfeln und in jedem Kreissegment einen Palmendschungel zu erschaffen. Was nun die gegenwärtige Administration hier vorhatte, vermochte sich Abigail nicht auszudenken.

Im sanften Licht der Bakkaratlüster wirkte die Szene wie ein schönes lebendiges Gemälde. Die Damen, deren pastellfarbene Gewänder sich von den schwarzen Smokings der Herren abhoben, drehten sich wie Ballerinen. Die Militärangehörigen sahen noch beeindruckender aus in ihren Galauniformen – Marineblau für die Männer aus Annapolis, frisches Hellgrau für die Leute von Westpoint, Militärblau für das Gardekorps. Jeder einzelne wirkte ungemein elegant in dem bunten Reigen der Tänzer, in dem sie die glitzernden Teile eines großartigen Musters bildeten, und alle drehten sich um die strahlenden Brautleute, die mit erfreulicher Präzision einen lebhaften Walzer vollführten. Alle bewegten sich wie gut geölte Zahnräder in einem riesigen Uhrwerk. Gottlob – die Welt hatte Abigail vergessen.

Wie eine Prinzessin im Märchen hatte Nancy Kerry einen gut aussehenden Westpointabsolventen mit makellosem Stammbaum und ebensolchem militärischen Verhalten geehelicht. Das strahlende Paar vermittelte den Eindruck, als wäre es ganz einfach, perfekt zu sein. Für die beiden sah es tatsächlich ganz einfach aus, glück-lich zu wirken.

Abigails Vater stand beim Punschbüfett und unterhielt sich angeregt mit Vizepräsident Butler. Mit den langen Frackschößen und den glänzenden Gamaschen ähnelten sie einem Paar riesiger, ernsthafter Käfer.

Abigail hielt nun nach ihrer Schwester Ausschau, doch Helena war nirgends zu entdecken. Wahrscheinlich beeindruckte sie irgendwo ihre Umgebung mit ihrer Schönheit und ihrem empörenden Benehmen, denn auf beides verstand sie sich bestens. Jedenfalls war es ganz gut, dass Helena sich im Moment rar machte; bei einer Hochzeit gehörte es sich nicht, die Braut auszustechen.

Wie üblich, blieb es Abigails Sache, das zu tun, was richtig war und was erwartet wurde, wobei es nicht darauf ankam, dass sie in beidem nicht besonders gut war. Dass man die beste Person für eine Aufgabe war, zählte weniger, als die Aufgabe tatsächlich auszuführen.

Da Helena drei Jahre älter war als die Schwester, sollte sie eigentlich diejenige sein, welche die pflichtbewusste Tochter spielte, wie Abigail fand. Doch dazu wäre es natürlich nötig gewesen, dass Helena sich ein wenig um Schicklichkeit kümmerte.

Niemandem lag mehr daran als Abigail, und die hielt sich einen ernsten, stummen Vortrag: Ich bin jetzt eine erwachsene Frau, sagte sie sich, und ich muss meinen lähmenden Widerwillen ablegen, in den Ballsaal zurückkehren und meinen Fehler wieder gutmachen.

Als sie indes an die Türklinke fasste, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der Ecke des Innenhofs. Ein von Steinbänken gesäumter Kiespfad schlängelte sich durch den dunklen Garten beim Weißen Haus. Und auf einer dieser Bänke, umgeben von spätblühenden Spinnenlilien und Herbstkrokussen, saß ein eng umschlungenes Paar.

Abigail stockte der Atem. Die beiden auf der Bank merkten nichts von ihrer Anwesenheit; in einem leidenschaftlichen Kuss vereint, umarmten sie einander. Ein unerklärlicher Impuls zog Abi-gail über den Innenhof, wo sie sich in den Schatten verbarg, um besser sehen zu können.

Um Himmels willen, der Mann hatte seine Hand unter den Rock der Dame geschoben! Ihr Bein lag über seinem Schoß und gab den Blick auf ein dunkles Strumpfband frei. Abigails Faszination wuchs, als die Frau aufstöhnend den Kopf zurückwarf und ihr Dekollete entblößte. Ihre Brüste waren so hell und glatt wie zwei Halbmonde. Der Mann küsste das schattige Tal zwischen ihnen, und Abigail fühlte in sich eine schreckliche Hitze aufsteigen, für die sie keinen Namen hatte.

Sie sank gegen ein Geländer und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie auf diese Weise küsste und sie so umarmte, als wollte er sie nie wieder freigeben.

„Oh ...“ Die Frau stöhnte erneut und voller Leidenschaft. „Ach Jamie, Jamie ...“ Sie beugte sich noch weiter zurück und drehte sich dabei ein wenig, so dass der schwache Mondschein ihr Gesicht umspielte.

Gebannt von dieser Szene, rückte Abigail noch etwas näher. Der Zweig eines Liliengewächses strich ihr übers Gesicht. Sie schob ihn zur Seite, um die Frau besser sehen zu können, die nun mit zurückgelegtem Kopf, geschlossenen Augen und in ihrer Ekstase halb geöffnetem Mund in seinen Armen lag. Sie hatte zarte Hände, ein helles, betörendes Lachen und ein überaus bekanntes Gesicht. Als Abigail sie erkannte, blieb ihr fast die Luft weg. Grundgütiger Himmel, das war ja Mrs. Caroline Fortenay, die Schwester des Präsidenten – seine verwitwete Schwester!

Abigail fühlte ein unheilvolles Kribbeln in der Nase. Oh nein! dachte sie, hielt sich das Taschentuch vors Gesicht und entfernte sich vorsichtig von der Blumenhecke. Trotz aller Bemühungen gelang es ihr nicht, das nächste Niesen zurückzuhalten, das nun geradezu wie ein Vulkan aus ihr hervorbrach.

Das Paar auf der Bank fuhr auseinander. Der Mann äußerte ein Wort, das Abigail noch nie gehört hatte, obwohl sie allein bei dem wütenden Klang errötete.

Rasch stieß sie sich von der Wand ab, überquerte den Innenhof und lief zum Eingang zurück. Das Taschentuch flog ihr aus der Hand und schwebte zu Boden. Sie kümmerte sich nicht weiter darum, sondern schlüpfte schnell in den Ballsaal.

In der Hoffnung, niemand möge ihr hastiges Eintreten gesehen haben, presste sie sich gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Unterdessen ging das Fest weiter, es wurde gelacht und geredet, und kein Mensch schien ihre Anwesenheit zu bemerken. Abigail seufzte tief und erleichtert auf. Wer hätte aber auch gedacht, dass ein Niesanfall sie in solche Schwierigkeiten bringen konnte!

Vielleicht sollte sie etwas trinken, um ihre Nerven zu beruhigen. Während sie zu dem Tisch mit den Getränken ging, strich sie sich über den Rock. Sie wünschte, sie hätte auf Helena gehört und sich ein neues Gewand bestellt, statt nur ein bisschen Spitze an ihr einziges gutes Kleid zu nähen. Abigail wusste jedoch immer einen besseren Verwendungszweck für ihr Geld und ihre Zeit; für Modisches fehlte ihr der Sinn. Doch jetzt, mitten in dieser Gesellschaft, merkte sie, dass das ein Fehler war. Sie sah aus wie eine arme Verwandte, wie eine altjüngferliche Tante vom Lande.

„Miss, Sie haben etwas fallen lassen.“

Abrupt blieb Abigail stehen, als sie die volltönende Stimme vernahm. Ihre Schultern verspannten sich, und ein heißer Schauer lief ihr über den Nacken. Langsam drehte sie sich um und sah sich einem ungewöhnlich groß gewachsenen Fremden gegenüber. Ein schneller Blick zeigte ihr kalte, eisgraue Augen, sonnengoldenes Haar, ein Gesicht, das von harter Erfahrung gezeichnet war, und einen Mund, auf dem das spöttischste Lächeln lag, das sie jemals gesehen hatte.

Das war er – der Mann aus dem Garten! ,Ach Jamie, Jamie ...‘ Der Mann, der die Schwester des Präsidenten verführt hatte, hielt Abigail nun das Taschentuch entgegen, als wäre es ein toter Vogel.

Sie errötete bis unter die Haarwurzeln und riss ihm das Stück-chen Stoff aus der Hand. „Danke“, murmelte sie und wünschte, sie könnte sich irgendwo verstecken.

„Keine Ursache“, erwiderte er mit einer tiefen und weichen Stimme, die sie für einen Augenblick ganz gefangen nahm.

,Ach Jamie, Jamie ...‘

„Ja, dann ...“ Abigails Mund war trocken, und ihre Wangen glühten. Zwanglose Gespräche mit Fremden fielen ihr ohnehin schwer genug; und in diesem Fall handelte es sich zudem um einen fremden Mann, den sie eben beim Liebesspiel mit der Schwester des Präsidenten beobachtet hatte. „Ich ... nun ... ich fragte mich schon, wo ich es gelassen hatte.“

„Nun, jetzt wissen Sie es.“ Ein unverschämtes Lächeln lag auf seinem Gesicht, und in seinen kalten Augen erkannte sie deutlich, dass er ganz genau wusste, wer sie war und was sie gesehen hatte.

Und was sie während ihrer Beobachtung gefühlt hatte.

„Dafür habe ich Ihnen zu danken“, erwiderte sie rasch. „Und nachdem ich es nun getan habe, muss ich gehen.“

Er räusperte sich. „Miss, Sie sollten das Taschentuch vielleicht benutzen, um sich ...“ Mit dem Zeigefinger deutete er auf ihren Wangenknochen.

Oh Himmel! Sie rieb über die Stelle, sah dann auf das Taschentuch und fand darin den gelben Blütenstaub aus dem Brautstrauß. Sie zwang sich, zu dem Mann hochzuschauen. „Noch irgendwo?“

Er nickte und stellte sich so hin, dass die anderen Gäste sie nicht sehen konnten. Dann hob er einen Finger an sein eigenes Gesicht und deutete auf zwei weitere Stellen. Abigail rieb schnell über ihre Wangen, bis er zustimmend nickte. „Sehr viel versprechend“, bemerkte er.

„Nun, also dann.“ Sie knickste unbeholfen. „Auf Wiedersehen.“ Abigail erkannte, dass dieser Mann es geschafft hatte, aus ihr in wenigen Minuten eine Vollidiotin zu machen. Sie musste hier verschwinden, bevor noch jemand etwas davon merkte. Das Taschentuch steckte sie unter ihre Gürtelschärpe und entfernte sich. Immer noch kämpfte sie darum, ihre Unruhe in den Griff zu bekommen, als sie sich plötzlich dem einzigen Menschen gegenübersah, den sie noch lieber anschaute als die Sterne.

Leutnant Boyd Butler III.

Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war er ein Junge mit kurzen Hosen und dürren Beinen gewesen, der sie mit feuchten Händen angefasst und sich mit ihr durch die Tanzstunde gequält hatte. Selbst damals fand sie ihn schon großartig und ungeheuer galant. Dann war er auf die Schule gekommen, und sie hatten sich aus den Augen verloren. Jetzt war er zurückgekehrt, und die Jahre auf der Marineakademie hatten einen prächtigen Mann aus ihm gemacht. Heute traf sie ihn zum ersten Mal auf einer Gesellschaft und war entsprechend aufgeregt.

„Miss Cabot.“ Der Sohn des Vizepräsidenten verneigte sich. „Ich gestehe, Sie haben mich überrascht.“

„Guten Abend, Leutnant Butler.“ Sie warf einen Blick über die Schulter, um festzustellen, ob der Fremde ihr gefolgt war, doch er war glücklicherweise in der Menge verschwunden.

Wie es von ihr erwartet wurde, bot sie Boyd Butler die rechte Hand. Zu spät erinnerte sie sich, dass sie sich die Handschuhe draußen an der Brüstung beschmutzt hatte, und jetzt wusste sie nicht, ob sie ihre Hand fortziehen sollte oder nicht. Während sie noch schwankte, fasste er ihre Finger und hob ihren Handrücken an die Lippen, wobei er nur einen kurzen Blick zu den schwarzen Schmutzstreifen auf den weißen Handschuhen warf.

In dieser Haltung fanden Abigails und Leutnant Butlers Väter die beiden auf ihrem Rundgang durch den Saal vor.

„Na so etwas!“ rief der ältere Mr. Butler aus. „Machen sich hier vielleicht unsere Sprösslinge miteinander bekannt?“

„Wir kennen uns bereits, Sir“, stellte der Leutnant richtig. „Miss Cabot war so freundlich, unsere Bekanntschaft zu erneuern, als ich Dienst im Marineobservatorium hatte.“

Abigails Bewunderung für ihn steigerte sich noch. Tatsächlich hatte man ihr nämlich den Zutritt zum Observatorium verweigert. An jenem Abend war sie jedoch so entschlossen gewesen, hineinzukommen, dass sie gedroht hatte, sich beim Präsidenten persönlich zu beschweren. In diesem Augenblick war Boyd dazugetreten und hatte gemeint, es würde nicht schaden, wenn man einer Frau den Zutritt zum Observatorium gestattete. Wie ungemein liebenswürdig von ihm, jetzt nicht darauf hinzuweisen, wie dreist sie sich seinerzeit aufgeführt hatte!

„Offen gestanden“, fuhr Leutnant Butler fort, „wollte ich gerade Miss Cabot um einen Tanz bitten.“

Tanzen – lieber Himmel! Sie warf einen verzweifelten Blick zu ihrem Vater. Perfekt getrimmte Koteletten rahmten sein Gesicht ein, das von Ehrgeiz und Entschlossenheit geprägt war. Tief in seinen intelligenten Augen leuchtete ein Versprechen, eines, das er jedoch zurückhielt. Nicht, dass ihr Vater sie nicht liebte; er war einfach nicht der Mann, der seine Zuneigung blind verschenkte. Er erwartete eine Gegengabe, etwas, das so schlicht wie unmöglich war.

Abigail wollte sich jedoch bemühen. Mit dem Gedanken an das Versprechen, das sie in den Augen ihres Vaters erkannt hatte, versuchte sie, sich so charmant und damenhaft zu verhalten, wie es andere junge Ladys taten. Sie drehte sich ein wenig zu Boyd Butler III. um und lächelte ihn an. Er war ein gutes Stück größer als sie. Das lag allerdings vor allem daran, dass sie recht klein war. Auch darin sah sie eine ihrer zahlreichen persönlichen Unzulänglichkeiten.

„Ich darf sagen, mir ist nie ein freundlicherer Mensch begegnet als an jenem Abend im Observatorium“, erklärte sie, während der Senator und der Vizepräsident sie betrachteten.

Ihr Vater bedachte sie mit einem sehr beherrschten Lächeln. „Mr. Butler, das ist dann ja wohl eine Empfehlung für Ihren Sohn. Man muss nämlich schon ungemein tolerant sein, um die ungewöhnliche Begeisterung meiner Tochter für diese Sternguckerei zu ertragen.“

Obwohl sie diese Bemerkung wie ein Stich traf, ruhte ihr Blick weiter auf dem Gesicht des Leutnants. Oh, wenn er sie in diesem Moment in Schutz nähme, würde sie ihn für immer lieben! Strahlend lächelte er ihren Vater an. „Sir, ich sehe keinen großen Unterschied darin, ob sich das Interesse einer Dame auf eine Wissenschaft oder auf Stickerei richtet. Beides ist mir gleichermaßen ein Rätsel.“

Die drei Männer lachten, und Abigail vermochte nicht zu beurteilen, ob Leutnant Butler sie nun tatsächlich verteidigt hatte. Doch da er so unglaublich gut aussah, beschloss sie, im Zweifelsfall für ihn zu entscheiden. Ja, er hatte so höflich wie möglich ihrem Vater widersprochen, ohne den Senator zu beleidigen. Dieser Mann hatte einfach Klasse!

„Miss Cabot, darf ich Sie um die Ehre dieses Tanzes bitten?“ fragte er.

Sie fühlte sich wie ein Kaninchen, das einen Wolf in seiner Nähe spürte. Reglos stand sie da, doch ihr Herz pochte beinahe schmerzhaft heftig. Ihr Vater beobachtete sie wartend. Das Versprechen in seinen Augen verblasste, und bald würde es ganz verschwunden sein. Sie durfte seine Wertschätzung nicht verlieren. An diesem Abend hatte sie sich bereits einmal mit dem Brautstrauß blamiert. Und falls sie den Tanz mit dem Sohn des Vizepräsidenten jetzt ablehnte, würde sie die Enttäuschung ihres Vaters jemals ertragen können?

Mit den hölzernen, eckigen Bewegungen einer Marionette drehte sie sich zu ihrem Partner um. „Es wäre mir ein Vergnügen, Leutnant Butler.“

Ihre Antwort erzielte in der Runde die erwünschte Reaktion. Boyd der Jüngere reichte ihr lächelnd die Hand; Boyd der Ältere nickte zufrieden. In den Augen ihres Vaters las sie Stolz und Zuneigung, die Abigails Seele erwärmten. Jetzt musste sie nur noch ohne Missgeschick den Tanz überstehen.

Sie verbarg ihre Furcht hinter einem Lächeln, legte ihre Hand in die von Leutnant Butler und folgte ihm zur Tanzfläche, um das nächste Stück abzuwarten. Bitte lass es etwas Langsames sein, betete sie. Einen gemessenen Paartanz würde sie gerade noch hinbekommen.

Die hohen Töne der Violinen schienen sich wie flüssiges Silber über den Saal zu ergießen. Leutnant Butler vollführte eine perfekte Verneigung, die Abigail mit einem kurzen Knicks beantwortete. Danach legte er ihr eine Hand an die Taille, während er mit der anderen ihre Hand fasste. Seine verlässliche Präzision und Verbindlichkeit gaben ihr Sicherheit und Zuversicht, als die ersten Takte des Tanzes erklangen.

Man spielte gottlob ein langsames Stück, dessen Tanzschritte ihr bekannt waren, denn oft lag sie nachts wach und sah sich selbst mit makelloser Anmut tanzen. Die Realität war jedoch etwas ganz anderes. Als sie sich nun beide über das Parkett bewegten, umklammerte sie seinen Oberarm wie im Todesgriff und konzentrierte sich so sehr, dass ihre Miene immer finsterer wurde. Leutnant Butler konnte nicht wissen, dass dieser Tanz für Abigail wie eine Reise voller Gefahren war. Er durfte es nicht merken, dass sie kurz davor stand, wie eine zerbrochene Puppe zusammenzusinken.

Oh Gott! Oh ihr Monde der Venus – er redete ja mit ihr, fragte sie etwas. „... eine hervorragende Verbindung, finden Sie nicht auch?“

„Oh gewiss“, sagte sie rasch. „Eine hervorragende Verbindung.“

„Das überrascht mich nicht.“ Leutnant Butler schien sich seiner Wirkung auf die weiblichen Hochzeitsgäste überhaupt nicht bewusst zu sein. Jedes Mal, wenn sie bei den Damen vorbeikamen, erschienen bemalte Seidenfächer wie Regenschirme bei einem Unwetter und flatterten vor hübschen Gesichtern, die bei jedem seiner Blicke erröteten. Er personifizierte den amerikanischen Traum, mit den dunklen, von Makassar-Öl glänzenden Haaren bis zu seinen messerscharf gebügelten Uniformfalten. Unwillkürlich betrachtete Abigail seinen wundervollen Mund, den ein perfekt gewachster Schnurrbart beschattete. Was würde wohl geschehen, wenn sie diesen Mund küsste? Würde das Wachs rissig werden? Würde es unter ihrer Glut Schaden nehmen?

Bei den kühnen Gedanken errötete Abigail und war ungeheuer stolz, dass dieser Mann sie erwählt hatte. Sie war nicht halb so hübsch wie die Mädchen von Albemarie, nicht annähernd so geistreich wie die aus New York angereisten Erbinnen und auch nicht so anmutig wie die Kusinen der Braut aus Baltimore. Allerdings war sie intelligenter als alle zusammen. Doch was nutzte ihr dieser Vorzug?

„Weshalb überrascht es Sie nicht?“ fragte sie und konzentrierte sich auf die einfachen Tanzschritte. Sie wusste noch immer nicht, wovon eigentlich die Rede war, doch das war ihm bis jetzt gar nicht aufgefallen.

„Weil mein Vater der oberste Beamte des Senats und Ihrer der Vorsitzende des Eisenbahnkomitees ist. Beide zusammen kontrollieren im Wesentlichen den gesamten Kongress.“

Abigail nickte und wäre beinahe mit einem vorbeitanzenden Paar zusammengestoßen. Sie erkannte Mrs. Fortenay, die jetzt geradezu königlich über das Parkett schwebte. Und ihr Tanzpartner war kein anderer als der Mann, dem sie auf der Veranda begegnet war. Ihr stockte der Atem.

„Beunruhigt Sie das?“ erkundigte sich Leutnant Butler.

„Selbstverständlich nicht“, beeilte sie sich zu antworten. „Unsere Sache könnte in keinen besseren Händen liegen, meinen Sie nicht auch?“

Der Fremde ertappte sie dabei, wie sie ihn über die Schulter des Leutnants hinweg ansah. Er zwinkerte ihr zu. Er zwinkerte! Ein Schauder durchlief sie. Zuerst glaubte sie, dass sie sich diese Aufdringlichkeit nur eingebildet hatte, doch dazu war das spöttische Zwinkern für sie zu offensichtlich gewesen. Und ihre körperliche Reaktion darauf war ebenso unmissverständlich für ihn.

„Wer ist dieser Mann?“ platzte sie heraus, ehe sie sich besann. „Der unverschämte, an dem wir eben vorbeitanzten.“

Butler wandte sich ein wenig um und schaute an ihr vorbei. „Ach, der.“

„Sie kennen ihn also.“ Als sie sich wieder im Tanz drehten, verlor sie fast das Gleichgewicht, konnte jedoch einen besseren Blick auf den fremden Mann erhaschen. Er war bemerkenswert groß, weit über sechs Fuß, und sein Maßanzug saß perfekt. Das helle Haar trug er ein wenig zu lang, und im Gegensatz zu den meisten modebewussten Herren hatte er weder einen dick gewachsten Schnurrbart noch Koteletten.

„Ich hörte von ihm“, stellte Leutnant Butler richtig. „James Calhoun.“ Abigail ließ sich diesen seriösen, fast konventionellen Namen auf der Zunge zergehen, doch im Geist hörte sie die Schwester des Präsidenten ausrufen: „Ach Jamie, Jamie ...“ Der Mann sah auch mehr nach einem Jamie als nach einem James aus.

„Ich hörte, er habe in Europa die Universität besucht. Es hieß, dies geschah gegen den Willen seiner Eltern, die der Meinung waren, ein echter Gentleman aus Virginia sollte Old Dominion besuchen.“

Abigail versuchte, sich die Eltern vorzustellen, die von einem Sohn enttäuscht waren, der auf dem Kontinent studierte. „Und wer sind diese Leute?“

„Sein Vater, Charles Calhoun, züchtet Rennpferde. Man erzählte mir, der Sohn habe ein gutes Auge für den Ankauf von Arabern und sei schon an gefährliche Orte gereist, um diese Tiere zu erwerben.“ Butler lachte leise. „Und jetzt ist er Kongressabgeordneter geworden.“ Der Leutnant wurde wieder ernst und wirkte jetzt etwas unzufrieden.

„Was haben Sie?“ Abigail zog ihren Fuß nach. Ohne Zweifel hielt Butler sie für eine ungeschickte und langweilige Tanzpartnerin.

„Ich fühle mich an meine eigenen Pflichten erinnert“, gestand er. „Manchmal glaube ich, die Augen der Welt seien auf mich gerichtet.“

Abigail fand zwar, dass er mit der öffentlichen Aufmerksamkeit hervorragend zurechtkam, schwieg jedoch. Es war kein Geheimnis, dass die Partei seines Vaters Leutnant Butler für eine große politische Karriere ausersehen hatte – möglicherweise sogar eines Tages für die Präsidentschaft.

„Ich weiß natürlich, dass ich gebraucht werde“, erklärte er ohne falsche Eitelkeit. „Ich weiß, dass man führende Köpfe benötigt, doch es ist eine schwere Bürde. Gelegentlich brauche selbst ich ...“ Er sprach nicht weiter.

„Was brauchen Sie, Leutnant Butler?“ Wonach immer er sich sehnt, ich möchte so gern diejenige sein, die es ihm gibt, dachte sie.

„Ach, nichts. Sie müssen mich für vollkommenen verrückt halten.“

„Nicht doch! Bitte, sagen Sie es mir.“

Er richtete den Blick zu Boden. „Ich wünsche mir oft, in meinem Leben gäbe es nur Romanzen und Poesie.“

Abigail verlor beinahe das Gleichgewicht, und nur mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen vermied sie es, tatsächlich zu stürzen. Weshalb müssen die Damen aber auch immer rück-wärts tanzen? fragte sie sich und fand es ungerecht; in ihrem Fall konnte es schlicht verheerende Auswirkungen haben.

„Das ist doch ein höchst ehrenwerter Wunsch“, erklärte sie ihm. Ach Boyd, Boyd, sang ihr Herz; ich werde dir Romanzen und Poesie schenken – zu jeder einzelnen Minute des Tages. Sie hatte zwar nicht die leiseste Ahnung, wie sie das anstellen sollte, doch für ihn wollte sie schon einen Weg finden.

„Mit Ihnen kann man sich gut unterhalten, Miss Cabot“, stellte er fest. „In Ihrer Gegenwart fühle ich mich sehr wohl. Der Druck, den meine Stellung mit sich bringt, fällt von mir ab, wenn Sie in meiner Nähe sind.“

Wäre Abigail nicht so hoffnungslos erdgebunden gewesen, hätte sie in diesem Augenblick einen Höhenflug in den Himmel angetreten. Dies war ihre Chance. Dies war der Moment, ihm zu erzählen, wie es in ihrem Herzen ausgesehen hatte, seit sie beide tollpatschige Jugendliche gewesen waren. Sie holte tief Luft, schwankte noch eine Sekunde und fasste dann Mut. „Leutnant Butler, ich möchte Ihnen sagen, dass es mir ebenso geht.“

„Große Güte!“ Butler starrte über ihre Schulter auf irgendetwas und hätte sie beinahe losgelassen, wenn sie sich nicht an ihm festgehalten hätte.

„Was haben Sie denn?“ Abigail fürchtete schon, sie hätte ihn mit ihrer kühnen Äußerung beleidigt.

„Wer ist dieses Geschöpf?“ fragte er, ohne sie dabei anzusehen. Er schien ganz vergessen zu haben, dass sie noch existierte. „Sie ist eine Göttin!“

Abigail verdrehte den Hals und folgte Butlers Blickrichtung. Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt, und Abigail stand mit beiden Füßen wieder fest auf dem Boden der Tatsachen. Leutnant Butler starrte offenen Mundes auf den geschwungenen Eingang, so wie jeder andere Mann im Ostsaal – der Bräutigam eingeschlossen. Doch Abigail musste gar nicht genau hinschauen, um zu wissen, wessen Ankunft ein solches Aufheben verursachte. Das hatte sie schon Dutzende Male zuvor erlebt.

Wenn sich jeder männliche Blick wandte, wenn in jedem männlichen Kopf nur noch ein einziger Gedanke herrschte, dann konnte das nur eines bedeuten: Ihre Schwester Helena war eingetroffen.

Wie Venus auf ihrer Muschelhälfte, ans Ufer getragen von einer schaumgekrönten Woge, glitt sie herein und blieb auf der Schwelle stehen. Auch heute hatte sie auf die Mode des Tages verzichtet und sich für ein fließendes, schmal geschnittenes apfelgrünes Gewand entschieden, das ihre perfekte Figur betonte. Mit den kupferfarbenen Locken und dem schönen Gesicht erregte sie selbst bei den abgehärtetsten Herren Aufmerksamkeit.

Abigail warf einen Blick auf ihren Tanzpartner, der sie schon fast vergessen hatte. Ihre tief empfundenen Worte hatte er offenbar überhört, und ihre hoch fliegenden Hoffnungen schwanden langsam dahin. Fünf Minuten lang hatte sie vollkommen glücklich in Leutnant Butlers Armen getanzt. Sie hatte zu hoffen gewagt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, und vielleicht war es ja für diese wenigen Minuten auch so gewesen. Doch jetzt hatte sie ihn natürlich verloren.

„Das ist meine Schwester, Miss Helena Cabot“, teilte sie ihm mit, weil sie das Unvermeidliche nicht lange hinauszögern wollte. „Vornehm verspätet wie üblich.“

Sie ahnte, was jetzt kommen würde. Ihr Tanzpartner würde äußern, sie wirke erhitzt und überanstrengt, denn sicherlich habe er ihre Kräfte überbeansprucht, und es sei nun seine Pflicht, sie zu einem Sofa beim Büfett zu geleiten. Und dann würde er sein Bestes tun, um nicht allzu durchsichtig darum zu bitten, Helena vorgestellt zu werden.

Und Abigail ihrerseits würde versuchen, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, sondern lächelnd zurücktreten, während er sich Hals über Kopf in ihre Schwester verliebte.

Ohne ihr Dazutun hatte Helena die ganze Tanzformation durcheinander gebracht, und zu spät merkte Abigail, dass Boyd sie rückwärts zum Rand der Tanzfläche schob.

Und dann passierte es. Sie knickte mit dem Fuß um, fühlte den Schmerz in ihrem Bein hochschießen und klammerte sich hastig an den Leutnant, konnte sich jedoch nicht an ihm festhalten und taumelte rückwärts. Über ihre Schulter hinweg sah sie den Tisch mit der riesigen Hochzeitstorte, dem kostbaren Präsidentenporzellan, Dolly Mastersons Silberservice sowie eine Pyramide von Champagnergläsern aus irischem Kristall. Mit wild rudernden Armen fiel sie nach hinten, ohne etwas zu finden, woran sie sich hätte festhalten können.

Leutnant Butler sah sie entsetzt an. Er sprang auf sie zu, um ihren Sturz aufzuhalten, kam indes zu spät.

Und dann geschah ein Wunder. Zwei starke Arme fassten sie von hinten und zogen sie an eine starke, breite Brust.

„Immer mit der Ruhe, Miss.“ Die tiefe, weiche Stimme mit dem Akzent des Mannes aus Virginia kannte sie. „Sie wollen doch nicht der Hauptgang beim Bankett werden.“

Das war der Fremde, Jamie Calhoun. Die Wärme und die Festigkeit seines Körpers erschreckten sie. Er wirkte wie eine solide Wand zwischen ihr und der Katastrophe.

Sanft fasste er ihre Finger und klopfte lässig einen Schmutzstreifen von ihrem Handschuh. „Mir gefällt eine Frau, die sich nicht scheut, sich bei ihrer Pflichterfüllung die Hände schmutzig zu machen.“ Das Lachen in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Restlos gedemütigt, zog sie ihre Hand fort. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir. Und nun wünsche ich ...“

„Hat man Ihnen noch nie gesagt, dass Sie mit Ihren Wünschen vorsichtig sein müssen? Kommen Sie, Teuerste. Der Tanz ist noch nicht vorüber.“ Er führte sie, als wäre sie ein abhanden gekommenes Kind, und übergab sie wieder an Leutnant Butler.

„Sir“, bemerkte er, „ich rate Ihnen, in Zukunft Ihre Partnerin fester an die Kandare zu nehmen.“ Damit trat er zur Seite, um sich zu vergewissern, dass er die beiden zusammengeführt hatte und dass Abigail wieder fest auf den Füßen stand. „Sie wissen doch, was man von schnellen Frauen und Vollblutpferden sagt“, fügte er mit demselben Zwinkern hinzu, mit dem er sie vorhin schon empört hatte. „Wenn Sie denen die Zügel schießen lassen, rennen sie Sie über den Haufen.“ Er lachte leise über seinen völlig unangebrachten Scherz und zog sich dann zurück.

Abigail brannte vor Erniedrigung, und sie war sich sicher, dass auch Leutnant Butler diese Hitze wie ein Fieber fühlen musste.

Sie verabscheute diesen Calhoun mitsamt seinem groben Witz und seinem Spott abgrundtief. Dennoch musste sie eine Tatsache anerkennen: Während jeder andere Mann in diesem Saal Helena angaffte, hatte Mr. James Calhoun sie, Abigail, beobachtet.

2. KAPITEL

Was für ein armseliges Geschöpf, dachte Jamie Calhoun und betrachtete das braunhaarige Mädchen in Butlers Armen. Als der Tanz endete, spiegelte das Gesicht des Leutnants die Erleichterung eines Mannes wider, der Zeuge einer Sterbehilfe geworden war.

Jamie lehnte sich mit der Schulter an eine der gerillten und vergoldeten Säulen und betrachtete das Geschehen aus der Ferne. Für seinen Geschmack dauerte die Gesellschaft schon entschieden zu lange. Der Präsident und die First Lady hatten sich bereits zurück-gezogen, doch Braut, Bräutigam und ihre Gäste schienen entschlossen, noch bis in die Morgenstunden weiterzufeiern. Caroline Fortenay besaß durchaus ihren Charme, doch nach der ungehörigen Störung im Garten hatte sie ihn gemieden.

Die Politik und eine lose Verbindung zu dem Bräutigam hatten ihn zu dieser Veranstaltung ins Weiße Haus gebracht. Als neu gewählter Kongressabgeordneter musste er sich um Verbündete bemühen, und dieser Empfang bot die größte Konzentration politisch Einflussreicher an der Potomac-Grenzlinie.

Die kleine Frau wäre ihm gar nicht aufgefallen, wenn er nicht Leutnant Butler verfolgt hätte. Der Mann aus Annapolis war für ihn zwar dumm wie Brot, konnte ihm jedoch nutzen; sein Vater stand dem Senat vor, und deshalb musste eine Verbindung mit den Butlers hergestellt werden.

Heute Abend wurde wenig Sachliches diskutiert, abgesehen von den Gesprächen zwischen Senator Cabot und Vizepräsident Butler. Die beiden saßen an einem runden Tisch zusammen und wirkten wie zwei Piraten, die eine Verschwörung anzettelten. In diesem Saal waren sie die einzigen Herren, die sich von der Ankunft der rothaarigen Göttin nicht ablenken ließen.

Die anderen Damen versammelten sich bei deren Erscheinen umgehend am Büfetttisch, dem eben noch von Butlers tollpatschiger Tanzpartnerin Gefahr gedroht hatte. Die Göttin konnte sich nicht viel weiter als bis zum Eingang bewegen, denn eine ganze Legion männlicher Gäste war auf sie zugestürzt; alle wollten anscheinend dieser Königin huldigen.

Sie ist tatsächlich schön, fand Jamie, der sie über die Köpfe der Menge hinweg betrachtete. Offensichtlich hatte sie keinerlei Makel, war gertenschlank, bewegte sich geschmeidig, und ihr Gesicht glich den Porträts auf den Renaissancegemälden. Schönheit hatte natürlich ihre Grenzen, wenn sie nicht mit nützlicheren Attributen verbunden war. Jamie bewunderte die Dame vom Kopf her wie ein Kunstwerk, das in ihm jedoch nicht mehr als ästhetische Anerkennung hervorrief. Dennoch betrachtete ein niederer Teil von ihm sie auch mit schlichter Lust.

Gerade wollte er nach Timothy Doyle suchen, dem Reporter der „Washington Post“, der ihn verlässlich mit dem neuesten Klatsch des Kapitols versorgte, als eine Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte.

Es war die andere, dieser kleine, unscheinbare Spatz von einer Frau, die sich jetzt mit Butler im Schlepp durch die Menge drängte. Neugierig geworden, nahm sich Jamie ein Glas Champagner und trat ein wenig näher heran.

„... meine Schwester, Miss Helena Cabot“, sagte der braune Spatz gerade.

Jamie horchte auf. Zwei wichtige Fakten überraschten ihn: Ers-tens hießen beide Cabot, und zweitens waren die Göttin und der Spatz Schwestern. Es musste sich also um Senator Franklin Cabots Töchter handeln.

Schließlich fand Jamie den Reporter am Rande einer Gruppe von Kongressabgeordneten, deren Unterhaltung er belauschte. Jamie zog ihn zur Seite. „Erzählen Sie mir etwas über die Cabot-Schwestern“, verlangte er ohne lange Vorrede.

Doyle lächelte böse und wirkte in dem Augenblick wie ein Wolf, der seine Zähne fletscht. „Ein seltsames Paar, was? Seit Jahren sind sie ein gefundenes Fressen für die Klatschspalten, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.“

„Ich will es wissen.“

„Den Gerüchten zufolge hat der Alte das Kommando übernommen. Er will die beiden verheiraten, und zwar bald. Für Miss Helena dürfte es kein Problem sein, wie Sie feststellen werden.“ Doyle deutete mit dem Kopf in ihre Richtung. „Doch die jüngere Tochter? Sie heißt Abigail.“

„Abigail“, wiederholte Jamie, als würde er sich die drei Silben auf der Zunge zergehen lassen. Ja, sie sieht aus wie eine Abigail, dachte er – wach und ernsthaft in ihrem farblosen, altmodischen Gewand; vermutlich fühlt sie sich mit Büchern und stillen, einsamen Beschäftigungen wohl.

„Ach ja, die arme Abigail. Ständig treibt sie sich in der Universität herum. Es heißt, sie sei irgendeine Art von Genie – doch offenkundig nicht auf dem Tanzparkett.“ Der Reporter lachte leise. „Zu beobachten, wie Butler sie herumführte, das war, als sähe man einen Käufer mit einer Kuh auf dem Viehmarkt.“

„Das ist sehr hart geurteilt, Doyle.“

„Die Bundeshauptstadt ist ein harter Ort, besonders für komische Jungfern. Ich hörte, Cabot würde alles darum geben, die beiden endlich verheiratet zu sehen.“

„Alles?“ Jamie horchte auf. „Seine Unterstützung im Kongress auch?“

Doyle steckte den Daumen in seinen engen Kummerbund. „Versuchen Sie es doch, Calhoun. Doch seien Sie gewarnt. Bessere Männer als Sie haben es versucht und nichts erreicht.“

„Mir geht es nicht ums Heiraten.“ Jamies Stimme klang barsch. Bei seiner Vorgeschichte war eine Ehefrau das Letzte, das er wollte und brauchte. Oder verdiente.

„Sehen Sie diesen Burschen da?“ Doyle deutete auf einen älteren Mann mit Hängebacken, der gerade mit Senator Cabot sprach. „Das ist Horace Riordan, der Eisenbahnmillionär. Seit Monaten versucht er schon, die Eisenbahn-Gesetzesvorlage voranzutreiben. Doch das ist das Komische bei Cabot: Mit Geld allein kann man seine Aufmerksamkeit nicht erlangen.“

„Und die Gunst seiner Töchter?“

Doyle zwinkerte ihm zu. „Möglicherweise.“

Die schöne Helena lächelte und flirtete mit Butler, der nach ihrer Aufmerksamkeit lechzte wie ein durstiger Jagdhund nach dem Wasser. Der anderen Schwester hatte er den Rücken gekehrt, und obwohl es sicher nicht in seiner Absicht lag, sich ungehörig zu benehmen, schnitt er sie damit komplett von der Unterhaltung ab. Weder er noch Helena bemerkten, dass sie blass und dann wieder rot wurde. Niemand außer Jamie sah ihre Lippen unmerklich zittern. Nur zu deutlich merkte er ihr an, dass diese Situation nicht neu für sie war.

James Calhoun war nicht gerade berühmt für sein ritterliches Verhalten, ganz im Gegenteil. Doch dieses verletzbare Wesen war Franklin Cabots Tochter, und Jamie wollte sie retten. In ihrer unendlichen Dankbarkeit würde sie ihm möglicherweise Zugang zu ihrem Vater verschaffen.

Er stürzte den Rest Champagner hinunter, gab das Glas einem vorüberkommenden Kellner, entschuldigte sich bei Doyle und näherte sich dann den beiden Damen. „Miss Cabot, ich würde mich geehrt fühlen, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“

Beide Frauen drehten sich zu ihm um: Helena erwartungsvoll und ihre Schwester teils argwöhnisch, teils ärgerlich. Butler blickte eher grimmig drein und baute sich Besitz ergreifend vor Helena auf.

Jamie deutete eine Verneigung an. „Wie geht es Ihnen, Leutnant Butler? Ich entsinne mich, Sie bei der Einweihungsfeier für das Union Hall Monument gesehen zu haben. Sie standen hinter Ihrem Vater auf dem Podium und vertraten aufs Beste die Farben Ihres Regiments.“

„Danke, Mr. Calhoun.“ Butler schien den Sarkasmus nicht mitbekommen zu haben. Formvollendet stellte er nun die Damen vor. Helena nickte Jamie hoheitsvoll wie eine Königin zu, und ihre smaragdgrünen Augen ruhten einen Augenblick anerkennend auf seiner Gestalt.

Abigail hingegen, die tollpatschige Schwester, errötete. Ihre Augen konnte er nur als bemerkenswert beschreiben; sie waren auch das Erste gewesen, das er an ihr bemerkt hatte. Sie waren groß und klar und von einem intensiven Blau, das ihn an Samt erinnerte. Im Moment betrachteten diese Augen ihn mit tiefem Misstrauen. Diese dumme Gans! Merkte sie denn nicht, dass er sie retten wollte?

„Mr. Calhoun ist neu in den Kongress gewählt worden“, erläuterte der Leutnant den Damen. „Ich bin froh, sagen zu können, dass er ein Mitglied der Rechten ist.“

Jamie bemühte sich, angemessen dankbar auszusehen. Tatsächlich hatte er sich nur deshalb für diese Partei entschieden, weil sie einen Kandidaten für den Sitz im Kongress benötigte. Keiner seiner Wähler wusste viel von ihm. Ansonsten würden sie ihn vermutlich geteert und gefedert in Schimpf und Schande davongejagt haben.

„Und wo befindet sich Ihr Heimatdistrikt, Mr. Calhoun?“ Miss Helenas Stimme war genauso liebreizend wie alles andere an ihr.

„Ich komme von der Chesapeake Bay, Ma’am. Geboren und aufgewachsen auf der Albion-Plantage an der Mockjack Bay.“

„Und wie gefällt Ihnen das Leben in der Hauptstadt?“ erkundigte sich Helena.

„Sehr gut, Ma’am. Allerdings fürchte ich, dass ich bald wohnungslos sein werde. Bisher logierte ich in einer Pension beim -Snow’s Park, doch das Haus wurde verkauft und muss geräumt werden. Ich suche verzweifelt nach einer neuen Unterkunft.“

Miss Helenas Gesicht leuchtete plötzlich so strahlend wie das einer Madonna von Raffael. „Dann müssen Sie nach Georgetown kommen! Unser Nachbar, Dr. Rowan, lebt ganz allein in einem großen Stadthaus, und Sie wissen ja, wie schändlich unterbezahlt selbst der begabteste Professor ist. Ich bin mir sicher, Dr. Rowan würde einen Untermieter willkommen heißen.“

„Helena!“ Miss Abigails Stimme klang härter als die ihrer Schwester. „Mr. Calhoun benötigt unsere Hilfe bei der Wohnungssuche nicht.“

„Im Gegenteil“, widersprach er, weil er sich darüber freute, wie leicht sich ihm eine Gelegenheit bot. „Ich bin für jede Hilfe dankbar.“ Er lächelte zu ihr hinunter und tat so, als hätte er keine Ahnung, wie sehr er Miss Abigail missfiel.

Die Kapelle begann, die Instrumente zu stimmen. Butler nahm sofort Haltung an. „Der Kaiserwalzer“, verkündete er. „Miss Cabot, wenn ich um die Ehre bitten dürfte?“ Er hielt Helena die Hand hin.

Jamie hätte warten sollen, bis Abigail sich gefangen hatte, doch das tat er nicht. Viel zu schnell drehte er sich zu ihr um und sah, was er nicht sehen sollte: nackte Sehnsucht und untröstlichen Herzschmerz, gepaart mit einem Anflug von Überdruss. Angespannt rang sie die Hände in den beschmutzten Handschuhen und war schlicht ein Bild des Elends. Es gelang ihm wohl nicht so besonders, den Helden zu spielen.

„Miss Cabot, darf ich um diesen Tanz bitten?“ Er verneigte sich und schenkte ihr ein Lächeln, das ihm bei mehr Damen, als er erinnerte, Erfolg gebracht hatte.

Sie starrte wütend zu ihm hoch. „Nein, doch ich danke Ihnen trotzdem.“

Zuerst begriff er nicht, dass dies eine Ablehnung war. Bisher war Jamie nur ein einziges Mal im Leben von einer Frau zurückgewiesen worden. Seit damals glaubte er, dass dies Erlebnis sowohl das Beste als auch das Übelste für ihn gewesen war. Spätere Ereignisse hatten natürlich diese Episode überstrahlt, doch nie hatte er den kurzen, wenn auch schmerzhaften Stich vergessen, den ihm dieses weibliche Nein versetzt hatte.

„Sie möchten nicht tanzen?“

„Nein, danke. Es hat mir noch nie Spaß gemacht, mich rück-wärts im Kreis zu bewegen.“

„Sehr wohl. Dann werde ich Ihnen die Führung überlassen.“

Überrascht schaute sie ihn an. Die tiefblauen Augen, vermutlich das Schönste an ihr, waren jetzt prüfend auf ihn gerichtet. „Das wäre ungewöhnlich.“

„Gewiss. Stört Sie das?“

„Nein.“ Sie reckte sich, um ihm über die Schulter schauen zu können. „Es würde jedoch meinen Vater stören.“

Jamie entschied sich, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Frank-lin Cabot war schließlich der einzige Grund für dieses ermüdende Spiel. „Wenn es so ist, dann bestehe ich darauf, dass Sie meine Enttäuschung durch einen Spaziergang im Garten besänftigen.“

Sie lachte laut auf, und er schreckte richtiggehend zusammen. „Ich bin nicht so wie die Frauen, die Sie kennen. Ich glaube, Sie werden auch ohne meinen Trost überleben, Mr. Calhoun.“

„Wie kommen Sie darauf? Ich könnte doch sehr empfindlich sein.“

Aufs Neue lachte sie, diesmal sogar noch lauter. Die Blicke, die sie damit auf sich zog, schien sie nicht zu bemerken. „In diesem Fall werde ich Ihr gebrochenes Herz grausam den Leuten überlassen, die morgen den Müll zusammenkehren“, versetzte sie und entfernte sich. Sie hatte einen seltsamen Gang, rasch, doch ein wenig hinkend. Diesmal wollte er sie nicht fortlassen. Das konnte er sich nicht leisten.

„Verfolgen Sie mich nicht“, bat sie, ohne langsamer zu werden oder ihn anzusehen.

„Ich kann es nicht ändern. Sie sind eben die interessanteste Person, die ich heute Abend kennen lernte.“

Ihr neuerliches Lachen klang bitter. „Dann sollten Sie sich am besten mit mehr Leuten bekannt machen. Ich garantiere Ihnen, Sie werden Besseres finden.“

Er legte die Hand unter ihren Ellbogen und steuerte sie zu den Glastüren. „Ihre Bescheidenheit steht Ihnen sehr gut, ist jedoch unnötig.“

Überrascht wand sie sich unter seinem Griff und fühlte eine unbekannte Hitze in sich aufsteigen. Er hielt ihren Ellbogen noch fester. Dass er neugierig auf sie wurde, hatte er selbst nicht erwartet. Gewöhnlich zog er schöne und geistlose Frauen vor, weil diese weder Herausforderung noch Bedrohung bedeuteten.

Abigail Cabot war nicht schön und weit davon entfernt, geistlos zu sein. Trotzdem interessierte sie ihn, und er hätte gern die Gedanken hinter diesen leicht verwirrenden mitternachtsblauen Augen ergründet.

„Glauben Sie mir, ich gebe keine Bescheidenheit vor“, erklärte sie.

Er steuerte sie zum Nordausgang. „Bescheidenheit wird ohnehin überbewertet.“

„Ich gehe mit Ihnen nicht nach draußen!“ Sie versuchte, ihren Ellbogen seinem Griff zu entziehen.

An dem flammenden Rot ihrer Wangen sah er, dass sie an das heimliche Rendezvous dachte, welches sie vorhin unterbrochen hatte. „Miss Cabot, Ihre Tugend ist nicht in Gefahr, das verspreche ich.“

„Weshalb sollte ich Ihnen trauen? Ich kenne Sie ja nicht einmal.“

„Dann trauen Sie sich selbst. Ein Mann kann einer Frau nur dann die Tugend rauben, wenn diese sie ihm überlässt. Und dafür sind Sie nicht der Typ.“

Zu seiner Erleichterung schien sie sich mit dieser Bemerkung zufrieden zu geben. Sie widersetzte sich nicht länger und begleitete ihn hinaus in den dunklen Innenhof.

„Eine wunderschöne Nacht“, meinte er.

„Eigentlich nicht.“ Sie hob das Gesicht dem Nachthimmel entgegen. „Sie liegt nur wenig über dem Durchschnitt.“

„Sind Sie immer so streitsüchtig?“

„Nur objektiv.“ Sie deutete auf eine große Konstellation. „Der Nordamerikanebel ist heute Nacht kaum sichtbar, der Doppelsternhaufen im Perseus ist unbedeutend, und von Barnards Pfeilstern sieht man nur einen Schimmer.“

Bei den meisten Frauen, so fand Jamie, wirkte ein bisschen Bildung recht bezaubernd, doch er wusste, dass Abigail ihn überhaupt nicht bezaubern wollte. Sie verfügte auch nicht über ein „bisschen Bildung“. Wahrscheinlich besaß sie ein enzyklopädisches Wissen über den Nachthimmel und Gott weiß was noch. Diese Frau war nicht nur irritierend – sie war belesen, streitsüchtig und stachelig.

„Gut“, meinte er. „Es ist also eine durchschnittliche Nacht. Und was ist mit der Hochzeit? War das eine durchschnittliche Feier?“

Geistesabwesend stieß sie ihren Finger gegen die Unterlippe. Dass er einen spöttischen Scherz gemacht hatte, schien ihr entgangen zu sein. „Du liebe Güte, nein. Die lag eindeutig über dem Durchschnitt.“

„Und weshalb das?“

„Weil es eine Liebesheirat war.“

Er lachte leise. „Das wird auch immer überbewertet.“

„Die Liebe?“

„Genau.“ Davon war er zutiefst überzeugt.

„Dann haben Sie offenbar noch nie geliebt, denn sonst würden Sie das nicht sagen.“

Wenn sie wüsste! „Und Sie? Haben Sie schon jemals geliebt?“

Abigail hielt seinem Blick stand. „Von ganzem Herzen!“ antwortete sie aufrichtig, ohne spröde zu wirken, was in ihm eine Empfindung auslöste, die ihn überraschte: Er fühlte sich gezwungen, Miss Abigails Behauptung zu hinterfragen. „Leutnant Boyd Butler?“ riet er auf gut Glück.

Sie senkte den Kopf.

„Weshalb tanzt er dann mit Ihrer Schwester?“

„Mir ist bekannt, dass Sie von der Küste stammen, Sir, doch dumm kommen Sie mir nicht vor. Meine Schwester kann einen Raum nicht betreten, ohne dass sich ein halbes Dutzend Männer auf der Stelle in sie verliebt. Mr. Butler bildet da durchaus keine Ausnahme.“

„Sie behaupten also, ihn zu lieben, während er in Ihre Schwester verschossen ist.“

„Das geht Sie wirklich nichts an.“

„Ich fühle mich nur gezwungen, Sie auf etwas hinzuweisen, das Ihnen nicht klar ist“, erklärte Jamie. „Sie lieben Boyd Butler nicht und haben es nie getan.“

Das verärgerte sie. „Natürlich habe ich das! Wie wollen Sie das überhaupt beurteilen?“

Er überhörte diese Frage. „Wann ist Ihnen diese plötzliche Anwandlung gekommen?“

„Ich kenne ihn seit frühester Kindheit. Unsere Väter waren befreundet. Es war keine plötzliche Anwandlung, Sir, sondern etwas, das ich seit Jahren fühle. Doch heute Abend ...“ Sie sprach nicht weiter, und ihr Gesicht wirkte jetzt weich, was ihn erschreckte. „Heute Abend teilten wir einen ganz besonderen Moment.“

Einen recht einseitigen Moment, doch darauf wollte Jamie sie nicht hinweisen. „Wie fühlt sich das an, diese große Liebe zu dem Leutnant?“

Sie runzelte die Stirn. „So, als ob man ... die Lösung zu einem mathematischen Problem findet. Auch wenn er meine Gefühle nicht erwidert, weiß ich ganz einfach, dass ich ihn liebe, und dieses Wissen macht mich glücklich.“

„Das beweist, dass Sie ihn nicht lieben.“

„Was? Die Tatsache, dass er mich glücklich macht?“

„Jawohl.“ Er nahm ihre Hand, die sich klein und warm in dem eng anliegenden Handschuh anfühlte. „Sich verlieben macht nicht glücklich. Sagen Sie, haben Sie sich jemals verbrannt?“

Sie blickte ihn argwöhnisch an. „Ja.“

„Tat es weh?“

„Ja.“

„Weshalb, meinen Sie, sagt man, jemand sei in Liebe ,entbrannt‘? Wenn Sie tatsächlich in Liebe entbrannt wären, würden Sie es merken. Sie würden weinen.“

„Unsinn. Weshalb sollte ich weinen?“

Jamie ignorierte die Regeln der Schicklichkeit und strich mit seinen Fingerknöcheln über ihre Wange. Seine Kühnheit schien sie so zu schockieren, dass sie sich weder bewegte noch sprach. Ihre Haut fühlte sich zart und seidenweich an. Plötzlich hatte er das Verlangen, sie in Versuchung zu führen. Doch er tat es nicht, sondern ließ seine Hand wieder sinken.

„Weil es zu sehr schmerzen würde, wenn Sie wirklich liebten, meine liebe Miss Cabot.“

3. KAPITEL

In der Dumbarton Street 32 in Georgetown stolperte Abigail beinahe, weil sie es so eilig hatte, ihr Zimmer zu erreichen. Sie, Helena und ihr Vater waren spät heimgekommen, und sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Abigail schaffte es gerade noch, ihrer Schwester und ihrem Vater eine gute Nacht zu wünschen, bevor sie sich in ihr Zimmer im zweiten Stock zurückzog. Die enge Treppenstiege des im Georgianischen Stil erbauten Stadthauses schien ihr nie steiler als nach einer durchtanzten und mit sinnlosen Gesprächen verbrachten Nacht.

Sie und Helena hatten sich vor dem Schlafengehen noch gegenseitig die Mieder und die Korsetts aufgeschnürt, um Dolly nicht wecken zu müssen. Viele vornehme Damen dachten sich nichts dabei, ihr Personal zu jeder Tages- und Nachtstunde aufzuwecken, doch das wäre den Cabot-Schwestern nicht im Traum eingefallen.

Die Haushälterin hatte einen großen Krug voll Wasser auf den Waschstand gestellt, das jetzt noch lauwarm war. Abigail warf ein wenig Bittersalz in die Schüssel und goss dann Wasser hinein. Mit einem erleichterten Seufzer schnürte sie ihren Stiefel auf und zog ihn aus. Befreit steckte sie ihren rechten Fuß ins Wasser und schloss die Augen. Die Schmerzen in dem Fuß waren ihr so vertraut wie die Einsamkeit, die sie manchmal beschlich.

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte ärgerlich auf den ausgezogenen Stiefel, den sie tagein, tagaus trug, solange sie denken konnte. Als sie noch klein war, hatte sie immer darum gebetet, aus diesem hässlichen, verdrehten Glied möge ein zierliches, hübsches Füßchen werden, das zu ihrem linken passte.

Seitdem sie erwachsen war, hatte sie es aufgegeben, um das Unmögliche zu beten. Sie war nun einmal mit dieser Missbildung geboren worden und würde auch damit sterben. In der Zwischenzeit verbarg sie eben ihr Geheimnis unter dem Rocksaum. Müde betrachtete sie den Fuß im Wasser.

Ihre Mutter war gestorben, gleich nachdem sie Abigail, ein viel zu kleines Baby mit einem fehlgebildeten Fuß, zur Welt gebracht hatte. Das Kind musste ein fürchterlicher Fluch gewesen sein für Beatrice Gavin Cabot, die für ihr Vermögen, ihren Stolz auf ihre Ehe mit dem ehrgeizigen jungen Senator und ihre Freude über ihre erstgeborene Tochter Helena bekannt war. Welche Qual musste es für ihre Mutter gewesen sein, ein missgebildetes Baby im Arm zu halten, während sie selbst verblutete. Für Abigail war diese Tragödie unauflösbar mit ihrer Unvollkommenheit verbunden. Damit lebte sie Tag für Tag, ein Schatten, der sie auf Schritt und Tritt begleitete.

Doch solche Gedanken waren ebenso ärgerlich wie müßig; also schob sie sie beiseite und hob den Fuß aus dem warmen Wasser.

Sie streifte ihr Gewand und die Unterwäsche ab, hängte alles in den Ankleideraum und zog ein bodenlanges Schlafkleid mit dazu passendem Nachtmantel an. Schnell schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und verließ das Zimmer so leise wie möglich. In den weichen Hausschuhen konnte sie ihr Hinken nicht so gut verbergen wie in dem Maßstiefel, doch sie hatte ja auch nur einen kurzen Weg vor sich. Am Ende des Flurs öffnete sie einen niedrigen, engen Durchgang und stieg die Stufen zum Dach hinauf.

Das mitternächtliche Refugium hieß sie willkommen. Hier fühlte sie sich immer wohl, denn dieser Ort gehörte ausschließlich ihr. Der Nachthimmel hatte Abigail schon seit frühester Jugend fasziniert. Mit fünf Jahren, als sie schlimme Albträume durchlitt, hatte sie es sich angewöhnt, sich nachts ans Fenster zu setzen und zu den Sternen hinaufzuschauen. Später in der Schule quälte sie ihre Lehrer mit Fragen über das Universum. Als ihre Ausbilder nicht mehr weiterwussten, engagierte ihr Vater einen verarmten Mathematikstudenten aus Georgetown, der ihr einen Sternenatlas sowie einen Fotoband mit Bildern der Sterne und Planeten schenkte.

Jahrelang sparte sie ihr Kleidergeld, um sich davon ihr Allerheiligstes auf dem Dach zu erbauen; Helena und ihr Vater nannten es „Abigails Torheit“, doch sie hatten es sich längst abgewöhnt, mit ihr darüber zu streiten. Und so war Abigail die einzige Frau in der Hauptstadt, die ein eigenes Observatorium besaß.

Der Standort war nicht ideal, denn die Atmosphäre in Höhe des Meeresspiegels war zu dicht und störte oft die Beobachtung der Sterne. Trotzdem kam sie damit zurecht, und nur manchmal sehnte sie sich nach einem klareren Himmel.

Die drehbare Kuppel war nach dem privaten Observatorium von Maria Mitchell gestaltet, der größten Astronomin des Landes. Sie hatte sich inzwischen zur Ruhe gesetzt und lebte von der Pension, die ihr vom Vassar-College für Frauen gezahlt wurde. Abigail jedoch besaß eine Gabe, welche selbst der großen Professorin Mitchell fehlte: Sie vermochte mit dem bloßen Auge schärfer und weiter zu sehen als jeder andere Mensch.

Schon immer war sie mit beinahe übermenschlicher Sehkraft gesegnet – oder vielleicht geschlagen – gewesen. Ein Schiff am Horizont oder einen Schwarm Zuggänse am Himmel sah sie stets als Erste. Ihr ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen für Farben zeigte ihr ein so strahlendes Frühlingsgrün, dass es in ihren Augen schmerzte, und das intensive Gold und Orange der Herbstfarben bereiteten ihr Kopfweh. Mit so viel Schönheit um sich herum spürte sie oft einen Schmerz, den sie nicht verstand. Möglicherweise waren ja ihre Sehkraft und ihr Wahrnehmungsvermögen das, womit die Natur sie für ihren missgebildeten Fuß entschädigte.

Der Mond war untergegangen und schaffte damit bessere Bedingungen für die Sternbeobachtung mit bloßem Auge. Für ein paar Momente vergaß Abigail ihren Ärger über irdische Belange, setzte sich auf einen niedrigen Hocker und verlor sich im Anblick der Sterne. Obwohl es natürlich ein vollkommen unwissenschaftliches Empfinden war, meinte sie, über die Erde, über die bekannte Welt hinauszuschweben zu etwas Unendlichem und Mysteriösem.

Sie atmete die kühle, nach Holzrauch und trockenen Blättern riechende Herbstluft ein und ließ den Blick über den Himmel schweifen.

„Hallo, Mutter“, flüsterte sie der Frau zu, die sie nie kennen gelernt hatte. „Ich habe heute Abend getanzt. Mit Leutnant Boyd Butler. Es war wundervoll. Du wärst sehr stolz auf mich gewesen ...“

Plötzlich stockte sie, weil sie daran denken musste, dass sie beinahe hingefallen und dann in den Armen des unverschämten James Calhoun gelandet war. Schnell wischte sie diese Erinnerung beiseite und fuhr fort: „Der Sohn des Vizepräsidenten! Kannst du dir das vorstellen, Mutter? Natürlich kannst du das. Vater war ja auch der Sohn eines Politikers. Vielleicht liegt es uns im Blut, regierende Männer zu lieben. Mr. Calhoun – ihn lernte ich ebenfalls heute Abend kennen, doch er ist ganz anders als Leutnant Butler – behauptet, es sei gar keine Liebe, weil ich nicht weinte, nicht tobte, nicht auf den Boden stampfte und mir nicht das Haar ausgerissen habe. Doch das zählt ja nicht. Boyd Butler wird nie erfahren, wie es in meinem Herzen aussieht. Dies wird ein weiteres meiner Geheimnisse sein. Nun, ich dachte nur, du solltest es wissen. Also gute Nacht, Mutter. Ich liebe dich.“

Abigails Flüstern verhallte in der kühlen Luft. Sie kam jede Nacht hier herauf, um eine einseitige Unterhaltung mit einem Geist zu führen. Aber nicht nur das. Sie beobachtete den Himmel, der so schön, unendlich und wundersam war. Und sie hielt nach etwas Ausschau.

Abigail erwartete einen Kometen.

Wenn sie das den Leuten erzählte, sah man sie oft bestürzt an und schüttelte den Kopf. „Wäre es nicht einfacher, eine Nadel in einem Heuhaufen zu suchen?“ fragte man sie dann.

Abigail erwartete nicht, dass es leicht sein würde. Doch aufgeben wollte sie auch nicht. Helena mochte ihre Mutter in dem Schmuck, den alten Bildern und in den Andenken suchen, doch Abigail wusste es besser: Falls sie wirklich jemals ihre Mutter fand, dann hoch oben im unendlichen Nachthimmel, versteckt zwischen den Sternen.

„Guten Morgen, liebster Papa! Guten Morgen, liebste Schwester!“ Mit dieser Begrüßung platzte Helena ins Speisezimmer. Ihre Stimme hatte sich beinahe überschlagen, und ihr Vater und Abigail zuckten zusammen. Sie beugte sich zu beiden hinunter und küsste sie. „Was ist das doch für ein schöner Tag!“

Der Senator lächelte nachsichtig und legte die „Washington Post“, in die er bis jetzt vertieft gewesen war, aus der Hand, nahm seine silberumrandete Brille ab, erhob sich und rückte Helena den Stuhl zurecht. „In der Tat, ein schöner Tag.“

Wenige Minuten zuvor hatte Abigail ihm das Gleiche gesagt, doch das hatte er wohl schon vergessen. Unwillkürlich lächelte sie Helena ebenfalls an. Eine so schöne Person wie ihre Schwester sollte eigentlich heftige Eifersucht wecken, doch an ihrem Aussehen war diese schließlich ebenso wenig schuld wie Abigail an ihrem Fuß.

Senator Cabot hielt Helena einen Korb mit Zwieback und Konfitüre hin. Sie dankte ihm mit einem Lächeln. „Kaffee?“ erkundigte er sich.

„Ja, bitte.“

Sofort eilte ein Dienstmädchen herbei und schenkte ihr ein.

„Abigail?“ fragte ihr Vater. „Möchtest du auch Kaffee?“

„Ich trinke Tee, Vater. Trotzdem vielen Dank.“ Morgens trank sie von jeher Tee.

Abigail liebte das gemeinsame Frühstück. Denn Franklin Rush Cabot füllte seine Rolle als liebevoller Vater nur selten aus, und die mit ihm gemeinsam verbrachte Zeit war kostbar. Manchmal meinte Abigail, ihre Schwester vermeide es, vom Heiraten zu reden, weil sie ihren Vater nicht verlassen wollte. Er war die einzige Konstante im Leben der Schwestern, die Sonne, um die sie sich drehten.

„Hast du heute etwas vor?“ fragte er Helena.

Sie nickte so heftig, dass ihre kupferroten Locken hin und her flogen. „Ich habe eine Anprobe bei Miss Finch. Sie hat bei Madame Broussard gelernt, weißt du.“ Helena stützte ihren Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand. „Ich würde mir ja so gern ein Gewand von Madame selbst entwerfen lassen, doch es heißt, man müsse über ein Jahr lang warten.“

Der Senator hob die Augenbraue. „Tatsächlich? Ich werde einmal sehen, was ich machen kann.“

Helena strahlte. „Danke, Papa! Ach, ich bin ja so froh, dass ich deine Tochter bin!“

Er setzte die Brille wieder auf und las seine Zeitung weiter. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, versicherte er. „Und du, Abigail? Du kannst doch auch etwas Neues gebrauchen, nicht wahr?“

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