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Die Tochter des Roten Hauses

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»Vergangenes ist nicht vergessen. Aber leben muss ich heute. Das nimmt mir niemand ab.«

Eifel 1803. Die Franzosen halten unter Napoleon die linke Rheinseite besetzt. In diesen schwierigen Zeiten lässt Anne, eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen, alles hinter sich und macht sich auf die Suche nach dem Mann, der für den Tod eines geliebten Freundes verantwortlich ist. Auf sich alleine gestellt kommt sie im »Roten Haus«, einer Pension in Coblenz, unter. Dort dann lernt sie Sophie von La Roche, Deutschlands erste Reiseschriftstellerin, kennen. Die ungewöhnliche Freundschaft zwischen den beiden Frauen ermöglicht es Anne, der verräterischen Spur des Mörders zu folgen: Ein Gedicht, das er überall im Land an Mauern und Wände schreibt. Zur gleichen Zeit begegnet sie dem Keramikhändler Georg und verliebt sich in ihn. Als der Mann, den sie sucht, plötzlich auftaucht, geraten die Ereignisse außer Kontrolle. Anne muss sich entscheiden, denn wenn sie nicht auf ihre Rache verzichtet, riskiert sie alles zu verlieren, wonach sie bisher gesucht hat.


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907441
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für C,
jetzt und immerdar

Historische Personen

Über die in Fett gedruckten Namen findet sich im Nachwort noch mehr.

Arnim, Achim von

Deutscher Dichter

Benzel, Karl

Räuber

Brentano, Clemens von

Deutscher Dichter, Enkel von Sophie von La Roche; gemeinsam mit seinem Freund Achim von Arnim bereiste er das Rheinland und brachte die Volksliedersammlung »Des Knaben Wunderhorn« heraus, in dem zahlreiche bekannte Gedichte und Balladen der Romantik zu lesen sind.

de Chaban, Mouchard

Präfekt in Coblenz, zuständig für das Rhein-Mosel-Departement, hatte den Posten von Juni 1803 bis 1805 inne

Hoche, Lazare

Französischer General im besetzten Rheinland

Jacob, Georges

Kunsttischler; verarbeitete Gold und Holz miteinander

La Roche, Sophie von

Geboren am 6.12.1730, verstorben am 18.02.1807, deutsche Schriftstellerin

Mundo, Franz

Räuber

Schinderhannes

Räuber, richtiger Name Johannes Bückler

Schwarzer Peter

Räuber, richtiger Name Johann Peter Petri, nicht belegte Vermutungen sagen, dass das Kartenspiel nach ihm benannt sein soll.

Stibitz, Peter

Räuber

Weber, Mathias

Räuber, genannt »Fetzer«

Wieland, Christoph

Deutscher Dichter und Herausgeber der Zeitschriften »Der Teutsche Merkur« (von 1773 bis 1789) und »Der Neue Teutsche Merkur« (von 1790 bis 1810); Cousin von Sophie von La Roche

Prolog

Das Gasthaus im Wald

Mai 1810

Eine Liebe war mir nie lange vergönnt. Immer entschloss sich der Tod dazwischenzugehen.

Ich war jetzt Anfang vierzig und fühlte mich an manchen Tagen so müde, als wäre ich bereits am Ende eines langen Lebens angekommen. Immer häufiger dachte ich nach, kamen mir Gedanken über die Zeiten, die jetzt gekommen waren, und über die, die längst gegangen sind.

Meine Gefühle erschienen mir manchmal wie Schwäche. Das sollten sie nicht sein, aber waren es nicht häufig meine Gefühle gewesen, die mich viel zu oft an andere denken ließen und zu selten an mich selbst?

Im Grunde ein schöner und liebenswerter Charakterzug, aber in Zeiten wie diesen konnte ich es mir nicht immer leisten, wollte ich nicht unter die Räder geraten.

Es hatte Jahre gebraucht, bis ich mir zugestand, etwas auch mal ruhen zu lassen, gewissermaßen als seelischer Selbstschutz.

Und dann genügte eine Begegnung, um alles zu erschüttern.

Ein zufälliges Aufeinandertreffen, um das Gleichgewicht erneut zu verlieren. Es war mühsam gewesen, wieder zu mir selbst zu finden. Und dann genügte ein Blick auf einen Menschen, der für den Schrecken in meinem Leben verantwortlich war.

Als der Mann mit Einbruch der Dämmerung in mein Gasthaus im Wald trat, wusste ich sofort, dass nur einer von uns beiden den nächsten Morgen erleben würde. Es war unausweichlich, es war das Ende eines langen Weges.

Den ganzen Tag über hatte es wie aus Kübeln geregnet. Für viele war ein Gewitter einfach nur ein Gewitter, aber gegen Abend hin war es zu einem regelrechten Sturm angeschwollen, der Bäume bog und den Fluss übertreten ließ.

Ich hatte meinen Gasthof, das bekannte Rote Haus, immer mit Umsicht und auch einem gewissen Geschick geführt, und so hatte ich meinen Mädchen schon recht früh aufgetragen, die Läden vor den Fenstern zu schließen. Bei diesem Wetter würde sich wohl kein Reiter mehr einfinden und sicher auch kein naturtrunkener Wanderer, der sich an den Schönheiten der Landschaften rund um Mayen und den Hainbuchenwäldern entlang der Nette berauschen wollte. Ein Fluss war eben auch nur gemütlich, solange er nicht zu einem reißenden Strom wurde. Selbst die Tagelöhner wagten sich bei dieser Urgewalt an Blitzen und Donner und Wind nicht aus den Scheunen und von den Höfen, an denen sie sich gerade ein paar Taler verdient hatten.

Na, und die Postkutsche würde sicher in irgendeiner schlammigen Fahrrinne feststecken und weder am Tag noch in der kommenden Nacht den Unterstand neben dem Gasthaus erreichen. Das war bitter, nicht nur für die sich im Aufbau befindende Postlinie, auf die Napoleon gedrungen hatte, sondern auch für meinen Gasthof, denn für gewöhnlich brachten die Fahrgäste ordentlichen Appetit und Durst mit. Meist waren ein paar haltlose Trinker darunter, die alleine schon für einen ertragreichen Tag sorgten.

Zufrieden hatte ich beobachtet, dass die Mädchen reihum die Fensterläden sorgfältig einhakten. Der Sturm warf sich mächtig gegen das Haus und rüttelte daran, doch die Läden hielten stand und klapperten begleitend zum prasselnden Regen.

In einer anderen Nacht hätte ich einfach nur abgewartet, bis alles vorüber war, doch nicht in dieser. In dieser Nacht würde etwas endlich sein Ende finden.

Das Rote Haus bedeutete für viele Menschen ein lebendiges Treiben, und das war es auch, aber für mich war es in den vergangenen Jahren noch mehr geworden. Inmitten des täglichen Trubels hatte ich die Möglichkeit, im Hintergrund verschwinden zu können, wenn mir danach war.

Mich vom Leben isolieren.

Denn die perfekte Isolation bedeutete auch perfekten Frieden.

Und das war gut so für eine wie mich, die sich lange schon entschlossen hatte, als Zuschauerin durchs Leben zu gehen. Beobachten und alles vermeiden, was diese Ruhe stören konnte.

Oder gar zerstören.

Der Mann war der letzte Gast, der Einlass gefunden hatte. Er war eingetreten, als die letzten beiden fröhlichen Zecher sich noch beizeiten auf den Heimweg machten, bevor ihre Stiefel in Schlammpfützen versanken wie in einer Sumpflandschaft und sie wegen Unpassierbarkeit der Straßen nicht mehr nach Hause kamen. Querfeldein und durch die Wälder zu laufen grenzte an Dummheit, das war jedem bewusst. Bei einem solchen Sturm forderte man das Schicksal nicht unnötig heraus.

Eins der Mädchen wollte dem eintretenden Mann sagen, dass für heute geschlossen sei, doch ich hatte schnell reagiert, kaum dass ich gesehen hatte, dass ausgerechnet er es war, der durch die Tür trat. Nach so vielen Jahren hatte ich ihn dennoch sofort wiedererkannt, und mein Herz bestätigte mir, dass ich mich nicht täuschte.

Mit einer knappen Handbewegung bedeutete ich dem Mädchen, ihn doch noch hereinzulassen.

Und mit einer zweiten, dass sie hinter ihm die Tür mit dem Querbalken verriegeln sollte.

Der Mann bekam es nicht mit.

Ich wies ihm einen Tisch zu. Den, der genau in der Mitte des Gastraums stand. Ein kantiges Teil, an dem ein Bein kürzer war als die anderen. Ein durch das Leben versehrter Tisch, hatte ich ihn mal genannt. Ganz so, wie auch ich mich manchmal fühlte.

In dieser Nacht spürte ich die geschlagenen Wunden ganz deutlich. Es wurde Zeit, dass sie endlich heilen durften.

Der Mann war Franzose. Schwer schnaufend warf er seinen tropfnassen Umhang über eine Sitzbank.

Auf dem Tisch flackerte eine Kerze, die in einem Flaschenhals steckte und ein dämmriges Licht in den ansonsten abgedunkelten und inzwischen auch leeren Raum warf. Nur die Gesichter von uns beiden, die wir uns an diesem Tisch gegenübersaßen, waren erhellt, wenngleich auch nur so, dass die Gesichtshälften jeweils in Licht und Schatten halbiert waren.

Hinten im Raum stand ein kleiner qualmender Ofen und verströmte ein wenig Wärme. Bei dem Gedanken, dass er hier vor mir saß, war mir aber schon heiß genug. Hass wärmte manchmal stärker als das größte Feuer.

»Ich spendiere dir einen Krug von unserem besten Wein«, eröffnete ich das Gespräch. »Und als Gegenleistung hörst du dir dafür eine Geschichte an.«

Der Franzose hob überrascht die Augenbrauen. Er war nachlässig gekleidet, im Grunde sogar verwahrlost. Ganz so, als wäre er seit Monaten nicht aus seiner Kleidung gekommen. Früher musste der teure Stoff, aus dem sie geschneidert war, auch einmal als ein solcher zu erkennen gewesen sein, aber nun glich sie mehr einer zerschlissenen Pferdedecke als der Uniform eines französischen Soldaten aus Napoleons Armee, die nun schon seit mehr als fünfzehn Jahren über die linksrheinischen Gebiete herrschte.

»Wein? Einfach so?«, vergewisserte er sich. »Und nur zuhören?«

Es war ein Angebot, das hellhörig und wachsam hätte machen sollen, zumal es von einer Frau in ihren besten Jahren ausgesprochen war.

Wenn ich wollte, dann verstand ich es immer noch hervorragend, mit nur einem Lächeln bei jedem Mann alle nur möglichen Leidenschaften zu wecken und ihn dabei jegliche Vorsicht vergessen zu lassen.

»Ja.« Ich nickte bedächtig. »Nur zuhören.«

Und danach sterben.

Aber das behielt ich für mich.

Der Mann beäugte mich misstrauisch von der Seite. Seine kraftlos gebeugten Schultern schoben sich ein Stück hoch, als wollte er den Kopf einziehen. Kleine Narben am Kinn ließen vermuten, dass er sich mit der zittrigen Hand eines Säufers rasierte. Die tief in den Höhlen liegenden Augen, wässrig vom vielen Alkohol, bestätigten diese Vermutung. Er wirkte wie jemand, der die Hoffnung schon vor langer Zeit begraben hatte.

»Weshalb willst du das machen?«, fragte er.

»Draußen tobt die Sintflut, und du sitzt hier fest.«

Er grinste plötzlich. »Schon, aber das hier ist doch das berühmte Rote Haus, n’est-ce pas? Und wenn ich auf die Mädchen schaue, die hier sind, dann kann ich mir auch was anderes vorstellen, als einer Geschichte zuzuhören.«

Ich spreizte die Hände auf der verschrammten Tischplatte und rang mir ein schwaches Lächeln ab. »In diesem Haus wurde von Anfang an nie etwas anderes serviert als Wein und Speisen.«

»Dann stimmt es also, was man sich über das Gasthaus erzählt?« Der Franzose ließ enttäuscht die Mundwinkel hängen. »Wirklich schade. Gerade die dort würde mir gefallen.«

»Was erzählt man sich denn?«

»Dass es hier die hübschesten Mädchen gibt, aber dass man keine von ihnen anrühren darf.«

»Das stimmt, ja.«

»Dich auch nicht?«

»Ich bin eine anständige Frau. Mit gelegentlicher Ausübung schlimmer Dinge.«

Ich schickte meinen Worten mein schönstes Lächeln hinterher. Er sollte sich sicher fühlen.

Im Gefühl, ein Mann und allein dadurch überlegen zu sein, richtete der Franzose sich auf.

»Und wenn ich mich nicht davon abhalten ließe?«, fragte er.

»Ein solcher Versuch ist noch keinem bekommen.«

»Keinem?«

Er sah reihum in die Gesichter der drei Mädchen, die sich im Halbdunkel vor und hinter dem Schanktisch versammelt hatten. Als er seinen Blick wieder auf mich richtete, bemerkte ich, dass er auf meine Fingernägel sah, die lang und spitz wie zehn kleine Dolche waren. Er würde diese Frage nicht mehr stellen.

Das Rote Haus war ein reiner Frauenbetrieb. Das machte den Gasthof zu etwas Besonderem. Mitten in der waldreichen Umgebung der vorgelagerten Hocheifel zwischen Mayen und Coblenz gelegen, gab es nichts Vergleichbares wie dieses Gasthaus, das ich seit einiger Zeit mein Eigen nennen durfte. Ein Gasthaus von Frauen betrieben. Kein Hurenhaus, wohlgemerkt. Ein Haus, in dem sich Gäste willkommen fühlten.

Ich sollte noch anmerken, dass wir in der Lage waren, uns zu wehren. Sollte es nötig sein. Das Leben lehrte es einen. Ob man wollte oder nicht.

Der Regen peitschte hart gegen die Fensterläden. Es blitzte und krachte beinahe gleichzeitig.

Ich wandte den Kopf, und auch wenn es schien, als wollte ich mich nur vergewissern, dass kein Laden aus den Haken herausgerissen wurde, schob sich mein Blick für einen Moment in die Weite hinter die dichte Wand des Sturms. Hinaus in die tintenschwarze Nacht zu den sich biegenden Bäumen und windgeschüttelten Sträuchern. Irgendwo in dieser Ferne verlor ich mich für einen kurzen Augenblick in einer vergangenen Zeit.

Vergangen, aber nicht vergessen.

Ich konnte noch ihre Gesichter vor meinem inneren Auge sehen. Konnte mir ihr Lachen in Erinnerung rufen. Laurin, eigentlich ein Tölpel, aber herzensgut. Und Georg … ja, Georg. Ich hatte Angst, dass die Züge seines Gesichts mehr und mehr verblassten. Es wäre, als verlöre ich dich ein zweites Mal.

Eins der Mädchen, Alma, stellte einen bauchigen Krug in die Mitte des Tisches. Sie schenkte Wein von der Farbe glänzenden Blutes in zwei Becher. Dann entfernte sie sich wieder.

Ungeduldig packte der Franzose den Becher und schüttete den Wein hastig die Kehle hinunter. Er winkte Alma, damit sie ihm nachschenkte, doch das Mädchen rührte sich nicht von seinem Platz. Stattdessen war ich es, die mit einer langsamen Bewegung den Krug hob und seinen Becher erneut füllte. Der Wein hatte eine entspannende Wirkung auf ihn. Das war gut. Es half mir bei dem, was ich vorhatte.

»Also, erzählen willst du mir was? Na schön, wenn mein Becher dabei immer gut gefüllt bleibt?«

»Das wird er. Gefällt dir die Farbe des Weins?«

»Er schmeckt, das reicht. Ist es eine traurige Geschichte?« Er rieb sich mit einer Hand über das vom Alkohol aufgedunsene Gesicht und blinzelte mich an. »Sag mal, kennen wir uns?«

Ich antwortete darauf nicht.

Er lehnte sich mit dem Ausdruck von gelangweilter Herablassung auf dem Stuhl zurück. Kurz wandte er den Kopf, um dem Wind hinter den verschlossenen Fenstern zu lauschen. Der Sturm brauste immer stärker.

»Na schön, gute Frau, dann erzähl mal«, sagte er. »Es sieht nicht so aus, als käme ich hier schnell trockenen Fußes weg. Ich habe also Zeit.«

»Zeit ist ein guter Anfang«, sagte ich. »Wir, meine Mädchen und ich, waren heute Vormittag auf dem Friedhof. Wir haben eine Frau beerdigt, die uns allen sehr viel bedeutet hat. Und sie hat sehr viel Zeit in ihrem Leben aufgebracht, gut auf andere aufzupassen. Mir war sie wie eine Mutter geworden, auch wenn ich sie erst vor sieben Jahren kennenlernen durfte. Auf ungewöhnliche Weise. Meine Geschichte beginnt aber noch ein halbes Jahr vorher.«

Teil 1

1803

»Ich würde gerne heimkehren,
doch ich weiß nicht, wo das ist.«

1

Versteh doch, wir passen einfach nicht zusammen.«

Es brach Anne beinahe das Herz, als sie in die dunklen Augen schaute, die nicht verstehen wollten, was sie sagte. Aber sie konnte nicht anders entscheiden. Unmöglich, dafür waren die Zeiten zu hart. Ihr fiel der Abschied doch genauso schwer. Soll doch nur niemand glauben, sie würde sich so eine Entscheidung leicht machen.

»Ich kann nicht für uns beide sorgen«, sagte sie und war bemüht, es nicht allzu hartherzig klingen zu lassen.

»Es ist einfach nicht möglich, das musst du doch einsehen. Es ist besser, wenn wir uns jetzt trennen, solange wir uns noch nicht so gut kennen, dass wir nicht mehr voneinander lassen könnten. Aber ich bin sicher, du wirst jemanden finden. Jemanden, der gut zu dir ist. Bestimmt sogar besser, als ich es sein könnte.«

Sie wünschte, sie könnte ihren Worten glauben. Es fiel ihr nicht leicht, standhaft bei ihrer Entscheidung zu bleiben. Wer brach schon gerne Herzen? Sie ganz gewiss nicht.

»Mach es uns bitte nicht so schwer. Lass uns einander den Rücken zudrehen und gehen.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich um und lief einige schnelle Schritte die staubige Straße am Waldrand hinunter. Jetzt bloß nicht umdrehen, sonst konnte es passieren, dass sie es sich doch noch anders überlegte.

Sie erreichte den einspännigen, offenen Karrenwagen, auf dem ihr Begleiter hockte und wartete. Locker hielt der Mann in der Mönchskutte die Zügel in den Händen. Er hätte sie auch einfach in seinen Schoß legen können, denn der altersschwache Gaul, der ihn, Anne und ihrer beider weniges Hab und Gut durch die Rhein-Mosel-Landschaft zog, war so temperamentvoll wie ein vom Baumstamm abgebrochenes Stück Rinde.

»Was ist nun, Anne?«, rief der Mönch seitlich gebeugt zurück. »Kommst du endlich? Wir wollen heute noch ein gutes Stück schaffen.«

Seinem geduldigen Wesen entsprechend klang seine Stimme nicht schroff, aber durchaus ein wenig schwungvoller als beim Morgengebet.

»Ich bin ja schon da.«

Anne erreichte den Wagen. Seufzend fuhr sie sich mit einer Hand durch das Haar, das offen auf ihre Schultern herabfiel. Züchtige Häubchen trug sie schon länger nicht mehr, es sei denn, die Not der Umstände erforderte es.

»Mach nicht so ein Gesicht«, sagte er. »Du tust ja gerade so, als würdest du mich verlassen.«

»Ich weiß nicht, ob ich dann so leiden würde.«

Sie zwinkerte dem verblüfft schauenden Mönch zu, bevor sie seine Hand ergriff, die er ihr zum Aufsteigen reichte.

»Es ist nur ein Hund«, sagte er. »Ein Straßenköter, der dir vor zwanzig Minuten zugelaufen ist.«

Anne stützte sich mit der linken Hand an der Sitzbrettkante ab, damit sie nicht vom Wagen fiel, als sie sich umdrehte und die Straße zurückblickte.

Dort saß er, der furchtbar schmutzige, furchtbar flohbefallene und furchtbar süße kleine Kerl, dessen Rasse sie zwar nicht kannte, der aber mit seinen schmachtenden dunklen Augen sofort ihr Herz erobert hatte. Sozusagen im Vorbeigehen.

Sie war hin- und hergerissen, doch gerade als sie sagen wollte, dass sie umkehren sollten, da erhob sich der Hund, drehte sich auf der Stelle um und trottete die Straße in der entgegengesetzten Richtung davon.

Anne schnappte nach Luft. »Er hat zum Abschied noch nicht einmal gewinkt«, sagte sie.

Der Mönch lachte lauthals, was immer so klang, als würde ein volles Weinfass eine Treppe hinunterpoltern. »Ich weiß doch, dass ich dir nicht mehr genüge«, sagte er mit einem Augenzwinkern, das durchaus ein gewisses Bedauern durchschimmern ließ. »Aber dass du mich tatsächlich einfach an einer Weggabelung stehen lassen würdest, damit habe ich nun doch nicht gerechnet.«

»Was soll ich sagen?«, seufzte Anne theatralisch. »Er hat nun mal deutlich mehr Haare auf dem Kopf als du.«

»Ich hätte dich damals im Dorf lassen sollen. Aber nein, ich musste dich ja mitnehmen, Gott allein weiß, warum.«

Gemächlich setzte sich der Gaul in Bewegung. Er zog den Wagen in einem solch gemütlichen Tempo, dass es ein Leichtes gewesen wäre, ihn rückwärtsgehend zu überholen.

Die Tage des Frühsommers waren von einer milden Wärme durchdrungen, die schon die heißen Tage der kommenden Monate erahnen ließ. Der Staub der Straße, durch die Wagenräder aufgewallt, flirrte im Licht der Vormittagssonne.

Tags zuvor hatten sie den Laacher See hinter sich gelassen und waren an Feldern mit gelbem Raps vorbeigekommen. Anne war völlig verzückt von diesem Goldmeer gewesen. Immer wieder, jedes Jahr aufs Neue, konnte sie sich kaum sattsehen an dem, was die Natur ihnen bot.

Später waren sie in eine Gegend gekommen, in der Getreide angebaut wurde. Dazu war ein Teil des Waldes geschlagen worden, aber die Strünke der Bäume hatte man im Boden belassen, was bei einer Rottwirtschaft so üblich sei, wie sich Anne von Mönch-ohne-Heimat, wie er sich seit einem knappen Jahr selbst nannte, hatte erklären lassen. In der Dämmerung allerdings sorgte der Anblick der Baumstümpfe bei Anne für eine Gänsehaut, so gruselig hoben sie sich gegen den rötlichen Abendhimmel ab.

Heute fuhren sie unter einem wolkenfreien Himmel gemächlich einen Weg am Rande eines Mischwalds entlang.

Anne rückte auf der Holzbank näher an ihr Mönchlein heran, schmiegte ihren schlanken Körper an seinen rundlichen und legte einen Arm um seine Schultern. In dieser schlichten, beinahe selbstverständlichen Berührung, die so zwischen einem Mann der Kirche und einer gestandenen Frau in ihren Dreißigern gewiss nicht üblich war, lag eine Vertrautheit, die sich beide nur zu zeigen trauten, wenn sie mit ihrem einfachen Karren mit den knirschenden Rädern und der offenen Ladefläche einsam und allein über das Land und durch die Wälder zwischen Koblenz, Mayen und Andernach rumpelten.

»Da vorne kommen Reiter«, sagte der Mönch.

Augenblicklich rückte Anne von ihm ab. Sorgfältig strich sie ihr Dreieckstuch über den Schultern zurecht, schloss die obersten Knöpfe ihrer Leinenbluse und faltete die Hände sittsam im Schoß. Sollte bloß niemand auf dumme Gedanken kommen, der sie sah.

Zusätzlich, um jedem Ärger aus dem Weg zu gehen, setzte sie ein bekümmertes, von Sorgen geplagtes Gesicht auf. Wie bei jeder zufälligen Begegnung auf ihren Wegen hoffte sie, das würde genügen, um Vorbeikommende davon abzuhalten, sie genauer anzuschauen. Eine Frau wie sie auf dem Wagen eines Mönchs. Unwillkürlich fragten sich manche, was sie da zu suchen hatte. Aber das waren nur die harmlosen Leute, die zwielichtigen fragten es sich umgekehrt. Weshalb hatte ein Mönch eine Frau bei sich, die keine Nonnentracht trug … und schon steckten Anne und ihr Begleiter in Schwierigkeiten. Nicht selten endeten die mit einer blutigen Nase. Für den Mönch. Die Wegelagerer hingegen mussten schauen, wie sie mit einem gebrochenen Arm oder Bein ins nächste Dorf kamen. Da verstand der Mönch keinen Spaß.

Das Sonnenlicht ließ die Luft über dem sandigen Karrenweg flirren. Die Reiter in der Ferne sahen daher so aus, als würden die Hufe ihrer Pferde durch die Luft wirbeln, ohne den Boden zu berühren. Eine Sinnestäuschung, die den Eindruck heraufziehender Gefahr nur noch unterstrich.

Anne kniff die Augen zusammen. »Kannst du erkennen, wer da kommt?«, fragte sie.

»Noch nicht, aber sie kommen rasch näher.«

»Ist das gut oder schlecht?«

»Räuber und Wegelagerer würden uns nicht entgegenkommen, schätze ich.«

Mag sein, dachte Anne. Nur dass diese Halunken sich selten an Regeln hielten.

Inmitten einer aufwallenden Staubwolke hielt der Reitertrupp vor ihnen an. Es waren acht französische Soldaten. Die weißen Hosen waren nach einem tagelangen Patrouillenritt ebenso von Staub und Sand verdreckt wie die schwarzen kniehohen Stiefel und die blauen Uniformjacken.

Misstrauisch ließ der kommandierende Offizier seinen Blick zwischen Anne und dem Mönch wandern, so als müsste er sich vergewissern, dieses seltsame Pärchen tatsächlich vor sich zu sehen.

»Wo wollt ihr hin?«

»Nach Mayen«, antwortete der Mönch. »Und ihr?«

Anne zuckte zusammen. Konnte ihr Mönchlein nicht einfach mal den Mund halten? Oft genug hatte sie ihm gesagt, dass sein loses Mundwerk sie beide noch mal gehörig in Teufels Küche bringen würde. Aber ihr Mönchlein musste ja immer seine geringe Körpergröße mit spöttischem Geplapper ausgleichen. Irgendwann würde sie ihm seine unbedachte Zunge herausreißen müssen, damit wenigstens eine Gefahrenquelle in diesen Zeiten eliminiert war.

Zum Glück ging der Offizier auf die Bemerkung nicht ein. Fraglich, ob er sie überhaupt gehört hatte, denn sein Interesse galt einzig und allein Anne. Er beäugte sie mit dem unverhohlenen Interesse eines Jägers, dem ein Kaninchen in seine aufgestellte Falle gehoppelt war.

Anne kannte solche Blicke. Viel zu häufig war sie schon der Kaninchenbraten gewesen. Manchmal freiwillig, weil sie sich gerne nahm, was sie wollte, und sich dafür auch kein bisschen schämte, aber zu oft eben auch nicht freiwillig, und dann bedauerte sie es, nicht als Mann auf die Welt gekommen zu sein, um sich besser wehren zu können.

Sie war jetzt vierunddreißig Jahre alt und sah nicht besser oder schlechter aus als andere, aber sie wusste auch, dass ihr Körper immer noch bei vielen Männern Begehrlichkeiten weckte, vielleicht, weil sie bislang noch kein Kind geboren hatte. Doch das Ansehnliche half ja kein bisschen, um sich gegen einen französischen Soldaten, der sie aus Langeweile nehmen wollte, erfolgreich zur Wehr setzen zu können.

Anne hielt beide Hände unter dem Rockaufschlag verborgen. Die Finger ruhten auf einem kleinen Messer, das sie zum Apfelschälen benutzte. Aber Messer waren ja vielseitig einsetzbar.

Angestrengt darauf bedacht, auf die Soldaten nicht kokett zu wirken, verhielt sich Anne ruhig. Sie vermied es, dem Commandant in die Augen zu schauen. Soll der sich bloß nicht ermuntert fühlen. So gern Anne immer als begehrenswerte Frau wahrgenommen werden wollte, jetzt gerade wünschte sie sich, in einen plumpen Mehlsack gekleidet zu sein, anstatt diesen recht leichten Rock zu tragen, der sogar ihre Fußknöchel sehen ließ.

Der Offizier führte sein Pferd dicht an den Sitzbock des Wagens heran. Hinter ihm begannen seine Männer zu feixen und sich auf den Rücken ihrer Pferde vorzubeugen. Sie schienen zu ahnen, welches Schauspiel ihnen gleich geboten werden würde.

Die Hand auf den Griff des Degens, der an der Seite seiner Uniformjacke griffbereit baumelte, gelegt, schob der Commandant die Klinge vor, bis diese den Saum von Annes Rock berührte. Noch ein kleines Stückchen weiter, und die Spitze des Degens fuhr unter den Rock.

Anne erstarrte, als sie die Kühle der Klinge an ihrer linken Wade spürte.

Mit der anderen Hand drückte der Offizier langsam den Griff des Degens an seiner Seite hinunter, sodass sich vorne die Klinge wie bei einer Waage anhob und Annes Rock bis zu den Knien nach oben schob.

Niemand sprach ein Wort, auch die Soldaten nicht, wenn man ihr gut hörbares Atmen nicht mitrechnete. Ein genüsslicher Zug lag um den Mund des Offiziers.

Noch ein Stückchen höher schob sich der Stoff, und dann noch eines. Annes Knie wurden sichtbar. Bevor es noch weiter ging, klatschte der Mönch seine rechte Hand auf Annes Beine und hielt so den Stoff auf ihren Oberschenkeln. Die Klinge drückte sich von unten gegen seine Handfläche.

»Ein hübsches Vergnügen, das Sie uns bieten, und ich bin sicher, ich kann noch etwas lernen, aber leider verfügen wir nicht über so viel Golddukaten, dass wir ihr einen neuen Rock kaufen können.«

»Du bist frech, Mönch.«

»Aus mir spricht der Herr. Und der Herr ist niemals frech, nur wahrhaftig.«

Der Offizier stutzte kurz, dann lachte er schallend auf. Er zog den Degen unter dem Rock hervor. Dazu gönnte er sich ein anzüglich schmatzendes Geräusch, bevor er seinen Männern das Zeichen zum Weiterreiten gab. Langsam entfernte sich die Patrouille.

Anne atmete erleichtert durch. Ihre Halsschlagader pochte weiterhin so stark, dass man fürchten musste, bald würde sie platzen.

»Alles gut?«, fragte Mönch-ohne-Heimat besorgt.

Sie nickte. War es zwar nicht wirklich, aber was sollte sie schon anderes kundtun?

»Du kannst deine Hand jetzt von meinem Bein wieder wegnehmen«, sagte sie. »Und … danke.«

»Du kennst mich doch. Der Beschützer der Schutzlosen, so sehe ich mich gerne.«

Ja, das wusste Anne. Aber wer beschützte ihn?

Vor allem vor sich selbst?

2

Seit sie ihr Mönchlein kannte, und das war jetzt immerhin schon fast ein Jahr, hatte sich Anne auf ihn verlassen können. Er würde ihr immer beistehen, egal wobei oder gegen wen, und er würde dabei nicht an sich denken. Ihm passiere schon nichts, sagte er immer, ihn schütze sein Habit vor jedem Ärger. Doch Anne zweifelte daran.

Seit die Franzosen vor nunmehr neun Jahren die linke Rheinseite eingenommen hatten und nicht mehr hergaben, hatte sich viel verändert in deutschen Landen. Neue Gesetze waren eingeführt worden. Einige waren gar nicht mal schlecht, andere dafür blanker Unsinn wie etwa die Einführung einer Zehn-Tage-Woche. Jeder zehnte Tag sollte ein Feiertag sein, so war es angeordnet. Niemand in den Dörfern hielt sich daran. Der siebte Tag war der Sonntag, und der blieb es auch.

Auch die Vorgabe, jedermann unabhängig seines Stands zu duzen, stieß auf wenig Gegenliebe. Die Franzosen mit ihrer Ideologie der Großen Revolution mochten das ja gerne tun, aber die Rheinländer fanden keinen großen Gefallen daran, auch wenn sie sich im offiziellen Behördengespräch daran hielten. Untereinander machten sie gerne, was sie wollten, solange keine französische Patrouille vorbeikam.

Aber es gab auch wirklich fortschrittliche Gedanken, die sich in den besetzten Gebieten von den Franzosen durchgesetzt hatten. Dazu gehörten ganz sicher die moderne Rechtsprechung und ein Gerichtswesen, das es jedem Angeklagten ermöglichte, sich zu verteidigen. So etwas hatte es zuvor nicht gegeben. Vorher hatten die Fürstentümer über die Menschen beschieden, wie sie selbst es für richtig hielten. In den Dörfern war sogar meist das Gesetz in die eigenen Hände genommen worden. Häufig wurde ein Pferdedieb gar nicht erst dem Landesfürsten vorgeführt, sondern gleich an Ort und Stelle auf dem Dorfplatz von einem Dutzend Männer mit Knüppeln zu Tode geprügelt. Dass eine solche auf die Schnelle durchgeführte Bestrafung nun durch eingeführte Gerichtsbarkeit nicht mehr erlaubt war, war Napoleon zu verdanken. Aber bedauerlicherweise war nicht in jedem Dorf eine Patrouille zugegen, und so war das Knüppeln nicht so schnell totzukriegen, wie manch einer in einem Anflug von zynischem Wortspiel meinte.

Mit den Jahren würden sich die neuen Gesetze durchsetzen, davon war Anne überzeugt. Einfach weil sie die richtigen Akzente setzten und zu mehr Gerechtigkeit führten. Ganz so, wie es von Paris aus in die Welt hinausgetragen wurde.

Gleiches Recht für alle war das Eine. Etwas anderes waren die Anordnungen, die den Adel und die Kirchen und Klöster betrafen. Hierfür gab es nur zwei Worte für ein und denselben Vorgang: Enteignung und Abschaffung.

Die schwarze Kutte mit Kapuze, wie Anne den Habit manchmal etwas abfällig bezeichnete, mochte ihr Mönchlein vielleicht lange Zeit vor der Willkür der französischen Besatzer verschont haben, aber seit der Säkularisation im vergangenen Jahr, als Napoleon im Juni per Gesetz die Klöster faktisch aufgelöst hatte, waren alle Mönche und Nonnen gezwungen, ihr Leben außerhalb von Klostermauern zu meistern. Von einem Tag auf den anderen waren sie alle weltlich geworden und somit auch angreifbarer für jene, die glaubten, den Kirchenmenschen etwas heimzahlen zu müssen.

Manch einem auf diese Weise vertriebenen Mönch war ein wenig Glück beschieden, wenn es ihm gelang, eine Anstellung an einer Schule zum Unterrichten zu ergattern. Den Nonnen, die nicht bei einer Verwandten unterkommen konnten, blieb häufig nur übrig, sich zu einer Wohngemeinschaft zusammenzuschließen und mit Arbeiten aller Art über die Runden zu kommen.

Sicher, Napoleon hatte angeordnet, allen eine kleine Pension zu zahlen, nur üppig fiel diese nicht aus. Und Annes Gefährte war ein sturer Mönch, der in einem Anfall von unangebrachtem Trotz sogar diese geringe Pension ausgeschlagen hatte. Wie hieß es doch so schön: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.

Trotz seines ungeschickten Verhaltens verspürte Anne eine tiefe Zuneigung zu ihrem Mönchlein. Er war ein zuverlässiger Gefährte in schwierigen Zeiten. Gemeinsam waren sie aus Annes Heimatdorf Brunnenweiler fortgegangen, nachdem ihr Ehemann sich zu Tode gesoffen hatte. Ein Krug zu viel, und plötzlich war er vom Hocker gefallen und hatte sich nicht mehr gerührt. Zuerst ließ man ihn auf dem Boden liegen, weil es seinem üblichen Erscheinungsbild entsprach, aber dann bemerkte ein Zecher im Wirtshaus, dass er tot war.

Der Mönch war damals nur wenige Tage vorher ins Dorf gekommen. Frisch vertrieben aus dem nahe gelegenen Kloster Laach, hatte er nicht gewusst, wohin er sollte, und war im erstbesten Wirtshaus, das auf seinem Weg lag, versackt, um seinen Kummer zu ertränken. Das war der Fröhliche Tropfen in Brunnenweiler gewesen.

»Wenn man mich nicht mehr Mönch sein lässt, wie ich es möchte, dann brauch ich mich auch nicht mehr so zu verhalten, wie man es von mir erwartet«, hatte er gesagt.

Und dann hatte er den Dörflern erklärt, was die von Napoleon ausgerufene Säkularisation für die Klöster auf der linken Rheinseite bedeutete. Nämlich nichts anderes, als dass es sie nicht mehr wirklich gab, da alles Kirchliche aufgelöst wurde und somit auch die Existenzgrundlage der Mönche und Nonnen. Wo sie nichts mehr anbauen und herstellen durften, gab es auch nichts mehr zu verkaufen. Schlimme Sache, aber da auch der Adel mitsamt seinen Fürstenhäusern enteignet worden war, gab es sowieso keine Abnehmer mehr für die klösterlichen Waren.

Aus Protest gegen die Säkularisation nannte er sich fortan Mönch-ohne-Heimat. Nur so wollte er noch angesprochen werden. Jeder sollte erfahren, wie er sich nach dem Rauswurf aus dem Kloster fühlte. Wie alle Mönche und Nonnen des Landes sich fühlten, auch wenn nur wenige es so deutlich kundtaten wie er.

»Du hast mich nach dem Tod meines Mannes aus meinem Dorf herausgeholt und mitgenommen«, hatte Anne häufig zu ihm gesagt. »Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals danken kann.«

Und er hatte geantwortet: »Jeder Tag, an dem du dir selbst etwas wert bist, ist mir Lohn genug.«

Anne war in Brunnenweiler eine Außenstehende gewesen. Ihre Eltern waren gestorben, als sie zehn Jahre alt war. Eine benachbarte Familie nahm sie zu sich auf, obwohl dadurch nur ein Mund mehr zu füttern gewesen war. Doch das Kind durfte kein Kind mehr sein. Tüchtig arbeiten musste es auf dem Hof. Im Haus schlafen war nicht gestattet gewesen, sondern ausschließlich in der Scheune. Erst als sie vom Mädchen zur Frau wurde, befand der Hofbesitzer, man könnte sie doch auch im Haus in einem Kastenbett schlafen lassen. Selbstverständlich nur in seinem.

Nach einem Monat, sie war gerade dreizehn geworden, lief sie davon. Mit mehr blauen Flecken am Körper als Brotkrumen in der Tasche.

In Brunnenweiler, einem kleinen Dorf unweit von Coblenz, lernte sie einen jungen Burschen kennen, der den Beruf des Scherenschleifers von seinem Vater lernte. Sie verliebte sich in ihn, und als sie siebzehn wurde, heirateten sie. Die ersten Jahre waren gar nicht übel, und Anne bekam eine Ahnung davon, was es heißen konnte, glücklich zu sein, aber ihr Mann liebte den Alkohol einfach mehr als sie. Von Jahr zu Jahr wurde sein Verhalten ihr gegenüber gemeiner und unberechenbarer.

Und wieder war eine Zeit gekommen, in der Anne in der Woche mehr blaue Flecke bekam als warme Mahlzeiten.

Während er von morgens bis abends soff und seiner Arbeit kaum noch nachkam, versuchte Anne, sie beide mit ein wenig Aushilfe im Wirtshaus über Wasser zu halten. Dass ihr Mann wie so viele Scherenschleifer zu der Zeit als Hehler für das Diebesgut einiger Räuberbanden fungierte, bekam sie gar nicht mit. Erst als er einmal übel zusammengeschlagen am Boden lag, begriff sie, wie er seinen hohen Alkoholkonsum trotz geringem Arbeitsfleiß finanzierte. In einem letzten Anflug von Zuneigung versuchte sie noch, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Doch einem wie ihm war nicht zu helfen, also soff er weiter, bis er vom Stuhl fiel.

Der Tag, an dem Anne Witwe geworden war, sollte eigentlich ein trauriger in ihrer Erinnerung sein, doch für sie war es der Tag, an dem ihr das Tor in eine zwar ungewisse, aber dafür selbstbestimmte Freiheit geöffnet wurde.

Da sie und Mönch-ohne-Heimat beide etwas Verlorenes an sich hatten, taten sie sich zusammen. Sie verließen das Dorf, um irgendwo draußen in der Welt ihr Glück zu suchen … und hoffentlich auch zu finden.

Ihr hoffnungsvolles Vorhaben krankte nur an einer Sache. Beide kannten diese Welt da draußen gar nicht.

Wie auch, verbrachte er doch den Großteil seines Lebens im Kloster Laach und sie in einem Dorf, das so weit abseits der Hauptstraßen lag, dass es leichthin als von allen vergessen bezeichnet werden konnte.

»Wir sind beide vom Schicksal gezwungen worden, Einzelgänger zu sein«, hatte Mönch-ohne-Heimat zu ihr gesagt.

Anne hatte daraufhin laut überlegt: »War es wirklich nur das Schicksal? Oder war es nicht irgendwo auch unsere eigene Entscheidung? Vielleicht können wir nicht anders? Vielleicht können wir das Leben nicht anders?«

Dass Anne mit dem Mönch zusammen das Dorf verließ, hatte für mächtig Getratsche unter den Leuten gesorgt, doch es war ihr egal gewesen. Verhindern konnte sie es sowieso nicht. Wer sich’s Maul zerreißen wollte, tat es mit oder ohne ihre Einwilligung. Meistens waren es eh nur die Frauen im Dorf, die hinter ihr her tratschten. Manche dieser Klatschmäuler hätten sich allerdings nur zu gerne auch mal die Freiheiten herausgenommen, für die Anne sich nicht rechtfertigte. Die Männer im Dorf sprachen zwar nicht mit ihr, gingen ihr aber auch nicht aus dem Weg. In ihren Augen konnte Anne genau lesen, was sie sich alles vorstellten, wenn sie am Dorfbrunnen die Handkurbel drehte.

Ihr Aussehen regte die Fantasie derer an, die sie begehrten, genauso wie die von jenen, die sie dafür hassten, dass sie sie beneideten.

Und wäre das alles nicht schon genug, um zur Außenseiterin zu werden, verliehen ihre Haare im dunklen Kirschfarbton ihr etwas Ungebändigtes. Für manch einen eine verführerische Herausforderung und nicht erteilte Erlaubnis zugleich, Grenzen zu überschreiten. Alles zusammen machte es Anne unmöglich, in diesem Dorf zu bleiben. Erst recht nicht als alleinstehende Frau. Witwe hin oder her.

Dabei verspürte sie doch Träume, die sich gar nicht so sehr von denen der sogenannten redlichen Frauen unterschieden. Noch heute mit vierunddreißig Jahren träumte Anne von dem Mann, der sie so annahm, wie sie war, mit allem, was ihr eigen war. Und von einem, der sie vielleicht sogar aufrichtig liebte. Männer, für die sie nur eine lustvolle Selbstverständlichkeit war, gehörten nicht in diese Träume.

Einmal hatte es in Brunnenweiler einen Mann gegeben, zu dem sie sich hingezogen fühlte. Sein Name war Johann gewesen. Eines Tages war er ins Dorf gekommen und hatte den Posten des Dorfpolizisten übernommen. Johann hatte ihr gefallen. Er hatte nur einen Fehler. Er gefiel fast allen Frauen im Dorf, was wiederum ihm gefiel. Selbstlos kam er allen Anforderungen nach, die ihm abverlangt wurden. Bis er auf Lisbeth traf. Schnell war klar, dass Johann und Lisbeth zusammengehörten. Auch wenn Anne mit Lisbeth nicht immer einer Meinung gewesen war, so hatten sich beide im Laufe der gemeinsamen Jahre in Brunnenweiler schätzen gelernt. Das war immerhin auch etwas, und so hatte sich Anne für Lisbeth und Johann gefreut, dass sie ihr Glück gefunden haben.

Als Mönch-ohne-Heimat ins Dorf kam, hatte er Anne vom ersten Augenblick an behandelt wie jeden anderen auch, und wie es ihr schien, tat er es nicht bloß aufgrund seiner Glaubensgrundsätze, sondern aus seinem guten Wesen heraus. Ihn hatte es nicht geschert, was die anderen in Anne sahen. Ihm war es wichtig gewesen, dass sie ihr Herz nicht gramvoll verschloss.

Und so fuhren sie mit einem Gaul, einem Fuhrkarren und wenig Hab und Gut seit einem Jahr in der Hocheifel umher.

Anne warf ein paar Brotkrumen auf die Straße und amüsierte sich, dass sich die Amseln so heftig darum zankten, als hätten sie nur Spatzenhirne.

Mönch-ohne-Heimat bedachte seine Gefährtin mit einem Schmunzeln. Er mochte es, wenn sie so war. Die Tage konnten noch so beschwerlich sein, Anne fand immer noch einen Moment, in dem sie die Welt um sich herum in einem Sonnenstrahl baden ließ.

Er hatte es ihr noch nie gesagt, aber im Stillen bewunderte er Anne dafür, dass sie in der Lage war, nach allem Beschwerlichem in ihrem Leben immer noch ihr Herz für die kleinen Dinge öffnen zu können. So vielen Menschen war diese Fähigkeit abhandengekommen, und er nahm sich selbst davon nicht aus.

Manchmal fiel es ihm schon morgens beim Aufstehen schwer, zuversichtlich auf den bevorstehenden Tag zu blicken. Lange hatte er es sich nicht eingestehen wollen, aber die Vertreibung aus dem Kloster hatte ihm mehr genommen als nur ein Dach über dem Kopf und seine Arbeit. Er hatte begonnen, den Sinn eines redlichen Lebens infrage zu stellen. Weil er keine Antworten fand, suchte er diese auf dem Grund unzähliger Weinkrüge, die er im Wirtshaus in Brunnenweiler trank. Fündig wurde er natürlich nicht. Nur hilflos hatte er sich gefühlt.

Jeder nahm immer an, ein Mönch wäre nicht allein, und es stimmte ja auch, dass er es in seinem Glauben nie war. Aber genau wie jeder andere auch dürstete er in schweren Zeiten nach Mitgefühl und Fürsprache.

Davon abgehalten, ein Trunkenbold zu werden, hatte ihn Anne. Vielleicht, weil ihr Mann ein elender Säufer gewesen war, vielleicht, weil sie sein jammerndes Selbstmitleid nicht ertrug. Oh, das konnte er gut. Jammern und Klagen war ihm zur zweiten Natur geworden. Was gab es für ihn sonst schon zu tun, wenn kein Gemüsebeet beharkt werden konnte? Was immer Annes Beweggrund gewesen sein mochte, ihm in seiner schwersten Zeit zu helfen, er würde es ihr nie vergessen.

Und nun saßen sie beide hier nebeneinander auf dem Wagen und fuhren in eine ungewisse Zukunft. Na, wenigstens gemeinsam. Er teilte ja gerne.

Gedankenvoll sah er zu ihr; eine der Amseln entdeckte die Krumen und hüpfte darauf zu.

Nach einer Weile, in der beide geschwiegen hatten, fasste sich Anne ein Herz.

»Es wird Zeit, dass du deine Kutte ablegst«, sagte sie entschieden.

Mönch-ohne-Heimat seufzte theatralisch auf. »Nimm mir nicht das Letzte, das mir geblieben ist.«

»Wie lange willst du sie denn noch tragen? Ich finde, es wird langsam Zeit, dass du endlich in deinem neuen Leben ankommst.«

»Meinen Habit ablegen?«, fragte er auf eine Weise, so als würde er diese Worte wie aufsteigende Luftblasen aus dem vulkanischen Laacher See bestaunen.

»Es würde uns helfen, irgendwo sesshaft werden zu können. Wir fahren seit einem Jahr herum, und du findest keine Arbeit. In den Schulen willst du dich nicht als Lehrer vorstellen, auf dem Feld willst du nicht arbeiten. Würde ich nicht ab und zu in einem Wirtshaus aushelfen, wären wir längst verhungert. Finde dich langsam damit ab, dass es keine Klostergärten mehr gibt, in denen du fröhlich pfeifend Gemüse anbauen kannst.«

»Oder den Weinkeller betreue.«

Anne verdrehte die Augen.

»Du magst ja recht haben.« Seine Stimme klang kläglich. »Aber meinen Habit ausziehen? Das kann ich nicht. Er ist doch so etwas wie meine zweite Haut. Meine für alle sichtbare Haut.«

»Jedes Reptil häutet sich. Danach erstrahlt es in neuem Glanz, und du, mein Mönchlein, benötigst dringend einen neuen Glanz, sonst fahren wir über das Land, bis ich als alte Frau tot vom Karren falle. Das willst du doch wohl auch nicht.«

»Nein, Anne, das will ich natürlich nicht. Aber du verlangst viel von mir.«

»Es ist nur eine Kutte und noch nicht mal eine saubere. Hier«, sie zupfte ihn am großzügig fallenden Ärmel, »lauter eingetrocknete Weinflecken. Das sieht nicht gut aus, Mönchlein, und hilft auch nicht dabei, eine ordentliche Anstellung zu bekommen. Was glauben die Leute denn, was du ihren Kindern beibringen willst? Wie man beidhändig aus dem größten Krug trinkt? So wie du aussiehst und dich gehen lässt, glaubt niemand, wie belesen du bist und welch umfangreiches Wissen über die Welt du besitzt.«

»Du bist gemein, Anne.«

»Nein, ich bin einfach nur ehrlich zu dir. Also zieh die Kutte aus. Heute noch. Sonst brauchen wir gar nicht nach Mayen zu fahren.«

»Ich brauche aber die Kutte, um mich in dieser Welt sicher zu fühlen.«

Anne drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dabei schmatzte sie gerne übertrieben, denn das brachte Mönch-ohne-Heimat noch jedes Mal zum Erröten.

»Wofür war der jetzt?«, fragte er traurig.

»Dafür, dass du Kutte gesagt hast. Das erste Mal. Es ist ein Anfang, dich zu lösen.«

»Stimmt, ich habe Kutte gesagt. Mein Gott, ist es schon so weit mit mir gekommen, dass ich meine Sprache deiner angleiche? Sollte es nicht umgekehrt sein?«

»Es ist schon alles richtig so mit uns beiden«, sagte Anne. Vergnügt schlug sie ihm mit der flachen Hand gegen den gewölbten Bauch. »Du weißt, ich bin dir sehr dankbar, dass du mir das Lesen und Schreiben beigebracht hast.«

»Du warst eine gute Schülerin. Wolltest viel wissen, hast viel geübt.«

»Hast ja recht, mein Mönchlein.«

»Ich habe dich doch gebeten, mich nicht so zu nennen. Ich heiße Mönch-ohne-Heimat.«

»Wenn du mir deinen wirklichen Namen verraten würdest, dann könnte ich dich auch so ansprechen, aber du weigerst dich ja standhaft, ihn mir zu sagen.«

Der Mönch grummelte vor sich hin. Nicht wirklich verärgert, sondern mehr, weil sie diese Unterhaltung schon häufiger geführt hatten und er sich tatsächlich bisher eisern weigerte, seinen Namen preiszugeben. Anne hatte ihn schon aufgezogen und behauptet, er hätte ihn selbst wohl schon vergessen während seiner Jahre im Kloster, aber dem war nicht so.

Mit ihrer linken Schulter stieß Anne kameradschaftlich gegen seine rechte.

»Wäre es nicht an der Zeit, deinen Protestnamen abzulegen?«, fragte sie.

»Das ist etwas, von dem du nichts verstehst.«

»Ach, so einfach machst du es dir? Und wieso versteh ich nichts davon? Was gibst denn da überhaupt zu verstehen, außer, dass du dir mit dem Zusatz ohne-Heimat ständig deinen Kummer in Erinnerung rufst. Schau mich an, ich hab auch von vorne angefangen. In dem Moment, als wir beide gemeinsam losgefahren sind, gab es die alte Anne nicht mehr, sondern nur noch die, die nach vorne schaut.«

Mönch-ohne-Heimat grinste. »Die alte Anne, hm, das könnte stimmen. Jünger bist du nicht geworden seitdem.«

»He, werd nicht frech«, protestierte sie und fügte nach einer kurzen Pause schelmisch hinzu: »Mönchlein.«

Anne besaß eine dunkle Stimme, die ihre Worte manchmal rau klingen ließen. Das verlieh ihr trotz des schmalen, fast zerbrechlich wirkenden Äußeren etwas Kämpferisches. Vielleicht war es diese Stimme gewesen, die Mönch-ohne-Heimat in ihr an eine verwandte Seele denken ließ. Ihr haftete stets etwas Vertriebenes an, was er ja auch für sich so empfand.

»Vielleicht bist du ja auch unzufrieden, weil du …«

Der Rest von Annes Worten ging in einem unverständlichen Gemurmel unter.

»Wenn du so leise redest, kann ich nichts verstehen.«

»Weil du nichts …«

»Nun sprich doch deutlicher, Anne.«

»Mein Gott«, wurde sie lauter, »weil du nichts arbeitest? Ich denke halt, dass du unzufrieden bist, weil du keine Aufgabe hast.«

Ruckartig wandte er ihr sein Gesicht zu. Mit weit geöffneten Augen sah er sie erschrocken an. Gleichzeitig zog er abrupt am Zügel. Das müde Pferd blieb gehorsam stehen und senkte den Kopf. Wüsste Anne es nicht besser, würde sie vermuten, dass der Gaul sofort eingeschlafen war.

»Ach, Mönchlein, entschuldige bitte, ich will dir nicht wehtun, wenn ich so was sage. Ich weiß genau, was du alles für uns beide machst. Ich dachte halt nur, dass wir bisher doch nur versucht haben, die richtige Balance zwischen Müßiggang und Arbeit zu finden. Etwas Dauerhaftes könnte uns guttun, auch unserem Geldbeutel.«

»Nein, Anne, entschuldige dich nicht. Du hast ja recht. Wir fahren seit einem Jahr übers Land, und was habe ich denn zu einem Verdienst bisher beigetragen, damit wir uns über Wasser halten können? Nein, unterbrich mich jetzt nicht.« Er hob die Hand. »Die Antwort lautet wahrheitsgemäß: nichts. Würdest du nicht ab und zu in einem Gasthaus oder auf einem Tanzbodenfest etwas für die Menschen singen, hätten wir keinen einzigen Taler verdient.«

»Und dabei kann ich gar nicht singen«, schmunzelte sie.

»Ja, du hast viele Talente, Anne, aber Singen gehört ganz sicher nicht dazu. Und dennoch – den Männern gefällt deine Stimme.«

»Wohl nicht nur die.«

Der Mönch feixte ganz und gar unchristlich. »Du bist, ich wage es zu sagen, ein hübsches Beispiel dafür, was die Natur aus einem weiblichen Wesen machen kann.«

»Manchmal wünschte ich mir, einen Buckel zu haben«, sagte sie, und die Bitterkeit in ihren Worten war deutlich herauszuhören. »Männer schauen mich an und glauben zu wissen, wie ich bin.«

Mönch-ohne-Heimat verfügte über das Gespür, wann er ernst zu sein hatte. »Hast du dich mir deshalb angeschlossen? Um diesem Angeschautwerden zu entfliehen?«

Anne überlegte kurz. »Möglich, dass es einer der Gründe war«, sagte sie.

»Und ich dachte, du kamst mit, weil du unsterblich in mich verliebt bist.«

»Das ist der andere Grund, Mönchlein.«

Lachend klopfte sie ihm erneut mit der flachen Hand auf seinen rundlichen Bauch, der sich unter der Kutte sichtbar wölbte. Er tat, als würde er es nicht mögen, in Wahrheit aber liebte er es wie ein Hund, der hinter dem Ohr gekrault wird.

Nach einer Weile sagte er: »Du hast recht, Anne, es muss sich was ändern. Aber was? Ich kann doch nichts anderes als Mönch sein.«

»Wie gesagt, du könntest doch unterrichten. Viele deiner Leidensgenossen haben einen Posten in einer Schule angenommen.«

Mönch-ohne-Heimat seufzte. »Ich kann das nicht.«

»Warum sträubst du dich dagegen? Es gab schon einige Gelegenheiten für dich, eine solche Stellung zu bekommen. Immer sind wir weitergefahren. Dabei bin ich überzeugt, dass du Kindern sehr gut dein Wissen vermitteln kannst. Schau, mir hast du in dem Jahr, seit wir herumfahren, auch lesen und schreiben beigebracht. Und du hast selbst gesagt, dass ich beides sehr gut beherrsche.«

»Ich kann nicht unterrichten.«

»Probier’s doch mal. Wir könnten irgendwo sesshaft werden. Das klingt doch nach einer schönen Idee, oder? Ich wünsche mir sehr ein Zuhause, weißt du? Ich hatte noch nie eines, in dem ich glücklich war. Wir beide hätten doch die Chance dazu. Und ich verdiene uns auch etwas dazu. Ich kann in einem Wirtshaus bedienen.«

»Anne, ich kann nicht.«

Enttäuscht verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Du willst nicht.«

»Ich kann nicht«, beharrte er.

»Aber wieso denn nicht?«

»Weil ich … weil ich kein Französisch spreche«, stieß er ungehalten hervor. »Was ist? Schau mich nicht so an wie eine kalbende Kuh. Es ist einfach so, dass ich diese Sprache nicht beherrsche, und du weißt, dass die Franzosen verlangen, dass der Unterricht in ihrer Sprache gehalten wird.«

»Ja, auf dieser Seite des Rheins. Dann lass uns auf die rechte Seite gehen.«

»Aber da gehöre ich nicht hin.«

»Und wohin gehörst du jetzt?«

»Hierhin gehöre ich. In diese Gegend. Mein ganzes Leben hab ich hier verbracht. Ich kann nicht einfach woanders hin. Ich hab hier meine Wurzeln.«

»Die man dir herausgerissen hat. Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass wir keine Heimat haben, wir beide? Also lass uns eine finden.«

Mönch-ohne-Heimat ließ die Schultern sinken. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse wie jemand, der sich seiner eigenen Schwäche nur zu bewusst war und selbst daran verzweifelte, nichts dagegen tun zu können. Anne spürte, wie sehr er darunter litt. Behutsam legte sie eine Hand auf seine Schulter. Dankbar für diese Geste lächelte er schwach.

»Wenn du nicht rübergehen willst, dann bleiben wir hier«, sagte sie mit einfühlsamer Stimme.

»Ich meine, die Franzosen sind in unserem Land«, sagte er. »Sollen sie doch unsere Sprache lernen, wenn sie schon hier sind. Warum soll ich jetzt in deren Sprache unterrichten? Erklär mir das. Ich bin ein freier Mensch.«

Ach, Mönchlein, dachte Anne. Deine Freiheit besteht doch nur darin, dich der Vorstellung hinzugeben, du hättest wirklich eine Wahl.

Sie hätte ihm jetzt etwas über die üblichen Mechanismen zwischen Besatzern und Besetzten erzählen können, doch sie ließ es bleiben. Wozu ihr Mönchlein noch mehr aufregen?

»Aber irgendwas müssen wir uns einfallen lassen, das ist dir schon klar, oder?«, sagte sie stattdessen. »Wir können nicht ewig mit diesem Karren durch die Eifel rollen.«

»Ach, warum denn nicht?«

»Weil irgendwann das Pferd stirbt.«

Seit Anne ihren Gefährten kannte, war er noch nie sprachlos gewesen, aber dieses Mal durfte sie das letzte Wort behalten.

3

Nachdem sie ein Eichenwäldchen hinter sich gelassen und eine Lichtung passiert hatten, lenkte Mönch-ohne-Heimat den Wagen über einen Feldweg hin zu einer einsam stehenden Scheune, vor der er anhielt. Hastig und ohne viele Worte zu verlieren, stieg er ab und lief ins Feld, wo er sich hinter einem Gewirr aus Brombeerranken ein ruhiges Plätzchen suchte, um sich im Stehen zu erleichtern.

Anne vertrat sich derweil die Beine. Ihr Kreuz und die Schultern schmerzten von dem harten Sitzbrett, auf dem sie stundenlang ausharrten, während der schwerfällige Gaul den Wagen über das Land mit all seinen Unebenheiten zog.

Ein paar Schritte, die Arme in die Höhe strecken und den Rücken durchbiegen würde ihr guttun. Sie legte sich eine Hand vor den Bauch. Hunger hatte sie. Auf etwas Herzhaftes. Mal wieder gedämpftes Fleisch essen zu können, was würde sie nicht dafür geben. Sie selbst hätte ja gerne mal ein Huhn gestohlen, aber selbst wenn der Spruch »Gott sieht alles« nicht stimmen täte, ihr Mönchlein sah es. Und er verstand in solchen Dingen keinen Spaß. Ihr Magen allerdings auch nicht, und so hatten sie sich geeinigt, dass Anne ab und zu ein gelegtes Ei entwenden durfte.

Sie bückte sich, um ein Gänseblümchen zu pflücken, das sie zwischen Daumen und Mittelfinger wie ein winziges Windrad hin- und herdrehte. Kaum hatte sie ein paar Schritte gemacht, meldete sich auch ihre Blase. Sie sollte die Gelegenheit nutzen und sich ebenfalls ein Plätzchen suchen, wo sie sich unbeobachtet hinhocken konnte. Mönch-ohne-Heimat wurde nicht bei vielen Dingen sauer, aber er konnte ziemlich genervt reagieren, wenn sie, kaum dass sie wieder weitergefahren sind, den Finger hob und sagte, jetzt müsse sie mal. Hattest du das nicht vorher schon gewusst?, schimpfte er da schnell, aber er meinte es nicht wirklich böse. Es gab Wichtigeres, um sich aufzuregen. Das hatte sogar er inzwischen eingesehen.

Anne schlenderte auf die Scheune zu. Auf der anderen Seite würde sie sicher gut die Röcke heben können, ohne von einem zufällig auf der Straße vorbeikommenden Tagelöhner gesehen zu werden, der vielleicht glaubte, nur weil er gerade ihren blanken Po sah, könnte er sich auf sie stürzen wie ein Wolf auf ein junges Reh.

Sie winkte Mönch-ohne-Heimat zu, der gerade hinter dem Gesträuch vorkam und zurück zum Wagen stampfte, und bedeutete ihm, dass sie es ihm gleichtun werde. Mönch-ohne-Heimat reckte begeistert den Daumen in die Luft. Anne schmunzelte. Er war ja so leicht zufriedenzustellen. Eine Kleinigkeit wie rechtzeitiges Pinkeln ge...

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