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Die Unbändigen

Als Buch hier erhältlich:

Männer haben versucht sie zu zähmen – aber die Kraft der Weyward-Frauen sprengt alle Fesseln

Ich bin eine Weyward und trage das Wilde in mir.

KATE, 2019
Kate flieht aus London und lässt alles zurück – endlich hat sie die Kraft gefunden, den Mann zu verlassen, der ihr Leben kontrolliert. Sie findet Zuflucht im Weyward Cottage im Norden Englands, das sie von ihrer Großtante Violet geerbt hat. Dort stößt Kate aber auf verstörende Gerüchte und auf ein sorgsam gehütetes Geheimnis, das sie tief in die Geschichte ihrer Vorfahren führt, bis zurück in die Zeiten der Hexenjagd.

VIOLET, 1942
Violet liebt die Natur über alles. Sie sammelt weitaus lieber Insekten und klettert auf Bäume, als sich an die strengen Benimmregeln für junge Damen zu halten. Dann verändert die folgenschwere Begegnung mit einem Mann das Leben der jungen Frau für immer.

ALTHA, 1619
Altha ist der Hexerei angeklagt – sie soll einen Mann getötet haben. Bekannt für ihr abgeschiedenes Leben als unabhängige Frau und für ihre besondere Verbindung zu den Tieren ist sie eine Bedrohung, die beseitigt werden muss.

Drei Frauen kämpfen in drei verschiedenen Zeitaltern um ihre Unabhängigkeit – aber ihre Geschichten sind weitaus enger verwoben, als es anfangs scheint.

Ein fesselnder Roman über die Macht weiblichen Widerstands und die verändernde Kraft der Natur.

Von den Leserinnen und Lesern zweifach auf Platz 1 der GoodReads Choice Awards gewählt und ausgezeichnet als bester historischer Roman und bestes Debüt 2023!


„Sie wird groß rauskommen als Autorin“ Sara Cox in BBC2s „Between the Covers“

„Gleich vom ersten Moment an war da ein Gefühl von Temperament, Feuer, Energie und Vitalität“ Sophie Duker in BBC2s „Between the Covers“

„Sehr gefühlvoll und mutig … Es ist gewagt, das habe ich geliebt“ Mel Giedroyc in BBC2s „Between the Covers“

„Lebhaft, wild und packend“ ABIGAIL DEAN

„Voll von gerissener, berauschender Magie“ BRIDGET COLLINS

„Absolut einzigartig“ GILLIAN MCALLISTER

„Ermutigend.“ GLAMOUR

„Absolut fesselnd“ ABI DARE

„Stürmisch und bewegend … großartig“ ROSIE ANDREWS

„Ein atemberaubendes Debüt“ LUCY CLARKE

„Bedeutend, ermutigend und hervorragend geschrieben … Ich liebe es einfach!“ JOANNA CANNON

„Eine magische Lektüre“ WOMAN & HOME

„[Ein] kühnes, magisches Debüt“ RED

„Es scheint das Jahr der Hexenbücher zu sein – und das ist das Beste, was ich bisher gelesen habe.“ GOOD HOUSEKEEPING

„Eine absolute Schönheit … ein fesselnder Pageturner für wilde Frauen überall“ JULIE OWEN MOYLAN, Autorin von „That Green Eyed Girl“

„Wunderschön geschrieben und komplex wie ein Spinnennetz“ SUNYI DEAN, Autorin von „The Book Eaters“

„Ein mutiger wie einzigartiger Roman – wahrlich bezaubernd“ SARAH PENNER, Autorin von The Lost Apothecary

„Betörend, fesselnd und ausgezeichnet geschrieben“ LIZZIE POOK, Autorin von „Moonlight and the Pearler's Daughter“

„Ein fabelhaftes Debüt“ PRIMA

„Eine unterhaltsame Lektüre“ THE TIMES

„Macht Lust, die Seiten weiter umzublättern und mehr zu erfahren“ INDEPENDENT

„Ein wunderbar starkes Debüt“ LOVE READING

„Eine ermutigende Lektüre, die Sie bis zum letzten Wort fesseln wird … Kaufen Sie dieses Buch“ GLAMOUR

„Ein herausragendes Debüt“ FABULOUS Magazin

„2023 wird das Jahr der Hexenlektüre, und ‚Die Unbändigen‘ ist einer der aufregendsten neuen Titel“ COSMOPOLITAN


  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904655
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Familie

The Weyward Sisters, hand in hand,
Posters of the sea and land,
Thus do go, about, about
Thrice to thine, thrice to mine.
And thrice again to make up nine.
Peace, the charm’s wound up.

Macbeth

»Weyward« stand noch in der ersten Folioausgabe von Macbeth – eigensinnig, widerspenstig.

Später wurde aus »Weyward« »Weird« – seltsam.

Und Dorothea Tieck übersetzte ins Deutsche:

Unheilsschwestern, Hand in Hand
Schwärmend über Meer und Land,
Ziehen so rundum, rundum.
Dreimal dein und dreimal mein,
Und dreimal noch, so macht es neun!
Still! – Der Zauber ist geknüpft.

PROLOG

ALTHA

1619

Zehn Tage lang hielten sie mich dort fest. Zehn Tage, mit dem Gestank meines eigenen Körpers als einzige Gesellschaft.

Nicht einmal eine Ratte beehrte mich mit ihrer Anwesenheit. Da war nichts, was sie angelockt hätte, denn man gab mir nichts zu essen. Nur Ale zu trinken.

Schritte. Dann das Knirschen von Metall auf Metall, als der Riegel zurückgezogen wurde. Das plötzliche Licht schmerzte in meinen Augen. Einen Moment lang schienen die Männer in der Tür zu leuchten, als wären sie nicht von dieser Welt, sondern wollten mich von ihr fortholen.

Die Männer des Magistrats.

Sie waren gekommen, um mich vor Gericht zu bringen.

1

KATE

2019

Kate starrt ihr Gesicht im Spiegel an, da hört sie ihn.

Den Schlüssel im Schloss.

Mit zitternden Fingern bessert sie hektisch ihr Make-up aus, die dunklen Wimperntuschelinien, die wie Spinnenbeine ihre Unterlider zieren.

Im gelblichen Licht kann sie am Hals ihren Puls pochen sehen, unter der Kette, die er ihr zum letzten Jahrestag geschenkt hat. Sie ist silbern und dick, kalt auf der Haut. Tagsüber, wenn er bei der Arbeit ist, trägt sie die Kette nicht.

Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Das Geräusch seiner Schuhe auf den Dielenbrettern. Wein, der in ein Glas gegossen wird.

Wie ein Vogel flattert die Panik in ihr auf. Sie holt tief Luft, berührt die lang gezogene Narbe auf ihrem rechten Arm. Lächelt dem Badezimmerspiegel ein letztes Mal zu. Sie darf sich nicht anmerken lassen, dass irgendetwas anders ist. Dass etwas nicht stimmt.

Simon lehnt an der Küchenzeile, ein Weinglas in der Hand. Bei seinem Anblick fängt ihr Herz laut an zu klopfen. Seine schlanke Gestalt im dunklen Anzug, die scharfkantigen Wangenknochen. Sein goldenes Haar.

Er beobachtet, wie sie auf ihn zukommt in diesem Kleid, von dem sie weiß, dass er es mag. Ein fester Stoff, eng um die Hüften. Rot. Dieselbe Farbe wie ihre Unterwäsche. Spitze, mit kleinen Schleifchen daran. Als wäre Kate selbst etwas, das es auszupacken, aufzureißen gilt.

Sie sucht nach Hinweisen. Seine Krawatte ist weg, die drei obersten Knöpfe seines Hemds sind geöffnet, sodass etwas lockiges Brusthaar zu sehen ist. Das Weiß seiner Augen schimmert rosa. Als er ihr ein Glas Wein reicht, riecht sein Atem nach Alkohol, süß und stechend. Schweißperlen bilden sich zwischen ihren Schulterblättern, unter den Armen.

Der Wein ist ein Chardonnay, normalerweise ihr Lieblingswein. Doch nun erinnert sie der Geruch an Fäulnis und dreht ihr den Magen um. Sie drückt das Glas an die Lippen, ohne einen Schluck zu trinken.

»Hallo, Schatz«, begrüßt sie ihn in munterem Tonfall, aufpoliert nur für ihn. »Wie war’s bei der Arbeit?«

Doch die Worte bleiben ihr im Hals stecken.

Seine Augen werden schmal. Trotz des Alkohols bewegt er sich blitzschnell: Seine Finger bohren sich ins weiche Fleisch ihres Oberarms.

»Wo warst du heute?«

Kate weiß, dass sie sich nicht aus seinem Griff befreien darf, obwohl jede Faser ihres Körpers danach schreit. Stattdessen legt sie ihm die Hand auf die Brust.

»Nirgends.« Sie versucht, ganz ruhig zu klingen. »Ich war den ganzen Tag zu Hause.« Sie hatte ihr iPhone bewusst in der Wohnung zurückgelassen, als sie zu Fuß zur Apotheke ging, und auch nur Bargeld mitgenommen. Sie lächelt, beugt sich vor, um ihn zu küssen.

Seine Wange ist rau vor Bartstoppeln. Und noch ein anderer Geruch mischt sich unter den Alkohol, etwas Schweres, Blumiges. Vielleicht Parfüm. Es wäre nicht das erste Mal. Ein winziger Funke Hoffnung flackert in ihr auf. Es könnte zu ihrem Vorteil sein, wenn es eine andere gibt.

Doch sie hat sich verkalkuliert. Er dreht sich weg. Dann: »Lügnerin!«

Kate hört das Wort kaum, denn Simons Hand trifft bereits ihre Wange. Der Schmerz ist schwindelerregend wie grelles Licht. Am Rand ihres Sichtfeldes verschwimmen die Farben des Raumes: die goldbraunen Dielen, die weiße Ledercouch, das Kaleidoskop der Londoner Skyline vor dem Fenster.

Ein entferntes Klirren: Sie hat ihr Weinglas fallen lassen.

Keuchend sucht Kate Halt an der Küchenarbeitsplatte. Das Blut pulsiert in ihrer Wange. Währenddessen zieht Simon seinen Mantel an, nimmt die Schlüssel vom Esstisch.

»Du bleibst, wo du bist«, sagt er. »Wenn nicht, dann werde ich das erfahren.«

Seine Schritte hallen auf dem Parkett. Die Haustür knallt zu. Kate rührt sich nicht von der Stelle, bis sie den Aufzug knarrend den Schacht hinunterfahren hört.

Er ist weg.

Auf dem Fußboden glitzern Glassplitter, und Weingeruch hängt sauer in der Luft.

Der metallische Geschmack im Mund bringt sie wieder zu sich. Ihre Lippe blutet, wo die Wucht seines Schlags sie gegen die Zähne gedrückt hat.

In Kates Gehirn macht etwas Klick. Wenn nicht, dann werde ich das erfahren.

Offensichtlich reicht es nicht, ihr Handy zu Hause zu lassen. Simon hat eine andere Möglichkeit gefunden, eine weitere Methode, sie zu verfolgen. Kate fällt der Blick des Portiers unten in der Eingangshalle wieder ein. Hatte Simon ihm ein Bündel Geldscheine zugesteckt, damit er sie ausspionierte? Bei dem Gedanken gefriert ihr das Blut in den Adern.

Wenn Simon herausfindet, wo sie heute Vormittag war – was sie gemacht hat –, wer weiß, was er dann noch tun würde. Kameras installieren, ihr die Schlüssel wegnehmen.

Dann wären all ihre Pläne zunichte. Sie würde nie entkommen.

Aber, halt. Sie ist gut genug vorbereitet, oder?

Wenn sie jetzt geht, könnte sie bis Tagesanbruch dort sein. Die Fahrt dauert ungefähr sechs Stunden. Kate hat alles genau geplant, auf ihrem zweiten Handy – das, von dem Simon nichts weiß. Endlos hat sie die blaue Linie auf dem Display angestarrt, die sich wie ein Band durchs Land schlängelt. Sie hat die Strecke fast auswendig im Kopf.

Ja, sie wird jetzt sofort gehen. Sie muss jetzt gehen. Ehe er wiederkommt, ehe sie den Mut verliert.

Kate holt das Motorola-Handy aus seinem Versteck, einem Umschlag, der an der Rückseite ihres Nachttischs klebt. Dann nimmt sie eine Reisetasche vom obersten Regal im Schrank und füllt sie mit Kleidungsstücken. Aus dem Bad holt sie ihre Kosmetika und die Schachtel, die sie heute zuvor in der Kommode versteckt hat.

Dann tauscht sie das rote Kleid schnell gegen dunkle Jeans und ein enges rosafarbenes Top. Mit zitternden Fingern öffnet sie den Verschluss der Halskette. Sie lässt das Schmuckstück auf dem Bett liegen, zusammengerollt wie ein Henkersstrick. Daneben ihr iPhone mit der goldenen Hülle, dessen Vertrag auf Simon läuft und dessen Code er kennt. Das Handy, das er nachverfolgen kann.

Sie durchwühlt die Schmuckschatulle auf dem Nachttisch, bis ihre Finger die goldene bienenförmige Brosche ertasten, die sie seit ihrer Kindheit besitzt. Die steckt sie ein und lässt dann den Blick ein letztes Mal durchs Schlafzimmer schweifen: die cremefarbene Bettwäsche und die Vorhänge, die klaren Linien der Möbel im skandinavischen Stil. Es sollte noch mehr zu packen geben, oder? Früher besaß sie jede Menge Sachen – stapelweise Bücher mit Eselsohren, Kunstdrucke, Tassen. Nun gehört alles ihm.

Beim Betreten des Aufzugs ist ihr schwindelig vor Adrenalin. Was, wenn er zurückkommt und sie abfängt? Kate drückt die Taste für die Tiefgarage, doch im Erdgeschoss hält der Aufzug plötzlich mit einem Ruck, und die Türen öffnen sich. Kates Herz klopft laut. Der Portier unterhält sich gerade mit einem anderen Hausbewohner, den breiten Rücken hat er ihr zugekehrt. Mit angehaltenem Atem drückt sie sich ganz eng in die Ecke der Kabine und atmet erst wieder aus, als niemand sonst auftaucht und sich die Türen zuckelnd wieder schließen.

In der Tiefgarage steht der Honda, den sie gekauft hat, noch bevor sie Simon kennenlernte, und der auf sie zugelassen ist. Simon kann sie von der Polizei nicht suchen lassen, wenn sie ihr eigenes Auto fährt – oder? Kate hat genug Krimis gesehen. Sie ist aus freien Stücken gegangen, werden sie sagen.

Aus freien Stücken klingt gut. Nach Freiheit.

Sie dreht den Schlüssel im Zündschloss, dann gibt sie bei Google Maps die Adresse ihrer Großtante ein. Seit Monaten wiederholt sie in Gedanken die Worte wie ein Mantra.

Weyward Cottage, Crows Beck. Cumbria.

2

VIOLET

1942

V iolet hasste Graham. Sie verabscheute ihn regelrecht. Weshalb durfte er den ganzen Tag interessante Dinge lernen, wie Naturwissenschaften und Latein und über einen Mann namens Pythagoras, während sie sich damit begnügen sollte, Nadeln durch Nesselstoff zu stechen? Und das Gemeinste war, dachte Violet, deren Wollrock an den Beinen kratzte, dass er all das auch noch in Hosen tun durfte.

So leise sie nur konnte, rannte sie die große Haupttreppe hinunter, um nicht den Zorn ihres Vaters auf sich zu ziehen, der von weiblicher Ertüchtigung überhaupt nichts hielt (und, so schien es oft, von Violet selbst generell nicht). Als sie Graham hinter sich schnaufen hörte, musste sie ein Kichern unterdrücken. Selbst in ihren biederen Mädchenkleidern war sie schneller als er.

Dabei hatte er am Abend zuvor noch geprahlt, er wolle in den Krieg ziehen! Eher lernten Schweine das Fliegen. Außerdem war er erst fünfzehn – ein Jahr jünger als Violet – und deshalb noch lange nicht alt genug. Das war auch gut so. Fast alle Männer des Dorfes waren an die Front gegangen, und die Hälfte von ihnen gefallen (das hatte Violet jedenfalls gehört), ebenso wie der Butler, der Diener und beide Gärtnerjungen. Außerdem war Graham ihr Bruder. Sie wollte nicht, dass er starb. Glaubte sie zumindest.

»Gib das her!«, zischte Graham.

Sie drehte sich um und sah, dass sein rundes Gesicht vor Anstrengung und Wut ganz rot war. Graham war sauer, weil sie sein Lateinheft geklaut und ihn belehrt hatte, dass er alle femininen Nomen falsch deklinierte.

»Kriegst du nicht«, zischte sie zurück und drückte das Heft an die Brust. »Du hast es gar nicht verdient. Du hast amor statt arbor geschrieben, verflixt noch mal.«

Am Fuß der Treppe warf sie einem der vielen Porträts von Vater in der Eingangshalle einen finsteren Blick zu, dann wandte sie sich nach links und folgte dem holzgetäfelten Korridor, bis sie die Küche erreichte und hineinstürmte.

»Was denkste dir eigentlich?«, bellte Mrs. Kirkby, in der einen Hand ein Fleischerbeil, in der anderen den schimmernden abgezogenen Körper eines Kaninchens. »Hätt mir vor Schreck fast den Finger abgehauen!«

»Tut mir leid!«, rief Violet, die bereits die Terrassentüren aufriss. Der schnaufende Graham folgte ihr hinaus in den Küchengarten, wo es nach Minze und Rosmarin duftete, und weiter bis zu Violets absolutem Lieblingsort: das Gelände rund um das Anwesen. Sie drehte sich um und grinste ihren Bruder an. Hier draußen hatte er keine Chance mehr, sie einzuholen, wenn sie das nicht wollte. Er öffnete den Mund und nieste. Graham hatte nämlich schrecklichen Heuschnupfen.

»Ooooch«, sagte sie. »Brauchst du ein Taschentüchlein?«

»Halt den Mund!« Er schnappte nach dem Heft, doch Violet wich geschickt zur Seite aus. Einen Moment lang stand er schwer atmend da. Es war ein besonders warmer Tag. Eine dünne Wolkenschicht hatte die Hitze eingeschlossen und die Luft stickig gemacht. Schweiß kitzelte unter Violets Armen, und der Rock kratzte ganz fürchterlich, doch das machte ihr nichts mehr aus.

Sie hatte ihren besonderen Baum erreicht: eine Silberbuche, die laut Dinsdale, dem Gärtner, Hunderte von Jahren alt war. Violet hörte den Baum hinter sich vor Leben summen. Rüsselkäfer, die nach dem kühlen Saft suchten, auf den Blättern zitternde Marienkäfer, Kleinlibellen, Falter und Finken, die zwischen den Zweigen hindurchsausten. Als sie den Arm ausstreckte, landete eine Libelle auf ihrer Handfläche. Ihre Flügel glänzten im Sonnenlicht. Goldene Wärme breitete sich in Violet aus.

»Igitt«, sagte Graham, der sie endlich eingeholt hatte. »Wie kannst du zulassen, dass dieses Vieh dich berührt? Zerquetsch es!«

»Ich werde es nicht zerquetschen, Graham«, sagte Violet. »Dieses Insekt hat genauso ein Recht darauf zu leben wie du oder ich. Und schau mal, wie hübsch es ist. Die Flügel funkeln fast wie Kristalle, findest du nicht auch?«

»Du bist … nicht normal.« Graham wich zurück. »Mit deiner Insektenbesessenheit. Vater denkt das auch.«

»Juckt mich nicht die Bohne, was Vater denkt«, log Violet. »Und was du denkst, ist mir sowieso egal. Wobei, wenn man sich dein Arbeitsheft ansieht, solltest du weniger über meine Insektenbesessenheit nachdenken, sondern mehr über lateinische Nomen.«

Mit bebenden Nasenflügeln kam er auf sie zugetrampelt. Als er noch gut fünf Schritte entfernt war, warf sie das Heft nach ihm – ein bisschen fester als beabsichtigt – und schwang sich dann in den Baum hinauf.

Fluchend drehte Graham sich um und stapfte leise schimpfend zurück Richtung Haus.

Violet wurde plötzlich von schlechtem Gewissen gepackt, als sie der wütenden Gestalt hinterherblickte. So war es zwischen ihnen nicht immer gewesen. Früher war Graham wie ihr Schatten. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er im Kinderzimmer ins Bett gekrochen kam, um sich vor einem Albtraum oder einem Gewitter zu verstecken, und sich eng an sie drückte, bis sein Atem laut in ihren Ohren klang. Sie hatten jede Menge Spaß zusammen gehabt – waren quer durch den riesigen Garten gestromert, bis ihre Knie schwarz vor Erde waren, hatten die winzigen silbernen Fischchen im Bach bestaunt oder die rote Brust eines flatternden Rotkehlchens.

Bis zu jenem schrecklichen Sommertag – ein Tag ähnlich wie heute, mit dem gleichen honigfarbenen Licht über Hügeln und Bäumen. Violet erinnerte sich, wie sie beide hinter der Buche im Gras gelegen und Distel- und Löwenzahnsamen in die Luft gepustet hatten. Sie war acht gewesen, Graham erst sieben. Irgendwo summten Bienen, die nach ihr riefen, sie lockten. Violet war zum Baum hinüberspaziert und hatte den Bienenstock gefunden, der wie ein Goldklumpen an einem Ast hing. Die Bienen umkreisten sie flirrend. Langsam näherte sie sich, streckte die Arme aus und grinste, als sie fühlte, wie die Insekten auf ihr landeten, das Kitzeln winziger Beine auf ihrer Haut.

Sie hatte sich nach Graham umgedreht und über das Staunen in seinem Gesicht gelacht.

»Darf ich auch mal?«, hatte er mit großen Augen gefragt.

Violet hatte ja nicht gewusst, was passieren würde, hatte sie ihrem Vater später schluchzend versichert, als sein Stock durch die Luft auf sie zugesaust kam. Sie hörte nicht, was er sagte, sah nicht die dunkle Wut in seinem Gesicht. Sie sah nur den brüllenden Graham vor sich, der von Nanny Metcalfe ins Haus gescheucht wurde. Die Stiche auf seinen Armen glühten rot. Vaters Stock riss Violets Handfläche auf, und sie hatte das Gefühl, sie hätte eigentlich schlimmeres verdient.

Danach schickte Vater Graham aufs Internat. Nun kam er nur noch in den Ferien nach Hause und wurde ihr immer fremder. Tief in ihrem Inneren wusste Violet, dass sie ihn nicht so verspotten sollte. Sie tat es nur, weil sie sich selbst die Sache mit den Bienen nicht verzeihen konnte, Graham aber auch nicht.

An diesem Tag war klar geworden, dass Violet anders war.

Violet schüttelte die Erinnerung ab und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war erst drei Uhr nachmittags. Für heute war sie mit dem Unterricht fertig oder, anders formuliert: Ihre Gouvernante, Miss Poole, hatte kapituliert. In der Hoffnung, dass man sie noch mindestens eine Stunde lang nicht vermissen würde, kletterte Violet weiter nach oben und genoss die raue Wärme der Rinde unter ihren Handflächen.

In der Vertiefung zwischen zwei Ästen fand sie die zottelige Kapsel einer Buchecker. Perfekt für ihre Sammlung. Das Fensterbrett ihres Zimmers war voll von solchen Schätzen: die goldene Spirale eines Schneckenhauses, die seidigen Überreste eines Schmetterlingskokons. Lächelnd verstaute Violet die Buchecker in der Tasche ihres Rocks und kletterte weiter.

Bald befand sie sich hoch genug, um ganz Orton Hall überblicken zu können, mit den weitläufigen Steingebäuden, die Violet an eine majestätische, an einem Hang hockende Spinne erinnerten. Von noch weiter oben konnte sie auf der anderen Seite der Hügel das Dorf erahnen, Crows Beck. Die Aussicht war wunderschön. Aber irgendwie auch traurig. Es war, als würde sie auf ein Gefängnis blicken. Ein grünes wunderschönes Gefängnis voll von Vogelgezwitscher und Libellen und dem glänzenden gelbbraunen Wasser des Baches, aber trotzdem ein Gefängnis.

Denn Violet hatte das Gelände von Orton Hall nie verlassen. Sie war noch nie in Crows Beck gewesen.

»Aber warum kann ich denn nicht mitkommen?«, hatte sie Nanny Metcalfe immer gefragt, als sie noch jünger gewesen und das Kindermädchen mit Mrs. Kirkby zum Sonntagsspaziergang aufgebrochen war.

»Du kennst die Regel«, murmelte Nanny Metcalfe dann nur mit mitleidigem Blick. »Anweisung deines Vaters.«

Eine Regel zu kennen und sie zu verstehen, ist aber nicht dasselbe, dachte Violet. Jahrelang hatte sie geglaubt, das Dorf sei voller Gefahren. Sie hatte sich ausgemalt, dass Taschendiebe und Halsabschneider zwischen den reetgedeckten Cottages herumlungerten. (Was den Reiz nur noch erhöhte.)

Vergangenes Jahr hatte sie Graham gedrängt, ihr mehr zu erzählen. »Ich weiß nicht, weshalb du so ein Theater darum machst«, hatte er gesagt und das Gesicht verzogen. »Das Dorf ist einfach nur langweilig. Es gibt nicht mal einen Pub!« Manchmal fragte sich Violet, ob Vater gar nicht sie vor dem Dorf beschützen wollte. Ob es nicht in Wirklichkeit andersherum war.

Auf jeden Fall würde ihre Abschottung bald zu Ende sein – in gewisser Weise. In zwei Jahren, wenn sie achtzehn wurde, plante Vater, ein großes Fest zu geben, um sie in die Gesellschaft einzuführen. Dann, so hoffte er, würde irgendein geeigneter junger Mann ein Auge auf sie werfen, ein zukünftiger Lord vielleicht, und sie dieses Gefängnis hier gegen ein anderes eintauschen.

»Du wirst bald einen feschen Gentleman kennenlernen, der dein Herz im Sturm erobert«, pflegte Nanny Metcalfe gern zu sagen.

Doch Violet wollte nicht erobert werden. Nein, sie wollte die Welt sehen, so wie Vater das als junger Mann getan hatte. Sie hatte in der Bibliothek allerlei Geografiebücher und Atlanten gefunden – Bücher über den Orient, voll dampfender Regenwälder und tellergroßer Falter (»scheußliche Viecher« laut Vater), und über Afrika, wo Skorpione wie Juwelen im Sand funkelten.

Ja, eines Tages würde sie Orton Hall verlassen und die Welt bereisen – als Wissenschaftlerin.

Als Biologin, hoffte sie, oder vielleicht als Insektenforscherin? Auf jeden Fall etwas, das mit Tieren zu tun hatte, die ihrer Erfahrung nach den Menschen eindeutig vorzuziehen waren. Nanny Metcalfe sprach oft davon, was für einen fürchterlichen Schrecken Violet ihr eingejagt hatte, als sie noch klein war: Eines Abends war sie ins Kinderzimmer gekommen und hatte doch tatsächlich ein Wiesel in Violets Bettchen gefunden.

»Ich hab geschrien wie am Spieß«, erzählte Nanny Metcalfe, »aber du lagst einfach nur zufrieden da, und dieses Wiesel, neben dir zusammengerollt, schnurrte wie ein Kätzchen.«

Nur gut, dass Vater von diesem Vorfall nie etwas erfuhr. Was ihn betraf, so gehörten Tiere entweder auf den Teller oder ausgestopft an die Wand. Die einzige Ausnahme dieser Regel bildete Cecil, sein Rhodesian Ridgeback: ein furchterregender Köter, dem er im Lauf der Jahre die Bösartigkeit eingeprügelt hatte. Violet rettete ständig irgendwelche kleinen Lebewesen aus seinem sabbernden Maul. Zuletzt eine Springspinne, die nun in einer Hutschachtel unter ihrem Bett wohnte, ausgekleidet mit einem alten Petticoat. Violet hatte sie – oder ihn, denn das Geschlecht war schwer festzustellen – Goldie getauft wegen der hellen Streifen an den Beinen.

Nanny Metcalfe war zur absoluten Verschwiegenheit verpflichtet.

Wobei es auch viele Dinge gibt, die Nanny Metcalfe wiederum mir nicht erzählt hat, dachte Violet später, als sie sich zum Abendessen umzog. Nachdem sie in ein weiches Leinenkleid geschlüpft war – der verhasste Wollrock lag achtlos hingeworfen auf dem Boden –, drehte sie sich zum Spiegel. Ihre Augen waren braun und dunkel, ganz anders als die wässrig blauen von Vater und Graham. Violet fand, dass ihr Gesicht ziemlich seltsam aussah, mit dem unschönen roten Muttermal auf ihrer Stirn, aber auf ihre Augen war sie stolz. Und auf ihre Haare auch, die so tiefschwarz waren, dass sie fast schon schillerten, ähnlich wie das Gefieder der Krähen, die in den Bäumen rings um Orton Hall hausten.

»Sehe ich aus wie meine Mutter?«, fragte Violet, seit sie denken konnte. Es gab keinerlei Bilder von ihrer Mutter. Alles, was sie von ihr besaß, war eine alte Kette mit einem verbeulten ovalen Anhänger. In den Anhänger war ein W eingraviert, und sie fragte jeden, der ihr zuhörte, ob der Name ihrer Mutter vielleicht Winifred oder Wilhelmina gewesen sei. (»Hieß sie Wallis?«, hatte Violet ihren Vater einmal gefragt, nachdem sie den Namen auf der Titelseite seiner Zeitung entdeckt hatte. Daraufhin schickte er die verwirrte Violet ohne Abendessen auf ihr Zimmer.)

Nanny Metcalfe war auch keine Hilfe.

»Kann mich gar nich richtig an deine Ma erinnern«, sagte sie immer. »Ich war noch nich lange da, als sie starb.«

»Die beiden haben sich 1925 beim May Day Festival kennengelernt«, gab Mrs. Kirkby mit wissendem Nicken preis. »Sie war die Maikönigin, weil sie so hübsch war. Sie waren sehr verliebt. Aber frag deinen Vater besser nicht mehr danach, sonst erntest du eine Tracht Prügel.«

Diese winzigen Informationsbrocken brachten sie nicht weiter. Als Kind hatte Violet so viel mehr wissen wollen: Wo hatten ihre Eltern geheiratet? Trug ihre Mutter einen Schleier oder einen Blumenkranz (sie stellte sich kleine Weißdornblüten vor, passend zu einem zarten Kleid aus Spitze)? Und musste Vater Tränen wegblinzeln, als er versprach, sie zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie scheiden würde?

In Ermangelung echter Tatsachen klammerte sich Violet so sehr an diese Vorstellung, dass sie irgendwann überzeugt davon war, dass es wirklich passiert war. Ja, ihr Vater hatte ihre Mutter verzweifelt geliebt, und der Tod hatte die beiden getrennt (sie wusste vage, dass ihre Mutter bei Grahams Geburt gestorben war). Deshalb ertrug er es nicht, darüber zu sprechen.

Doch dann und wann ließ etwas dieses Bild in Violets Kopf verschwimmen. Wie das Kräuseln auf der Oberfläche eines Teichs.

Eines Abends – sie war zwölf und suchte gerade in der Speisekammer nach Marmelade und Brot – kamen Nanny Metcalfe und Mrs. Kirkby mit der neu angestellten Miss Poole in die Küche.

Violet hörte das Scharren der Stühle auf dem Steinboden und das Knarren des alten Küchentischs, als die drei sich setzten. Dann ein Plop, gefolgt von Klirren, als Mrs. Kirkby eine Flasche Sherry öffnete und Gläser füllte. Mit vollen Backen stand Violet reglos da.

»Und wie gefällt’s Ihnen bisher bei uns, meine Liebe?«, hatte sich Nanny Metcalfe bei Miss Poole erkundigt.

»Nun, ich gebe bei Gott mein Bestes, aber sie scheint so ein schwieriges Kind zu sein«, antwortete Miss Poole. »Ich verbringe den halben Tag damit, sie zu suchen, während sie draußen herumrennt und sich überall Grasflecken holt. Und sie – sie …«

An dieser Stelle stockte Miss Poole kurz.

»Sie redet mit Tieren! Sogar mit den Insekten!«

Er folgte ein kurzes Schweigen.

»Wahrscheinlich halten Sie mich für albern«, sagte Miss Poole schließlich.

»O nein, meine Liebe«, widersprach Mrs. Kirkby. »Nun, wir können Ihnen gleich sagen, dass dieses Kind ein wenig anders ist. Sie ist irgendwie … Wie hast du es genannt, Ruth?«

»Unheimlich«, antwortete Nanny Metcalfe.

»Ist ja auch kein Wunder«, fuhr Mrs. Kirkby fort, »wenn man bedenkt, wer die Mutter war.«

»Die Mutter?«, wiederholte Miss Poole. »Sie ist gestorben, nicht wahr?«

»Ja. Schreckliche Geschichte«, sagte Nanny Metcalfe. »Kurz nachdem ich hier angefangen hab. Hatte kaum noch Gelegenheit, sie kennenzulernen.«

»Sie war ein Mädchen aus der Gegend«, erklärte Mrs. Kirkby. »Aus der Nähe von Crows Beck. Die Eltern unseres Masters hier wären fuchsteufelswild gewesen … aber sie sind beide verstorben, einen Monat vor der Hochzeit. Sein älterer Bruder auch. Bei einem Kutschenunfall.«

Miss Poole schnappte hörbar nach Luft.

»Wie bitte? Und die Hochzeit hat trotzdem stattgefunden? War Lady Ayres … in anderen Umständen?«

Mrs. Kirkby gab einen Laut von sich, der nicht eindeutig zuzuordnen war, dann fuhr sie fort: »Er war völlig in sie vernarrt, so viel kann ich sagen. Anfangs zumindest. Eine seltene Schönheit war sie. Und der jungen Dame sehr ähnlich, nicht nur äußerlich.«

»Wie meinen Sie das?«

Wieder eine kurze Stille.

»Nun ja, sie war – wie Ruth eben gesagt hat. Irgendwie unheimlich. Seltsam.«

3

ALTHA

Die Männer holten mich aus dem Kerker und führten mich quer über den Dorfplatz. Ich versuchte, mich wegzuducken und mein Gesicht zu verbergen, doch einer von ihnen drehte mir die Arme auf den Rücken und schob mich vorwärts. Mein Haar wehte im Wind, lose und schmutzig wie das einer Hure.

Ich sah zu Boden, um den Blicken der Dorfbewohner auszuweichen. Doch ich spürte sie auf meinem Körper, als wären es Hände. Scham trieb mir die Röte in die Wangen.

Beim Geruch von Brot wurde mir flau, und ich begriff, dass wir gerade am Bäckerstand vorbeigingen. Ob die Bäckersfamilie, die Dinsdales, wohl zusahen? Erst vergangenen Winter hatte ich ihre Tochter während eines Fiebers gesund gepflegt. Wer sonst wurde wohl Zeuge, wer überließ mich gern diesem Schicksal? War Grace da, oder war sie bereits in Lancaster?

Sie warfen mich auf den Karren, als wöge ich nichts. Der Esel war ein armes Tier – er sah fast so verhungert aus wie ich. Unter seinem stumpfen Fell stachen die Rippen hervor. Ich hätte gerne die Hand ausgestreckt und ihn berührt, das Pochen seines Blutes unter der Haut gespürt, doch ich wagte es nicht.

Als wir losfuhren, gab mir einer der Männer einen Schluck Wasser und einen Kanten altes Brot. Ich krümelte es mit den Fingern in meinen Mund, doch dann musste ich mich über den Rand des Karrens beugen, weil es mir wieder hochkam. Der kleinere der Männer lachte, sein Atem ranzig in meinem Gesicht. Ich lehnte mich im Sitz zurück und drehte den Kopf, sodass ich in die Landschaft hinausblicken konnte.

Wir befanden uns auf der Straße, die am Bach entlangführt. Meine Augen hatten sich noch nicht wieder an die Helligkeit gewöhnt, und der Bach war nur ein undeutliches Glitzern aus Sonnenlicht und Wasser. Doch ich konnte seine Melodie hören und seinen sauberen eisenhaltigen Geruch riechen.

Derselbe Bach, der sich hinter meinem Cottage vorbeischlängelt. Wo meine Mutter mir die Elritzen gezeigt hat, die unter den Steinen hervorhuschten, und die festen Blüten der Engelwurz am Ufer.

Ein dunkler Schatten flog über mich hinweg, und ich glaubte, Flügelschläge zu hören. Das Geräusch erinnerte mich an die Krähe meiner Mutter. An jene Nacht, unter der Eiche.

Die Erinnerung bohrte sich in meine Brust wie ein Messer.

Mein letzter Gedanke, ehe ich in Ohnmacht versank, war, wie froh ich war, dass Jennet Weyward nicht mehr lebte, dass es ihr erspart blieb, ihre Tochter so zu sehen.

Irgendwann konnte ich nicht mehr mitzählen, wie oft die Sonne am Himmel auf- und wieder unterging, bis wir Lancaster erreichten. Ich war noch nie an einem solchen Ort gewesen, hatte bisher nicht einmal das Tal verlassen. Der Geruch von tausend Menschen und Tieren war so stark, dass ich die Augen zusammenkniff, weil ich meinte, man müsse ihn in der Luft hängen sehen können. Und dieser Lärm. So ohrenbetäubend, dass ich keinen einzigen Vogel mehr zwitschern hörte.

Ich setzte mich im Karren auf, um mich umschauen zu können. Da waren so viele Menschen. Männer, Frauen und Kinder drängten sich auf den Straßen. Die Frauen rafften ihre Röcke, während sie über Pferdeapfelhaufen hinwegstiegen. Ein Mann röstete Kastanien über dem Feuer. Vom Duft ihres goldenen Fleisches wurde mir ganz schwindelig. Es war ein sonniger Nachmittag, aber ich fröstelte. Ich betrachtete meine Fingernägel: Sie waren blau.

Schließlich hielten wir vor einem großen Steingebäude an. Mir war sofort klar, dass es sich um Lancaster Castle handelte, wo sie das Schwurgericht abhielten. Ein Ort, an dem über Leben und Tod entschieden wurde.

Sie zerrten mich vom Wagen und brachten mich hinein. Die Türen schlossen sich hinter mir, verschluckten mich.

Auch so etwas wie den Gerichtssaal hatte ich noch nie zuvor gesehen. Die Sonne fiel durch die Fenster auf Steinsäulen, die mich an Bäume erinnerten, die sich zum Himmel hinaufstreckten. Doch auch solche Schönheit dämpfte meine Angst nicht.

Die beiden Richter saßen auf einer erhöhten Bank, als wären sie himmlische Wesen statt aus Fleisch und Blut wie der Rest von uns. Sie erinnerten mich an zwei fette Käfer mit ihren schwarzen Roben, den Mänteln mit Fellbesatz und den seltsamen dunklen Kappen. An der Seite saß die Jury. Zwölf Männer. Sie schauten mir nicht in die Augen, abgesehen von einem Mann mit kantigem Kinn und schiefer Nase. Sein Blick war weich – vor Mitleid vielleicht. Ich ertrug ihn nicht. Rasch drehte ich das Gesicht weg.

Der anklagende Magistrat betrat den Raum. Er war ein großer Mann in feierlicher Robe, sein Gesicht pockennarbig. Halt suchend umklammerte ich den hölzernen Sitz der Anklagebank, als er mir gegenüber Platz nahm. Seine Augen waren hellblau wie die einer Dohle, aber kalt.

Einer der Richter sah mich an.

»Altha Weyward«, begann er und runzelte dabei die Stirn, als könnte mein Name ihm den Mund besudeln. »Ihr seid angeklagt, die bösen und teuflischen Künste auszuführen, die Hexerei genannt werden, und durch ebenjene Hexerei verbrecherisch den Tod von John Milburn verursacht zu haben. Bekennt Ihr Euch schuldig?«

Ich benetzte mir die Lippen. Meine Zunge schien angeschwollen zu sein, und ich fürchtete, an den Worten zu ersticken, ehe ich sie hervorbringen konnte. Doch als ich sprach, war meine Stimme klar.

»Nicht schuldig«, sagte ich.

4

KATE

Kate ist immer noch schlecht vor Angst, obwohl sie sich inzwischen auf der A66 befindet, kurz vor Crows Beck. Etwas über 300 Meilen von London entfernt. 300 Meilen von ihm entfernt.

Sie ist die Nacht durchgefahren. Obwohl sie generell mit wenig Schlaf auskommt, überrascht es sie, wie hellwach sie ist. Die Müdigkeit zeigt sich erst jetzt langsam in einem watteartigen Gefühl hinter den Augen und einem Pochen in den Schläfen. Sie schaltet das Radio ein, um Stimmen um sich, um Gesellschaft zu haben.

Ein fröhlicher Popsong vertreibt die Stille. Sie zieht eine Grimasse und schaltet ihn aus.

Stattdessen kurbelt sie das Autofenster hinunter. Morgenluft strömt herein, sauber und grasig mit einem Hauch von Dung. So anders als der feuchte Schwefelgeruch der Stadt. Ungewohnt.

Es ist über zwanzig Jahre her, seit sie das letzte Mal in Crows Beck war, wo ihre Großtante wohnte. Die Schwester ihres Großvaters – Kate kann sich kaum noch an sie erinnern – starb vergangenen August und hinterließ Kate ihren Grundbesitz. Wobei Grundbesitz sehr hochtrabend klingt für das kleine Cottage mit gerade mal zwei Zimmern, wenn sie sich recht erinnert.

Draußen färbt die aufgehende Sonne die Hügel rosa. Ihr Handy sagt ihr, dass sie noch fünf Minuten von Crows Beck entfernt ist. Fünf Minuten von Schlaf entfernt, denkt sie. Noch fünf Minuten, dann ist sie in Sicherheit.

Sie verlässt die Hauptstraße, um in ein schmales Sträßchen abzubiegen, das von dicht an dicht stehenden Bäumen gesäumt wird. In der Ferne sieht sie Mauertürme im Morgenlicht glänzen. Könnte das Orton Hall sein, überlegt sie, der frühere Sitz ihrer Familie? Ihr Großvater und seine Schwester wuchsen dort auf – bis sie enterbt wurden. Kate weiß nicht, warum. Und nun ist niemand mehr übrig, den sie fragen könnte.

Die Türme verschwinden, dafür sieht sie etwas anderes, das ihr Herz laut klopfen lässt.

Eine Reihe von Tieren – Ratten, denkt sie, oder vielleicht Wühlmäuse – baumeln an den Schwänzen aufgeknüpft an einem Zaun. Ihr Auto fährt weiter, und bald sind sie nicht mehr zu sehen. Vermutlich nur irgendein seltsamer Brauch aus der Gegend hier. Kate erschaudert trotzdem und schüttelt den Kopf, doch sie kann das Bild nicht vertreiben. Diese kleinen Körper, die im Wind schaukeln.

Das Cottage duckt sich tief an den Boden wie ein ängstliches Tier. Die Steinmauern sind altersfleckig und von Efeu überwuchert. In verschnörkelten Buchstaben steht ein Name in den Türsturz gemeißelt: Weyward. Seltsamer Name für ein Haus. Auch nicht das gewohnte »wayward«, sondern »weyward«, als hätte es noch eine andere, verborgene Bedeutung.

Die Haustür sieht ziemlich kaputt aus, die dunkelgrüne Farbe löst sich von unten her in Steifen ab. Das urtümliche Schloss ist groß und voller Spinnweben. Kate kramt in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Das Geräusch beim Umdrehen klingt laut in der morgendlichen Stille, und im Gebüsch neben dem Haus raschelt etwas. Kate zuckt zusammen. Seit ihrer Kindheit hat sie keinen Fuß mehr über diese Schwelle gesetzt – zuletzt damals, als ihr Vater noch lebte. Ihre Erinnerungen an das Cottage, wie auch an ihre Großtante, sind blass, schemenhaft. Und doch überrascht sie die Angst in ihrer Magengrube. Es ist schließlich nur ein Haus. Und sie kann nirgendwo sonst hin.

Also holt sie tief Luft und geht hinein.

Der Flur ist schmal und niedrig. Bei jedem Schritt steigt eine Staubwolke vom Fußboden auf, wie zur Begrüßung. Die Wände ziert eine hellgrüne Tapete, die aber fast vollständig von gerahmten Zeichnungen von Insekten und anderen Tieren verdeckt wird. Die besonders lebensechte Darstellung einer riesigen Hornisse lässt Kate erneut zusammenzucken. Ihre Großtante war Entomologin, Insektenforscherin. Kate selbst kann den Reiz daran nicht ganz nachvollziehen – sie ist kein Fan von Insekten, überhaupt allem, was fliegt. Nicht mehr.

Ein Stück weiter, hinten im Haus, befindet sich der Wohnraum mit einer Küchenzeile. Geschwärzte Kupfertöpfe und Büschel getrockneter Kräuter hängen über einem Herd, der jahrhundertealt wirkt. Die Möbel sind hübsch, aber vom Zahn der Zeit gezeichnet: ein durchgesessenes grünes Sofa, ein Tisch aus Eichenholz mit einer Reihe bunt zusammengewürfelter Stühle drum herum. Auf dem Sims über einem verfallenen Kamin drängen sich seltsame Gegenstände, darunter eine verstaubte Honigwabe und die schillernden Flügel eines Schmetterlings, in einem Glas geschützt. Eine Ecke der Zimmerdecke ist so dick mit Spinnweben verhangen, dass es aussieht, als wären sie extra dort gezüchtet worden.

Kate füllt den rostigen Kessel mit Wasser und stellt ihn auf die Herdplatte, während sie die Schränke nach etwas Essbarem durchsucht. Hinter Dosen mit Bohnen und Gläsern mit mysteriösen eingemachten Dingen findet sie einige Teebeutel und eine ungeöffnete Packung Schokoladenkekse. Sie isst übers Spülbecken gebeugt und blickt dabei aus dem Fenster zum unteren Ende des Gartens hinaus, wo der Bach im Morgenlicht golden glitzert. Der Kessel beginnt zu singen. Mit ihrer Teetasse in der Hand geht sie über knarrende Holzdielen durch den Flur zurück ins Schlafzimmer.

Hier ist die Zimmerdecke noch niedriger als im Rest des Hauses: Kate muss sich beinahe bücken. Durchs Fenster kann sie die Hügel sehen, die das Tal einrahmen, von Wolken gefleckt. Der Raum ist vollgestopft mit Bücherregalen und Möbeln. Ein Himmelbett voller uralter Kissen. Auf einmal wird ihr klar, dass es sich vermutlich um das Bett handelt, in dem ihre Großtante gestorben ist. Sie starb im Schlaf, hatte der Anwalt gesagt, und wurde am nächsten Tag von einem Mädchen aus dem Ort gefunden. Kurz fragt sich Kate, ob die Bettwäsche seither wohl gewechselt wurde und ob es nicht besser wäre, auf dem durchhängenden Sofa zu schlafen. Doch die Müdigkeit zerrt an ihr, und sie lässt sich erschöpft auf die Bettdecke fallen.

Beim Aufwachen ist sie verwirrt von den unbekannten Umrissen im Raum. Einen Augenblick lang glaubt Kate, sich wieder im sterilen Schlafzimmer ihrer Londoner Wohnung zu befinden: dass jeden Moment Simon auf ihr sein wird, in ihr drin … Dann fällt es ihr wieder ein. Ihr Puls beruhigt sich. Durch die Fenster leuchtet blau die Abenddämmerung. Sie schaut auf die Uhr des Handys: 18.33 Uhr.

Beim Gedanken an das iPhone, das sie zurückgelassen hat, überrollt sie eine Welle der Angst. Er könnte es genau in diesem Moment durchsuchen … aber sie hatte keine Wahl. Außerdem wird er darauf nichts finden, was er nicht schon gesehen hätte.

Sie ist sich nicht sicher, wann er anfing, ihr Handy zu überwachen. Vielleicht tut er es seit Jahren, ohne dass es ihr klar gewesen wäre. Den Code zum Entsperren kannte er schon immer, und sie gab es ihm, wann immer er danach verlangte. Und trotzdem war er letztes Jahr auf einmal überzeugt, sie hätte eine Affäre.

»Du triffst dich mit jemandem, hab ich recht?«, hatte er geknurrt, während er sie von hinten nahm, die Finger fest in ihren Haaren verkrallt. »In der verdammten Bibliothek

Zuerst dachte sie, er habe einen Privatdetektiv engagiert, der sie verfolgte, doch das ergab keinen Sinn. Denn dann wüsste er, dass sie sich mit niemandem traf – sie ging einfach in die Bücherei, um zu lesen, um sich in der Fantasie anderer zu verlieren. Oft las sie Bücher, die sie als Kind geliebt hatte, denn das Vertraute wirkte wie Balsam – Grimms Märchen, Die Chroniken von Narnia und ihr Lieblingsbuch: Der geheime Garten. Manchmal schloss sie die Augen und befand sich dann nicht im Bett mit Simon, sondern zwischen den verwilderten Pflanzen von Misselthwaite Manor, wo sie zusah, wie sich die Rosen im Wind wiegten.

Vielleicht war genau das sein eigentliches Problem. Dass er zwar ihren Körper kontrollieren konnte, nicht aber ihren Geist.

Es gab noch andere Anzeichen dafür, wie zum Beispiel der Streit vor Weihnachten. Irgendwoher wusste er, dass sie nach Flügen nach Toronto gesucht hatte, um ihre Mutter zu besuchen. Da wurde ihr klar, dass er Spyware auf ihrem iPhone installiert haben musste. Etwas, das ihm erlaubte, nicht nur ihren Standort, sondern auch ihren Suchverlauf, ihre E-Mails und SMS zu verfolgen. Als dann letzten August der Notar wegen des Cottage anrief – ihres Erbes –, hatte sie sofort die Anrufliste gelöscht und beschlossen, sich irgendwie ein zweites Handy zu besorgen. Ein geheimes Handy, von dem Simon nie etwas erfahren würde.

Es hatte Wochen gedauert, genug Bargeld zusammenzukratzen, um das Motorola zu kaufen – Simon gab ihr Taschengeld, doch das war eigentlich nur für Make-up und Unterwäsche gedacht. Dann erst konnte sie anfangen zu planen. Sie bat den Notar, die Schlüssel an ein Postfach in Islington zu schicken. Fing an, Geld im Futter ihrer Handtasche zu verstecken und wöchentlich auf das Konto einzuzahlen, das sie heimlich eröffnet hatte.

Selbst da war sie sich noch nicht sicher, ob sie es wirklich durchziehen würde, ob sie es überhaupt verdient hatte, frei zu sein.

Bis Simon verkündete, dass er ein Kind wolle. Er erwartete eine lukrative Beförderung, und da war der nächste logische Schritt, eine Familie zu gründen.

»Du wirst schließlich nicht jünger«, hatte er gesagt. Und dann höhnisch hinzugefügt: »Außerdem ist es ja nicht so, als hättest du etwas Besseres zu tun.«

Kälte hatte sich in ihr ausgebreitet, als sie das hörte. Es war eine Sache, dass sie das hier ertrug – ihn ertrug. Spucke, die ihr ins Gesicht flog, das Brennen seiner Schläge auf ihrer Haut. Die endlosen, brutalen Nächte.

Aber ein Kind?

Das konnte – das wollte – sie nicht verantworten.

Eine Weile nahm sie weiterhin heimlich die Pille, indem sie die Packung mit den rosafarbenen Tabletten versteckt in einem Sockenpaar in ihrer Nachttischschublade aufbewahrte. Bis Simon sie fand. Er zwang sie zuzusehen, wie er jede einzelne Pille aus dem Blister drückte, eine nach der anderen, um sie dann in der Toilette runterzuspülen.

Danach wurde es schwieriger. Sie wartete, bis er eingeschlafen war, ehe sie aus dem Bett schlich und still im Bad im bläulichen Licht ihres heimlichen Handys die alten Methoden recherchierte. Die, bei denen er keinen Verdacht schöpfen würde. Zitronensaft, den sie in einem alten Parfümflakon aufbewahrte. Das Brennen war fast angenehm. Sie fühlte sich hinterher sauber. Rein.

Während sie ihre Flucht plante und die monatlichen Blutflecken in ihrer Unterwäsche mit Erleichterung begrüßte, wurde seine Herrschaft strenger. Er verhörte sie endlos, wo sie gewesen sei und was sie gemacht habe. War sie einen Umweg gegangen, hatte sie mit irgendjemandem gesprochen, als sie seine Hemden aus der Reinigung holte? Hatte sie mit dem Mann geflirtet, der ihre Lebensmittel lieferte? Er überwachte sogar, was sie aß, und füllte die Küche mit Grünkohl und Nahrungsergänzungsmitteln, als wäre sie ein preisgekröntes Mutterschaf.

Es hielt ihn jedoch nicht davon ab, ihr wehzutun – ihre Haare um seine Fingerknöchel zu wickeln, in ihre Brüste zu beißen. Sie bezweifelte, dass er ein Baby um des Kindes willen wollte. Sein Bedürfnis, sie zu besitzen, war so übermächtig geworden, dass es nicht länger ausreichte, ihren Körper äußerlich zu markieren.

Ihre Gebärmutter mit seinem Samen anschwellen zu lassen, wäre die ultimative Form der Dominanz. Die ultimative Kontrolle.

Und so fand sie grimmige Befriedigung darin, Grünkohlwirbel im Toilettenabfluss verschwinden zu sehen, auf demselben Weg wie ihre Verhütungsmittel. Den Lieferanten heimlich anzulächeln. Doch diese kleinen Akte der Rebellion waren gefährlich. Er versuchte, sie bei jeder Täuschung zu ertappen, und stellte ihr geschickt verbale Fallen, als wären sie Anwalt und Zeugin vor Gericht.

»Du hast gesagt, du würdest um zwei Uhr die Sachen aus der Reinigung holen«, sagte er zum Beispiel, sein Atem heiß in ihrem Gesicht. »Aber auf dem Kassenbon steht drei Uhr. Weshalb hast du mich angelogen?«

Manchmal dauerten seine Kreuzverhöre eine Stunde, manchmal sogar länger.

In letzter Zeit hatte er gedroht, ihr die Wohnungsschlüssel wegzunehmen, und verkündet, man könne ihr während der langen Stunden, die sie allein im glänzenden Gefängnis ihrer gemeinsamen Wohnung verbrachte, nicht trauen.

Das Netz zog sich zusammen. Und ein Baby würde sie für immer an ihn binden.

Was der Grund war, weshalb sich gestern ihre Zukunft – mit dem entfernten Versprechen von Freiheit – in nichts aufzulösen schien, als sie im Badezimmer hockte und zusah, wie die farbigen Striche im Sichtfenster eines Schwangerschaftstests auftauchten. Das Summen einer Fliege, die sich gegen die Fensterscheibe warf, gemischt mit ihren eigenen unregelmäßigen Atemzügen, bildete eine unwirkliche Hintergrundmusik. »Das darf nicht sein«, sagte sie laut. Es war niemand da, der antworten konnte.

Zwanzig Minuten später riss sie einen zweiten Test aus der Verpackung, doch das Ergebnis war dasselbe.

Positiv.

Daran darfst du jetzt nicht denken, befiehlt sich Kate. Aber sie kann es immer noch nicht fassen – die gesamte Fahrt über musste sie sich beherrschen, nicht anzuhalten und die Schachtel zu öffnen, die sie in ihrer Handtasche verstaut hatte, um nachzusehen, ob sie sich diese beiden verschwommenen Linien nicht vielleicht doch eingebildet hat.

Sie hat sich so sehr angestrengt. Doch am Ende war es egal. Er hat seinen Willen bekommen.

Übelkeit steigt in ihr auf, macht ihren Gaumen pelzig. Sie fröstelt, schluckt. Versucht, sich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Sie ist in Sicherheit. Das ist alles, was zählt. Sicher, aber frierend. Kate geht ins andere Zimmer hinüber und fragt sich, ob der Kamin wohl noch funktioniert. Daneben liegt ein Stapel Feuerholz und auf dem Sims eine Schachtel Streichhölzer. Das erste Streichholz verweigert den Dienst. Das zweite auch. Obwohl sie mehrere Hundert Meilen von ihm entfernt ist, klingt seine Stimme laut in ihrem Kopf: Erbärmlich. Kriegt nichts auf die Reihe. Kates Finger zittern, doch sie versucht es noch einmal. Beim Anblick der kleinen blauen Flamme und der orangen Funken, mit denen das Holz Feuer fängt, grinst sie.

Aus den Funken werden Flammen, und Kate streckt die Hände aus, um sich zu wärmen, ehe plötzlich dicker Qualm ins Zimmer quillt. Hustend greift sie den Kessel vom Herd und schüttet Wasser aufs Feuer. Sobald es gelöscht ist, wird ihr innerlich ganz kalt. Vielleicht hat die Stimme recht. Vielleicht ist sie tatsächlich erbärmlich.

Doch jetzt ist sie schon so weit gekommen, nicht wahr? Sie kann das schaffen. Vom Kopf her weiß sie – jetzt, wo sich ihre Atmung beruhigt hat –, dass offensichtlich etwas den Kamin verstopft. Nebendran lehnt ein Schürhaken. Perfekt. Auf allen vieren, mit vor Rauch brennenden Augen, stochert sie oben im Abzug herum und spürt, wie sie auf etwas stößt, etwas Weiches …

Kate schreit auf, als das dunkle Bündel herabstürzt, und schreit wieder, als sie erkennt, dass es sich um einen Vogel handelt. Asche zittert auf den petrolschwarzen Federn. Eine Krähe. Der glänzende Knopf des Auges folgt ihr, als sie zurückweicht. Kate mag keine Vögel, mit ihren flatternden Flügeln und scharfen Schnäbeln. Geht ihnen seit Kindertagen aus dem Weg. Einen Moment lang ist sie ihrer Großtante böse, dass sie – von allen Orten auf Gottes Erdboden – ausgerechnet in Crows Beck leben musste.

Doch diese Krähe ist tot und kann ihr nichts mehr tun. Kate braucht eine Tüte, etwas Zeitungspapier oder Ähnliches, um sie loszuwerden. Als sie schon fast zur Zimmertür hinaus ist, spürt sie plötzlich eine Bewegung hinter sich im Raum. Sie dreht sich um und muss voll Entsetzen mit ansehen, wie der Vogel losflattert, auferstanden wie ein Krähen-Lazarus. Kate öffnet rasch das Fenster und schwenkt wild den Schürhaken, bis die Krähe hinausfliegt. Dann knallt sie das Fenster zu und rennt aus dem Zimmer. Das Geräusch des Schnabels, der an die Scheibe klopft, folgt ihr bis in den Flur.

5

VIOLET

V iolet zupfte ihr grünes Kleid zurecht, während sie Vater und Cecil aus dem Esszimmer folgte. Sie hatte kaum einen Bissen runtergebracht, und das nicht nur weil Mrs. Kirkby Hasenpastete serviert hatte. (Violet hatte versucht, beim Kauen nicht an seidige Ohren und kleine rosafarbene Näschen zu denken.) Vater hatte sie aufgefordert, ihn nach dem Abendessen in den Salon zu begleiten. Der Salon – in düsterem Schottenkaro gehalten – war der Ort, wohin sich Vater stets zu einem Glas Portwein zurückzog, unter den Blicken eines ausgestopften Steinbockkopfes über dem Kamin. Frauen hatten dort keinen Zutritt (mit Ausnahme von Mrs. Kirkby, die ein Feuer angezündet hatte, was für die Jahreszeit ungewöhnlich war).

»Schließ die Tür«, befahl Vater, sobald sie den Raum betreten hatten. Als Violet der Tür einen Schubs gab, sah sie draußen im Flur noch Grahams finstere Miene. Er war noch nie in den Salon gebeten worden. Was vielleicht auch gut so war. Violet wandte sich wieder ihrem Vater zu, dessen Gesicht die aschfahle Färbung angenommen hatte, die üblicherweise schweres Missfallen zum Ausdruck brachte. Ihr Magen zog sich Unheil ahnend zusammen.

Vater ging steif zum Getränkewagen hinüber, auf dem Kristalldekanter im Feuerschein funkelten. Er schenkte sich ein großzügiges Glas Port ein, ehe er sich in einen Sessel sinken ließ. Das Leder knarzte, als er die Beine überschlug. Er bot ihr keinen Platz an (wobei der einzige andere Stuhl im Raum, ein unbequemer Ohrensessel, ohnehin zu dicht am Feuer – und bei Cecil – stand, um wirklich einladend zu sein).

»Violet.« Vater rümpfte die Nase, als würde ihr Name ihn auf irgendeine Weise beleidigen.

»Ja, Vater?« Violet hasste es, wie dünn ihre Stimme klang. Sie schluckte und fragte sich, welchen Fehler sie begangen hatte. Normalerweise machte er sich nur die Mühe, sie zurechtzuweisen, wenn Graham dabei war. Ansonsten entging sie im Großen und Ganzen seiner Aufmerksamkeit. Zum zweiten Mal an diesem Tag musste sie an den Vorfall mit den Bienen denken und verzog das Gesicht.

Er beugte sich zum Kamin, um so heftig im Feuer zu stochern, dass es helle Asche auf den bunt gemusterten türkischen Teppich spuckte. Cecil jaulte auf, dann fing er an, in Violets Richtung zu knurren in der Annahme, sie müsste der Grund für den Unmut seines Herrchens sein. Eine Ader pochte an der Schläfe ihres Vaters. Er schwieg so lange, dass Violet anfing, sich zu fragen, ob sie sich einfach aus dem Salon schleichen konnte, ohne dass er es bemerkte.

»Wir müssen über dein Verhalten sprechen«, sagte er schließlich.

Ihre Wangen wurden heiß vor Panik.

»Mein Verhalten?«

»Ja«, erwiderte er. »Miss Poole erzählt mir, dass du … auf Bäume geklettert bist.« Er sprach die letzten Worte betont langsam und deutlich, als könnte er selbst nicht ganz glauben, was er da sagte. »Angeblich hast du dir dabei den Rock zerrissen. Wie ich höre, ist er … ruiniert.«

Mit gerunzelter Stirn blickte er ins Feuer.

Violet knetete ihre Finger, die inzwischen nass vor Schweiß waren. Ihr war der Riss gar nicht aufgefallen – die gesamte Länge des Wollrocks hinauf –, bis Nanny Metcalfe ihn für die Wäsche eingesammelt hatte. Der Rock war sowieso uralt und viel zu lang, mit scheußlichen Plisseefalten. Insgeheim war sie froh, ihn los zu sein.

»Ich … Es tut mir leid, Vater.«

Sein Stirnrunzeln wurde noch tiefer. Violet blickte zum Fenster, die Verdunklungsvorhänge waren um diese Zeit schon zugezogen. Eine Fliege kämpfte mit ihrem winzigen Körper gegen den Stoff an, auf der verzweifelten Suche nach der Welt dort draußen. Das Surren ihrer Flügel füllte Violets Ohren, sodass sie nicht hören konnte, was ihr Vater als Nächstes sagte.

»Wie bitte?«, fragte sie.

»Verzeihung, Vater.«

»Verzeihung, Vater?«, wiederholte sie und beobachtete dabei immer noch die Fliege.

»Ich sagte, du hast eine letzte Gelegenheit, dich angemessen zu verhalten, wie es sich für meine Tochter gehört. Dein Cousin Frederick kommt nächsten Monat zu uns, auf Heimaturlaub von der Front.« Er machte eine Pause, und Violet bereitete sich auf eine Predigt vor.

Vater sprach oft davon, wie er im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte. Jeden November ließ er Graham vor dem Tag des Waffenstillstands seine Orden polieren. Dann musste sich der gesamte Haushalt für die Schweigeminute im guten Wohnzimmer versammeln. Anschließend hielt er eine sich stets wiederholende Rede über Tapferkeit und Opferbereitschaft, die mit jedem Jahr länger zu werden schien.

»Keine Ahnung von echtem Kampf«, hatte Violet Dinsdale, den Gärtner, einmal Mrs. Kirkby nach einer besonders langen Ansprache zuraunen hören. »Hat die meiste Zeit mit einer Flasche Port in der Offiziersmesse verbracht, möcht ich wetten.« Vater hatte beinahe vergnügt gewirkt, als 1939 erneut der Krieg erklärt wurde. Er hatte Graham und Violet sofort befohlen, loszuziehen und Kastanien von den Bäumen entlang der Auffahrt zu sammeln. Angeblich waren die runden Samen, glänzend wie Rubine, unersetzlich für die Produktion der Bomben, die über ganz Deutschland explodieren und »diese Scheißdeutschen ins Jenseits befördern« würden. Graham sammelte Hunderte davon, doch Violet ertrug den Gedanken nicht, dass diese wunderschönen Kugeln ein solch scheußliches Ende finden würden. Sie vergrub sie heimlich im Garten in der Hoffnung, sie würden austreiben. Zum Glück verlor Vater recht schnell die Begeisterung für den Krieg – wegen eines kaputten Knies und »Pflichten an Land und Boden« wurde er nicht eingezogen – und vergaß diesen Auftrag völlig.

Doch an diesem Abend blieb die Kriegspredigt aus. »Ich erwarte von dir tadelloses Verhalten in Fredericks Gegenwart«, fuhr Vater stattdessen fort. Violet fand das alles ziemlich seltsam. Sie konnte sich nicht daran erinnern, je von einem Cousin namens Frederick gehört zu haben oder überhaupt von irgendeinem Cousin. Vater sprach nie über Verwandte – nicht einmal über seine Eltern und seinen großen Bruder, die bei einem Unfall gestorben waren, bevor sie geboren wurde. Auch dieses Thema war verboten. Sie hatte einmal drei brennende Schläge auf die Hand dafür bekommen, dass sie danach gefragt hatte. »Betrachte es als … Prüfung. Wenn es dir nicht gelingt, dich während seines Besuchs angemessen zu benehmen, dann … werde ich keine andere Wahl haben, als dich fortzuschicken. Zu deinem eigenen Besten.«

»Fort?«

»Ja, auf ein Mädchenpensionat. Du musst lernen, dich richtig zu verhalten, wenn du irgendeine Chance auf einen Mann haben willst. Wenn du mir nicht zeigen kannst, dass du in der Lage bist, dich wie die junge Dame zu benehmen, die du bist, dann gibt es mehrere Internate, die für diese Aufgabe infrage kommen. Und wo dieses Herumstromern draußen und das Sammeln von schmutzigen Blättern und Zweigen nicht toleriert wird.« Er senkte die Stimme. »Vielleicht können die verhindern, dass du wirst wie … sie

»Sie?« Violets Herz fing an zu flattern. Meinte er ihre Mutter?

Doch Vater ignorierte ihre Frage. »Das wäre dann alles«, sagte er und blickte zum ersten Mal zu ihr auf. »Gute Nacht.«

Es lag ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht. Als würde er zwar sie anschauen, aber jemand anderen vor sich sehen.

Violet wartete, bis sie sicher in ihrem Zimmer angekommen war, ehe sie den Tränen freien Lauf ließ. Sie weinte still vor sich hin, während sie ihr Nachthemd anzog und ins Bett kroch. Nach einer Weile versuchte sie, ruhiger zu atmen, doch es nützte nichts. Die Luft in ihrem kleinen Zimmer war abgestanden, und nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, in Orton Hall so fehl am Platz zu sein wie ein Fisch in den Wolken. Sie sehnte sich nach der festen Umarmung ihrer Buche und danach, den Nachtwind auf der Haut zu spüren.

Der Gesprächsfetzen, den sie als Kind belauscht hatte, klang ihr wieder in den Ohren.

Der anderen jungen Lady so ähnlich, nicht nur äußerlich.

War ihre Mutter auch so gewesen? Hatte die Natur auf die gleiche sehnsüchtige Weise ihr Herz berührt, wie sie es bei Violet tat?

Und was konnte daran so falsch sein?

Seufzend strampelte sie mit den Füßen die Bettdecke weg. Nachdem sie die Lampe gelöscht hatte, schlich sie ans Fenster, schob den furchtbaren Verdunklungsvorhang beiseite und das Fenster nach oben.

Der Mond hing wie eine schimmernde Perle am Nachthimmel und beleuchtete die zerklüfteten Hügel. Es ging ein leichter Wind, und Violet hörte die Bäume rauschen und murmeln. Sie schloss die Augen, lauschte dem Ruf einer Eule, dem Geräusch von Fledermausflügeln, dem Rascheln eines Dachses auf dem Weg zu seinem Bau.

Das hier war zu Hause. Nicht Orton Hall mit seinen düsteren Fluren und endlosen Schottenkaromustern und der Bedrohung durch Vater, die hinter jeder Biegung lauerte.

Doch wenn man sie fortschickte … würde sie vielleicht nichts davon je wiedersehen. Die Eulen, die Fledermäuse, die Dachse. Die alte Buche, die sie so liebte, und deren Insektendorf.

Stattdessen würde man sie drinnen einsperren und dazu zwingen, alle möglichen nutzlosen Fähigkeiten und Benimmregeln zu lernen. Und das nur, damit Vater sie irgendeinem nörgeligen alten Baron feilbieten konnte – als wäre sie etwas, das man gegen Gefälligkeiten eintauschen konnte.

Oder etwas, das es loszuwerden galt.

Aber nein, er würde sie nicht fortschicken. Das würde sie nicht zulassen. Wenn sie Orton Hall verließ – sie stellte sich vor, wie sie sich geschickt durch einen Dschungel bewegte, an Farnen vorbei, auf denen es vor Käfern wimmelte –, würde das zu ihren eigenen Bedingungen sein. Nicht denen von Vater oder irgendjemandem sonst.

Sie würde hier sein, schwor sie sich, nicht auf irgendeinem schrecklichen Pensionat, wenn der Winter kam, um die Blätter von den Bäumen zu holen. Sie würde sogar im Haus bleiben, wenn das nötig war. Nur bis der Besuch dieses blöden Verwandten vorbei war. Vater würde schon sehen, wie gut sie sich benehmen konnte.

6

KATE

Kate vergräbt sich unter der Bettdecke, um das Klink-Klink des Schnabels gegen das Glas zu dämpfen, während sie darauf wartet, dass die Krähe ihren Angriff auf die Fensterscheibe aufgibt. Sie holt tief und unregelmäßig Luft, wobei der moderige Geruch des Bettzeugs sie fast zum Würgen bringt. Schließlich lässt das Geräusch nach, und Kate bildet sich ein, das Rauschen von Flügeln in der Luft zu hören, als die Krähe wegfliegt. Ihr Atem beruhigt sich ebenso wie ihr Puls.

Sie hebt den Kopf und blickt sich im Zimmer um: die niedrige Decke, die grün gestrichenen Wände, die sich vor Altersschwäche durchzubiegen und näher zu kommen scheinen. Gerahmte Fotografien starren auf sie herab, zusammen mit Zeichnungen – alle von Tieren, Insekten, Vögeln. Eines der Bilder wirkt dreidimensional, fast schon plastisch: eine gelbbraune Schlange, die in ihrem gläsernen Rahmen glänzt. Vom rötlichen Schimmer angezogen, geht Kate näher heran. Es ist gar keine Schlange, erkennt sie nun, sondern der konservierte Körper eines Tausendfüßlers, der in dicken Segmenten feucht schimmert, für immer hinter Glas gefangen.

Schaudernd liest sie die verschnörkelte Schrift auf dem Schildchen. Die Worte klingen wie ein Zauberspruch.

Scolopendra gigantea.

Von der schweren Stille ringsherum wird ihr ganz schwindelig, fast schon übel, und dann noch diese...

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