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Die Unternehmerin von Amsterdam

Als Buch hier erhältlich:

Amsterdam, 1892: Nach dem Tod ihrer Eltern will die junge Lydia den großen Traum ihres Vaters verwirklichen und eine Käsefabrik gründen. Die Teekränzchen und Wohltätigkeitsveranstaltungen, die von ihr als Dame der oberen Gesellschaftsschichten erwartet werden, erfüllen sie nicht, aber Frauen ist es zu dieser Zeit grundsätzlich nicht erlaubt, eigenständig ein Unternehmen zu führen. Mithilfe von Huib jedoch, eines fortschrittsbegeisterten Bauern aus der Gegend, rückt der Erfolg in greifbare Nähe, obwohl die ungleichen Partner immer noch um Anerkennung kämpfen müssen. Durch das gemeinsame Ziel kommen die beiden sich näher ... Jahrzehnte später enthüllt Lydias Tochter das Geheimnis ihrer Herkunft – und durch den hereinbrechenden Krieg sind beide Frauen gezwungen, für das zu kämpfen, was sie lieben.


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904921
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

I

Juli 1892

1

Es ist still im Haus. Lydia hat sich daran gewöhnt, nur morgens wird es ihr manchmal noch bewusst. Die Dienstboten scheinen eifrig bemüht, möglichst leise zu sein, als wäre jedes Geräusch zu viel für sie, dabei macht ihr gerade die Ruhe zu schaffen.

In den vielen, einst von Lachen und Musik erfüllten und stets von Gästen belebten Räumen ist kein Laut mehr zu hören. Der Flügel, auf dem ihre Mutter so gern gespielt hat, steht unberührt im Salon, vom Zigarrenrauch ihres Vaters ist nur ein feiner Hauch geblieben.

Einen Teil des Jahres lebt Lydia in Amsterdam, lieber jedoch weilt sie in Purmerend auf ihrem Landsitz Welgelegen. Es ist, als wären die Stimmen ihrer Eltern hier deutlicher vernehmbar, als wären sie im Amsterdamer Haus zu schwach, um die Stadtgeräusche zu übertönen.

Lydia wirft das Laken und die dünne Sommerdecke von sich und steht auf. Bevor sie sich ankleidet, öffnet sie die Balkontüren und tritt hinaus, um den Anblick des Gartens zu genießen. Die Hortensien, der ganze Stolz ihrer Mutter, blühen wie nie zuvor, als wollten sie beweisen, dass sie auch ohne Paulines liebevolle Pflege auskommen.

Monatelang hat die Leere in den Zimmern Lydia schwer zugesetzt. Mittlerweile ist der Schmerz erträglicher, doch beim Aufwachen vor einer halben Stunde war das Gefühl des Verlustes jäh wieder da.

Vielleicht liegt es daran, dass sie gestern den Schlüssel zum Schreibtisch ihres Vaters gefunden hat. Sie hatte lange danach gesucht, und als sie am Abend ein Buch aus der Bibliothek holte, lag er plötzlich vor ihr.

Es war eine Erleichterung, auch wenn es bedeutet, dass sie den Schreibtisch nun durchforsten muss.

Sie kehrt ins Zimmer zurück, kleidet sich an und geht in die Küche. Ihr Dienstmädchen bereitet schon das Frühstück vor.

»Guten Morgen, Fiene«, sagt sie. »Ich würde gern im Arbeitszimmer meines Vaters frühstücken. Heute bitte Kaffee, keinen Tee.«

Fiene dreht sich zu ihr um. »Guten Morgen, Juffrouw Lydia. Möchten Sie nicht lieber draußen auf der Terrasse sitzen? Es ist so herrliches Wetter.«

Lydia schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, im Arbeitszimmer. Ich habe gestern endlich den Schlüssel zum Schreibtisch gefunden, und ich will wissen, was drin ist.«

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Eigentlich nicht. Mein Vater hat dort allerlei Persönliches aufbewahrt. Briefe, eine Art Tagebuch. Ich hoffe, ich finde auch Fotos. Es wäre schön, mehr Bilder von meinen Eltern zu haben.«

Lydia geht in die Diele hinaus und betritt das Arbeitszimmer. Es liegt im rechten Flügel des Gebäudes – mit Blick auf das Teehaus, in dem ihre Mutter so gern in einem Buch gelesen oder mit Freundinnen geplaudert hat. Ihr Vater mochte es, während der Arbeit ab und an zu seiner Frau hinüberzusehen.

Lydia bleibt einen Moment am Fenster stehen und gestattet sich einen Blick in die Vergangenheit. Dann wendet sie sich unvermittelt ab und nimmt am Schreibtisch Platz. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss und zieht die Schublade auf. Als Erstes fällt ihr Blick auf ein dickes, in braunes Leder gebundenes Notizbuch.

Sie legt es vor sich hin und schlägt es auf. Beim Anblick der vertrauten Handschrift ihres Vaters steigt Wehmut in ihr auf, doch sie fasst sich ein Herz und beginnt zu lesen.

Anfangs kann sie keinerlei Sinn in den flüchtig hingeworfenen Gedanken und Berechnungen erkennen. Sie scheinen eine Fabrik zu betreffen, und das versteht sie nicht, denn ihr Vater hat keine Fabriken besessen. Er war Makler und seit Jahren im Ruhestand, doch die Datierung in dem Buch beginnt erst ein knappes halbes Jahr vor seinem Tod.

Sie schaut noch einmal in die Schublade und findet dort einen Stapel Papiere. In diesem Augenblick kommt Fiene herein und stellt ein Tablett mit Kaffee, Brötchen und einem weichen Ei auf den Schreibtisch.

»Danke schön«, sagt Lydia abwesend. Sie nimmt die Papiere heraus und sieht sie rasch durch. Zu ihrer Verwunderung handelt es sich um Offerten für Rahmzentrifugen und Dampfmaschinen. Was wollte ihr Vater damit?

Ganz unten in dem Stapel liegt ein zusammengefaltetes Blatt. Lydia breitet es aus. Es ist ein Entwurf. Sie betrachtet die Skizze eingehend und nimmt sich dann wieder das Notizbuch vor.

Während sie darin blättert, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Ihr Vater wollte noch auf seine alten Tage eine Fabrik gründen. Eine Käsefabrik!

Überraschend war das im Grunde nicht. Er ging zwar bereits auf die siebzig zu, war aber noch gesund und kräftig – so glaubten sie zumindest – und allem Neuen aufgeschlossen. Sein Vermögen hatte er größtenteils mit Bodenspekulation verdient. Außerhalb von Amsterdam hatte er hektarweise Brachland erworben und es später, nachdem die Reste der mittelalterlichen Stadtmauer beseitigt worden waren, als Baugrund weiterverkauft.

Auf den Flächen siedelten sich Betriebe der immer weiter vordringenden Industrie an, und es entstanden große Bauten wie das American Hotel und das Amstel Hotel. Von der einstigen Wiesenlandschaft ist nicht mehr viel geblieben, überall stehen Fabriken. Die Welt ist im Wandel, und sie wandelt sich schnell. Kein Wunder, dass Lydias tatkräftiger Vater daran teilhaben wollte.

Lydia blättert weiter und stößt auf immer mehr Skizzen von Apparaten und Maschinen, auf Namen und Adressen. Die meisten sagen ihr nichts, doch an einem Namen bleibt ihr Blick hängen: Huib Minnes. Ihr Vater hat ihn dick unterstrichen und »Betriebsleiter« danebengeschrieben.

Nachdenklich blickt sie vor sich hin. Huib Minnes – das ist ein Bauer aus der Gegend. Immer wenn sie an den großen Gulfhöfen vorbeifährt, betrachtet sie die schön verzierten Fassaden und die gepflegten Gärten mit ihren üppigen Hortensienbeeten, ihren kupfernen Sonnenuhren und den schmiedeeisernen Zäunen. Am Minnes-Hof ist nichts dergleichen zu sehen. Hier atmet alles reine Zweckmäßigkeit.

Wollte sich ihr Vater mit Huib zusammentun? Es sieht ganz danach aus, sonst stünde da nicht »Betriebsleiter«. Verständlich wäre es, denn Minnes ist einer der größten Käsebauern weit und breit. Aber war diese Fabrik nur eine Idee, oder hat ihr Vater mit ihm darüber gesprochen?

Nachdenklich beendet Lydia ihr Frühstück. Sie liest noch längere Zeit in dem Notizbuch und geht dann in die Bibliothek. Zwei ganze Regalfächer sind dort mit Büchern zum Thema Käseherstellung gefüllt. Seltsam, dass ihr das nicht früher aufgefallen ist. Nun wird ihr auch klar, weshalb sie den Schlüssel genau hier gefunden hat.

In einem der Bücher stecken Zettel, und als sie es aufschlagen will, öffnet es sich auf einer bestimmten Seite von selbst. Eine Stunde später klappt sie es wieder zu, stellt es ins Regal zurück und geht in die Diele hinaus. Dort läuft ihr Hendrik über den Weg, und sie weist ihn an, die Kutsche vorzufahren.

»Jetzt noch, Juffrouw? Es zieht ein Wetter auf.« Er wirft einen besorgten Blick nach draußen.

Lydia tritt ans Fenster und schaut zum Himmel auf. Die Sonne, am Morgen noch so strahlend, kämpft gegen dunkle Wolken an.

»Wir fahren nicht weit. Ich will zum Hof von Huib Minnes. Wenn wir gleich aufbrechen, schaffen wir es noch«, sagt sie und zieht ihren Mantel an.

Hendrik geht wortlos hinaus, und eine Viertelstunde später steht die Kutsche bereit. Sie verlassen das weitläufige Anwesen und biegen auf die Landstraße ein.

Eine Gans kommt mit ihren Küken die Böschung herab und auf die Straße gewatschelt. Hendrik sieht sie rechtzeitig und hält an.

Während er die Gänsefamilie vorbeilässt, genießt Lydia den Anblick der ländlichen Umgebung. Sie hat das Fenster geöffnet, sodass frische Luft hereinströmen kann. Im Weiterfahren würde sie am liebsten den Kopf hinausstrecken.

Es ist Sommer, die Luft ist voller Gerüche. In Amsterdam sehnt sie sich manchmal heftig nach der Ruhe auf dem Land, nach der reinen Luft. In der Stadt mit ihren vielen Fabriken und den übel riechenden Grachten ist es vor allem im Sommer kaum auszuhalten.

Um Purmerend herum riecht es nach Kuhmist und Kühen, nach Heu und nach den Wildblumen am Rand der Straßen und Wassergräben.

Amsterdamer von Stand flüchten sich im Sommer in eine Art ländliche Idylle inmitten von Menschen, auf die sie den Rest des Jahres eher herabschauen.

Lydia tut das nicht, aber sobald die Tage kürzer werden, kehrt sie gern wieder nach Amsterdam zurück, um das Landleben gegen die Vergnügungen der Stadt einzutauschen. Doch der Winter ist lang, und schon nach wenigen Wochen drohen die gesellschaftlichen Konventionen des reichen Bürgertums sie wieder zu erdrücken.

Schon manches Mal hat sie daran gedacht, ihr Haus am Kloveniersburgwal zu verkaufen und sich dauerhaft auf ihrem Landsitz niederzulassen. Aber was soll sie hier das ganze Jahr tun? Wie soll sie den einsamen Winter überstehen?

In Amsterdam hat sie als alleinstehende Frau zwar wenig Freiheit, aber ihre Freunde und die meisten ihrer Verwandten leben dort, und die Tage lassen sich mühelos mit Einkaufsbummeln, Diners und Theaterbesuchen ausfüllen. Nur ist das alles so … unbefriedigend.

Sie könnte gar nicht genau sagen, nach was für einem Leben sie sich sehnt – dieses ist es jedenfalls nicht. Immer öfter hat sie das Gefühl, dass sie nur halb existiert, dass es irgendwo hinter all den Regeln und Verpflichtungen noch ein anderes Leben geben muss.

Die Kutsche beschleunigt, und Lydia schreckt auf. Hendrik treibt das Pferd zu einem schnellen Trab an, und dann trommeln auch schon Regentropfen auf das Dach. Es wird dunkel in der Kutsche. Lydia schließt rasch das Fenster.

Von fern ist ein dumpfes Grollen zu hören, und sie rückt unruhig auf der Bank hin und her. Zum Umkehren ist es zu spät. Hendrik wird versuchen, den Minnes-Hof zu erreichen, bevor das Unwetter losbricht.

Doch als die ersten Blitze über den bleigrauen Himmel zucken, weiß Lydia, dass sie es nicht schaffen werden.

2

Die Luft hat sich verändert. Am Morgen noch spannte sich strahlendes Blau über die Wiesen, jetzt erscheint am Horizont ein dunkelgraues Band, so als würde der Himmel die Stirn runzeln.

Huib stößt die Heugabel in die Erde und blickt nach oben. Sie sind fast fertig. Noch einmal tüchtig zugepackt, und die Heuernte ist eingefahren. Alle haben sich mächtig ins Zeug gelegt, um auch noch den letzten Halm hereinzuholen.

Er wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und sieht sich um.

Zwischen den Wassergräben liegen die Wiesen, weite sanftgrüne Flächen, auf denen das gemähte und getrocknete Gras auf Heureitern bereitsteht. Heuwagen fahren zwischen Hof und Wiesen hin und her und bringen ihre Fracht in die Scheuer.

Es ist eine schwere Arbeit, für die viele Hände gebraucht werden. Und die hat Huib zum Glück: Seine Knechte Siem und Klaas und seine Wirtschafterin Jantine helfen mit, dazu vier Saisonarbeiter, die sich vor zwei Tagen mit Knappsack und Sense bei ihm eingefunden haben.

Nach einem weiteren Blick zum Himmel stapft Huib mit großen Schritten über die Wiese. »Macht zu, Leute!«, ruft er.

Die Arbeiter haben gemerkt, dass sich etwas verändert hat, auch sie schauen immer wieder zum Himmel auf. Das graue Band in der Ferne hat sich schwarz verfärbt. Hastig werfen sie die letzten Heureiter auf die Wagen.

Unterdessen schiebt sich die drohende Wolkenbank wie ein gusseiserner Deckel über das Land. Das Licht schwindet, und dann fallen die ersten Tropfen.

An dem runden Tisch am Fenster blättert Huib in einer landwirtschaftlichen Fachzeitschrift und sieht hin und wieder zu den Heuwagen hinaus. Die Saisonarbeiter haben sich in den Ställen oder auf dem Heuboden untergestellt, der ihnen auch als Nachtquartier dient. Sie haben es geschafft, sind gerade noch rechtzeitig fertig geworden.

Jantine bringt Huib einen Teller Brote mit Ei und Speck, legt ihm kurz die Hand auf die Schulter und geht wortlos wieder hinaus.

Huib isst und liest. Draußen ist es so dunkel geworden, dass er die Petroleumlampe anzünden musste. Es donnert, und im Stall muhen die Kühe.

Einen Moment lang glaubt er, noch etwas anderes zu vernehmen – Rufe, rasselnde Räder. Er hebt den Kopf und lauscht, aber es ist nichts mehr zu hören.

Es könnte eine vorbeifahrende Kutsche gewesen sein, doch das Geräusch schien sehr nahe. Huib steht auf, um nachzusehen. Noch ehe er im Flur ist, kommt Jantine angelaufen.

»Draußen steht eine Kutsche. Soll ich sie reinlassen?«

»Ja, natürlich«, antwortet Huib. »Sie kann in die Tenne.«

Rasch schlüpft er in seine Holzschuhe und nimmt eine Abkürzung zum Lade- und Entladebereich bei den Ställen. Zusammen mit den Knechten öffnet er die Torflügel und verharrt unter dem Vordach. In den Regenschleiern draußen steht der Einspänner.

Der Kutscher hat Mühe, das verängstigte Pferd zu bändigen, sodass Huib und seine Leute in den strömenden Regen hinausmüssen, um es in die Tenne zu führen. Hinter dem kleinen Fenster sieht er Lydia Oorthuys’ Gesicht, was ihn nicht überrascht. Er hat ihre Kutsche erkannt.

Der Schlag öffnet sich, und Huib eilt hinzu, um Lydia beim Aussteigen zu helfen. Ein paar Augenblicke lang spürt er ihre behandschuhte Hand in seiner, dann steht sie auf dem Boden, und er lässt ihre Hand los.

»Gott sei Dank«, sagt sie. »Ich hatte schon Angst, das Pferd geht durch.«

»Sie können das Gewitter hier abwarten. Auf der Straße ist es jetzt zu gefährlich«, sagt Huib. »Kommen Sie herein. Jantine, machst du Tee?«

Er öffnet die Tür zum Wohntrakt. Lydia und Hendrik folgen ihm durch den Flur, und er fragt sich besorgt, wie es in der Aufkammer aussehen mag. Da Jantine beim Heuen geholfen hat, konnte sie sich kaum um den Haushalt kümmern. Allzu schlimm wird es nicht sein, er ist ein ordentlicher Mensch, aber kann man in dem Raum eine Dame von Stand empfangen?

Mit einem unbehaglichen Gefühl tritt er ein, doch seine Besucher achten nicht auf ihre Umgebung. Lydias Blick wandert zu den Fenstern, an denen der Regen herunterläuft. Ein Donnerschlag lässt sie zusammenzucken.

»Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich habe einen Blitzableiter auf dem Dach«, sagt Huib.

»Wirklich?«

»Ja, den habe ich selbst gemacht. Er funktioniert tadellos.«

»Woher weißt du das?«, fragt Hendrik mit hochgezogenen Brauen. »Hat denn schon mal ein Blitz eingeschlagen?«

Huib schüttelt den Kopf.

»Dann kannst du auch nicht wissen, ob er funktioniert.«

»Er funktioniert«, gibt Huib ruhig und selbstbewusst zurück.

Das Gewitter scheint seinen Höhepunkt überschritten zu haben. Der Regen prasselt nicht mehr so heftig gegen die Scheiben, und die Abstände zwischen Blitz und Donner werden länger. Während Jantine mit dem Tee kommt und den Tisch deckt, geht Lydia ein wenig umher. Huib nimmt jede ihrer Bewegungen wahr, ohne sie direkt anzusehen.

»Was für ein schöner großer Raum«, sagt sie und geht von dem breiten Kaminsims, auf dem Zierteller und blaue Delfter Kacheln stehen, weiter zu einem kunstvoll bemalten Schrank.

»Der Hof ist seit vielen Generationen in Familienbesitz, Juffrouw.«

Sie tritt an den Esstisch und nimmt die Monatszeitschrift des landwirtschaftlichen Vereins zur Hand. »Der Alfa-Laval-Separator.«

»Das ist eine Zentrifuge«, erklärt Huib. »Eine Maschine, die den Rahm von der Milch trennt. Wofür die Bäuerinnen Stunden brauchen, das erledigt sie im Handumdrehen. Hundertdreißig Liter schafft sie pro Stunde.«

Lydia nickt. »So eine könntest du sicher gut gebrauchen.«

»Ich hab schon eine.«

»Ach ja? Sind solche Maschinen nicht schrecklich teuer?«

»Ich habe das Erbe meiner Eltern dafür verwendet. Viel war es nicht, aber es hat gereicht.«

»Hm.« Lydia blättert in der Zeitschrift. »Was heutzutage nicht alles erfunden wird … Die Welt verändert sich so schnell! Wenn man an den technischen Fortschritt der letzten Jahre denkt und an die vielen Dinge, die neuerdings erfunden werden, dann kann man sich kaum vorstellen, wie die Welt in fünfzig Jahren aussehen wird. Nicht einmal in zehn Jahren. Es ist noch gar nicht lange her, da hatten wir nur die Treckschute, und jetzt fahren Züge durchs ganze Land. Aber ich muss sagen, mir ist noch immer nicht ganz klar, wie das mit dem Dampf funktioniert.«

»Der Dampf, der beim Erhitzen von Wasser entsteht, dehnt sich aus und übt Druck aus. Diese Kraft kann man überall einsetzen. Warum das hier nicht genutzt wird, verstehe ich nicht.«

»Aber viele Fabriken arbeiten doch mit Dampfkraft?«

»Mit ›hier‹ meine ich hier auf dem Land. Auf unseren Bauernhöfen wird alles noch von Hand gemacht, dabei könnte man viel produktiver arbeiten. Dampfantrieb wäre vielleicht etwas zu viel des Guten, aber eine Milchzentrifuge anzuschaffen, ist durchaus möglich. In Dänemark gibt es auf jedem Bauernhof eine, und hier bin ich einer der wenigen, die eine besitzen. Ich habe einen eigenen Raum dafür gebaut.«

»Tatsächlich? Kann ich sie sehen?«

»Die Zentrifuge? Natürlich, aber dazu müssen wir nach draußen, und es ist noch nicht wieder ganz trocken. Jetzt ist es auch schon ziemlich dunkel in dem Raum.«

»Dann komme ich ein andermal wieder.« Lydia wendet sich Hendrik zu. »Wir können fahren, das Gewitter ist vorbei.«

»Gut, gnädiges Fräulein.« Hendrik dreht sich um und geht in den Flur hinaus. Lydia folgt ihm, Huib ebenfalls.

Das Pferd hat sich beruhigt und steht still auf der Tenne. Hendrik öffnet den Wagenschlag. Lydia dankt Huib für seine Gastfreundschaft und steigt ein.

»Ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass ich gern wiederkommen möchte, um mir diese Milchzentrifuge anzusehen«, sagt sie.

»Natürlich. Sie sind jederzeit willkommen.« Huib schaut zu, wie Hendrik Pferd und Kutsche wendet und dann auf den Bock klettert. Er läuft zum Tennentor und schiebt es weit auf. Hendrik streift mit der Peitsche den Rücken des Pferdes, und das Tier setzt sich in Bewegung. Gleich darauf verlässt das Gefährt den Hof und rollt über den matschigen Weg zur Straße.

Huib sieht ihm nach und schließt die Torflügel.

3

Am nächsten Tag ist von dem Unwetter nichts mehr zu spüren. Der Himmel ist wieder blau, die Vögel singen. Bis auf die drückende Hitze ist es wie in der Woche zuvor.

Nach dem Morgenmelken zahlt Huib die Saisonarbeiter aus, dann macht er sich in der Käserei an die Arbeit.

Am Mittag geht er ins Wohnhaus hinüber, um etwas zu essen, und gerade als er seine Holzschuhe von den Füßen streift, sieht er auf der Landstraße eine Kutsche näher kommen. Verwundert hält er inne. Lydia Oorthuys hat zwar einen weiteren Besuch angekündigt, aber er hat eigentlich nicht damit gerechnet. Schon gar nicht so bald.

Während die Kutsche in den Hof einbiegt, schlüpft er wieder in seine Schuhe und geht ihr entgegen.

»Guten Tag«, sagt Lydia.

Er nimmt seine Mütze ab und erwidert ihren Gruß. Hendrik springt vom Bock und hilft Lydia herab.

Sie trägt ein einfaches Kleid und praktische Schnürstiefel, die aber immer noch zu gut sind für den matschigen Hofplatz. Das scheint sie jedoch nicht zu kümmern.

»Ich wollte ja noch einmal wiederkommen und mir deine Zentrifuge ansehen. Hast du Zeit?«

Dass sie ihn fragt, weiß er zu schätzen. Normalerweise scheinen es reiche Leute für selbstverständlich zu halten, dass sich die Welt nach ihren Wünschen richtet. Lydias Besuch kommt ihm zwar nicht ganz gelegen, aber er ist bereit, sich die Zeit zu nehmen.

»Natürlich, Juffrouw. Kommen Sie mit.«

Sie gehen zum Nebengebäude, und Hendrik folgt ihnen in einigem Abstand.

In der Käsekammer liegen in Holzregalen Dutzende von Käselaiben. Ein starker, würziger Geruch hängt in dem Raum.

»Die hier sind transportfertig, der Rest lagert im Keller«, erklärt Huib. »Da steht auch die Zentrifuge.«

Er führt Lydia und Hendrik die Treppe hinunter. Dort unten hat schon seine Mutter Käse gemacht, ebenso seine Großmutter und seine Urgroßmutter.

Bei den letzten Stufen fehlt ein Teil des Geländers, und er hilft Lydia hinab.

Während sie im Keller umhergeht, schiebt er unbehaglich die Hände in die Hosentaschen. Was will sie hier? Woher dieses Interesse? Er kennt sie natürlich, zumindest weiß er, wer sie ist. Sie grüßen einander, wenn sie sich begegnen, haben aber noch nie ein Wort gewechselt.

Er weiß nicht, was er sagen soll, und sieht Lydia nur an. Sie ist in der Mitte des Raumes an einem steinernen Becken stehen geblieben, durch das Wasser fließt.

»Wozu dient das?«, fragt Lydia.

»Das kühlt den Keller.« Huib tritt neben sie und erklärt ihr, dass er ein Zinkrohr verlegt hat, durch das Wasser aus dem Graben in das Becken geleitet wird, eine Konstruktion, die er sich als Sechzehnjähriger ausgedacht hat. Seine Mutter hatte in einem heißen Sommer darüber geklagt, dass die Milch sauer wurde, bevor sie Käse daraus machen konnte.

Schweigend sieht Lydia sich weiter um. An einem gusseisernen Gerät bleibt ihr Blick hängen. »Das muss die Zentrifuge sein. Wie funktioniert sie?«

»Man muss nur eins tun: die Milch hineingießen, hier oben, und an dieser Kurbel drehen. Dann fließt aus dem einen Hahn die Milch und aus dem anderen der Rahm.« Huib zeigt auf die beiden Hähne und fährt fort: »Eine großartige Erfindung. Früher musste man stundenlang rühren und schöpfen, jetzt geht das ganz schnell.«

Voller Interesse geht Lydia um die Zentrifuge herum. »Und was passiert, wenn die Milch vom Rahm getrennt ist?«

»Wenn sich das Lab mit der Milch vermischt hat«, erklärt Huib, »entsteht ein dicker Brei, die Dickete. Die wird dann in runde Formen gedrückt, und als Nächstes geht es ans Pressen. Anschließend kommen die Käselaibe oben in der Scheune in ein Salzbad. Nach vier Tagen werden sie wieder herausgenommen, und dann müssen sie trocknen und reifen.«

Während Huib redet, beobachtet er Lydia, um zu sehen, ob sie sich langweilt. Doch sie hört aufmerksam zu.

Bei so viel ehrlichem Interesse gibt er seine Zurückhaltung auf und führt sie in die zweite Käsekammer, in der Dutzende von runden, gewölbten Käselaiben in den Holzregalen liegen.

»Hier muss der Käse ein paar Wochen reifen. Das muss in einem möglichst kühlen Raum passieren. Der hier dürfte so weit sein.« Er nimmt einen Laib heraus und legt ihn auf den Schneidetisch, schneidet ein Stück ab und reicht es Lydia.

Sie beißt davon ab und lächelt. »Köstlich.«

»Was genau schmecken Sie?«

»Oh«, sagt sie ein wenig verwirrt. »Ich fürchte, ich verstehe nicht viel von Käse.«

»Sie wissen aber, was Sie schmecken?«

Sie nimmt noch einen Bissen, kaut eine Weile aufmerksam und konzentriert und sagt dann: »Süßlich. Sehr mild, aber auch leicht würzig.«

»Das kommt vom Rauen Straußgras, vom Weichen Honiggras, vom Blaugrünen Schwaden und vom Wiesenfuchsschwanz. Die geben dem Käse einen volleren Geschmack.«

»Herrlich.«

Sie lächelt ihn an, und er lächelt zurück. Sie ist schön – und viel netter, als er gedacht hat, nicht annähernd so überheblich, wie sie es bei ihrem Stand sein könnte. Sie behandelt ihn zwar nicht wie ihresgleichen, aber auch nicht als den einfachen Bauern, der er in ihren Augen ja sein muss.

Von Neuem lässt sie den Blick umherschweifen. »Was würdest du tun, wenn du alles nach deinen Wünschen verändern könntest?«

»Ich würde anbauen, Platz schaffen für mehr Maschinen. Und ich würde gern auf Dampfkraft umsteigen. Das geht alles nicht, aber das macht nichts. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Die Arbeit ist auch so schon viel einfacher geworden.«

Sie verstummen, und er fragt sich, ob er sich nicht zu sehr hat fortreißen lassen. Unbehaglich schiebt er mit dem Fuß eine herumliegende Bürste zur Seite.

Schließlich unterbricht Lydia das Schweigen. Sie sieht ihn freundlich an und sagt: »Interessant. Du hast viele fortschrittliche Ideen.«

»Na ja. Es sind nicht meine Ideen, ich nutze nur, was andere herausgefunden haben.«

»Da bist du einer von wenigen. Ich kenne sonst keine Bauern, die ihre Milch mechanisch entrahmen. Sie machen alles von Hand.«

Er fragt sich, wie viele Bauernhöfe sie wohl kennt, spricht es aber nicht aus. »Noord-Holland hinkt ziemlich hinterher. Nicht nur im Vergleich mit dem Ausland, sondern auch mit Friesland, wo bereits Butterfabriken gebaut werden. Einige Viehzüchter haben sich dort zusammengetan, um Maschinen für die Produktion anschaffen zu können.«

»Auch für die von Käse, nehme ich an.«

»Ja, aber noch nicht viele. Wichtigstes Erzeugnis ist in Friesland die Butter. Im Purmer und im Beemster ist es der Käse, und ich finde, es wird höchste Zeit, dass wir die Sache anders anpacken. Das kostet zwar einiges, aber wenn wir mit dem Ausland konkurrieren wollen, müssen wir in den sauren Apfel beißen.«

»Ja, da stimme ich dir zu.« Aufmerksam sieht Lydia sich um. »Hast du schon versucht, andere Bauern für den Bau einer Fabrik zu interessieren?«

»Das versuche ich ständig, aber niemand traut sich.«

»Du könntest dir die nötige Summe bei der Bauernkreditbank leihen.«

»Auch das habe ich versucht. Aber denen ist der Betrag zu hoch.«

»Und was ist mit privaten Geldgebern? Honoratioren, Kaufleuten?«

Huib zögert einen Moment. »Ich war mit Ihrem Vater im Gespräch.«

»Ich weiß, ich habe seine Aufzeichnungen gelesen.«

Wieder tritt ein unbehagliches Schweigen ein. Huib sucht fieberhaft nach Worten, aber sie wollen sich nicht einstellen.

»Gut, ich muss wieder nach Hause. Herzlichen Dank für die Führung.« Lydia geht zur Treppe. Huib und Hendrik folgen ihr, und draußen besteigt sie eilig die Kutsche.

Hendrik nimmt neben ihr Platz und lässt die Zügel einmal leicht auf den Rücken des Pferdes schwingen. Lydia nickt Huib zu, dann fährt sie ohne ein weiteres Wort davon.

4

»Was wollte die Juffrouw?«, fragt Jantine mit hochgezogenen Brauen.

Huib hätte sich lieber wieder an die Arbeit gemacht, ohne Bericht zu erstatten, aber sie kommt über den Hofplatz auf ihn zu.

»Sich umschauen«, antwortet er.

Verwundert sieht sie ihn an. »Warum?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich gehofft, sie will investieren.«

»Das wäre ja wunderbar!«

»Kann sein, dass sie es in Betracht zieht, aber sie ist sich noch nicht sicher.« Nachdenklich blickt Huib über den sonnenbeschienenen Hof und die Weiden dahinter. »Ja, das wäre wirklich wunderbar.«

Jantine lächelt ihn an, und er lächelt zurück. Dann sagt er: »Dann mache ich mal weiter.« In Gedanken schon bei seiner Arbeit, geht er mit großen Schritten davon.

Schon immer hat er das Gefühl gehabt, es könnte auch anders gehen. Schneller und weniger anstrengend. Wenn er sah, wie seine Mutter und seine Schwester Nora sich abrackerten, beobachtete er jeden ihrer Handgriffe und dachte dann darüber nach. Als Fünfzehnjähriger hatte er versucht, ihnen die Arbeit mit einfallsreichen kleinen Erfindungen ein wenig zu erleichtern. Für die Käseherstellung beispielsweise hatte er sich einen Rührmechanismus ausgedacht, bei dem er seinen Hund in eine kleine Tretmühle einspannte, um so die Kraft des fließenden Wassers zu nutzen.

Wann immer er mit seinem Vater die Viehmärkte in Alkmaar, Hoorn und Schagen besuchte, ging er als Erstes zum Ausstellungsgelände, auf dem die neuesten Errungenschaften aus dem Ausland vorgeführt wurden, und besah sich fasziniert die Heuwender, Mähmaschinen oder Pferderechen.

Leider hatte sein Vater für solche Dinge kein Geld übrig. Er kaufte lieber neues Vieh, obwohl Huib ihn unzählige Male davon zu überzeugen versucht hatte, dass ein kleinerer Viehbestand keineswegs weniger Einkommen bedeutete, dass die großartigen neuen Hilfsmittel die Arbeit leichter und effizienter machten, wodurch mehr Zeit für andere Aufgaben blieb. Seine Mutter zum Beispiel hätte schon immer gern Obst aus dem Garten eingemacht, doch die aufwendige Käseherstellung ließ ihr dafür keine Zeit.

Als Huib älter wurde, trat er der Holländischen Landwirtschaftsgesellschaft bei. Den Mitgliedsbeitrag bezahlte er aus eigener Tasche, ebenso seine Fahrten zu den Ausstellungen der Gesellschaft im ganzen Land.

Oft begleitete ihn dann sein Bruder Arjan, den allerdings eher Pferderennen, Volksbelustigungen und die geselligen Runden in den Wirtshäusern anzogen. Huib lag an alldem nichts. Ihn interessierten die Vorführungen neuer Werkzeuge und Geräte. Die Technik stand nicht still, immer Neues kam auf den Markt, und inzwischen konnte er auch das eine oder andere Gerät erwerben. Sparsam, wie er war, und wenig interessiert an Mädchen oder kostspieligen Jahrmarktsbesuchen, hatte er mittlerweile einiges Geld auf der hohen Kante. Seine erste Anschaffung war eine Grasmähmaschine, doch als er voller Begeisterung damit nach Hause kam, schüttelte sein Vater nur den Kopf. Nach einiger Zeit aber freundete er sich mit der Maschine an, und die Sense blieb im Schuppen.

Huibs Träume sind nie kleiner geworden, eher größer. Er hätte die Arbeit auf dem Bauernhof in der Praxis erlernen können, er hätte so weitermachen können wie sein Vater, doch stattdessen ging er auf die Staatliche Landwirtschaftsschule in Wageningen. Während seiner Ausbildung dort starben seine Eltern und wenig später auch Arjan und Nora an Typhus.

Huib war am Boden zerstört, machte aber dennoch seinen Abschluss und absolvierte anschließend noch einen Kurs an der Molkereischule. Dann war es Zeit, auf den Hof zurückzukehren. Dort war nun niemand mehr, dem er von seinen Plänen erzählen, aber auch niemand, der ihn daran hindern konnte, sie in die Tat umzusetzen.

In den vergangenen Jahren hat er gelernt, mit der Einsamkeit umzugehen. Wenn die Hofarbeit getan ist und er nicht noch einmal wegmuss, sitzt er am liebsten mit einer Tasse Kaffee am Tisch und liest.

Er meidet die Menschen nicht und fühlt sich in Gesellschaft auch nicht unwohl, aber mit lockerem Geplauder tut er sich schwer.

Nichts macht ihm mehr Freude, als über seinen Hof oder durch den Obst- und Gemüsegarten zu wandern. Am meisten genießt er den frühen Morgen im Kuhstall, wenn beim Melken das erste Licht durch die staubigen Fensterscheiben fällt. Er liebt das Schnauben der Tiere, ihre mahlenden Kiefer, die pendelnden Schwänze, ihre Angewohnheit, die Mäuler an ihn zu drücken, wenn er sie am Kopf krault.

Huib geht auf die Weide, wo seine Kühe grasen. Einige sind trächtig, und er sieht mehrmals täglich nach, wie es den Damen geht.

Er mustert sie eine nach der anderen, gibt ihnen einen Klaps auf die Flanken und kehrt dann wieder um. Das Gehöft bietet einen prächtigen Anblick, wie es so von Obstbäumen umgeben in der Sommersonne liegt.

Lächelnd geht er weiter. Jantine überquert den Hof, und als sie ihn sieht, bleibt sie stehen. Sie streicht sich eine braune Locke aus dem Gesicht und lacht einladend.

Er tut so, als hätte er sie nicht bemerkt, und biegt in den Stall ab, wo eine kranke Kuh im Stroh liegt. Während er sie untersucht und ihr beruhigend zuredet, denkt er an Jantine. Er findet sie anziehend, ist aber nicht in sie verliebt. Neuerdings beschleicht ihn allerdings das Gefühl, dass sie mehr für ihn empfindet.

Er hätte niemals mit ihr schlafen dürfen, damit hat er große Erwartungen in ihr geweckt. Zum Glück ist sie nicht schwanger geworden, sonst hätte er sie heiraten müssen, und das hätte er auf jeden Fall getan.

Ab und zu ertappt er sich bei dem Gedanken, dass er gern Frau und Kinder hätte. Er ist bereit dazu, aber eilig hat er es nicht.

5

Tief in Gedanken versunken, lässt sich Lydia von Hendrik nach Hause fahren. Ein außergewöhnlicher Mann, dieser Huib Minnes. Sie versteht, warum ihr Vater sich für ihn interessiert hat.

Huib hat von einer Investition gesprochen, doch aus dem Notizbuch geht hervor, dass ihr Vater viel höher hinauswollte. Sie war davon ausgegangen, dass Minnes über den Plan einer Käsefabrik Bescheid wusste, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Nach den Einträgen im Buch zu schließen, war ihrem Vater nicht mehr genug Zeit geblieben, um mit Minnes darüber zu sprechen.

Zum ersten Mal seit Wochen löst sich die Lethargie, in die Lydia nach dem Tod ihrer Eltern verfallen ist. Ein Funke Interesse glimmt in ihr auf und lenkt sie von ihrer Trauer ab. Sie erinnert sich an die Gespräche ihres Vaters mit Nicolaas Brantjes, dem Mann ihrer Freundin Clementine, und mit Jan Boissevain, ihrem Nachbarn in Amsterdam. Es war dabei stets um das Tempo des Fortschritts gegangen, um all die aufregenden Erfindungen, die auch Lydia faszinierten.

Plötzlich kann sie es kaum erwarten, sich das Notizbuch genauer anzusehen.

»Fahr ein bisschen schneller, Hendrik«, sagt sie.

Sie verlassen die Landstraße und biegen in einen von Bäumen gesäumten Weg ein, an dessen Ende Welgelegen in Sicht kommt. Es ist ein stattliches Herrenhaus mit einer Orangerie und einem Obstgarten, dessen Erträge nicht nur für den eigenen Bedarf verwendet, sondern auch auf dem Markt verkauft werden. Darum kümmern sich Hendrik und seine Frau Mies, die das Landgut verwalten und auch dort wohnen.

Die Kutsche kommt an der Treppe zum Stehen. Hendrik springt ab und reicht Lydia die Hand.

»Danke, Hendrik.« Noch ehe sie die fünf Stufen hinauf ist, öffnet Fiene die Tür. Sie lässt Lydia eintreten und nimmt ihr den Hut ab.

»Endlich bin ich ihn los«, sagt Lydia. »Er ist viel zu warm.« Sie streift ihre Handschuhe ab. »War jemand hier, Fiene?«

»Ja, Mevrouw Brantjes. Sie war enttäuscht, dass Sie nicht da waren.«

»Clementine war hier? Wie schade, dass wir uns verpasst haben!«

»Sie hat gesagt, sie bleibt noch ein paar Tage bei ihrem Schwager in Purmerend. Ach ja, und hier ist Post für Sie.« Fiene nimmt einen Brief vom Garderobentisch.

Lydia schaut auf den Absender. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus, und sie eilt mit dem Brief in den Salon.

»Möchten Sie Tee, Juffrouw?«, fragt Fiene von der Tür her.

»Ja, gern. Aber keinen Kuchen.« Lydia lässt sich auf dem Sofa nieder und öffnet den Umschlag.

Ein Brief von Helena, wie schön. In Amsterdam treffen sie sich mehrmals in der Woche, doch seit beide auf ihren Landsitzen weilen, sehen sie sich nicht mehr.

»Liebe Lydia«, schreibt Helena, »rasch ein paar Zeilen, um Dir zu sagen, wie sehr Du mir fehlst. Es ist so langweilig auf Vogelenzang ohne Dich. Aber wie Du weißt, hat Elisabeth am 7. Juli Geburtstag, und dann geben wir ein Fest. Wir hoffen, dass Du kommst und auch länger bleibst. An dem Tag steht zu jeder vollen Stunde eine Kutsche am Bahnhof, um die Gäste abzuholen.«

Sie schreibt noch mehr, erzählt von amüsanten Begebenheiten, vertraut Lydia den neuesten Klatsch an und schließt mit einem »Deine Dich liebende Freundin Helena«.

Mit einem Seufzer lässt Lydia den Brief sinken. Natürlich fährt sie hin, eine Absage kommt nicht infrage. Sie mag Helenas Eltern Jan und Petronella sehr. Die Boissevains sind wie eine zweite Familie für sie. Ihre eigenen Eltern waren bei ihrer Geburt schon etwas älter und haben ihr das gesellige Treiben in der großen Familie von gegenüber gern gegönnt.

Jeden Sommer mietet Jan Boissevain ein Haus auf dem weitläufigen Landgut Vogelenzang in den Kennemerduinen. Von Mai bis September halten sich die Boissevains dort auf. Vor gar nicht allzu langer Zeit war es noch ein größeres Unterfangen, mit Kutsche und Treckschute dorthin zu gelangen. Jetzt steigt man einfach in den Zug.

Die Tür geht auf, und Fiene bringt den Tee. »Da kommt jemand, Juffrouw. Erwarten Sie Besuch?«

Lydia wirft einen Blick aus dem Fenster und sieht eine Kutsche näher kommen. Sie seufzt.

»Freule Simmens. Aber ich habe jetzt weder Zeit noch Lust. Sag ihr, ich bin nicht da.«

»Und wenn sie Ihre Kutsche hat ankommen sehen?«

»Dann mache ich gerade einen Spaziergang. Sollte sie auf mich warten wollen, lass sie nicht herein.« Lydia steht eilig auf, öffnet die Terrassentür und schlüpft hinaus.

Wie immer erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie den Garten betritt.

Eine leichte Brise streichelt die Blätter der Bäume, eine Brise, in der sie die liebevolle Gegenwart ihrer Mutter zu spüren glaubt.

Wie Pauline früher hält sich auch Lydia gern im Garten auf, der im englischen Stil mit einer Rasenfläche, gewundenen Pfaden, kleinen Lauben, einem Heckenlabyrinth und einem Pavillon angelegt ist. Als Kind konnte sie hier herrlich spielen. Geschwister hat sie nicht vermisst, denn häufig waren Freunde und Verwandte mit ihren Kindern auf Welgelegen zu Gast.

Ihr Vater hatte das Haus für ihre Mutter gekauft, die aus Purmerend stammte. Ihm selbst war es kein Bedürfnis, den ganzen Sommer auf dem Land zu verbringen, ein Monat genügte ihm vollauf. Dank des regelmäßigen Postverkehrs blieb er dann mit seinem Amsterdamer Geschäftsführer in Verbindung, und als das Eisenbahnnetz erst einmal zuverlässig funktionierte, war er notfalls binnen kürzester Zeit wieder in Amsterdam.

Am Teich bleibt Lydia stehen und betrachtet die Seerosen. Ihr Vater war in seinen letzten Lebensmonaten auffallend oft in Purmerend. Sie hat damals geglaubt, das hänge mit dem Tod ihrer Mutter zusammen, er wolle dort sein, wo sie glücklich gewesen war, doch nun weiß sie, dass es einen anderen Grund gab.

Statt weiter dem gewundenen Pfad zu folgen, geht sie quer über den Rasen zum Haus zurück. Im Salon stößt sie beinahe mit Fiene zusammen.

»Freule Simmens hat ihre Karte abgegeben«, sagt das Mädchen.

Lydia nimmt die Karte und legt sie weg, ohne einen Blick darauf zu werfen. In Purmerend hält man sich zwar nicht so streng an die gesellschaftlichen Konventionen, doch auch hier haben die Honoratioren die lästige Angewohnheit, fortwährend Höflichkeitsbesuche abzustatten. Man entgeht ihnen nur dadurch, dass man sich verleugnen lässt. Eine abgegebene Karte aber kommt der Aufforderung zu einem Gegenbesuch gleich.

Allmählich wird von ihr erwartet, dass sie wieder am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, und eben deshalb hat sie sich schon im April auf ihren Landsitz zurückgezogen. Den Teebesuchen entkommt sie allerdings auch hier nicht.

Doch sie werden warten müssen. Morgen fährt sie zu Helena und Elisabeth.

6

Am nächsten Morgen steht Lydia früh auf. Es ist ein herrlicher Tag, und sie möchte ihn so gut wie möglich nutzen. Fiene hat ihre Sachen schon gepackt.

Wie werden Elisabeth und Helena sich freuen, wenn sie plötzlich vor ihnen steht!

Nach einem leichten Frühstück bringt Hendrik sie und Fiene mit der Kutsche zum Bahnhof von Purmerend. Lydia genießt die zehnminütige Fahrt vorbei an Weiden, Obstgärten und Gehöften in vollen Zügen. Am Bahnhof angekommen, winkt Hendrik einen Gepäckträger heran, der ihre und Fienes Gepäck auf eine Karre lädt und zum Zug bringt. Die Lokomotive ist bereits in eine Dampfwolke gehüllt.

Lydia und Fiene steigen ein. Gleich darauf kündigt der Bahnhofsvorsteher die Abfahrt an, und die Türen werden zugeschlagen. Ein leichtes Zittern läuft durch den Zug, dann setzt er sich schnaubend wie ein alter Gaul in Bewegung.

Die Fahrt dauert fast zwei Stunden. Sie müssen mehrmals umsteigen, und als endlich die kleine Station Vogelenzang-Bennebroek in Sicht kommt, ist Lydia müde und kann kaum noch sitzen. Die Polsterbänke in der ersten Klasse sind nicht so bequem, wie sie aussehen.

Erleichtert sieht sie das mattgelb gestrichene Bahnhofsgebäude mit seinem hölzernen Vorbau näher kommen.

»Wir sind da«, sagt Fiene. »Endlich. Sehen Sie, dort steht auch schon die Kutsche. Ich nehme jedenfalls an, dass sie auf uns wartet.«

Sie steigen aus und lassen ihr Gepäck zur Kutsche bringen. Lydia nimmt darin Platz und fragt sich, warum sie nicht schon früher nach Vogelenzang gefahren ist. Sie weiß ja, wie gern man sie dort sieht und dass man sie wie die verlorene Tochter willkommen heißen wird. Vielleicht hat sie gerade deshalb gezögert. Sie ist eben keine verlorene Tochter, und so gastfreundlich sie auch aufgenommen wird – ab und zu hat sie doch das Bedürfnis, allein zu sein. Bei den Boissevains wird sie ständig daran erinnert, dass sie keine Geschwister hat, dass es niemanden gibt, der aus demselben Nest kommt, niemanden, der ihre Eltern genauso vermisst wie sie. So viele Freunde und Verwandte sie auch hat, so viel Beistand sie auch erfährt – am Ende ist sie doch allein.

Während der Fahrt plaudert sie ein wenig mit Fiene, doch als die Kutsche in eine Buchenallee einbiegt, verstummen beide.

»Schön ist es hier«, sagt Fiene schließlich.

»Ja, nicht wahr? Für Mia ist die Allee der Geheimgang zu einer Märchenwelt.«

»Daran erinnert sie wirklich. Ich kann mir gut vorstellen, dass man es in dem Alter so sieht.«

»Na ja, sie ist immerhin schon vierzehn. Aber sie ist noch so kindlich und hat eine blühende Fantasie.«

Als sie das dichte Blätterdach der Bäume hinter sich lassen, tauchen die sattgrünen Wiesen des Landgutes Vogelenzang auf, die sich bis an den Saum des Waldes erstrecken. Zwischen Nebengebäuden und hohen Bäumen erhebt sich das Herrenhaus.

Die Kutsche biegt rasselnd in die Auffahrt ein, und als sie sich dem Haus nähern, kommt ein überschwänglich winkendes Mädchen mit wirrem Haar und in einem weißen, nicht mehr ganz sauberen Kleid angelaufen.

»Wenn das nicht Juffrouw Mia ist«, sagt Fiene, und Lydia lacht.

Sie steigen aus, und kaum steht Lydia mit beiden Füßen auf der Erde, fliegt Mia in ihre Arme und ruft: »Da bist du ja! Endlich!«

Lydia küsst das Mädchen auf die Wange. »Guten Tag, Liebes, wie schön, dich zu sehen!«

»Warum kommst du denn jetzt erst?«

»Früher ging es leider nicht. Aber nun bin ich ja hier. Und ich bleibe die ganze Woche.«

Mia nickt erfreut und lässt Lydia erst los, als ihre ältere Schwester herankommt.

»Wie schön, dass du da bist!«, sagt Helena mit einem strahlenden Lächeln. »Ich habe dich vermisst! Wie geht es dir? Du siehst ein bisschen blass aus.«

»Keine Sorge, ich fühle mich ausgezeichnet.« Lydia schließt ihre Freundin in die Arme.

»Wirklich?« Helena mustert sie kritisch. »Wir haben gerade darüber gesprochen, wie lange du schon allein bist dort oben in Purmerend. Meine Eltern haben immer wieder gefragt, ob du uns nicht mal besuchen kommst.«

»Und da bin ich! Hast du etwa geglaubt, ich lasse mir Elisabeths Geburtstag entgehen?«

»Das nicht, aber ich hatte gehofft, du würdest viel früher kommen. Die anderen auch. Mia hat dauernd nach dir gefragt. Ah, da kommt Elisabeth. Sieh mal, wer da ist, Lies!«

Lydia dreht sich um, und ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, als sie ihre Freundin sieht. Sie umarmen sich, und Lydia gratuliert ihr.

»Danke schön! Wir feiern in kleinem Kreis. Ich habe nur meine besten Freunde und die liebsten Familienmitglieder eingeladen.«

»Meine Einladung ist erst gestern gekommen.«

»Ich war spät dran, ich weiß. Aber es war eigentlich auch nur eine Erinnerung. Dass ich ein Fest gebe, wussten ja alle längst. Es wird übrigens ganz zwanglos, also leg nachher ruhig Korsett und Handschuhe ab.«

Lydia lacht. »Ich kann es kaum erwarten.«

Nella Boissevain kommt breit lächelnd und mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Ihr weißes Sommerkleid und die locker aufgesteckten Haare lassen sie jünger aussehen als dreiundfünfzig.

»Lydie!« Sie umarmt Lydia lange. »Wie schön, dass du da bist. Ich wollte dir gerade noch einmal schreiben. Warum hat das so lange gedauert, Liebes?« Sie schiebt Lydia ein wenig von sich und sieht sie fragend an.

»Ich habe Zeit gebraucht«, antwortet Lydia leise. »Ich weiß, dass ich hier willkommen bin, und dafür bin ich auch sehr dankbar, aber ich hatte das Bedürfnis, eine Weile allein zu sein. Meine Eltern … Wir waren so glücklich auf Welgelegen.«

»Das kann ich verstehen«, sagt Nella mitfühlend. »Aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« Sie betrachtet Lydia prüfend und fügt dann hinzu: »Du hast abgenommen. Dagegen müssen wir etwas tun.«

»Da bin ich ja hier in guten Händen«, sagt Lydia, und beide lachen.

Unterdessen ist Jan Boissevain aus dem Haus gekommen. Er ist Reeder, und als er vor Jahren die Führung des Familienunternehmens übernahm, hat er eine Anzahl Dampfschiffe bestellt und die Dampfschifffahrtsgesellschaft Stoomvaart-Maatschappij Nederland gegründet.

Auch Jan begrüßt Lydia mit weit geöffneten Armen. »Die verlorene Tochter ist zurück!« Er drückt sie einen Moment an sich. »Schön, dass du da bist, Mädchen.«

Auch die anderen Familienmitglieder heißen Lydia herzlich willkommen. Sie wird umarmt, jeder erkundigt sich, wie es ihr geht, und beschwört sie, nicht vor Ende des Sommers wieder abzureisen.

Die Boissevains sind eine große Familie. Elisabeth ist die Älteste, sie feiert ihren achtundzwanzigsten Geburtstag. Nach ihr kommen Helena, Charles, Matthijs, Anna Maria, Nella, Walrave und Mia.

Mia sieht wie immer ein wenig zerzaust aus. Hier auf dem Landgut streift sie den ganzen Tag draußen umher und studiert Blumen und Pflanzen, die sie nach Möglichkeit auch mit nach Hause nimmt. Zu Beginn des Sommers hat sie auf einer ihrer Wanderungen einen verletzten Eichelhäher gefunden und ihn gezähmt.

»Schau, Lydia, er frisst mir aus der Hand.« Sie hält den Vogel im Arm.

Lydia betrachtet ihn voller Interesse. »Der ist ja niedlich. Fliegt er nicht weg?«

»Er kann nicht mehr fliegen, mit seinem Flügel ist etwas nicht in Ordnung. Ich helfe ihm bei allem, und jetzt ist er mein Freund.« Mia beugt sich über das Tier, und es duckt sich hinter den Vorhang ihrer dunklen Locken.

»Und wenn ihr nach Amsterdam zurückfahrt? Darf er dann mit?«

»Nein, aber Meneer Barnaart, von dem wir das Haus gemietet haben, hat versprochen, dass er sich um ihn kümmert. Sonst käme ich nicht mit nach Amsterdam.«

Lydia nickt ernst. »Das verstehe ich.«

»Er mag Kuchen. Ich hab ihm ein Stück gegeben, und es hat ihm geschmeckt.«

»Mia, du fütterst das Tier doch nicht etwa mit meinem Kuchen?«, fragt ihre Mutter, die Mias letzte Worte aufgeschnappt hat. »Das geht nicht, die Gäste kommen doch gleich!«

»Er hatte Hunger«, sagt Mia. »Ich übrigens auch. Wann essen wir, Mama?«

»Wann du willst. Nimm dir einfach vom Kuchen oder von der Torte«, sagt Nella, und an Lydia gewandt fügt sie hinzu: »Du bist bestimmt auch hungrig. Hinten im Garten findest du etwas. Bedien dich.«

Zu Fiene sagt sie freundlich: »Und für das Personal steht etwas in der Küche.«

Fiene bedankt sich und sieht Lydia an. »Ich hänge erst noch Ihre Kleider in den Schrank, sonst zerknittert alles.«

Als Lydia um die Ecke biegt, hält sie überrascht inne. Bei Nella klang es so, als hätte sie nur rasch ein paar Erfrischungen aufgetischt, doch nun hat Lydia eine mit großer Sorgfalt gedeckte Tafel vor sich. Ein Stapel weißer Porzellanteller und ein Körbchen mit silbernem Besteck stehen auf dem feinen Linnen. In Kristallkaraffen funkeln Wasser und Wein, und an den Tischenden prangen Wildblumensträuße. Dazwischen sind auf Silbertabletts die Speisen angerichtet. Es gibt kaltes Huhn, Gänseleberpastete, Fasan, Fisch, Brot und Obst, auch Pastetchen stehen da und eine große Etagere mit Kuchen und Törtchen.

»Das sieht ja herrlich aus«, sagt Lydia.

Alle bedienen sich, nur Jan und Nella sind vor dem Haus geblieben, um neue Gäste zu begrüßen.

Nachdem sie gegessen haben, fasst Elisabeth Lydia am Arm und geht mit ihr den Weg entlang, der um das Haus herumführt.

»Ich muss dich kurz sprechen«, sagt sie, als sie über eine kleine Brücke in den Wald gelangen. »Eduard van Nijenbergh ist hier, ich habe ihn gerade ankommen sehen. Ich wollte dich nur vorwarnen. Als er gehört hat, dass du kommst, hat er sofort seinen Besuch angekündigt, obwohl sein Vater krank ist.«

Lydia seufzt. Die Beharrlichkeit, mit der Eduard ihr den Hof macht, wird nachgerade peinlich. Dabei mag sie ihn durchaus. Er ist ein sanftmütiger, etwas schüchterner junger Mann, nicht besonders gut aussehend, aber auch nicht hässlich. Gutes Heiratsmaterial, wie Nella es ausdrückt. Doch nicht für Lydia.

»Ist Meneer Van Nijenbergh sehr krank?«, fragt sie besorgt.

»Ja, es sieht nicht gut aus. Er hat sich vor Kurzem aus dem Familienunternehmen zurückgezogen und die Leitung Eduard übertragen. Deshalb muss Eduard heute Abend auch wieder nach Hause.« Elisabeth sieht Lydia von der Seite an und fügt hinzu: »Aber vorher will er dir einen Heiratsantrag machen.«

»Wie bitte?«

»Das hat er jedenfalls angedeutet.«

»An deinem Geburtstag! Das gehört sich doch nicht.«

»Und wenn schon? Er weiß ja, dass wir nicht so viel darauf geben, was sich schickt und was nicht. Er hat sich beklagt, dass er dich kaum noch sieht.«

»Hat er das wirklich gesagt?«

»Ja, er wollte mal vorfühlen, ob er Chancen bei dir hat. Und was ein guter Zeitpunkt für einen Antrag wäre.«

»Warum hast du ihm denn nicht gesagt, dass es dafür keinen guten Zeitpunkt gibt und auch nie geben wird?«

»Das musst du ihm selbst sagen. Ich kann doch nicht für dich sprechen. Außerdem wüsste er dann, dass wir über ihn geredet haben. Was stört dich eigentlich an ihm? Als einziger Sohn erbt er einmal ein Vermögen. Und er liebt dich. Du sitzt doch jetzt die ganze Zeit allein zu Hause. Ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn ich wüsste, dass du nicht mehr allein bist.«

»Ich kann ihn doch nicht heiraten, nur damit du dich besser fühlst«, sagt Lydia lachend.

»So meine ich es auch nicht. Er ist eine gute Partie. Er ist sogar adlig.«

»Ja, und?«

Elisabeth muss lachen. »Ich weiß, Titel beeindrucken dich nicht.«

»Dich doch auch nicht. Und ein Grund zum Heiraten sind sie schon gar nicht.«

»Du hast ja recht. Mir wäre es auch wichtiger, dass mein Mann nichts dagegen hat, wenn ich viel Zeit auf meine Wohltätigkeitsarbeit verwende.«

Elisabeth ist nicht nur Mitglied diverser Komitees, sie geht oft auch selbst zu den Armen. Die Armenviertel hinter der Geldersekade sind »ihr« Bezirk, und sie hat eine persönliche Beziehung zu den Bewohnern aufgebaut. Lydia hat sie mehrmals begleitet und ist auch dem Komitee beigetreten, jedoch ohne die Begeisterung, mit der Elisabeth dabei ist. Sie vermag nicht das Interesse aufzubringen, mit dem ihre Freundin den Frauen in den Elendsvierteln zuhört. Zu fremd fühlt sie sich dort, wie eine Voyeurin.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Elisabeths Ehemann
– sollte sie je heiraten – ihren Besuchen hinter der Geldersekade ein Ende setzen. Es ist auch nicht ganz ungefährlich, sich dort aufzuhalten, und wirklich nötig ist es ebenso wenig. Elisabeths Hauptaufgabe besteht darin, das Komitee zu leiten und Spenden zu sammeln, doch das genügt ihr nicht. Sie ist wie Lydia alles andere als erpicht darauf, ihre relative Freiheit zu verlieren, und deshalb schiebt sie eine Heirat so lange wie möglich hinaus.

»Wir müssen zurück«, sagt sie. »Es macht sich nicht so gut, wenn ich nicht da bin, um die Gäste zu begrüßen. Ich wollte dich nur warnen.«

»Ja, danke. Gut, dass ich mir noch einen Moment überlegen kann, wie ich mich verhalten soll.«

Als sie langsam zurückgehen, sieht Lydia Eduard bereits auf dem Kiesweg vor dem Haus stehen. Er ist untadelig gekleidet: schwarze Hose, weißes Hemd, hellblaues Jackett. Sein Haar ist mit Pomade zurückgekämmt.

Offenbar hat er Lydia und Elisabeth schon gesehen, denn er blickt in ihre Richtung und hebt dann lächelnd die Hand.

Sie erwidern seinen Gruß auf die gleiche Weise, und er geht ihnen entgegen.

»Meine Damen!«, sagt er heiter. Er gratuliert Elisabeth mit einem Handkuss zum Geburtstag und verbeugt sich vor Lydia. »Guten Tag, Lydia, schön, dich wiederzusehen.«

»Das finde ich auch. Wie geht es dir? Dein Vater ist krank, wie ich höre?«

Ein Schatten gleitet über sein Gesicht. »Ja, leider. Deshalb fahre ich auch heute Abend wieder zurück. Er hustet viel und bekommt schwer Luft.«

»Das ist ja schrecklich. Ich mag ihn sehr.«

»Er dich auch. Bevor ich losgefahren bin, hat er mir Grüße an dich aufgetragen. ›Sag Lydia, dass ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe‹, hat er gesagt.«

»Die Hoffnung worauf? Dass er wieder gesund wird?«

»Nein, dass er dein Schwiegervater wird.« Eduard lacht, als hätte er nur einen Scherz gemacht, aber Lydia ist auf der Hut. Du liebe Güte, denkt sie, er steuert wirklich schnurstracks auf sein Ziel zu.

»Er sollte sich erst einmal auf seine Gesundheit konzentrieren«, sagt sie freundlich, aber zurückhaltend.

»Das meine ich auch. Aber nun sag, wie geht es dir?« Eduard fasst sie am Ellenbogen und führt sie beiseite, außer Hörweite der anderen Gäste.

»Ich habe nicht das Gefühl, schon darüber hinweg zu sein. Es ist noch immer sehr schwer für mich. Eigentlich ist mir noch gar nicht nach Feiern zumute.«

»Das verstehe ich gut. Es muss wirklich hart für dich sein.«

»Ja, es ist schwierig. Zum Glück habe ich viele gute Freunde, die mir beistehen. Die Boissevains sind wie eine Familie für mich.«

Lydia hatte sich vorgenommen, bei den anderen zu bleiben, aber nun schlendert sie doch mit Eduard allein über den Rasen. Seine Freundlichkeit und sein Verständnis tun ihr gut, und sie hat nicht vor, einem Gespräch mit ihm auszuweichen, auch wenn sie weiß, wohin es führen wird. Einmal muss es ja sein.

»Ich hoffe, du siehst auch in mir einen Freund, einen, der für dich da ist, wenn du dein Herz erleichtern möchtest«, sagt Eduard. »Jederzeit.«

»Das weiß ich. Danke.«

Sie unterhalten sich eine Weile über ihre Eltern, über Krankheit und Tod und die Möglichkeiten, damit umzugehen. Als sie sich wieder zu den anderen gesellen, ist die große Frage noch immer unausgesprochen, und Lydia hat auch nicht den Eindruck, dass Eduard vorhatte, sie zu stellen. Vielleicht hat er gespürt, dass es nicht der richtige Moment war, vielleicht hat Elisabeth sich auch geirrt.

Als Lydia sich wieder unter ihre Freunde und Bekannten mischt, fängt sie Elisabeths fragenden Blick auf. Sie schüttelt den Kopf und lacht, als ihre Freundin verwundert die Brauen hochzieht.

7

An der abendlichen Festtafel sitzt Lydia – wohl nicht ganz zufällig – neben Eduard.

Wegen des anfänglichen Trubels werden die Geburtstagsgeschenke erst jetzt überreicht, zwischen den einzelnen Gängen. Charles und Matthijs haben ein Scherzgedicht verfasst, das Elisabeth laut vorlesen muss. Sie nehmen ihre Schwester darin gehörig auf den Arm – zumindest war das ihre Absicht –, doch Elisabeth überfliegt jede Zeile vorher und bringt dann blitzschnell kleine Änderungen an, die ihr zum Vorteil und den beiden zum Nachteil gereichen, wogegen sie lautstark protestieren.

Die Zuhörer biegen sich vor Lachen, am Ende reden alle durcheinander, und es geht fröhlich und chaotisch zu.

»Lustig, nicht wahr? Ich genieße diese Abende immer sehr«, sagt Lydia zu Eduard.

»Ich auch. Bei den Boissevains herrscht wenigstens keine so steife Atmosphäre. Ich dachte übrigens, es würde nur eine kleine Feier geben, aber es sind ja wirklich viele Gäste da.«

»Die meisten wohnen in der Nähe. Allzu ruhig soll das Landleben ja auch nicht sein. Die Boissevains laden nur Leute ein, die nicht so streng auf Umgangsformen achten, andere kommen hier gar nicht herein«, sagt Lydia.

Eduard muss lachen. »Also deshalb sind meine Schwestern nicht eingeladen.«

»Sind sie denn so steif?« Lydia ist Véronique und Carolina einmal begegnet, kennt sie aber nicht näher.

»Ach, das ist nicht das richtige Wort. Sie selbst würden es eher ›reputierlich‹ nennen, aber de facto sind sie … ja, steif.«

Sie lachen, und Lydia betrachtet Eduard etwas genauer. Er ist nett, sehr nett. Eigentlich fühlt sie sich wohl in seiner Gesellschaft. Als er eine Anekdote aus seiner Jugend erzählt, hört sie nur mit halbem Ohr zu und lauscht vor allem auf den Klang seiner Stimme, achtet auf sein lebhaftes Mienenspiel. Steif ist Eduard jedenfalls nicht. Schade, dass sie nur Freundschaft für ihn empfindet.

Sie merkt, wie sie versucht, hinter sein farbloses Äußeres zu blicken, und nimmt es sich übel, wie schwer es ihr fällt. Ist sie so oberflächlich?

Eduard hat unterdessen das Thema gewechselt und spricht jetzt über den Betrieb seines Vaters, den er übernommen hat.

»Eine Zuckerfabrik, oder?«, fragt Lydia.

»Zucker und Sirup, ja.«

Es folgt eine längere Erklärung über den Rohsaft aus Zuckerrohr und Zuckerrüben, der gereinigt, filtriert, verdampft und zentrifugiert wird, bis die Kristalle übrig bleiben.

»Werden dabei Dampfmaschinen eingesetzt?«, fragt Lydia, als Eduard einen Schluck Wasser trinkt.

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