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Die Welt ist verkehrt, nicht wir!

Als Buch hier erhältlich:

Eine junge Frau reist ohne Geld um die Welt – 1953 eine Sensation. Als Katharina von Arx von ihrer Reise zurückkehrt, stürzt sie sich in neue Abenteuer: Sie reist als Reporterin in die Südsee, porträtiert Eingeborene, die noch nie eine Weiße gesehen haben, und lernt ihren späteren Mann, den Fotografen Freddy Drilhon kennen – ein Rebell aus gutem Hause, der lange bei einem Stamm früherer Kannibalen lebte. 1958 kehren die beiden in die Schweiz zurück und kaufen zusammen eine Ruine. Katharina macht sich die Pflege der Anlage zur Lebensaufgabe, Freddy hält die Sesshaftigkeit nicht aus und bricht auf. Die Biografie des Paars ist ein erstaunlicher Fund – und die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe.
  • Erscheinungstag: 28.09.2015
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006700

Leseprobe

 

Der Autor dankt folgenden Institutionen für die Unterstützung seiner Arbeit

 

 

 

Stiftung zur Unterstützung der Frauenarbeit

 

Hinweis

 

Die Dokumente sind den Originalen getreu wiedergegeben und im Buch kursiv gesetzt. Offenkundige Schreibfehler wurden korrigiert, und vereinzelt wurden Satzzeichen angepasst. Die französisch verfasste Korrespondenz zwischen Katharina von Arx und Freddy Drilhon wurde vom Autor auf Deutsch übersetzt, ebenso einige englischsprachige Dokumente. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes bleibt die Identität einzelner Personen, die in diesem Buch vorkommen, verschlüsselt.

 

© 2015 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich,

Foto oben: © Nicolas Hale

Foto unten: © Frédérique Drilhon-von Arx

Herstellung: Rainald Schwarz

Satz: Gaby Michel, Hamburg

ISBN 978-3-312-00681-6

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

I

 

«Katharina ist verschwunden!»

Das Kindermädchen Anna war außer Atem. Ihre Hand ließ die Klinke der Türe zum Büro nicht los. Über eine Stunde hätten sie nach ihr gesucht. Jetzt müsse man die Polizei rufen! Arthur von Arx hob die Augenbraue, lächelte leicht amüsiert ob der Schrillheit in Annas Stimme. Dann erhob er sich, streifte seine Jacke über und ging, ohne ein Wort zu sagen, am erstaunten Kindermädchen vorbei. Auf direktem Weg steuerte er die große Wiese an, die keine zweihundert Meter von der Fabrik entfernt war. Hier standen an die zwanzig Wagen auf der weiten Grasfläche verstreut, dazwischen weidende Pferde, vereinzelt ein Maultier und dann und wann ein Huhn. Erwachsene gingen ihren Beschäftigungen nach, Kinder tollten herum.

Zwei Tage war es her, dass er mit Katharina hier gestanden und die Ankunft der Zigeuner beobachtet hatte. Das Mädchen war fasziniert gewesen, hatte noch nie so etwas gesehen. Häuser auf Rädern, die von Pferden gezogen wurden! Voller Begeisterung hatte es der Mutter von seiner Entdeckung erzählt. Diese war in Panik geraten und hatte das Kindermädchen angewiesen, alle Türen abzuschließen. «Du gehst da nicht mehr hin», hatte sie Katharina mit erhobenem Zeigefinger befohlen. «Zigeuner nehmen Kinder mit!»

Nach kurzer Weile erblickte Arthur seine Tochter. Sie saß auf der Treppe eines lottrigen Zigeunerwagens und spielte mit einem Mädchen, das wohl im selben Alter sein mochte. Vorsichtig näherte er sich den beiden und beobachtete sie. Katharina sprach mit einem Holzscheit in ihrem Arm, das aufgemalte Augen hatte und Lumpenkleider trug. Das strahlende Zigeunermädchen, das in Katharinas Mäntelchen steckte, bettete die Porzellanpuppe Rosalie, die er seiner Tochter eben erst geschenkt hatte, in den Puppenwagen.

 

 

DIE DREIJÄHRIGE KATHARINA, 1931.

 

Käthe von Arx verstand nicht, warum ihr Mann es zugelassen hatte, dass Katharina dem Zigeunermädchen ihren Mantel, Rosalie und den neuen Puppenwagen schenkte. Das Bild der tief in ihr Spiel versunkenen Kinder habe ihn gerührt, versuchte Arthur seine Frau zu beschwichtigen, zudem sei Schenken doch ein edler Zug. Die verschenkten Dinge seien ja alle ersetzbar. Das kleine Abenteuer mit dem Zigeunermädchen sei ein einmaliges Erlebnis für Katharina gewesen, in das er nicht autoritär habe eingreifen wollen. Ihre selbstgehäkelte Puppenwagendecke könne nicht einfach so ersetzt werden, hielt Käthe ihrem Mann unwirsch entgegen. Katharina sei ein kaum zu bändigender Wildfang und brauche deshalb eine strengere Erziehung als ihre Brüder.

Arthur von Arx war vernarrt in seine vierjährige Tochter. Er liebte ihr strahlendes Lachen, ihr wild sprießendes Kraushaar und war öfters den Tränen nahe, wenn er abends aus der Fabrik nach Hause kam und hörte, wie sie die Treppen herunterrannte und ihm entgegenstürmte.

«Habe die Ehre, Comtessa!», rief er dann mit lauter Stimme und nahm Haltung an. Dann verneigte er sich mit einem stilvollen Knicks und sprach seiner kleinen Tochter gezierte Komplimente aus.

«Küss die Hand, Eure Durchlaucht», flötete er galant und blinzelte Katharina verwegen zu. Diese kreischte vor Lachen und sah ihren Vater mit leuchtenden Augen an. Sie liebte dieses Begrüßungsritual, und obwohl sie genau wusste, was als Nächstes kommen würde, konnte sie es kaum erwarten.

«Macht es Mademoiselle peut-être Plaisir», fuhr der Vater mit breitem Schmunzeln fort, «Blödsinn zu treiben?»

«Ja, Blödsinn, Blödsinn!», wiederholte Katharina aufgeregt und rannte mit Vati in wildem Geschrei die Treppe hoch. Kurz darauf lieferten sich die beiden im Spielzimmer einen Wettstreit um die schrecklichste Grimasse und trällerten allerlei erfundene Lieder vor sich hin.

Katharina liebte ihren Vati über alles. Er war der größte Zauberer des Universums! Mit seinen Geschichten entführte er sie in phantastische Wunderwelten, in denen Bäume sprechen und Menschen fliegen konnten. Aus dem Nichts zauberte er zierliche Puppen herbei, herrlich farbige Kinderbücher und sogar eine Katze, die Mietzi hieß und eines Morgens, als sie erwachte, vor ihr auf der Bettdecke lag.

Am Tag nach ihrem Besuch im Zigeunerlager weinte die kleine Katharina, als ihr Vater abends aus der Fabrik nach Hause kam. Sie mache sich Sorgen um Rosalie, vertraute sie ihrem Vater an, und müsse wissen, ob Mama recht habe und ob Zigeuner wirklich böse Menschen seien. Rosalie sei glücklich in ihrer neuen Familie, beruhigte Arthur seine Tochter. Wie Tante Irma reise sie jetzt durch die große weite Welt und erlebe viele Abenteuer.

Die Bewohner des auf halber Strecke zwischen Olten und Aarau liegenden Dorfes Niedergösgen hatten sich längst an die Kindervernarrtheit des Fabrikdirektors gewöhnt. Es war unglaublich, wie er Katharina und ihren zwei älteren Brüdern jeden Wunsch von den Lippen ablas. Wie Lauffeuer verbreiteten sich Gerüchte von ausgefallenem Spielzeug im Dorf. Was es nicht zu kaufen gab, ließ er extra anfertigen: einen Feuerwehrspritzenwagen für die Buben, ein exquisites dreistöckiges Puppenhaus für Katharina. An manchem Sonntagnachmittag machten sich Eltern mit ihren Kindern zur Fabrikantenvilla in der Schmiedenstrasse auf, um das Bugatti-Kinderauto, die nagelneuen Kinderhandorgeln oder den großen Rundlauf im Garten in Augenschein zu nehmen.

Arthur von Arx versuchte seinen Kindern zu ermöglichen, was er selber nicht gehabt hatte: eine unbeschwerte und sorgenfreie Kindheit. Er wollte so viel Zeit wie möglich mit Arthur junior, Rolf und Katharina verbringen. Nirgends konnte er sich besser austoben und seine eigene Kindheit nachholen, als bei den kleinen Abenteuern, die er immer wieder für seine drei Sprösslinge inszenierte. Am allerliebsten hatte er, wenn die Kinder und er heimlich das Haus verließen und ins Fabrikgebäude schlichen. Hier hievte er sie kurz darauf in das kleine Bahnwägelchen, auf das er, nachdem er es angestoßen hatte, auch selber aufsprang. Katharina, Rolf und Arthur junior kreischten vor Freude, wenn das Wägelchen aus dem Schuppen ins Freie kam, mit quietschendem Rollen über die Schienen ratterte und, vom leichten Gefälle beschleunigt, über den weiten Hof auf den unmittelbar an das Wohnhaus angebauten Lagerraum zuschoss. Arthur machte sich einen Spaß daraus, sich zu ducken, so dass das vom plötzlichen Lärm aufgescheuchte Kindermädchen jeweils heftigst zusammenzuckte und die Hände verwarf, weil es meinte, nur die drei Kinder befänden sich darin. Mit flatternder Haube und wild gestikulierend rannte Anna über den Hof, riss das breite Tor des Lagerraums auf und stellte sich in seinem Innern mutig auf die Schienen, um den drohenden Zusammenstoß der Kinder mit dem Rammbock zu verhindern. Erst im letzten Moment zog Arthur die kleine Bremse des Wägelchens, das nur knapp vor Anna zum Stehen kam. Die kribbeligen Kinder strahlten vor Glück, der Vater grinste wie ein Lausbub, und Anna brach in Tränen aus.

 

 

ARTHUR VON ARX, um 1925.

 

Käthe von Arx machte der Übermut ihres Mannes schwer zu schaffen. Seit Jahren schon versuchte sie vergeblich, ihm seine kindsköpfigen Eskapaden auszutreiben. Das schickte sich einfach nicht für einen Direktor. Die Filzfabrik war der größte Arbeitgeber der Gemeinde. Arthur hatte deshalb auch gesellschaftlich ein Vorbild zu sein. Er solle sich endlich auf eine saubere Buchhaltung konzentrieren, hielt Käthe ihrem Mann vor, der auf Kriegsfuß mit den Zahlen stand und mit seinen Jahresabschlüssen stets im Hintertreffen war. Die Kinder seien ihm wichtiger als die Fabrik, wischte Arthur die Ermahnungen seiner Frau vom Tisch. Diese holte dann öfter den Rat ihrer älteren und sehr viel robusteren Schwester Lilly ein, die nach ihrem Einsatz an der österreichisch-ungarischen Ostfront in den Jahren 1917 und 1918 nichts mehr erschüttern konnte. Arthur sei unverbesserlich, diagnostizierte die diplomierte Krankenschwester, er habe das Allotria im Blut, da könne man nichts machen. Für die Kinder aber sei es noch nicht zu spät, war Lilly überzeugt und bot ihrer Schwester an, ihr dabei zu helfen, dass sich die von-Arx-Flausen, wie sie Arthurs kindische Kapriolen nannte, nicht auf Arthur junior, Rolf und Katharina übertrugen.

Der 1898 in begüterten Zürcher Verhältnissen geborene Arthur von Arx hatte als Kind schon seinen Vater verloren und war knapp achtzehn Jahre alt, als seine Mutter an Typhus starb. Zusammen mit seiner jüngeren Schwester Irma lebte er fortan bei einer Tante in Münsingen im Kanton Bern. Hier absolvierte er eine kaufmännische Berufslehre und trat nach deren Abschluss eine Stelle bei der Schweizerischen Treuhandgesellschaft in Basel an, wo er sich eng mit Willy Zähner, dem Spross einer vermögenden Appenzeller Textilfabrikantenfamilie, befreundete. Im Basler Elternhaus seines Freundes lernte Arthur im Jahre 1921 Willys Schwester Käthe kennen. Diese war fasziniert von der quirligen und gewitzten Art des gutaussehenden Herrn von Arx, der mit seiner Fröhlichkeit ihre Schwermut spielend leicht verscheuchen konnte. Seine feinen Gesichtszüge und die neugierig verträumten Augen ließen Käthe an einen zarten und sensiblen Menschen glauben, dem noch immer die Unschuld eines Kindes anhaftete.

Die neunundzwanzigjährige Käthe Zähner, die sich nach einer großen Enttäuschung bereits auf das triste Leben eines ledigen Fräuleins einzustellen begann, konnte ihr Glück kaum fassen, als der sechs Jahre jüngere Arthur um sie zu werben begann. Die Unbeschwertheit des jungen Paars dauerte nur kurz: Nach vier Monaten Bekanntschaft wurde Käthe schwanger. Sie befürchtete einen gesellschaftlichen Skandal. Er hingegen machte ihr einen Heiratsantrag. Am 1. Oktober 1921 gab sich das Paar in der christkatholischen Kirche in Binningen das Jawort. Knapp acht Monate später erblickte Arthur junior das Licht der Welt.

Das junge Paar war glücklich, lebte in einem großen Haus mit Bediensteten und hatte eine sorgenfreie Zukunft vor sich. Ein halbes Jahr nach der Geburt von Arthur junior war Käthe erneut schwanger. Arthur war außer sich vor Glück und fest davon überzeugt, dass es diesmal ein Mädchen sein würde. Käthe war amüsiert über die unerschütterliche Gewissheit ihres Mannes, die allerdings bald bizarre Züge annahm. Erst kaufte er seiner ungeborenen Tochter teure Puppen von Kämmer & Reinhardt, dann entwarf er eine Einladungskarte für die Tauffeier und trug seiner hochschwangeren Frau sein selbstverfasstes Begrüßungsgedicht für Katharina vor – so sollte das Mädchen heißen. Als jedoch am 2. April 1926 erneut ein Bub geboren wurde, schloss sich Arthur einen ganzen Tag lang im Büro ein und weigerte sich, seinen Sohn auf der Gemeinde anzumelden. Käthe erschrak heftig und rief ihre Schwester Lilly zu Hilfe. Diese meldete den kleinen Rolf ordnungsgemäß an und las dem schmollenden Vater gehörig die Leviten.

Ein knappes Jahr nach Rolfs Geburt stieg der neunundzwanzigjährige Arthur in die Textilindustrie ein. Der monotone Alltag eines Steuerberaters und Wirtschaftsprüfers bei der Schweizerischen Treuhandgesellschaft langweilte ihn länger schon. Er suchte nach einer neuen und spannenderen Herausforderung und griff zu, als sich ihm die Gelegenheit bot, die Filzfabrik AG im solothurnischen Niedergösgen zu erwerben. Mit seinem Erbteil und der Unterstützung von Käthes Familie erwarb er die Aktienmehrheit der 1825 gegründeten Fabrik. Kurz darauf kündigte er seinen Posten bei der Treuhandgesellschaft in Basel und zog mit seiner Familie in das herrschaftliche Wohnhaus, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Filzfabrik befand. Arthur übernahm die Geschäftsleitung der Fabrik und brachte neuen Wind in das seit längerem kriselnde Unternehmen. Mit einem breiten Produkteangebot und einer engen Zusammenarbeit mit der Schuhfabrik Bally in Schönenwerd wollte er es neu ausrichten und zum Erfolg führen. Dass seine Strategie – die Aufträge von Bally umfassten rund drei Viertel der gesamten Produktion – nicht ohne Risiko war, nahm der junge Fabrikdirektor gelassen in Kauf. Der Erfolg indes gab ihm bald schon recht: Innert kurzer Zeit verwandelte sich die Filzfabrik in Niedergösgen in ein blühendes Unternehmen, das fünfzig Arbeiter beschäftigte.

Am 5. April 1928 ließ Arthur von Arx in der Mitte des Nachmittags ohne jede Vorankündigung alle Maschinen seiner Fabrik abstellen. Neugierig und verunsichert traten die Arbeiter in den Hof, wo auch ihr Direktor schließlich erschien und auf ein provisorisch hergerichtetes Podest aus gestapelten Holzpaletten stieg. Er sei soeben, verkündete er mit breitem Strahlen, Vater eines gesunden Mädchens geworden! Sie habe die schönsten Augen der Welt und heiße Katharina. Die Arbeiter warfen ihre Mützen in die Luft, ließen erst die kleine Katharina und dann auch ihren Herrn Direktor hochleben. Gerührt stieg Arthur vom Podest und schenkte seinen Arbeitern eigenhändig Wein aus. Darauf schwang er sich zum zweiten Mal auf das Holzpodest und verkündete, jeder Arbeiter bekomme zur Feier des Tages ein Goldvreneli!

Käthe ärgerte sich über die Spendierlust ihres Mannes. Sie sah ihre Angst bestätigt, dass er sie eines Tages alle in den Abgrund reißen würde. Ein erfolgreicher Geschäftsmann dürfe nicht mit seinen Arbeitern fraternisieren und ihnen erst recht nicht Geld nachwerfen, hielt sie ihm vor. Er täte besser daran, an die Zukunft zu denken und für schlechte Zeiten vorzusorgen. Käthes Vorhaltungen stießen bei Arthur auf kein Gehör. Seine ganze Konzentration war bereits darauf gerichtet, die Geburt seiner Tochter mit einem imposanten Tauffest zu begehen. Er verschickte goldgeprägte Einladungskarten, auf denen er den 20. Mai 1928 zum «Katharina-Tag» erklärte und alle seine Verwandten und Bekannten nach Niedergösgen lud. Das große Fest sollte um neun Uhr morgens beginnen und bis halb zehn Uhr abends dauern. Gäste, die mit einem Fahrplan anrücken, vermerkte Arthur auf der Einladungskarte, werden nicht zugelassen.

An die siebzig Personen fanden sich am besagten 20. Mai im festlich dekorierten Saal des Restaurants «Zur Schmiedstube» ein, um der kleinen Katharina eine glückliche Lebensreise zu wünschen. Den Auftakt und Höhepunkt des großen Tages stellte die christkatholische Taufe des Mädchens dar, das ein weißes Spitzenkleid trug und die Zeremonie glatt verschlief. Den ganzen Tag über wurden die Gäste mit ausgesuchten Speisen verwöhnt. Es gab eine Tombola, Musik- und Theaterdarbietungen sowie eine exklusive Tageszeitung, in der Arthur in dichterischer Verkleidung allerlei Kurioses aus den Familien von Arx und Zähner preisgab.

Die Taufgäste staunten über das grandiose Fest, und manch einer fragte sich, warum Arthur ausgerechnet die Geburt seiner Tochter so opulent beging. Von seinen Söhnen, munkelte man, habe er nur halb so viel Aufhebens gemacht. Vermutlich, mutmaßte Käthes Schwester Lilly, habe das etwas mit seiner nach Amerika ausgewanderten schrulligen Schwester Irma zu tun, an der er geradezu kindisch hänge. Diese, wusste Lilly, habe ohne ersichtlichen Grund den Antrag eines gutsituierten Bewerbers abgelehnt, sei dann, nachdem sie ihren Lehrerinnenberuf aufgegeben habe, einige Jahre ziellos durch die halbe Welt gereist und schließlich ganz allein nach Amerika ausgewandert.

 

 

KÄTHE VON ARX-ZÄHNER UND KATHARINA, um 1931.

 

Käthe hatte für derlei Spekulationen an diesem Tag kein Ohr. Die Rolle der Gastgeberin erforderte ihre volle Aufmerksamkeit. Sie freute sich, dass alle ihre zehn Geschwister zur Taufe gekommen waren, und war erleichtert zu sehen, dass Arthur, der eine rührende Taufrede gehalten hatte, offenbar keinerlei Kapriolen im Sinn hatte. Doch es kam anders. Als das Gespräch nach dem Mittagessen auf die Kindererziehung kam und Käthes Vater dabei den Standpunkt vertrat, dass Strenge das oberste Gebot sei, widersprach Arthur und führte an, dass es doch viel wichtiger sei, den Kindern Lebensfreude, Mut und Phantasie zu vermitteln. Zu viel Strenge, argumentierte er, könne die freie Entfaltung des jungen Menschen verhindern. Und diese sei doch das Wichtigste überhaupt! Der Mensch sei auf der Welt, um ein Leben zu führen, das seinen Neigungen und Talenten entspreche, und als Vater sehe er sich in der Pflicht, seinen Kindern ein Beispiel zu sein.

In Käthes Kopf läuteten die Alarmglocken. Sie spürte den finsteren Blick ihres Vaters, der den Widerspruch seines Schwiegersohns als Affront empfand. Schwester Lilly, die unmittelbar neben ihr saß, versetzte ihr mehrere Stöße in die Seite, die sie unmissverständlich aufforderten, Arthurs Gerede ein Ende zu bereiten. Also unterbrach Käthe ihren Mann, indem sie ihn darauf hinwies, dass man zum Kaffee übergehen könne. Arthur aber war nicht mehr zu bremsen. Es sei ihm ein Rätsel, zog er mit seinem Redeschwall die ganze Tischreihe in seinen Bann, warum der Mensch sich nicht darum bemühe, mehr Freude in das Leben zu bringen.

Einige Augenblicke lang herrschte nachdenkliches Schweigen an der langen Tafel. Käthe, die am liebsten im Erdboden versunken wäre, wandte ihren Blick hilfesuchend zu ihrer Schwester.

«Wann endlich», so blitzte es aus Lillys Augen, «wirst du ihm diese Flausen austreiben?»

 

 

II

 

Der Himmel über Paris war strahlend blau. Müde und leicht missmutig stieg Robert Drilhon die steile Treppe hoch, die aus der Metro auf die Place de Trocadéro führte. Es war der 27. Mai 1931, spätnachmittags. Der Besuch des abendlichen Klavierkonzerts, den er seiner Frau versprochen hatte, war ihm zuwider. Lieber hätte er seinen Spaziergang durch die große Pariser Kolonialausstellung im Bois de Vincennes fortgesetzt, in der man die verschiedenen Kulturen und Schätze des großen französischen Kolonialreichs bewundern konnte.

Von der belebten Place du Trocadéro erblickte er den von der Sonne angestrahlten Eiffelturm. «Emmanuel Drilhon, dein Großvater», hörte er die strenge Stimme seines Vaters, «war der wichtigste Mitarbeiter von Gustave Eiffel. Er hat unserer Familie Ruhm und Ehre eingebracht. Nimm dir ein Beispiel!» Robert Drilhon spürte, wie sich bitterer Groll in ihm aufbaute. Er hasste den stählernen Riesen, der ihm jeden Tag vor Augen führte, dass er gescheitert war.

Die Messlatte für den 1899 in eine großbürgerliche Familie geborenen Robert Drilhon lag von Anfang an hoch. Über Generationen hatten die aus Barbezieux im westfranzösischen Departement Charente stammenden Drilhons erfolgreich ein Bankhaus geführt und eine weit herum bekannte Cognacproduktion betrieben. Mit Bestnoten hatte Robert an der Sorbonne als Elektro- und Agraringenieur abgeschlossen und sich auf die Elektrifizierung im Bahn- und Agrarbereich spezialisiert. Als junger Ingenieur war er an internationalen Kongressen ein gefragter Referent und hatte mehrere vielbeachtete Beiträge publiziert. Doch statt einer führenden Stellung im staatlichen Agrarministerium in Paris musste er sich mit einer zweitklassigen Anstellung in einem privaten Agrarunternehmen in der Yvorne zufriedengeben. Vermutlich hatte er sich zu wenig um einflussreiche Freunde bemüht. Und mit Janetta Buchanan leider die falsche Frau geheiratet. Dabei hatte er geglaubt, dass ihm mit der Heirat in den vermögenden schottischen Buchanan-Clan ein Coup gelungen sei. «Zum Cognac der Drilhons», hatte Onkel Jean de Sazerac voller Stolz an ihrer Hochzeit verkündet, «kommen die indischen Teeplantagen der Buchanans!» Robert Drilhon hatte sehr wohl gewusst, dass seine Familie die Bank und den Cognac genauso verkauft hatten wie die Buchanans ihre Teeplantagen, aber nicht bedacht, dass der Krieg und die Inflation die beiden Familienvermögen arg dezimiert hatten. Wie hätte er das auch ahnen sollen? Das exquisite Hochzeitsgeschenk der beiden Familien, der gesamte, aus zwei großen Wohnungen bestehende, oberste Stock eines repräsentativen Pariser Jugendstilhauses im noblen 16. Arrondissement, gaukelte ihm prallgefüllte Familienschatullen vor und ließ ihn auf ein Leben als Privatier und freien Erfinder hoffen. Wie gerne hätte er Tage und Wochen in seiner Werkstatt verbracht und an elektrischen Motoren gebaut. Stattdessen musste er Bürozeiten einhalten, irgendwelche Berichte schreiben und mit ansehen, wie all seine Geräte und Messinstrumente verstaubten.

 

 

17. Juni 1924: ROBERT DRILHON HEIRATET JANETTA BUCHANAN
IM SÜDFRANZÖSISCHEN OLORON.

 

Robert Drilhon war überzeugt, dass das Schicksal sich gegen ihn verschworen hatte. Mit gleich zwei taubstummen Töchtern hatte es ihn unbarmherzig geschlagen. Die Nachricht von der Behinderung der Kleinen war bestürzend und machte ihn hilflos und wütend. Er hasste die bohrenden Blicke der Leute, ertrug das geheuchelte Mitleid in ihren Gesichtern nicht, hinter dem geifernde Neugier und heimliche Schadenfreude lauerten. Ein anormales Kind zu haben, das wusste er von klein an, war ein Schmutzfleck im Reinheft einer Familie, deutete auf heimliche Sünden oder versteckte Defekte hin. Um allen Gerüchten einen Riegel zu schieben, verbreiteten Janetta und er die Erklärung, die Taubstummheit ihrer Töchter sei die Folge des deutschen Giftgasangriffes, in den er im Herbst 1917 als Soldat im Dienste des Vaterlandes geraten sei. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Robert die beiden Mädchen in einer Taubstummenanstalt versorgt. Janetta aber wollte das nicht und bestand darauf, Lorna und Gerda bei sich zu behalten und von speziell ausgebildeten Lehrkräften unterrichten zu lassen. Schließlich hatten sie ja auf ihrem Stockwerk genügend Platz, um in der für die Kinder vorgesehenen Wohnung die entsprechenden Einrichtungen vorzunehmen.

Robert Drilhon bog in die Rue Nicolo ein. Nun war er fest entschlossen, seiner Frau die Teilnahme am bevorstehenden Ravel-Abend abzusagen. Ihre kindisch-schwärmerische Begeisterung für den Komponisten Maurice Ravel war peinlich, auch ihr ewiges Hadern mit der verpassten Pianistinnenlaufbahn. Ohnehin drehte sich ihr ganzes Leben nur noch um die Musik und die beiden taubstummen Mädchen, die sie zusammen mit einem ausgebildeten Dienstmädchen betreute. Für ihn und ihre beiden anderen Kinder, Freddy und Annette, die glücklicherweise vollständig gesund waren, hatte sie nur wenig Zeit. Aus diesem Grund richtete Robert sein Augenmerk fast ausschließlich auf seinen Stammhalter, den vierjährigen Freddy, der mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Annette unter der Obhut des Schweizer Kindermädchens Mina Hauser stand. Sie müsse dem Buben Beherrschung, Standhaftigkeit und Disziplin beibringen, impfte Robert Drilhon dem Kindermädchen ein, ihn mindestens einmal am Tag, vorzugsweise beim Nachtessen, in der elterlichen Wohnung vorführen und dafür sorgen, dass er die Tischmanieren kenne und beim Essen nur spreche, wenn er von den Eltern gefragt werde. Auf dem Bub laste eine große Verantwortung, stellte er klar, er brauche ein großes Durchhaltevermögen und eine solide Bildung.

 

 

FREDDY EMMANUEL DRILHON, um 1928.

 

Robert Drilhon war bei der Nummer 44 angekommen und betrat das feudale Entree. Er stieg in den Fahrstuhl und fuhr in die Bel Etage. Kaum hatte er seinen Veston abgelegt, hörte er Schritte, die über den leise knarrenden Parkettboden eilten. Schon stand das Dienstmädchen vor ihm. Es hatte Tränen in den Augen und schluchzte. Freddy sei verunglückt, Madame sei bereits auf dem Weg ins Spital.

Zehn Minuten später saß Robert Drilhon in einem Taxi, das ihn zur Clinique chirurgicale Victor Hugo in der Rue du Dôme brachte. Hier führte man ihn zum Zimmer seines Sohnes, vor dem Janetta und Mina standen. Das Kindermädchen sank auf den Stuhl neben der Tür zum Krankenzimmer, als Janetta zu erzählen begann. Mina sei mit Annette und Freddy durch den Bois de Boulogne spaziert, berichtete sie mit brüchiger Stimme, habe zu den Stallungen beim großen Verwaltungsgebäude gewollt, um die Ponys zu füttern. Plötzlich aber sei Freddy losgerannt, aus dem Wald und auf die Landstraße, wo er Sekundenbruchteile später von einem vorbeifahrenden Peugeot der Parkverwaltung erfasst worden sei. Der Fahrer habe ihn viel zu spät gesehen und nicht mehr bremsen können. Freddy sei zu Boden geschleudert worden und mit dem linken Bein unter das rechte vordere Speichenrad des Autos geraten.

Robert Drilhon griff nach der Türklinke, um ins Krankenzimmer zu treten. Janetta hielt ihn beschwichtigend zurück. Freddy sei gerade operiert worden und liege im Narkoseschlaf. Robert zuckte ob der Berührung an seinem Arm zusammen und sah seine Frau wutentbrannt an. In diesem Augenblick trat der Arzt zu ihnen. Eine offene Fraktur des Kniegelenks sei eine sehr schwere und komplizierte Verletzung, erklärte er. Die erste Operation sei den Umständen entsprechend verlaufen. Die Kniescheibe des Buben sei leider vollständig zertrümmert und habe entfernt werden müssen. Das vordere und hintere Kreuzband, erklärte der Arzt weiter, sowie zahlreiche Sehnen seien durchtrennt. Ob der Bub jemals wieder werde laufen können, fragte Janetta bestürzt. Eine Prognose zu machen sei schwierig, meinte der Arzt, es werde weitere Operationen brauchen und ganz bestimmt eine lange Rehabilitation.

Robert Drilhon rang um Fassung. Er wollte nicht noch ein drittes behindertes Kind. Aufgebracht stellte er klar, er wolle die besten Chirurgen Frankreichs. Dann wandte er sich ab und machte einen Schritt auf Mina zu, die sich von ihrem Stuhl erhob und weinend um Worte rang. Robert Drilhon war in Rage. Ansatzlos traf seine Hand Minas Wange und Ohr. Sie sei entlassen, hallten seine Worte durch den langen Gang.

Als Freddy aus der Narkose erwachte, fragte er als Erstes nach seinem Kindermädchen. Mina sei nicht mehr sein Kindermädchen und werde das Haus noch heute verlassen, fasste sich Janetta kurz. Mina könne nichts dafür! Er allein sei schuld, schluchzte der Kleine. Janetta verzog keine Miene und gebot ihrem Sohn zu schlafen.

Fünf Tage nach seiner Einlieferung in die Clinique chirurgicale kam es bei der zweiten Operation an Freddys Knie zu schweren Komplikationen. Weil sich die Wunde entzündet hatte, wurde der Bub über Tage von heftigen Fieberschüben gequält. Es dauerte mehrere Wochen, bis er wieder einigermaßen bei Kräften war. Eine dritte Operation Anfang Juli 1931, bei der auch eine Hauttransplantation vorgenommen wurde, verlief erfolgreicher. In der Folge wurde die Wunde mit ultraviolettem Licht bestrahlt und begann langsam zu vernarben.

 

 

III

 

Der wirtschaftliche Erfolg schien Arthur von Arx recht zu geben. Die vollen Auftragsbücher der Filzfabrik ermöglichten seiner Familie einen feudalen Lebensstil mit Hausangestellten, Kindermädchen und luxuriösen Ferienaufenthalten in Hotels im Engadin und im Berner Oberland. Käthe war glücklich und fast ein wenig stolz auf ihren temperamentvollen Mann, wenn sie die Leute auf der Straße mit «Frau Fabrikdirektor» grüßten.

Arthur, den man in Niedergösgen liebevoll «Filzi-von Arx» nannte, war ein Patron alter Schule, dem das Wohlergehen seiner Arbeiter am Herzen lag. Umsichtig modernisierte er die Fabrik. Er ließ die alten Gebäude renovieren, erweiterte die Stanzerei, ließ eine neue Kesselanlage bauen und das Lagerhaus vergrößern. Dafür nahm er mehrere Bankkredite auf, die den Schuldenberg auf stattliche dreihunderttausend Franken ansteigen ließen. «Wer nicht wagt, der nicht gewinnt», lächelte Arthur über die Bedenken seiner Frau.

Obwohl die Mutter häufiger krank und grantig in ihrem abgedunkelten Zimmer lag, waren die Jahre der frühen Kindheit für Katharina und ihre zwei älteren Brüder eine paradiesische Zeit. Der Grund dafür war ihr Vati, der sie verwöhnte und gern Schabernack mit ihnen trieb. Arthur junior, Rolf und Katharina liebten es, an den Sonntagnachmittagen mit ihm durch das gespenstisch leere Fabrikgebäude zu streifen. In der Stanzerei führte er ihnen die große Filzschneidemaschine vor, die er «Guillotine» nannte, oder ließ sie die moderne Union-Nähmaschine bedienen, die zwei Filzstücke rasend schnell in ein einziges verwandeln konnte. Dabei kombinierten die Kinder größere und kleinere Filzreste unterschiedlicher Farben, die von der Herstellung von Pantoffeln, Krägen, Hüten, Kappen, Sesselunterlagen und Jassteppichen übrig geblieben waren. Großen Spaß hatten die drei, wenn Vati einen von ihnen auf die Vamberker-Waage stellte und die anderen aufforderte, so lange Gewichtsstücke aufzulegen, bis ein exaktes Gleichgewicht hergestellt war.

Am Schluss ihres Rundgangs landeten sie oft im großen Lagerschuppen, in dem sich ein Haarballen an den nächsten reihte. Hunderte Kilogramm brauner und weißer Haare warteten hier darauf, mit Dampf und mechanischem Druck zu Filz verarbeitet zu werden. Hier führte Vati die beliebte Clownnummer auf. Er verneigte sich vor seinen Kindern und riss dann mit raschen Handgriffen Haarbüschel aus den verschiedenen Ballen. Aus diesen formte er unter blödsinnigem Geplapper eine lustige Perücke, die er sich grimassenschneidend aufsetzte. Die Kinder hielten sich den Bauch vor Lachen und taten es ihrem Vater nach, so dass nach kurzer Zeit ein Reigen von behaarten Ungeheuern johlend durch den Lagerschuppen hüpfte.

Den New Yorker Börsensturz vom Oktober 1929 nahm Fabrikdirektor von Arx kaum zur Kenntnis. Selbst als sich im Herbst 1930 allmählich abzeichnete, dass die Aufträge zurückgehen würden, sah er noch immer keinen Grund zur Sorge. Da war ja die Schuhfabrik Bally, sein größter Auftraggeber; das sicherte alles ab. Das böse Erwachen kam, als Bally im Frühjahr 1931 sämtliche Bestellungen stornierte. Von einem Augenblick auf den anderen stand Arthur von Arx vor dem Abgrund. Das vorhandene Geld würde gerade noch ausreichen, um die Löhne für drei Monate bezahlen und die Kredite bedienen zu können. Das gähnende Loch in der Kasse musste dringend mit neuem Geld gestopft werden. Eilig mussten zwanzig Arbeiter entlassen werden, um die Kosten zu senken und die ohnehin durch die bereits hohen Schulden angegriffene Kreditwürdigkeit nicht ganz zu verlieren.

Der erfolgsverwöhnte Fabrikdirektor befand sich plötzlich in einer dramatischen Abwärtsspirale: Um einen Konkurs abzuwenden, reichte er Ende November 1931 beim Obergericht des Kantons Solothurn ein Gesuch um Nachlassstundung und Sanierung der Filzfabrik ein. Aber auch dies konnte ihn nicht mehr retten. Weil er das benötigte Kapital innerhalb der vom Gericht gewährten Frist von acht Monaten nicht beschaffen konnte, musste er am 23. Juli 1932 die Konkurserklärung unterschreiben. Bereits am Tag darauf stellte die Filzfabrik ihre Produktion ein. Weitere dreißig Arbeiter standen auf der Straße.

 

 

KATHARINA UND IHR BRUDER ROLF VOR DEM
GROSSEN LAGERSCHUPPEN,
um 1931.

 

Der einst so geschätzte Direktor wurde in Niedergösgen über Nacht zum «verlumpten Filzi-von-Arx», der auf viel zu großem Fuß gelebt hatte. Arthur verschanzte sich in seinem Büro, ging nicht mehr ans Telefon und öffnete auch die eingeschriebenen Briefe mit Gläubigerforderungen nicht mehr, die jetzt täglich eintrafen. Käthe weinte nur noch und traute sich nicht mehr aus dem Haus. Die beiden Buben wurden in der Schule angepöbelt und Katharina fand es schade, dass der Vater keinen Blödsinn mehr mit ihr trieb. Sie verstand nicht, warum das Kindermädchen ganz plötzlich ihr Haus verließ und Vati keine Zeit für lustige Nachmittage mehr hatte.

Die Stimmung gegen den «verlumpten Filzi-von-Arx» erreichte ihren Höhepunkt, als eines Nachts mehrere Scheiben der Fabrikantenvilla eingeschlagen wurden. Am Tag darauf beschlossen Arthur und Käthe, Niedergösgen zu verlassen und nach Zürich zu ziehen. Weil auch ihr Wohnhaus in die Konkursmasse fiel, durften sie nur das Allernotwendigste auf einen kleinen Lastwagen verladen. Die wertvollsten Möbelstücke, das Silberbesteck, die Gemälde an den Wänden, die kostbaren Teppiche und der achtplätzige Ford Reister, ja selbst die wertvollsten Kinderspielsachen wurden von der Konkursverwaltung beschlagnahmt und sollten versteigert werden. Früh an einem Januarmorgen des Jahres 1933 verließ die Familie Niedergösgen.

Man bezog an der Hammerstrasse in Zürich eine günstige Vierzimmerwohnung. Es sei nur vorübergehend, erklärte Arthur seinen Kindern, die das große Haus und die Fabrik bald schon vermissten. Die erhoffte Rückkehr erwies sich schnell als Utopie. Die Summe der eingegangenen Gläubigerforderungen, teilte ihm die Konkursverwaltung Mitte Februar 1933 mit, betrage fast vierhunderttausend Franken und übersteige wie erwartet den Wert seines Besitzes deutlich. Jetzt musste auch der fünfunddreißigjährige Arthur eingestehen, was er lange nicht hatte wahrhaben wollen: Er war vollständig ruiniert. Am 28. März 1933 wurde das Hab und Gut im großen Saal der Schmiedstube, wo fünf Jahre zuvor das große Tauffest seiner Tochter stattgefunden hatte, für knapp zweihundertfünfzigtausend Franken versteigert.

Zwei Wochen nach diesem Bescheid verschwand Arthur von Arx spurlos. Seine Frau befürchtete das Schlimmste, erzählte aber ihren Kindern, Vati sei auf Reisen. Zehn Wochen nach seinem Verschwinden erreichte Käthe überraschend Post ihres Mannes. Ein Umschlag mit einer kurzen Nachricht und zwanzig Franken. Er sei in London, fasste sich Arthur kurz, wo er eine Anstellung bei einer britischen Vermögensverwaltung gefunden habe. Ab sofort werde er ihr und den Kindern regelmäßig etwas Geld schicken. Das war alles. Die wöchentlich eintreffenden, stets kurz gehaltenen Nachrichten fügten sich bald zur eigentlichen Botschaft, dass sich Arthur von ihr getrennt hatte. Die einundvierzigjährige Käthe lag jetzt nur noch im Bett, wurde immer apathischer und bat einmal mehr ihre Schwester Lilly um Hilfe. Diese entschied, die drei Kinder vorübergehend zu trennen. Rolf, den sie für den Begabtesten hielt, sollte zu ihr kommen. Arthur, der Älteste, musste bei der kranken Mutter bleiben und Katharina sollte bei Tante Marie in Binningen versorgt werden.

Vor und nach der Schule musste sich der elfjährige Arthur um seine Mutter und den Haushalt kümmern, in dem das Geld an allen Ecken und Enden fehlte. Ungeduldig wartete der Bub jede Woche auf die zwanzig Franken aus England, die für ihr Essen reichen mussten. Er geriet in helle Verzweiflung, als er einmal auf dem Weg zum Konsum die zwanzig Franken verlor und trotz stundenlangem Suchen nicht wiederfand.

Der siebenjährige Rolf hatte im appenzellischen Trogen das strenge Regime von Tante Lilly zu erdulden, das sie in ihrem Schülerinternat installiert hatte. Und die fünfjährige Katharina begriff nicht, warum sie bei Tante Marie jeden Abend mit ernster Miene zum «lieben Gott» beten musste, der ihren Wunsch, Vati möge sie endlich abholen und zurück ins große weiße Haus bringen, nicht erhören wollte.

Weil Vati nie kam, verlor Katharina den Glauben an den lieben Gott und fing an, ihre verlorene Welt zu zeichnen. Fieberhaft malte sie ein Bild nach dem andern. Immer wieder das große weiße Haus, die Fabrik mit dem abenteuerlichen Bahnwägelchen, das über den weiten Hof sauste, Vati am Steuer seines Automobils, die strahlenden Brüder mit ihrem Feuerwehrspritzenwagen. Die drei Puppen und die Katze Mietzi waren alles, was Katharina aus ihrem Kinderreich hatte mitnehmen können. Mit ihnen lebte sie in einer versponnenen Welt von Erinnerungen, Träumen und vertraulichem Zwiegespräch.

 

 

KATHARINA UND IHRE KATZE «MIETZI», um 1934.

 

Diese geheime innere Welt war das Wertvollste, was die heranwachsende Katharina besaß. Sie war sehr viel farbiger und lustiger als der Alltag bei Tante Marie oder der eintönige Unterricht bei Fräulein Brodbeck. Diese schlug ihr ständig mit dem weißen Stock auf die Finger, wenn sie mit der falschen linken Hand den Bleistift führte oder statt zu rechnen vor sich hin zeichnete.

In ihrer Klasse war Katharina bald eine Außenseiterin: Erst verspottete man sie als «Träumerin», dann lachte man über ihre Langsamkeit oder machte sich über ihren wilden Krauskopf lustig. Ein paar Wochen lang versuchte sie verzweifelt, ihre widerspenstigen Haare mit Wasser glattzukämmen. Es war zwecklos. Ihre Mähne war ihr Schicksal.

Im Herbst 1935 beschloss die siebenjährige Katharina, Binningen für immer zu verlassen. Weil ihr der liebe Gott nicht half, wollte sie jetzt auf eigene Faust nach Vati und dem großen weißen Haus suchen. Mit ihren drei Puppen im Rucksack und ihrer Katze Mietzi im Arm machte sie sich eines Morgens auf den Weg. Sie musste das große weiße Haus finden. Dort wollte sie auf Vati warten. Irgendwann würde er dort schon auftauchen. Sie irrte durch das Dorf und blieb vor jedem weißen Haus stehen. In jeder Straße tauchten neue auf, ihres blieb aber unauffindbar; und von der Fabrik war ebenfalls nichts zu sehen. Müde und verzweifelt fragte Katharina schließlich einen älteren Herrn, der des Weges kam, ob er ihr Haus gesehen habe. Als dieser irritiert verneinte, brach sie in Tränen aus und erzählte dem Mann von ihrem Haus, der Fabrik und dem Vater, der verschwunden sei. Der Mann verständigte die Polizei, welche die weinende Katharina abholte und zu Tante Marie zurückbrachte.

 

 

IV

 

Sie führte ihn an der Hand durch die große Halle der Gare Montparnasse. Aus dem kleinen Köfferchen hörte man die Teile des Meccano-Baukastens klimpern, den Freddy unbedingt hatte mitnehmen wollen. Janetta war stolz auf ihren Sohn, der nach seinem viermonatigen Spitalaufenthalt zum zweiten Mal im Leben laufen gelernt hatte. Er hinkte nur noch leicht. Sie bestiegen den Fernverkehrszug und fanden ihren Platz in einem Coupé der ersten Klasse. Von Paris ging die Reise über Bordeaux in die tief im Südwesten gelegene mittelalterliche Stadt Pau. Janetta freute sich sehr auf die Stadt ihrer Kindheit und die weite, von Palmen gesäumte Aussichtspromenade beim Hôtel de Gassion, von wo aus man einen herrlichen Ausblick auf die Pyrenäenkette hatte. Mit etwas Glück würde sie den einen oder anderen jener unverwechselbar strahlenden und milden Herbsttage erleben, deren gleißendes Licht ihre Kindheitserinnerungen erfüllte.

An Indien hatte Janetta nur schwache Erinnerungen. Sie war ja auch erst vier Jahre alt gewesen, als die Eltern ihre Teeplantagen in Darjeeling aufgegeben hatten und des milden Klimas wegen – Vater war an Tuberkulose erkrankt – in eine feudale Villa nach Pau gezogen waren, zu der ein prächtiger Garten mit Pinien, Zypressen und Palmen gehörte. Hier und im Umkreis der großen englischen Kolonie hatten sie und ihre vier Jahre ältere Schwester Ione eine behütete Kindheit verbracht, umgeben von Kindermädchen, Hauslehrern und Dienstboten. Früh schon lernten sie, dass es ein großes Privileg war, zum schottischen Buchanan-Clan zu gehören, der sich über England in die ganze Welt verzweigt und zwei Söhne in seiner Geschichte hatte, die jeder Buchanan kennen musste: den Humanisten George Buchanan, der den großen französischen Philosophen Michel de Montaigne unterrichtet hatte und den rund dreihundert Jahre jüngeren James Buchanan, der 1857 zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden war.

 

 

DER FÜNFJÄHRIGE FREDDY DRILHON
KURZ NACH DEM VERLASSEN DES SPITALS,
Paris 1931.

 

Als der Schaffner zur Abfahrt pfiff und der Zug kurz darauf die Gare Montparnasse verließ, musste Janetta an ihre ältere Schwester Ione denken. Beide hatten sie in Pau die englische Schule besucht, mit ihrem Vater früh schon alpinistische Exkursionen in die Pyrenäen unternommen und bis ins kleinste Detail gelernt, wie man sich an Empfängen und Teegesellschaften zu geben hatte. Janetta war elf und Ione fünfzehn Jahre alt, als sie ihre Eltern zum Empfang des englischen Königs Edward VII. ins noble Hôtel Gassion begleiten durften, wo der König und seine Entourage dinierten. Seine Majestät war nach Pau gekommen, um die rund achttausendköpfige Kolonie seiner Landsleute zu besuchen und einem Flug des einmotorigen Flugapparates der amerikanischen Brüder Wilbur und Orville Wright beizuwohnen.

Für den kleinen Freddy war die Eisenbahnfahrt in den französischen Süden nach den langen Wochen in der Clinique und der Rehabilitation ein ganz besonderes Erlebnis. Fasziniert betrachtete er die vorbeifliegende Landschaft. Er strahlte seine Mutter an. Diese freute sich darüber und musste daran denken, wie sie die gleiche Strecke in ihrer Kindheit und Jugend öfters mit ihrer Mutter Ethel gefahren war.

Für Ethel Buchanan-Gawler war die künstlerische Erziehung ihrer Töchter genauso wichtig gewesen wie die schulische. Bereits in der Grundschule erhielten Ione und Janetta bei der bekannten Opernsängerin Albertine Chrétien-Vaguet Stimm- und Gesangsunterricht, mussten zweimal wöchentlich in die Klavier- und in die Zeichenstunde. Zu einem Schlüsselerlebnis für Janetta wurde ihre Begegnung mit dem englischen Konzertpianisten Godfrey Luard, der zum Freundeskreis ihrer Eltern gehörte. Der bekannte Künstler, der mit seinen virtuosen Händel- und Bachinterpretationen vor Queen Victoria gespielt hatte, machte die Elfjährige zu seiner Assistentin. Sie hatte bei seinen Auftritten die Notenseiten im richtigen Moment umzublättern und erhielt dafür Unterrichtsstunden. Dabei entdeckte Luard Janettas musikalisches Talent, die 1912 mit beeindruckendem Prüfungsergebnis den Reifegrad des öffentlichen Auftritts erlangte. Großartige Vorstellung für einen Mann von einundachtzig Jahren, kommentierte Ethel Buchanan ein Klavierkonzert des großen Camille Saint-Saëns in ihrem Tagebuch. Einzig seine Ausführung der Chopin-Etüde enttäuschte mich, sie war steif und kalt. Wenn ich mir vorstelle, wie Janetta dieses wunderbare Chopin-Stück spielt! Ich glaube nicht, dass ich bei diesem Vergleich voreingenommen bin – obwohl ich Janettas Mutter bin!!

Wie Janetta in der Musik, entfaltete ihre Schwester Ione ein besonderes Talent im Zeichnen, das ihre Mutter, die eine große Leserin war und mit dem Schriftsteller Rudyard Kipling korrespondierte, mit ebenso renommierten Lehrern zu fördern begann.

Den ersten schweren Schicksalsschlag ihres Lebens erfuhr Janetta am 13. Juni 1913, als ihr Vater Robert Lorne unerwartet an Herzversagen starb. Ein halbes Jahr später verkaufte Ethel Buchanan die große Villa in Pau und zog mit ihren Töchtern nach Nizza, wo man die schwierigen Jahre des Ersten Weltkriegs verbrachte. Auch hier legte die Mutter größte Aufmerksamkeit auf die künstlerische Entwicklung ihrer Töchter und verpflichtete die besten Privatlehrer vor Ort. Im Fall von Janetta war es der bekannte Pianist Albert Ribollet, der ihr eine glanzvolle Laufbahn voraussagte, bei Ione war es der russische Maler Sergeji Alexandrov Mako, der sie in den Kreis seiner Schüler aufnahm.

 

 

JANETTA UND IONE BUCHANAN (rechts) IN NIZZA, um 1914.

 

Im Bahnhof Bordeaux-Saint-Jean mussten Janetta und Freddy eine Stunde auf ihren Anschlusszug nach Pau warten. Deshalb setzten sie sich in eines der Cafés in Bahnhofsnähe, wo Janetta ihrem Sohn von England erzählte, von der bezaubernden Landschaft des Südens und ihrer Mutter, die seit einigen Jahren wieder in London lebte und sie bald besuchen wollte. Wie immer, wenn sie in Bordeaux war, musste Janetta auch an ihre Zeit als freiwillige Krankenschwester im Krieg denken. Zusammen mit Ione hatte sie ein paar Monate im großen Lazarett von Bordeaux Dienst getan. Schreckliche Bilder hatten sie dabei gesehen.

Ach, warum nur ist es nicht möglich, zu leben und zu lieben?, hatte die zwanzigjährige Janetta im Sommer 1917 an die Familie eines gefallenen englischen Cousins geschrieben. Ihre Mutter Ethel verfolgte den Verlauf des Krieges sehr genau und protokollierte ihre Gedanken im Tagebuch. Dabei bemühte sie sich anfänglich um Sachlichkeit und Zurückhaltung, die sie allerdings aufgab, als das deutsche Kommando am 22. April 1915 im belgischen Ypern erstmals giftiges Chlorgas einsetzte. Diese grauenhafte Waffe ist bestialisch, schrieb sie drei Tage später. Menschen, die so etwas erfinden und anwenden, sind unmenschliche Barbaren! Die gebildete Ethel verstand nicht, wie das Volk, aus dem große Geister wie Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven hervorgegangen waren, der militärischen Arroganz und Brutalität einer schmalen und herrschsüchtigen Führungsschicht verfallen konnte. Aber es kam noch schlimmer: Zwischen 1915 und 1918 verlor sie auf den Schlachtfeldern Europas vier ihrer englischen Neffen. Jedes Jahr einer von uns, schrieb sie am 1. November 1918. Jolin, Willie, Jack und jetzt Jim! Die Deutschen sind Hunnen und Barbaren!

Trotz ihres Umzugs nach Nizza blieben Janetta, Ione und ihre Mutter sehr verbunden mit dem geliebten Pau. Jedes Jahr besuchten sie hier ihre alten Freunde und Bekannten. Einer davon war der renommierte Arzt und Forscher Henri Meunier, der nach dem frühen Tod seiner Frau Mitte Juli 1915 die ebenfalls verwitwete Marie Jeanne Drilhon heiratete. Am Hochzeitsfest schenkte Ethel Buchanan der Braut drei edle Türkissteine, und Janetta lernte Madame Drilhons siebzehnjährigen Sohn Robert kennen, der neun Jahre später um ihre Hand anhalten sollte.

Nach fast siebenstündiger Fahrt trafen Janetta und der kleine Freddy am späten Nachmittag des 10. September 1931 am Bahnhof von Pau ein. Von einem Taxi ließen sie sich in die Rue Bayard chauffieren, wo Henri und Marie Jeanne Meunier-Drilhon ein großzügiges Haus mit Garten bewohnten. Bis Weihnachten sollte sich Freddy hier von den Strapazen der letzten Monate erholen und wieder zu Kräften kommen. Der Bub freute sich sehr auf die Zeit bei seinen Großeltern, ihren witzigen Chauffeur Albert und den großen Garten, in dem es Hühner hatte, die er füttern durfte.

Aus den sieben Wochen wurden insgesamt acht Jahre. Der aufgeweckte Bub wuchs seinen Großeltern so sehr ans Herz, dass sie seinen Aufenthalt immer wieder verlängerten. Die Eltern in Paris waren froh um diese Entlastung und nahmen mit Erleichterung zur Kenntnis, dass der Heilungsprozess von Freddys lädiertem Knie gut voranschritt. Nach einer weiteren Operation, bei der die beim Unfall durchtrennten Muskeln wieder verbunden wurden, konnte der Siebenjährige im Herbst 1933 unbekümmert herumspringen und auch wieder auf Bäume klettern.

 

 

FREDDY AM STRAND VON HENDAYE, 1934.

 

Die Schulzeit begann Freddy in Pau. Den vielbeschäftigten Vater sah er zwischen 1932 und 1936 nur ein paarmal. Seine Mutter und die drei Schwestern hingegen kamen jeden Sommer für vier Wochen nach Osse im nahen Vallée d’Aspe, wo Janettas Mutter ein Landhaus besaß. Freddy konnte diese Familienferien jeweils kaum erwarten. Am meisten freute er sich auf seinen fünf Jahre älteren Cousin Ivan, Tante Iones Sohn, der in Begleitung von Granny Ethel jeweils aus London anreiste. Der Höhepunkt der Sommerferien waren die Tage im Strandhotel von Hendaye, in dem man sich für ein paar Tage einmietete. Ein festes Ritual der langen Sommerferien war auch der Besuch des kleinen Friedhofs von Saint Savin in der Nähe von Lourdes, auf dem Janettas Vater Robert und ihre Schwester Ione begraben waren. Jedes Jahr legten die Kinder zwei große Blumensträuße auf die beiden Gräber und jedes Jahr sah Freddy seine Mutter hier in Tränen.

Erst als junger Mann erfuhr Freddy die Ursache des frühen Todes seiner Tante Ione. Die talentierte Malerin war fünf Tage nach der Geburt ihres Sohnes Ivan an den Folgen einer postnatalen Infektion gestorben. Der Vater des Kindes war der bereits verheiratete russische Maler Sergeji Mako, ihr Lehrer, mit dem Ione gegen den Willen ihrer Mutter eine Beziehung hatte. Der Tod ihrer geliebten Schwester hatte Janetta in eine schwere Lebenskrise gestürzt. Die Welt erscheint mir so schrecklich kalt und leer, schrieb sie an eine Freundin. Was mir einzig bleibt, ist der Trost, dass unser Leben nichts als ein Vorspiel jenes anderen, sehr viel geheimnisvolleren und schöneren Lebens im Jenseits ist. Sie gab ihre Ausbildung an der renommierten Ecole de Piano in Surnèses bei Paris auf und kümmerte sich nur noch um Iones Sohn Ivan. Zwei ganze Jahre vergrub sich Janetta in ihrer Trauer, aus der sie erst der Heiratsantrag von Robert Drilhon erlöste.

In den ersten Jahren bei seinen Großeltern in Pau vermisste Freddy seine Eltern sehr. Der Bub war sehr traurig nach Eurer Abreise, schrieb Großmutter Meunier im Herbst 1934 nach Paris, er würde Euch alle – vor allem auch seinen Vater – sehr gerne viel öfter sehen. Doch dazu kam es nicht. Liebe Eltern, bettelte der neunjährige Freddy im Frühling 1935, Ihr müsst kommen, alle, Maman, Papa und die Schwestern! Großmaman beklagt sich Tag und Nacht, dass ihr uns die ganze Zeit allein lasst, und sie sagt, dass ihr, ohne es zu merken, grausam seid. Weiter sagt sie, dass Zärtlichkeiten sehr viel heilsamer seien als die Geschenke, die ihr manchmal schickt.

Im Herbst 1936 kam Freddy zurück in seine Familie nach Paris. Der Abschied von seinen Großeltern und Klassenkameraden fiel ihm schwer, trotz der Vorfreude auf das Wiedersehen mit seiner Familie. In seiner neuen Schule in Paris fand er sich schnell zurecht, in seiner Familie jedoch nicht. Er fühlte sich einsam und isoliert und vermisste die wohlige Wärme und den herzlichen Umgangston seiner Großeltern in Pau. Die Wutanfälle seines Vaters waren umso heftiger, als seine Mutter sie einfach geschehen ließ und schwieg. Eines Abends erschien Freddy, der die Zeit vergessen hatte, nicht wie gewohnt zum Essen. Der erzürnte Vater ließ ihn im ganzen Haus suchen. Weil er sich im verbotenen Dienstbotentrakt aufhielt, bestrafte ihn der Vater mit drei Tagen Zimmerarrest. Doch die harte Strafe bewirkte nur, dass sich Freddy noch mehr vor seinem Vater fürchtete und sich mit heimlichen Diebstählen an ihm zu rächen begann. Erst war es ein wertvoller Aschenbecher aus dem Rauchsalon, dann zwei silberne Serviettenringe aus der Salle à manger und schließlich eine kleine indische Shiva-Statue, die Janetta an ihre frühe Kindheit in Darjeeling erinnerte. Der Verdacht fiel gleich auf den introvertierten Freddy. Der Vater durchsuchte eigenhändig das Zimmer des Jungen und fand die kleine Shiva-Statue unter dem Bett. Es setzte Ohrfeigen. Unter Tränen gestand Freddy, dass er den Aschenbecher und die beiden Silberringe in die Seine geworfen habe. Robert und Janetta waren entsetzt. Jetzt müsse ein Exempel statuiert werden, schäumte Robert und strich Freddy sämtliche Weihnachtsgeschenke.

Im Sommer 1937 brachte die verzweifelte Janetta den elfjährigen Freddy erneut zu seinen Großeltern nach Pau. Mit seinem letzten Streich hatte der Bub seinen cholerischen Vater endgültig zur Weißglut getrieben. Freddy hat sich erholt, schrieb Großmutter Marie Jeanne ein paar Wochen später nach Paris, ist wieder sehr viel ruhiger geworden. Offenbar ist es sein eigensinnig-widerständiger Geist, der ihn immer wieder revoltieren lässt. Mir scheint, dem überaus sensiblen Buben fehlt die starke Hand eines Menschen, der ihn wirklich liebt.

Großmutter Marie Jeanne und ihr Mann Henri Meunier hatten großes Verständnis für Freddys Krisen. Beiden war früh schon klar, dass der Bub die Geborgenheit und Zuneigung seiner Eltern suchte. Ich denke, versuchte die Großmutter seinen Eltern klarzumachen, dass Freddy sehr glücklich wäre, wenn Ihr ihm schreibt. Er befürchtet nämlich, dass Ihr ihn nicht mehr liebt und ihm nicht verzeiht. Wenn Gott uns vergibt, habe ich Freddy gesagt, müssen auch wir Menschen uns gegenseitig vergeben können!

 

 

EINER DER SELTENEN ELTERNBESUCHE IN PAU. Vorne sitzend: ROBERT DRILHONS MUTTER MARIE JEANNE MIT IHREM ZWEITEN MANN HENRI MEUNIER; in der Mitte von links: GERDA, ANNETTE, FREDDY UND LORNA; hinten JANETTA UND ROBERT DRILHON, Pau 1938.

 

Freddy wollte alles tun, um sich mit seinen Eltern zu versöhnen. In regelmäßigen Abständen schickte er ihnen lange Briefe, die aber nur gelegentlich beantwortet wurden. Seit ich ein Fahrrad habe, berichtete er im Frühling 1939, bin ich glücklich wie ein Prinz. Ich gehe für Euch die Berge anschauen, die von Schnee bedeckt sind. Großmaman geht es gut, und ich bin brav. Wenn ihr es nicht glaubt, kommt und überzeugt Euch! Der Bub habe seine innere Stabilität nun vollends wiedergefunden, schrieb Großmutter im Sommer 1939 nach Paris, und auch seine Schulzeugnisse seien gut. Freddy sei ein sehr wissensdurstiger Schüler, bemerkte sein Lehrer im Zeugnis, habe das Temperament eines Künstlers – mit großen Qualitäten, aber auch mit Kanten. Abgesehen von seinem kleinen Hang zur Träumerei, so Großmutter, kann ich gar nichts Negatives über ihn sagen! Im Gegenteil: Er ist sehr lustig, singt den ganzen Tag und ist mein geschätzter Compagnon. Überhaupt: Freddy ist sehr ein anhänglicher Junge, großzügig und sehr intelligent.

Der auf Anfang September 1939 anberaumte Versöhnungsversuch zwischen Robert Drilhon und seinem Sohn wurde von Adolf Hitler vereitelt. Am 1. September marschierten deutsche Truppen in Polen ein, und zwei Tage später erklärten Frankreich und England dem Aggressor den Krieg. Von einem Tag auf den anderen musste Reserveoffizier Robert Drilhon einen Leitungsposten in der Sprengstofffabrik Pouderie de Saint-Médard in Bordeaux besetzen. Zweiundzwanzig Jahre nach seinem enthusiastischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg, in dem er einen deutschen Gasangriff in Flandern nur knapp überlebt hatte, zog der vierzigjährige Robert Drilhon pflichtbewusst und das Ärgste befürchtend in den zweiten großen Krieg seines Lebens.

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