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Die Zeit der Weihnachtsschwestern

Als Buch hier erhältlich:

Weihnachten heißt, nach Hause zu kommen …

Suzanne McBride hat nur einen Weihnachtswunsch: ihre drei Töchter in ihrem Haus in den schottischen Highlands bei sich zu haben. Und tatsächlich: Posy, Hannah und Beth – so unterschiedlich wie die Plätzchen in der Keksdose – wollen sich wieder unter einer Tanne treffen. Suzanne ist entschlossen, ihnen das perfekte Weihnachtsfest zu bescheren … bis eine Grippe sie ans Bett kettet. Jetzt müssen die Schwestern einspringen. Während die eine oder andere dabei das Fest der Liebe sogar von seiner romantischen Seite kennenlernt, treten bei allen verborgene Geheimnisse und Konflikte ans Tageslicht. Bald wird ihnen klar: Wenn Weihnachten gelingen soll, müssen die McBride-Frauen erst das verlorene Band ihrer Familie wiederfinden …

»Die perfekte Wohlfühllektüre im schottischen Gewand.«
Veronica Henry

»Das perfekte Geschenk für Fans von warmherzigen Geschichten über Schwestern und Liebe.«
Booklist

»Die Geschichte ist gut geschrieben und so mitreißend, dass man sich mit dem Buch […] und ein paar gebackenen Plätzchen einen gemütlichen Nachmittag machen kann.«
Delmenhorster Kreisblatt, 26.11.2020


  • Erscheinungstag: 16.09.2019
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745700350

Leseprobe

Für die wundervolle Lisa Milton,

mit Liebe und Dank.

Kapitel 1

Suzanne

Es gibt gute Jahrestage und schlechte Jahrestage. Dieser war ein schlechter, und Suzanne beging ihn mit einem Albtraum.

Wie es in ihren Träumen häufiger vorkam, war sie begraben. Sie konnte sich nicht bewegen, war gefangen unter einer zentnerschweren Last. Sie hatte Schnee im Mund, in der Nase und in den Ohren. Sein Gewicht und der Druck lasteten auf ihr. Wie tief war sie vergraben? Wo war oben? Würde irgendjemand nach ihr suchen?

Sie versuchte zu schreien, doch da kam nichts, nichts …

»Suzanne …«

Jemand rief ihren Namen. Sie konnte nicht antworten. Konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht atmen. Ihre Brust zog sich zusammen.

»Suzanne!«

Sie hörte die Stimme durch die Dunkelheit und die Panik hindurch.

»Du träumst.«

Sie spürte etwas an ihrer Schulter, und diese Berührung riss sie aus ihrem eisigen Grab zurück in die Realität. Sie setzte sich auf, fasste sich an den Hals und rang nach Luft.

»Ist gut«, sagte die Stimme. »Alles ist gut.«

»Ich hatte … einen Traum. Den Traum.« Er war so real gewesen, dass sie beinahe erwartete, in Schnee zu fassen und nicht in die zerwühlten Bettlaken.

»Ich weiß.« Die Stimme gehörte Stewart, der ihr sanft über den Rücken strich. »Du hast geschrien.«

Jetzt erst bemerkte sie, dass sein Gesicht ganz bleich und sein Mund sorgenvoll verzogen war.

Sie beide hatten eine Routine für diese Situation entwickelt, sie aber lange nicht mehr anwenden müssen.

»Es war so lebendig. Ich war dort

Stewart schaltete die Lampe ein. Sanftes Licht breitete sich im Schlafzimmer aus, erhellte die dunklen Ecken und wischte die letzten Ausläufer des Albtraums fort. »Du bist in Sicherheit. Sieh dich um.«

Suzanne, die in ihrer Vorstellung noch immer unter einer Schneedecke begraben war, sah sich um.

Da war kein Schnee. Keine Lawine. Nur ihr warmes, gemütliches Schlafzimmer in Glensay Lodge, wo die Überreste eines Feuers im Kamin glommen und die Dunkelheit der endlosen Winternacht durch eine Lücke zwischen den Vorhängen schimmerte. Sie hatte die Vorhänge selbst aus einem kostbaren Tartan-Stoff genäht, den sie bei ihrem ersten Besuch in Schottland entdeckt hatte. Stewarts Mutter hatte behauptet, dass es ihr Familien-Tartan wäre, doch Suzanne interessierte eher, dass diese Vorhänge in kühlen Nächten die Kälte abhielten und den Raum gemütlich wirken ließen.

Auf einem Tisch neben dem Fenster stand eine Flasche Single Malt Whisky aus der hiesigen Destillerie, daneben Stewarts leeres Glas.

Da war ihr Lieblingssessel mit den weichen, zerknautschten Kissen. Ihr Buch, ein Roman, der sie nicht wirklich fesselte, lag geöffnet neben ihrem Strickzeug. Gestern war eine neue Lieferung Wolle eingetroffen, und die Farben hatten sie begeistert. Tiefe Lila- und Blautöne, daneben weichere Schattierungen von Heidefarben und Cremetönen. Alle waren sie geeignet, die winterliche Farbpalette von Weiß und Grautönen draußen vor dem Fenster aufzufrischen. Der Gedanke daran machte sie fröhlich. Wenn es wärmer war, ging sie gerne frühmorgens spazieren und betrachtete die Heide, während sich die Sonne durch den Frühnebel kämpfte.

Und da war Stewart. Stewart mit seinen freundlichen Augen und der unendlichen Geduld. Stewart, der seit mehr als drei Jahrzehnten an ihrer Seite war.

Sie befand sich in den schottischen Highlands, Zehntausende Kilometer entfernt von den eisigen Flanken des Mount Rainier. Dennoch hing der Traum wie eine frostige Wolke über ihr und trübte ihre Gedanken.

»Ich hatte diesen Traum seit über einem Jahr nicht mehr.« Ihre Stirn war feucht vor Schweiß, und das Nachthemd klebte an ihrem Körper. Sie nahm das Glas Wasser, das Stewart ihr reichte.

Das Wasser beruhigte und kühlte ihre wunde Kehle, doch ihre Hand bebte so sehr, dass sie ein wenig davon über die Bettdecke verschüttete. »Wie kann jemand nach fünfundzwanzig Jahren immer noch Albträume haben?« Sie wollte einfach nur vergessen, doch ihr Körper ließ das nicht zu.

Stewart nahm ihr das Glas ab und stellte es auf den Nachttisch. Dann zog er sie in seine Arme. »Die Vorweihnachtszeit ist eben manchmal anstrengend.«

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und fühlte sich getröstet von seiner Wärme. Kein Schnee und Eis, sondern Fleisch und Blut.

Leben.

»Ich liebe diese Zeit im Jahr, weil die Mädchen zu Hause sind.« Sie schlang den Arm um seine Mitte und wünschte, sie könnte aufhören zu zittern. »Letztes Jahr hatte ich den Traum nicht ein einziges Mal.«

»Bestimmt hat der Anruf von Hannah ihn ausgelöst.«

»Es war aber ein gutes Gespräch. Sie kommt zu den Feiertagen nach Hause. Das sind die schönsten Neuigkeiten. Kein Grund für schlechte Träume.«

Sie hatte genug davon, nach der Schuld für ihren Albtraum zu suchen. Die arme Hannah hatte vermutlich ihre eigenen Sorgen.

Stewart hatte recht: Diese Zeit des Jahres war nie einfach.

»Es ist schon einige Jahre her, dass Hannah, Beth und Posy zusammen hier waren.«

»Und ich freue mich.« Die Aussicht hob ihre Laune. »Es wird besonders schön, weil Hannah es letztes Jahr nicht geschafft hat.«

»Was die Erwartungen hebt.« Stewart klang müde. »Setz sie nicht unter Druck, Suzanne. Es ist schwer für sie, und am Ende bist du wieder verletzt.«

»Ich werde nicht verletzt sein.« Sie wussten beide, dass das eine Lüge war. Jedes Mal, wenn sich Hannah von ihrer Familie distanzierte, schmerzte es. »Ich möchte sie glücklich sehen, das ist alles.«

»Der einzige Mensch, der Hannah glücklich machen kann, ist Hannah selbst.«

»Das hält mich nicht davon ab, ihr helfen zu wollen. Ich bin ihre Mutter.« Sie fing seinen Blick auf. »Ich bin ihre Mutter.«

»Ich weiß. Und wenn du meine Meinung hören willst, kann sie von Glück reden, dich zu haben.«

Glück? In den frühen Lebensjahren der Mädchen hatte es kein Glück gegeben. Erst hatte Suzanne Angst gehabt, dass die Ereignisse in Hannahs Kindheit ihr Leben ruiniert hatten. Doch dann begriff sie, dass es in ihrer Verantwortung lag, das zu verhindern.

Sie hatte alles Menschenmögliche getan, um die Vergangenheit geradezubiegen und die Zukunft zum Guten zu wenden. Sie wollte nur das Beste für ihre Töchter, doch die Bürde war groß. Sie lastete auf ihr, und an manchen Tagen zerbrach sie fast daran. Und Stewart hatte sie die Bürde ebenfalls aufgelastet.

Die Schuld der Überlebenden.

»Ich befürchte, dass ich nicht genug getan habe. Oder dass ich es nicht richtig getan habe.«

»Ich bin sicher, dass alle Eltern von Zeit zu Zeit so denken.«

Suzanne setzte die Füße auf den Boden und war erleichtert, aufstehen zu können. Zu gehen. Zu atmen. Die Sonne aufgehen zu sehen. Sie kreiste mit den Schultern und bemerkte, dass sie schmerzten. Sie war im Sommer achtundfünfzig geworden, und in diesem Moment fühlte sie jedes dieser Jahre. War der Schmerz real oder eine Erinnerung? »Der Traum war schlimm. Ich war wieder dort.«

Erstickend in einem luftlosen Grab aus Schnee.

Stewart stand ebenfalls auf. »Er wird verblassen.« Er griff nach seinem Bademantel. »Ich werde dich nicht fragen, ob du darüber sprechen möchtest, weil du das ja nie tust.«

Das war dieses Mal nicht anders.

Sie konnte die Albträume nicht verhindern, doch sie konnte dafür sorgen, dass die Dunkelheit nicht in ihre wachen Stunden drang. Das war ihre Art, die Kontrolle zurückzugewinnen. »Du solltest wieder schlafen.«

»Wir wissen beide, dass wir keinen Schlaf mehr finden, wenn du einen deiner Träume hattest. Und wir müssen sowieso in einer Stunde aufstehen.« Sein Haar stand an einer Seite ab, und seine Augen waren gezeichnet von Müdigkeit. »Es hat sich für heute Morgen eine Gruppe von zwanzig Leuten im Adventure Centre angemeldet. Es wird viel los sein. Da kann ich genauso gut früh starten.«

»Haben sie Vorkenntnisse?«

»Nein. Eine Outdoor-Abenteuerwoche als Schulfest.«

Angst erfasste sie. Instinktiv wollte sie ihn bitten, nicht zu gehen, doch das hätte bedeutet, der Furcht nachzugeben. Es hätte außerdem bedeutet, Stewart von etwas abzuhalten, das er liebte, und das würde sie nicht tun. »Sei vorsichtig.«

»Das bin ich immer.« Stewart küsste sie und ging zur Tür. »Kaffee?«

»Bitte.« Der Gedanke daran, im Bett zu bleiben, reizte sie nicht. »Ich dusche rasch und fange dann mit den Planungen an.«

»Mit welchen Planungen?«

»Nur ein Mann kann das fragen. Meinst du, Weihnachten feiert sich von allein?« Sie band ihren Bademantel zu. Aus Erfahrung wusste sie, dass Aktivität die beste Methode war, die Schatten aus ihrem Kopf zu vertreiben. »Es sind nur noch ein paar Wochen bis Heiligabend. Ich möchte alles fertig vorbereitet haben, damit ich so viel Zeit wie möglich mit unseren Enkelinnen verbringen kann. Ich dachte, ich kaufe noch ein paar Spiele, falls das Wetter schlecht ist. Ich möchte nicht, dass sie sich langweilen. Sie haben in Manhattan so viel zu tun.«

»Wenn sie sich langweilen, können sie bei den Tieren helfen. Sie können mit Posy die Hühner füttern oder die Schafe zusammentreiben. Und sie können auf Socks reiten.«

Socks war Posys Pony. Inzwischen achtzehn Jahre alt, erfreute es sich auf den Wiesen rund um die Lodge eines wohlverdienten, heureichen Ruhestands.

»Beth macht es nervös, wenn sie reiten.«

Stewart schüttelte den Kopf. »Beth machen eine Menge Dinge nervös. Sie ist überfürsorglich, das wissen wir beide. Kinder zerbrechen nicht so leicht.«

»Als ob du nicht der besorgteste Vater auf Erden gewesen wärst. Vor allem bei ihr.«

Er lächelte verlegen. »Posy war wie ein Hüpfball, Beth dagegen so ein zerbrechliches kleines Ding.«

»Sie war immer ein Papakind. Und wenn sie jetzt eine überfürsorgliche Mutter ist, dann wissen wir beide, warum.«

»Ich habe ja nicht gesagt, dass ich es nicht nachvollziehen kann, aber man muss den Kindern ihren Spaß lassen. Sie die Welt entdecken lassen. Fehler machen lassen. Ihr Leben leben lassen.«

»Leichter gesagt als getan.« Suzanne wusste, dass sie ebenfalls überfürsorglich war. »Ich werde versuchen, Beth davon zu überzeugen, die Mädchen reiten zu lassen. Und wenn das Wetter schlecht ist, können sie in der Küche helfen. Wir könnten zusammen backen.«

»Ich habe einen ganz verrückten Vorschlag …« Stewart griff nach seinem leeren Whiskyglas vom gestrigen Abend. »Warum gehst du es dieses Jahr nicht ganz entspannt an, statt alles zu planen und dich verrückt zu machen? Hör auf, dich so anzustrengen.«

Suzanne blieb der Mund offen stehen. »Meinst du, das Essen zaubert sich allein auf den Tisch? Meinst du, der Weihnachtsmann liefert die Geschenke immer schon fertig eingepackt?«

Aber sein Kommentar war so typisch für ihn, dass sie lachen musste. Auf einen Außenstehenden würden sie vermutlich lächerlich altmodisch wirken, doch ihr Leben war genau so, wie sie es haben wollte.

»Ich muss dir sagen, dass der Weg zur Entspannung über gute Planung führt. Ich möchte, dass es etwas Besonderes wird.«

Sie ging zum Fenster, zog die Vorhänge zurück und lehnte die Stirn gegen das kühle Glas. Vom Schlafzimmerfenster aus konnte sie direkt hinunter auf das Glen sehen. Der Schnee, der das Mondlicht reflektierte, leuchtete hell und funkelte auf der eisigen Oberfläche des Sees, um den sich ein verschneiter Wald erstreckte, und dahinter erhoben sich die Berge, die mit ihrer gewaltigen Schönheit alles überragten.

Obwohl sie um die Gefahr wusste, die auf den schneebedeckten Gipfeln lauerte, fühlte sie sich immer noch von ihnen angezogen. Sie könnte nie an einem Ort leben, an dem es keine Berge gab. Allerdings ging sie im Winter nicht mehr klettern. Stewart und sie unternahmen in der kalten Jahreszeit kleine Wanderungen und im Frühjahr und Sommer, wenn der Schnee zurückging, längere und anspruchsvollere Touren.

»War es egoistisch von uns, hierherzuziehen? Hätten wir in einer Stadt wohnen sollen?«

»Nein. Und du musst aufhören, so zu denken.« Seine Stimme klang rau. »Es liegt am Traum. Du weißt, dass es am Traum liegt.«

Das stimmte. Sie lebte gerne hier, in diesem Land von Nebel und Bergen, von Seen und Sagen.

»Ich mache mir Sorgen um Hannah.« Sie drehte sich um. »Darum, was dieser Besuch bei uns in ihr auslöst.«

»Ich mache mir vielmehr Sorgen, was ihre Anwesenheit bei dir auslöst. Vielleicht werde ich von den Geistern der letzten Weihnacht verfolgt.« Er stellte das leere Glas ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Du musst sie loslassen, Suzy. Du kannst nicht alles heilen, auch wenn ich weiß, dass du niemals aufhören wirst, es zu versuchen.« Das Licht milderte seine strengen Gesichtszüge und ließ ihn jünger wirken.

Seine Arbeit hielt ihn fit und schlank, und an manchen Tagen sah er kaum wie fünfzig, geschweige denn wie sechzig aus. Den einzigen Hinweis auf sein Alter gab der Hauch von Silber in seinem Haar – das gleiche Silber, das sich auch in ihrem Haar zeigen würde, hätte sie sich nicht entschieden, etwas künstliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Sie hatten sich ineinander verliebt, als sie gemeinsam als Bergführer arbeiteten und das Leben ein einziges großes Abenteuer zu sein schien. Damals hatte für sie nur der nächste Aufstieg gezählt. Der nächste Gipfel. Seitdem waren sie immer zusammen gewesen, und die meiste Zeit verlief ihr Leben in einem gemütlichen Rhythmus. Einem Rhythmus, der zu dieser Jahreszeit aus der Bahn geriet.

Die Vergangenheit verschwindet nie, dachte sie. Erinnerungen verblassten, und manchmal schienen sie wenig mehr als ein Schatten zu sein, doch sie waren immer da.

»Ich werde das Haus so einladend wie möglich herrichten. Hannah arbeitet so viel.«

»Du auch. Dein Leben dreht sich nicht nur um die Kinder, Suzanne. Du betreibst ein erfolgreiches Geschäft, und zu dieser Zeit herrscht Hochsaison im Café.«

»Jetzt hast du mich daran erinnert, dass ich noch vierzig Strümpfe stricken muss, um Spenden für das Bergrettungsteam zu sammeln. Danke, dass du mich unter Stress setzt.«

Stewart grinste und nahm seine Kleidung von dem Sessel, wo er sie am Vorabend abgelegt hatte. »Oh, das würde ich gerne sehen. Wie die anderen Jungs Strümpfe tragen. Dann mache ich ein Foto und poste es auf unserer Facebook-Seite.«

Suzanne verzog das Gesicht. »Sie sind nicht zum Anziehen, du Blödmann, wir werden sie mit Geschenken befüllen und diese dann verkaufen. Und bevor du dich lustig machst, weise ich dich darauf hin, dass der Gewinn von den letzten Weihnachtsstrümpfen dem Team ein neues Lawinensuchgerät eingebracht und diese moderne Trage mitfinanziert hat, die ihr benutzt.«

»Ich weiß.«

»Warum sagst du …«

»Ich ziehe dich gern auf. Ich mag deinen Gesichtsausdruck, wenn du dich aufregst. Du machst dann einen Schmollmund und hast diese niedlichen kleinen Fältchen und – au!« Er duckte sich, als sie den Raum durchquerte und ein Kissen nach ihm warf. »Hast du das gerade wirklich getan? Wie alt bist du denn?«

»Alt genug, um perfekt zu zielen.«

Er warf das Kissen zurück aufs Bett, ließ seine Kleidung wieder auf den Sessel fallen und stürzte sich auf Suzanne.

Mit einem kurzen Aufschrei landete sie auf der Matratze.

»Stewart!«

»Was?«

»Wir haben Dinge zu erledigen.«

»Das haben wir tatsächlich.« Er senkte den Kopf, und das Letzte, was sie vor seinem Kuss sah, waren seine lachenden blauen Augen.

Als sie zum zweiten Mal aufstanden, drang das erste schwache Sonnenlicht in den Raum.

»Jetzt komme ich zu spät.« Stewart eilte ins Badezimmer. »Du bist schuld.«

»Und ich bin schuld, weil …?«

Doch er war schon unter der Dusche und summte unmelodisch, während das Wasser auf ihn herabprasselte.

Suzanne lag einen Moment da, benommen und zufrieden. Der Traum war längst vergessen.

Sie wusste, dass sie mit den Strümpfen anfangen sollte.

Stricken war die perfekte Entspannung, auch wenn sie Jahre gebraucht hatte, um das zu entdecken.

Bis zu ihren Dreißigern hatte sie nie gestrickt.

Am Anfang hatte sie mit der Handarbeit ihrer Liebe für die Mädchen Ausdruck verliehen. Sie hatte ihnen etwas zum Anziehen geschenkt und sie in warme Kleidungsstücke gehüllt. Wenn sie zu Nadeln und Wolle griff, hatte sie nicht nur einen Pullover geschaffen, sondern ihre zerbrochene Familie zusammengestrickt, hatte verschiedene Fäden aufgenommen und sie in etwas Ganzes verwandelt.

Stewart kam aus der Dusche und rubbelte mit einem Handtuch sein Haar trocken. »Möchtest du, dass ich auf dem Heimweg einen Weihnachtsbaum aussuche?«

»Posy sagte, dass sie das tun würde. Ich dachte, wir warten noch ein paar Tage. Ich möchte nicht, dass die Nadeln schon vor Weihnachten abfallen. Wie viele Bäume wollen wir dieses Jahr haben? Ich dachte an einen für das Wohnzimmer, einen für den Flur, einen für das Fernsehzimmer. Vielleicht einen für Hannahs Zimmer.«

»Bist du sicher, dass du keinen für die Stiefelkammer haben möchtest? Und wie steht es mit dem Badezimmer unten?«

Sie musterte ihn. »Hier liegen noch eine Menge Kissen auf dem Bett, mit denen ich dich bewerfen kann.«

Doch er hatte sie von ihrem Albtraum abgelenkt. Sie wusste, dass er genau das beabsichtigt hatte, und dafür liebte sie ihn.

»Ich meine nur, dass du vielleicht ein paar Bäume im Wald lassen solltest.« Er warf das feuchte Handtuch über die Sessellehne. Als er ihren Blick auffing, brachte er es stattdessen ins Badezimmer. »Jedes Jahr reißt du dir ein Bein aus, um dieses Haus in eine Mischung aus Winterwunderland und Wichtelwerkstatt zu verwandeln.« Er kleidete sich rasch an, zog sich die vielen Schichten seiner Kleidung über, die seine Arbeit erforderte. »Du hast große Erwartungen, Suzanne. Es ist nicht leicht, dem gerecht zu werden.«

»Ich bestreite ja nicht, dass die Stimmung ein bisschen angespannt sein kann, wenn die Mädchen zusammenkommen.«

»Sie sind Frauen, keine Mädchen, und ›ein bisschen angespannt‹ ist eine Untertreibung.«

»Vielleicht wird es dieses Jahr anders.« Suzanne zog das Laken vom Bett. »Beth und Jason sind glücklich. Ich kann es kaum erwarten, meine Enkeltöchter hier zu haben. Ich werde Strümpfe über den Kamin hängen und einen Haufen süßer Leckereien backen. Und Hannah wird nichts tun müssen, weil ich alles fertig haben will, bevor sie eintrifft, sodass ich Zeit mit ihr verbringen kann. Ich möchte ihre Neuigkeiten hören.« Sie hielt sich das Laken vor die Brust. »Wenn sie nur jemanden kennenlernen würde, dann würde sie …«

»Würde sie was? Ihn zum Frühstück verspeisen?« Stewart schüttelte den Kopf. »Ich bitte dich, erwähne das ihr gegenüber nicht. Hannahs Beziehungen sind ihre Sache. Ich glaube nicht, dass ihr das wichtig ist.«

»Sag das nicht.« Sie weigerte sich, das zu glauben. Hannah brauchte eine richtige Beziehung. Ihre eigene Familie. Ein beschützendes Umfeld. Jeder brauchte das.

Suzanne hatte sich danach verzehrt. Schon mit sechs Jahren hatte sie davon geträumt. Ihre ersten Jahre hatte sie mit einer Mutter verbracht, die zu betrunken gewesen war, um ihre Existenz wahrzunehmen. Später, als die inneren Organe ihrer Mutter den Kampf gegen den gnadenlosen Alkoholmissbrauch aufgegeben hatten, hatte man Suzanne in ein Kinderheim gebracht. In jedem Aufsatz, den sie in der Schule schrieb, hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, Teil einer liebenden Familie zu sein. In ihren Träumen hatte sie Eltern und Geschwister. Als sie zehn war, fand sie sich damit ab, dass dies niemals so sein würde.

Schließlich landete sie in einem Pflegeheim, und dort lernte sie Cheryl kennen. Sie wurde die Schwester, nach der Suzanne sich gesehnt hatte, und sie legte all ihre unerfüllte Liebe in diese Freundschaft. Sie waren einander so nah, dass andere glaubten, sie wären verwandt.

Cheryls Liebe füllte all die Lücken und Löcher in Suzannes Seele wie Klebstoff, der zerbrochene Teile zusammenfügt. Sie fühlte sich nicht länger verloren und allein. Sie sehnte sich nicht länger nach jemandem, der sie adoptierte, denn dann hätte sie das Heim verlassen müssen, und das bedeutete, Cheryl zu verlassen.

Sie teilten sich ein Zimmer. Sie teilten ihre Kleidung und lachten miteinander. Sie teilten Hoffnungen und Träume.

Die Erinnerung war so lebhaft und das Bedürfnis, Cheryls ansteckendes Lachen zu hören, so groß, dass Suzanne fast nach dem Telefon gegriffen hätte.

Der Teil von ihr, der ihre Freundin vermisste, war nie geheilt.

»Suzanne? Woran denkst du?« Stewarts Stimme brachte sie zurück in die Gegenwart.

Er hatte Cheryl für einen schlechten Einfluss gehalten.

Die Ironie lag darin, dass Suzanne Stewart niemals kennengelernt hätte, wenn Cheryl nicht gewesen wäre. Sie wäre nicht Bergführerin geworden, wenn Cheryl nicht gewesen wäre.

»Ich habe gerade an Hannah gedacht.«

»Ich garantiere dir: Wenn du ihr Liebesleben auch nur erwähnst, wird sie den ersten Flug nach Hause nehmen, und unser Weihnachtsfest ist ruiniert.«

»Ich werde kein Wort sagen. Beth soll mich auf den neusten Stand bringen. Ich bin froh, dass sie beide in New York leben. Für Hannah ist es gut, ihre Schwester in der Nähe zu haben. Und Beth ist glücklich und liebt es, Mutter zu sein. Vielleicht wird es Hannah inspirieren, ein paar Tage mit ihr zu verbringen.«

Bald würden die drei Schwestern wieder zusammen sein.

Dieses Weihnachten würde perfekt werden.

Dessen war Suzanne sich sicher.

Kapitel 2

Beth

Das Muttersein brachte sie um den Verstand.

Beth versuchte vergeblich, die Kinder aus ihrem Lieblingsspielzeugladen zu manövrieren, als der Anruf einging. Einen Augenblick lang fühlte sie sich schuldig, als ob sie bei etwas ertappt worden wäre, das sie nicht tun sollte.

Sie hatte Jason versprochen, kein Spielzeug mehr zu kaufen. Doch es fiel ihr schwer, den Mädchen etwas abzuschlagen. Jason unterschätzte die Hartnäckigkeit von Kindern. Niemand konnte die Entschlossenheit eines Menschen so aushöhlen wie ein quengeliges Kind. Bitte, Mommy, biiiitte …

Sie fand es besonders schwierig, weil sie eine gute Mutter sein wollte und den starken Verdacht hegte, dass sie das nicht war. Wie sie herausgefunden hatte, gab es eine gewaltige Kluft zwischen Absicht und Realität.

Sie griff nach ihrem Handy und entwand Ruby das soundsovielte Riesenfeuerwehrauto. Es hatte blinkende Lichter und einen kreischenden Alarm und war zweifellos der Einfall eines Single-Manns ohne Kinder.

Sie kannte die Nummer des Anrufers nicht, meldete sich aber trotzdem, um die Gelegenheit für ein Gespräch unter Erwachsenen nicht zu verpassen. Seit sie Kinder hatte, war ihre Welt geschrumpft, und Beth hatte den Eindruck, dass sie mitgeschrumpft war.

Inzwischen war sie bereit, sich mit jedem anzufreunden, der nicht über Probleme mit dem Essen, Schlafen oder dem Verhalten der Kinder reden wollte. In der letzten Woche hatte sie sich dabei ertappt, wie sie ein Gespräch mit jemandem, der ihr eine Autoversicherung verkaufen wollte, absichtlich in die Länge zog, obwohl sie nicht mal ein Auto besaß. Schließlich hatte der Anrufer einfach aufgelegt, was vermutlich eine Premiere in der Geschichte der Kaltakquise darstellte.

»Hallo.« Ihr Handy fühlte sich klebrig an, und sie versuchte, nicht über die Herkunft der klebrigen Substanz an ihrem Handy nachzudenken. Mellys Lieblingssüßigkeit? Als Beth schwanger gewesen war, hatte sie sich vorgenommen, ihren Kindern niemals Zucker zu geben, doch wie so viele andere Vorsätze hatte sich auch dieser in der Hitze der Realität in Luft aufgelöst.

»Ich will das Feuerwehrauto, Mommy!«

Ihre eigenen Bedürfnisse standen ganz weit hinten.

Beth hatte immer gewusst, dass sie Kinder wollte. Sie hatte allerdings nicht gewusst, wie viel von sich selbst sie dafür aufgeben musste.

Sie wandte sich etwas ab, damit sie die Person am anderen Ende der Leitung verstehen konnte.

»Beth McBride?« Die Stimme klang frisch und geschäftsmäßig. Eine Frau mit dem Vorsatz, diesen Anruf von ihrer To-do-Liste zu streichen.

Irgendwann einmal war Beth diese Frau gewesen. Sie hatte sich im Glanz und Glamour von Manhattan gesonnt. Angetrieben von dem hochtourigen Rhythmus der Stadt, war sie aufgeblüht. Es war damals, als würde man ein Kleid anprobieren, und es passte perfekt. Man wollte es nie wieder ausziehen. Man wollte gleich zwei kaufen für den Fall, dass man es beschädigte und den perfekten Look irgendwie beeinträchtigte.

Und dann wachte man eines Tages auf und stellte fest, dass einem das Kleid nicht länger gehörte. Man vermisste es. Man sah, dass andere Frauen es trugen, und wollte es ihnen vom Leib reißen.

»Hier ist Beth McBride.«

McBride.

Seit vielen Jahren hatte sie niemand so genannt. Heute war sie Bethany Butler.

»Beth, hier ist Kelly Porter von KP Recruiting.«

Würde das Handy nicht so an ihrer Hand kleben, hätte Beth es fallen lassen.

Bevor sie die Kinder bekam, hatte Beth in der PR-Abteilung einiger Kosmetikfirmen gearbeitet. Sie hatte ganz unten angefangen, sich aber schnell hochgearbeitet, und Kelly hatte ihr mindestens zwei ihrer Jobs besorgt.

»Hi Kelly. Schön, von Ihnen zu hören.« Beth strich sich übers Haar und straffte die Schultern, auch wenn dies kein Videoanruf war.

Sie war Beth McBride, jemand, der Anrufe von einer Headhunter-Agentur bekam.

»Ich habe da etwas, das dich interessieren könnte.«

Beth war interessiert an allem, das nicht quengelte, in die Windeln machte oder Dreck auf dem Fußboden hinterließ, doch sie hatte keine Ahnung, warum Kelly sie anrufen sollte.

Jason und sie hatten darüber gesprochen, dass sie wieder arbeiten würde, wenn die Kinder älter waren. Nun, da Ruby in die Vorschule ging, wurde es Zeit, auf dieses Gespräch zurückzukommen, doch Beth war normalerweise zu erschöpft, um sich eine Argumentation zurechtzulegen.

Und dann gab es noch diesen Teil in ihr, der sich schuldig fühlte, weil sie die Mädchen verlassen wollte.

»Ich höre.«

»Soweit ich weiß, hatten Sie einen Karriereknick.« Kellys Tonfall deutete an, dass sie so etwas zu den gleichen unglücklichen Lebensereignissen zählte wie Typhus oder Gelbfieber.

»Ich habe mir eine Auszeit genommen, um mich auf meine Familie zu konzentrieren.«

Beth gebot Melly mit einem Kopfschütteln, das Prinzessinnenkleid aus der Hand zu legen. Melly hatte bereits einen ganzen Schrank voller Prinzessinnenkleider. Jason würde durchdrehen, wenn sie ein weiteres kaufte, erst recht so kurz vor Weihnachten.

»Haben Sie schon von Glow PR gehört?« Kelly ignorierte ihren Hinweis auf die Familie. »Das Team ist jung, dynamisch und macht sich einen Namen. Sie suchen nach jemandem mit Ihrem Profil.«

Wie genau sah ihr Profil denn aus?

Sie war eine Frau, eine Mutter, eine Köchin, eine Taxifahrerin, eine Haushälterin, eine Spielleiterin und eine persönliche Assistentin. Sie konnte Spaghettisoße von den Wänden putzen und Rubys sämtliche Bilderbücher auswendig vorlesen, ohne sie überhaupt aus dem Regal zu ziehen.

An der Wand neben ihr befand sich ein Spiegel, der von so viel Pink und Glitzer umgeben war, dass es die anspruchsvollste Möchtegern-Prinzessin zufriedenstellte. Doch auch wenn der Spiegel wie aus einem Märchenbuch für Kinder aussehen mochte, war an Beths Spiegelbild überhaupt nichts Märchenhaftes.

Sie hatte dunkles Haar, und ihre früheren Versuche, es in einem helleren Ton zu färben, hatten sie überzeugt, dass manche Menschen eben brünett sein sollten. Im Moment hatte sie perfekt abgestimmte dunkle Ringe unter den Augen, als wollte die Natur unterstreichen, wie müde sie war.

Beth hatte mal geglaubt, dass sie alles über Kosmetik und den perfekten Look wusste, doch inzwischen wusste sie, dass das beste Schönheitsmittel keine Gesichtscreme oder ein Augenbalsam war, sondern ein ungestörter Nachtschlaf. Unglücklicherweise gab es den nicht in Tiegeln zu kaufen.

»Mommy!« Ruby zupfte an ihrem Mantel. »Darf ich mit deinem Handy spielen?«

Ihre jüngere Tochter wollte alles, was Beth hatte.

Sie schüttelte den Kopf und deutete auf das Feuerwehrauto, in der Hoffnung, sie damit abzulenken.

Ruby wollte Feuerwehrfrau werden, doch Beth fand, dass sie im Verkauf besser aufgehoben wäre. Sie war erst vier Jahre alt, doch sie konnte eine Person innerhalb weniger Minuten bis zur Kapitulation niederreden.

»Ms. McBride?«

»Ich bin da.« Die Worte kamen aus ihrem Mund und verdrängten, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Ich bin eine Mutter und derzeit Hausfrau. Danke für den Anruf, aber ich bin nicht interessiert.

Sie war interessiert.

»Die Firma hat ihren Hauptsitz hier in der Sixth Avenue, aber sie haben ein großes Netzwerk und sind an beiden Küsten vertreten.«

An beiden Küsten vertreten.

Bethanys Fantasie flog erste Klasse an die Westküste. Heute ein Spielzeugladen, morgen Beverly Hills. Hollywood. Champagner. Eine Welt mit langen Geschäftsessen und Meetings, bei denen die Menschen tatsächlich hörten, was sie sagte. Eine Welt mit glamourösen Partys. Und eine Welt, in der sie ohne Gesellschaft auf Toilette gehen konnte.

»Mommy? Ich möchte das Feuerwehrauto.«

Beths Geist sonnte sich noch immer in Beverly Hills. »Erzählen Sie mir mehr.«

»Sie wachsen rasch und sind bereit, ihr Team zu erweitern. Sie würden gern mit Ihnen sprechen.«

»Mit mir?« Sie biss sich auf die Zunge. Das hätte sie nicht sagen sollen. Sie sollte Selbstvertrauen ausstrahlen, doch dieses Selbstvertrauen hatte sich als nicht erneuerbare Ressource herausgestellt. Ihre Kinder hatten es ihr mit ihren klebrigen Fingern nach und nach genommen.

»Sie haben die Erfahrung«, sagte Kelly, »die Medienkontakte und die Kreativität.«

Ich hatte, dachte Beth.

»Es ist eine Weile her, dass ich im Geschäft war.« Sieben Jahre, um genau zu sein.

»Corinna Ladbrooke hat speziell nach Ihnen gefragt.«

»Corinna?« Der Name ihrer Chefin rief unterschiedliche Gefühle in ihr wach. »Sie hat die Firma gewechselt?«

»Sie steht hinter Glow. Lassen Sie mich wissen, wann Sie Zeit haben. Ich kann dafür sorgen, dass Sie alle kennenlernen.«

Corinna wollte sie? Sie hatten eng zusammengearbeitet, doch Beth hatte nichts mehr von ihr gehört, seit sie gegangen war, um Kinder zu bekommen.

Corinna hatte kein Interesse an Kindern. Sie hatte keine, wollte keine, und wenn irgendjemand von ihren Leuten dumm genug war, sich in die Gefilde der Mutterschaft zu verirren, zog Corinna es vor, das zu ignorieren.

Ruby fing an zu wimmern, und Beth bückte sich, um sie auf den Arm zu nehmen, wobei sie sich reflexhaft versicherte, dass ihre Tochter noch immer Bugsy festhielt. Nichts konnte Ruby von ihrem Lieblingsstofftier trennen, und Beth achtete darauf, es nicht zu verlieren.

Würde sie sich weniger um die Kinder sorgen, wenn sie einen Job hatte?

Sie war zu ängstlich, das wusste sie. Sie hatte Angst, dass ihnen etwas Schreckliches zustieß.

»Kelly, ich werde Sie zurückrufen müssen, nachdem ich in meinen Terminkalender gesehen haben.« Das klang eindrucksvoller, als es war. Heute umfassten ihre »Termine« den Transport der Mädchen zum Ballett, zum Malen und zum Mandarin-Unterricht.

»Tun Sie das bald.« Der Anruf war beendet, und Beth stand einen Moment da, mit den Gedanken noch immer im Reich der Fantasie und mit einem tauben Arm. Wie kam es, dass Kinder immer schwerer wurden, je länger man sie trug? Sie setzte Ruby ab.

»Zeit, nach Hause zu gehen.«

»Feuerwehrauto!« Rubys Aufheulen war durchdringender als eine Feuerwehrsirene. »Du hast es versprochen.«

Melly durchwühlte die Kostüme. »Wenn ich keine Prinzessin sein kann, möchte ich eine Superheldin sein.«

Ich möchte auch eine Superheldin sein, dachte Beth.

Eine gute Mutter wäre standhaft geblieben und hätte ihre Entscheidung verständlich erklärt. Danach hätten die Kinder mit eingezogenem Kopf den Laden verlassen – mit einer besseren Vorstellung vom Wert des Geldes und vom Konzept des Belohnungsaufschubs und mit mehr Verständnis für den Zusammenhang von Verhalten und Belohnung.

Beth war keine solche Mutter. Sie gab nach und kaufte den Mädchen das Feuerwehrauto und ein weiteres Kostüm.

Beladen mit zwei glücklichen Kindern, einem Arm voller Pakete und einem nagenden Gefühl des mütterlichen Versagens, trat Beth aus dem Laden auf die Straße.

Im Dezember strahlte Manhattan in seiner ganzen winterlichen Schönheit. Die Kombination aus funkelnden Lichtern in den Schaufenstern und der frostigen Winterluft schuf eine Atmosphäre, die Menschen aus der ganzen Welt anzog. Die Gehwege waren überfüllt, zu den Einwohnern der Stadt gesellten sich die Touristen, die dem Charme der Fifth Avenue in der Weihnachtszeit einfach nicht widerstehen konnten.

Beth liebte Manhattan. Nach ihrem Studienabschluss hatte sie für eine PR-Firma in London gearbeitet. Als man sie in das New Yorker Büro versetzte, hatte sie das Gefühl, es geschafft zu haben – als ob allein das Leben in Manhattan ihr einen gewissen Status verlieh. Als sie zum ersten Mal dort ankam, war sie hin- und hergerissen gewesen zwischen Euphorie und Schrecken. Raschen Schrittes war sie die Straßen mit den bekannten Namen entlanggegangen – Fifth Avenue, Forty-second Street, Broadway – und hatte versucht, so auszusehen, als ob sie dazugehörte. Glücklicherweise hatte sie vor dem Umzug in London gelebt und gearbeitet, denn sonst hätte der Kontrast zwischen der Lautstärke in New York und der Stille in ihrer abgelegenen Heimat in den schottischen Highlands sie sowohl um den Verstand als auch um ihre Trommelfelle gebracht.

Jeden Tag war sie auf dem Weg zur Arbeit die Fifth Avenue entlanggelaufen und hatte sich wie in einem Film gefühlt. Diese Freude hatte sie für jedes Heimweh, das sie vielleicht verspürt hatte, mehr als entschädigt. Was machte es schon, dass sie sich nur ein winziges Zimmer leisten konnte, in dem sie vom Bett aus die Wände links und rechts berühren konnte? Sie war in New York, der aufregendsten Stadt der Welt.

Dieses Gefühl hatte sie in ihrer Ehe und auch mit den zwei Kindern nie verlassen.

Ihre Wohnung war jetzt größer, und sie hatten ein höheres Einkommen, doch abgesehen davon hatte sich nicht viel verändert.

Mit Ruby an der Hand rief Beth Jason an, um ihm von Kelly zu erzählen, doch seine Assistentin sagte ihr, dass er in einer Sitzung sei.

Erst jetzt erinnerte sie sich, dass er an diesem Tag eine wichtige Präsentation und zudem eine volle Woche vor sich hatte. Würde er genug Zeit haben, um auf die Kinder aufzupassen, während sie Corinna und das Team traf?

»Mommy!« Ruby hing an ihrer Hand, und das Gewicht ließ Beths Schulter schmerzen. »Ich bin müde.«

Ich auch, dachte sie. »Wenn du schneller gehst, sind wir bald zu Hause. Halt Bugsy gut fest. Wir wollen ihn hier doch nicht verlieren. Und geh nicht so dicht an der Straße.«

Sie befürchtete überall Unfälle. Die Tatsache, dass Ruby ein furchtloses und unternehmungslustiges Kind ohne einen Sinn für Selbstschutz oder Vorsicht war, machte die Sache nicht besser. Melly klebte geradezu an Beths Seite, doch Ruby wollte die Welt erkunden.

Es war anstrengend.

Beth wollte für Glow PR arbeiten. Sie wollte die Fifth Avenue entlanggehen, ohne eine mögliche Katastrophe befürchten zu müssen. Sie war nicht die erste Mutter, die sowohl einen Job als auch Familie haben wollte. Es musste einen Weg geben, das zu verwirklichen.

Jasons Mutter wohnte in der Nähe, und Beth hoffte, dass Alison bei der Kinderbetreuung half, wenn sie wieder einen Job hatte. Melly und Ruby liebten Jasons Mutter. Beth liebte sie ebenfalls. Alison trotzte allen Schwiegermutterklischees. Statt Beth abzulehnen als die Frau, die ihr den einzigen Sohn gestohlen hatte, hieß sie sie willkommen als die Tochter, die sie nie gehabt hatte.

Sie war sicher, dass Alison nur zu gerne helfen würde. So blieb nur noch das kleine Problem, eine Zusage für den Job zu erhalten.

Würde sie Corinna noch beeindrucken können, nachdem sie sieben Jahre nicht gearbeitet hatte?

Sie fühlte sich nicht gut genug gerüstet, um in die Arbeitswelt zurückzukehren. Sie war nicht sicher, ob sie noch in der Lage war, ein Gespräch unter Erwachsenen zu führen, geschweige denn, Menschen mit kreativen Ideen zu beeindrucken.

Vielleicht sollte sie ihre Schwester anrufen. Hannah würde die Verlockung einer Karriere verstehen. Sie arbeitete als Unternehmensberaterin und schien die meiste Zeit ihres Lebens damit zu verbringen, erster Klasse rund um die Welt zu fliegen und exorbitant viel Geld dafür zu kassieren, dass sie Firmen umstrukturierte, die sich nicht selbst strukturieren konnten.

Sie waren für den nächsten Abend verabredet, und Beth hatte sowieso den Termin bestätigen wollen.

Hannah meldete sich mit ihrem typisch sachlichen Ton.

»Ist das ein Notfall, Beth? Ich bin gerade beim Boarding. Ich rufe dich nach der Landung an, falls noch Zeit vor meinem Meeting ist.«

Wie geht es dir, Beth? Schön, von dir zu hören. Wie geht es Ruby und Melly?

Beth hatte ihrer Schwester immer nah sein wollen und war nicht sicher, an wem es lag, dass sie einander nicht nahestanden. Zuletzt hatte sich ihr Verhältnis verschlechtert. Die regelmäßigen Abendessen waren unregelmäßiger geworden. Trug sie die Schuld, weil sie nur die Kinder als Gesprächsthema hatte? Fand ihre Schwester sie langweilig?

»Mach dir keine Sorgen.« Beth fasste die Hand der zappelnden und sich windenden Ruby fester. Es war, als würde man einen Fisch festhalten wollen, doch sie traute sich nicht loszulassen, weil Ruby sonst womöglich unter den Rädern eines Taxis landete. »Wir können morgen beim Abendessen reden. Es ist nicht dringend.«

»Ich wollte dich schon deswegen anrufen – nein danke, keinen Champagner, ich arbeite. Mineralwasser reicht.« Hannah unterbrach sich, um mit der Flugbegleiterin zu sprechen, und Beth versuchte den Neid zu unterdrücken, der ihr einen Stich versetzte.

Sie wäre gerne mal in der Position, Champagner abzulehnen.

Nein danke, ich muss einen klaren Kopf behalten für mein Meeting, bei dem ich etwas Wichtiges sagen werde, das die Menschen hören wollen.

»Du sagst wieder ab?«

»Ich habe einen Job, Beth.«

»Ich weiß.« Daran brauchte sie nicht erinnert zu werden. Und hier war sie, eine Mutter und Hausfrau mit einem wachsenden Minderwertigkeitskomplex, der von ihrer erfolgreicheren Schwester gefüttert und genährt wurde. Sie versuchte, nicht an das Lamm zu denken, das in ihrem Kühlschrank in Marinade lag, oder an das extravagante Dessert, das sie geplant hatte. Hannah speiste in den besten Restaurants. Würde sie sich wirklich von dem Versuch ihrer Schwester beeindrucken lassen, eine Weihnachtspavlova zuzubereiten? Geschlagenes Eiweiß würde wohl kaum die Welt verändern, oder? Und war Beth wirklich so verzweifelt, dass sie die Anerkennung brauchte? »Wohin fliegst du diesmal?«

»San Francisco. Es kam in letzter Minute dazwischen. Ich wollte dir eine SMS schreiben, wenn ich diese E-Mail fertig habe.«

Bei Hannah kam immer etwas in letzter Minute dazwischen. »Wann kommst du zurück?«

»Spätabends am Freitag, und dann fliege ich Sonntagabend nach Frankfurt. Können wir es verschieben?«

»Das ist schon eine Verschiebung«, sagte Beth. »Um genau zu sein, ist es die Verschiebung einer Verschiebung einer Verschiebung.«

Das Geräusch von raschelndem Papier legte nahe, dass Hannah während ihres Gesprächs mit Beth anderweitig beschäftigt war. »Wir finden einen anderen Termin. Du weißt, dass ich dich gerne sehen würde.«

Beth wusste es nicht.

Sie wusste nur, dass sie diejenige war, die sich um die Beziehung bemühte. Sie fragte sich oft, ob Hannah sich überhaupt melden würde, wenn Beth ihre Bemühungen aufgäbe. Doch sie würde niemals aufgeben. Auch wenn Hannah sie immer wieder verrückt machte und ihre Gefühle verletzte, wusste Beth doch, wie kostbar eine Familie war. Sie hatte vor, an ihrer Familie festzuhalten, selbst wenn das bedeuten sollte, dass ihre Fingernägel Kratzspuren in Hannahs Haut hinterließen. »Habe ich dich irgendwie gekränkt? Du hast immer irgendeine Entschuldigung, dass wir uns nicht sehen.«

Eine kurze Pause folgte. »Ich habe ein Meeting, Beth. Nimm es nicht persönlich.«

Beth hatte das furchtbare Gefühl, dass es so persönlich war, wie es nur sein konnte.

Genau wie Corinna hatte Hannah keine Kinder, aber hier ging es um mehr. Beth glaubte allmählich, dass ihre Schwester Ruby und Melly nicht mochte, und dieser Gedanke traf sie wie ein Stich ins Herz.

»Ich übertreibe nicht. Du ziehst dich zurück.« Corinna war ihre Chefin gewesen – sie hatte keinerlei Verpflichtung, Beths Kinder zu mögen. Doch Hannah war ihre Tante.

»Wir haben beide viel zu tun. Es ist schwer, Zeit zu finden.«

»Wir wohnen in derselben Stadt, aber wir sehen uns nie. Ich habe keine Ahnung, was in deinem Leben passiert! Bist du glücklich? Triffst du dich mit jemandem?« Sie wusste, dass ihre Mutter sie danach fragen würde, weshalb sie es als ihre Pflicht ansah, eine informierte Quelle zu sein. Außerdem war sie eine Romantikerin. Wenn Hannah einen Mann hatte, würden sie sich vielleicht öfter sehen. Sie könnten zu viert ausgehen.

Doch offensichtlich würde das nicht geschehen.

»Wir sind in Manhattan. Es ist viel los. Ich treffe eine Menge Menschen.«

Beth gab es auf, etwas aus ihr herauszukriegen. »Ruby und Melly vermissen dich. Du bist die einzige aus der Familie, die in der Nähe wohnt. Es gefällt ihnen, wenn du zu Besuch bist.« Sie entschied sich, eine Theorie auszutesten. »Komm doch nächstes Wochenende zu uns herüber.«

»Du meinst in eure Wohnung?«

Beth war sicher, dass sie sich den Anflug von Panik in der Stimme ihrer Schwester nicht einbildete. »Ja. Komm zum Mittagessen. Oder zum Abendessen. Bleib den ganzen Tag und die Nacht.«

Eine kurze Pause entstand. »Ich werde komplett durcharbeiten. Vermutlich ist es das Beste, wenn du und ich einfach an einem Abend essen gehen.«

Ein Restaurant. In der Stadt. Ein kinderfreier Abend.

Beth hob Ruby mit einem Arm hoch und spürte, wie Liebe und ihr Beschützerinstinkt in ihr aufwallten.

Dies waren ihre Kinder, ihre Babys, ihr Leben. Sie waren der Mittelpunkt ihrer Welt. Bestimmt würde ihre Schwester sie aus diesem Grund lieben, wenn schon aus keinem anderen?

Ironischerweise war Hannah für die Mädchen eine Figur voller Glamour und Magie, obwohl sie sie so selten sahen.

Als Hannah das letzte Mal zu Besuch gewesen war, hatte Ruby versucht, auf ihren Schoß zu krabbeln, um sie zu umarmen, und Hannah war erstarrt. Beth wäre nicht verwundert gewesen, wenn sie aufgeschrien hätte: Holt sie runter von mir! Schließlich hatte Beth die verwirrte Ruby auf den Arm genommen und sie abgelenkt, doch der Vorfall hatte sie gekränkt und verärgert. Sie war angespannt geblieben, bis ihre Schwester wieder fort war.

Jason hatte sie daran erinnert, dass Hannah eben Hannah war und sich niemals ändern würde.

»Gut. Dann gehen wir irgendwann abends essen. Du arbeitest zu viel.«

»Du klingst schon wie Suzanne.«

»Du meinst Mom.« Beth löste Rubys Finger von ihrem Ohrring. »Warum kannst du sie nie Mom nennen?«

»Ich ziehe Suzanne vor.« Hannahs Tonfall wurde kühl. »Es tut mir leid, dass ich absage, aber über Weihnachten haben wir ja genug Zeit, uns auf den neuesten Stand zu bringen.«

»Weihnachten?« Beth war so überrascht, dass sie Ruby fast fallen gelassen hätte. »Du fährst über Weihnachten nach Hause?«

»Wenn du mit nach Hause Schottland meinst, dann ja.« Hannahs Stimme klang weit entfernt, als sie zu der Flugbegleiterin sagte: »Ich nehme den Räucherlachs und das Rindfleisch.«

Normalerweise hätte Beth sich gewundert, warum ihre Schwester Räucherlachs und Rindfleisch bestellte, da sie doch beide wussten, dass sie nur zwei Bissen nehmen und den Rest liegen lassen würde, aber sie war zu sehr mit der Ankündigung beschäftigt, dass ihre Schwester Weihnachten zu Hause sein würde.

»Letztes Jahr hast du es nicht geschafft.«

»Ich hatte viel zu tun.« Hannah hielt inne. »Und du weißt, wie Weihnachten bei uns zu Hause verläuft. Es ist die einzige Gelegenheit, zu der wir alle zusammenkommen, und alle stehen unter Erwartungsdruck. Suzanne macht ein Aufhebens um alles und möchte, dass alles perfekt ist, und Posy gibt mir die Schuld, wenn es das nicht ist.«

Es war ungewöhnlich für Hannah, dass sie ihre Gedanken preisgab. Beth war verblüfft. Doch bevor sie eine passende Antwort parat hatte, wechselte Hannah das Thema.

»Gibt es irgendwas Bestimmtes, das sich die Mädchen zu Weihnachten wünschen?«

Die Mädchen. Die Kinder. Hannah warf sie immer in einen Topf und machte sie damit irgendwie zu einer Sache.

Beth wusste, dass ihre Schwester den Geschenkeeinkauf an ihre Assistentin delegieren würde. Das Geschenk würde etwas Großzügiges sein, mit dem die Mädchen nach einer Woche nicht mehr spielen würden, und Beth bliebe das Gefühl, dass Hannah etwas kompensieren wollte.

Sie dachte an das Feuerwehrauto in der Einkaufstüte, die ihr beim Gehen gerade gegen die Beine schlug, und wusste, dass sie eigentlich nicht in der Position war, jemanden dafür zu kritisieren, dass er etwas überkompensierte. »Kauf nichts, was quiekt oder mitten in der Nacht einen Alarm losgehen lässt. Und gib für beide den gleichen Betrag aus.«

Sie führte im Geiste eine Liste und achtete immer darauf, dass sie keines der Mädchen vorzog, keine der beiden mehr tadelte als die andere und keiner mehr Aufmerksamkeit schenkte als der anderen.

Ihre Kinder sollten niemals das Gefühl haben, dass ihre Eltern ein Lieblingskind hätten.

»Mir brauchst du das als Letztes zu sagen.«

In diesem kurzen Moment bestand zwischen ihnen eine Verbindung. Dieser unsichtbare Faden aus der Vergangenheit knüpfte sie aneinander.

Beth wollte diese Verbindung aufgreifen und intensivieren, doch das Hupen und der allgemeine Verkehrslärm machten dies zu einer schlechten Gelegenheit für ein persönliches und intimes Gespräch. Und dann waren da noch die Ohren der Kinder, denen nichts entging.

»Hannah, vielleicht könnten wir …«

»Wofür interessieren sie sich gerade?« Mit dieser Frage kappte Hannah die Verbindung und zog sich an jenen sicheren Ort zurück, an dem sie niemand erreichen konnte.

Ein Gefühl von Verlust stach ihr in der Brust. »Melly möchte Ballerina oder Prinzessin werden und Ruby Feuerwehrfrau.«

»Prinzessin?«

Sie hörte die Missbilligung in der Stimme ihrer Schwester.

»Ich kaufe ihr gender-neutrales Spielzeug und sage ihr, dass sie Ingenieurin werden und sich bei der NASA bewerben kann, doch im Moment möchte sie einfach in einem Schloss wohnen, mit einem Prinzen an ihrer Seite und angezogen wie die Zuckerfee.« Sie fügte nicht hinzu: Warte, bis du Kinder hast, dann wirst du wissen, wovon ich rede.

Egal, wie sehr ihre Mutter sich wünschte, dass Hannah sich verliebte und eine Familie gründete – jeder, der auch nur ein bisschen Sinn für Realität hatte, konnte erkennen, dass das auf keinen Fall geschehen würde.

Kapitel 3

Hannah

Schwanger.

Hannah schloss die Augen und versuchte, ihre Panik unter Kontrolle zu bringen.

Es bestand noch immer eine Chance, dass sie nicht schwanger war. Sicher, sie war fünf Tage drüber, doch das konnte auch andere Gründe haben. Stress zum Beispiel. Sie stand eindeutig unter Stress.

Sie steckte das Handy wieder in die Tasche und fühlte sich schuldig wegen Beth.

Natürlich hatte sie das Abendessen nicht vergessen. Sie hatte es abgesagt, weil sie einen Abend in der chaotischen Wohnung ihrer Schwester, wo sich alles um die Kinder drehte, einfach nicht ertragen konnte.

War sie verrückt geworden, dass sie dieses Weihnachten nach Hause flog? Letztes Jahr hatte sie in letzter Minute gekniffen und vorgetäuscht, arbeiten zu müssen. Sie hatte das Telefon abgeschaltet und die Feiertage in ihrem Apartment verbracht, wo sie ihre Gefühle mit mehreren Flaschen gutem Wein und einer Leseorgie betäubte. Als sie das letzte Buch zuklappte, waren die Feiertage vorbei gewesen.

Diese Option gab es in diesem Jahr nicht.

Ihr graute vor der erzwungenen Gemeinschaft an Weihnachten und dem damit verbundenen Erwartungsdruck.

Ihre Familie hielt sie für eine Karrierefrau, die keine Zeit für Beziehungen hatte.

Das versprach ein interessantes Gespräch, wenn sie tatsächlich schwanger war.

Sie sollte einen Test machen. Gewissheit erlangen. Aber dann würde sie es wissen, und im Moment klammerte sie sich lieber an die vage Hoffnung, dass ihr perfekt organisiertes Leben nicht durcheinandergewirbelt wurde.

»Alles in Ordnung, Hannah?«

Sie öffnete die Augen. Adam stand im Gang der Erste-Klasse-Kabine und verstaute gerade seine Reisetasche.

»Alles bestens.« Hannah hatte ihre Tasche schon sorgfältig weggepackt und den Laptop auf ihrem Schoß platziert. Sie lebte in der ständigen Erwartung, dass Dinge furchtbar schiefgingen, und tat alles in ihrer Macht Stehende, das zu verhindern, indem sie sämtliche Details in ihrem Leben plante und kontrollierte.

»Bist du sicher? Das Gespräch klang angespannt.« Er setzte sich neben sie. Er war groß und langgliedrig, seine Beine füllten den leeren Raum vor seinem Sitz aus. »Probleme?«

Normalerweise blieb Hannah auf ihren Reisen für sich. Falls es ein »Nicht stören«-Schild für Passagiere gäbe, würde sie es tragen.

Doch heute reiste sie mit Adam. Er war ihr Kollege und seit ein paar Monaten ihr Liebhaber.

Wie es aussah, war er vielleicht auch der Vater ihres Kindes, was, wie sie wusste, für ihn ein ebenso großer Schock wäre wie für sie.

»Ich habe mit Beth gesprochen.«

Das Schuldgefühl nagte an ihr. Beth hatte recht damit, dass sie ihre Nichten lange nicht gesehen hatte. Die Mädchen waren hinreißend, doch mit ihnen zusammen zu sein gab Hannah das Gefühl, unfähig und unzulänglich zu sein. Es war ihr einfach nicht möglich, Märchengeschichten vorzulesen, in denen alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage lebten. Sie konnte sich nicht überwinden, diese Lüge auszusprechen. Es gab keinen Weihnachtsmann. Es gab keine Zahnfee. Es gab keine Garantie für Liebe.

Ein einziges Mal hatte sie den Versuch unternommen, es Beth zu erklären, doch ihre Schwester hatte sich über sie lustig gemacht.

Vielleicht endet es im Leben nicht immer glücklich, Hannah, aber wenn es dir recht ist, beschütze ich meine Kinder lieber vor dieser Realität, solange sie klein sind!

Hannah hielt es für gesünder, wenn man realistische Erwartungen an das Leben hatte. Wer nicht zu viel erwartete, fiel nicht so tief, wenn sich herausstellte, dass auch die beste Planung einen nicht vor schlimmen Erlebnissen bewahren konnte.

Vor ein paar Jahren war Hannah nach einem unerwarteten Schneesturm gezwungen gewesen, über Nacht in Beths Wohnung zu bleiben. Mitten in der Nacht war Ruby in ihr Bett geklettert. Als die Kleine sich Schutz suchend an sie kuschelte, hatte Hannah das Kitzeln ihrer weichen Locken an der Haut und die Wärme ihres Körpers durch den Schlafanzug hindurch gespürt. Die Situation hatte sie so stark an jene furchtbare Nacht erinnert, in der Posy damals zu ihr ins Bett geklettert war, dass es ihr fast den Atem raubte.

Die Tatsache, dass Beth sie einfach nicht verstand, gab ihr noch mehr das Gefühl, allein zu sein.

Um den Erinnerungen zu entkommen, hatte sie sich entschieden, gegen Schneeverwehungen und schlechtes Wetter anzukämpfen, und war noch vor dem Frühstück gegangen. Seitdem hatte sie immer darauf geachtet, nie wieder in eine solche Lage zu geraten. Bis jetzt.

Sie fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen ihres Pullovers, obwohl er nicht zu eng war.

Weihnachten würde schwierig werden, doch selbst sie konnte keine Ausrede erfinden, um dem Ganzen ein zweites Mal zu entgehen. Die McBride-Familie kam zu Weihnachten immer zusammen. Das war Tradition. Sie hatte sich damit abgefunden, dass sie das ebenso durchstehen musste wie eine schlimme Grippe. Doch nun gab es noch eine zusätzliche Komplikation.

»War sie verärgert, weil du abgesagt hast?« Adam sah sie besorgt an, und sie blickte rasch fort. Er bemerkte Dinge. Kleine Dinge, die anderen Menschen entgingen. Das war eine der Eigenschaften, die ihn in seinem Job auszeichneten. Und Teil der beunruhigenden Anziehungskraft, die Hannah seit seinem ersten Tag in der Firma spürte. Die Chemie zwischen ihnen hatte sie völlig unvorbereitet getroffen. Für gewöhnlich gelang es ihr, sämtliche Gefühle zu kontrollieren. Die Entdeckung, dass sie rebellieren konnten, war ein schlimmer Schock gewesen.

»Ich habe sie gekränkt.«

Er holte sein Handy aus der Tasche seiner Jacke und reichte sie dem Steward. »Warum sagst du ihr nicht die Wahrheit? Sag ihr, dass es schwer für dich ist, mit den Kindern zusammen zu sein.«

Oh, welche Ironie.

Wenn ich schwanger bin, werde ich einen Weg finden müssen, mit Kindern zusammen zu sein.

Sie war noch immer überrascht, dass sie ihm von ihrer Familie erzählt hatte, doch Adam gegenüber konnte sie sich bemerkenswert leicht öffnen.

Natürlich hatte sie ihm nicht alles erzählt, doch mehr als jedem anderen Menschen.

»Es ist … kompliziert.« Sie bemerkte, dass ein Paar auf der anderen Seite des Ganges ein Baby dabeihatte. Das Flugzeug war noch nicht gestartet, doch das Kind war bereits zappelig und unruhig. Hannah hoffte, dass es nicht den ganzen Flug lang schreien würde. Kindergeschrei verursachte ihr Bauchschmerzen.

»Stell mich ihr vor, und ich übernehme das für dich.«

»Was?« Verwirrt wandte sie sich wieder Adam zu.

»Ich möchte deine Schwester kennenlernen.«

»Warum?«

»Weil man das so macht in unserer Situation.«

»Unsere Situation?«

»Ich liebe dich.« Er sagte es leichthin, als wäre Liebe nicht die mit Abstand erschreckendste Sache, die einem passieren konnte. »Oder wollen wir das ignorieren?«

»Wir ignorieren es.« Jedenfalls für den Moment. Sie kontrollierte ihre Gefühle genauso wie ihren Terminkalender. Sie hatte gelernt, sie unter Verschluss zu halten. Wenn sie irgendetwas im Leben hasste, dann war es Gefühlschaos.

»Ich sollte gekränkt sein, dass du meine von Herzen kommende Liebeserklärung so geringschätzt.«

»Du warst betrunken, Kirkman.«

»Das stimmt nicht. Ich war im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten.«

»Soweit ich mich erinnere, hattest du mehrere Gläser Bourbon getrunken.«

»Es stimmt, dass ich vielleicht ein bisschen flüssige Unterstützung gebraucht habe, um mir Mut zu machen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber für einen Kerl, der schon so lange Single ist wie ich, ist es eine große Sache, ›Ich liebe dich‹ zu sagen.«

Sie hatte es sich nicht erlaubt, ihm zu glauben.

Für Hannah war Liebe eine emotionale Variante von russischem Roulette. Ein Spiel, das sie nicht spielte.

Ihre emotionale Sicherheit war für sie das Wichtigste auf der Welt.

Sie wollte nicht einmal daran denken, wie kompliziert es werden würde, wenn ein Baby im Spiel war.

»Hast du Angst, dass ich dich um dein Vermögen bringe?« Er lehnte sich zu ihr herüber. »Wir werden einen Ehevertrag unterzeichnen. Aber ich sollte dich warnen, dass ich im Falle des unwiderruflichen Scheiterns unserer Ehe deine Bücher beanspruchen werde. Je nach Zeit und Medikation kann ich vermutlich lernen, ohne dich zu leben, aber ich kann nicht ohne deine Bibliothek leben. Weißt du eigentlich, wie sehr es mich antörnt, zu wissen, dass eine Erstausgabe von Dickens’ Roman Große Erwartungen in deinem Regal steht?«

Sie konnte sich auf das, was er sagte, kaum konzentrieren. Ich sollte einen Test machen. »Wir werden keinen Ehevertrag brauchen.«

»Da stimme ich dir zu. Eine Liebe wie unsere wird für immer dauern. Man könnte sagen, ich habe große Erwartungen.« Er zwinkerte ihr zu, doch dieses Mal lächelte sie nicht.

Liebe war wechselhaft und unzuverlässig und eindeutig nichts, was man kontrollieren konnte. Wenn jemand nicht die richtigen Gefühle hatte, konnte man sie nicht erzwingen. Sie zog es vor, ihr Leben auf einem sicheren Fundament aufzubauen.

Er lehnte den angebotenen Champagner ab und bat den Steward stattdessen um einen Bourbon. Als Hannah erneut ablehnte, sah er sie erstaunt an.

»Seit wann verschmähst du Champagner?«

Seit ich vielleicht schwanger bin. »Ich brauche einen klaren Kopf, um diese Präsentation fertigzustellen.«

»Du kannst diese Präsentation mit geschlossenen Augen halten. Ich verstehe nicht, warum du gestresst bist. Was ist aus der Frau geworden, die im Büro barfuß um einen leeren Pizzakarton herumtanzt?«

Sie streifte die Schuhe ab. »Können wir vergessen, dass das passiert ist?«

»Nein. Ich habe Fotobeweise, falls du je versuchen solltest, es abzustreiten. Und ich habe vor, sie deiner Schwester zu zeigen, um zu beweisen, welch falsches Bild sie von dir hat.« Er griff nach seinem Handy und scrollte durch die Fotos. »Hier. Das ist mein Favorit.«

Sie erkannte sich selbst kaum. Ihre Haare, die sie bei der Arbeit immer ordentlich zusammengebunden trug, waren offen, sie war barfuß und tanzte. Was am meisten ins Auge stach, war ihr Gesichtsausdruck. Hatte sie wirklich so viel preisgegeben?

»Gib mir das.« Sie versuchte, ihm das Handy wegzuschnappen, doch er hielt es außerhalb ihrer Reichweite.

»Ich werde diesen Abend nie vergessen.«

»Weil ich meine Schuhe ausgezogen und getanzt habe?«

»Ich dachte eher an die Pizza. Es war eine gute Pizza. Es gab andere Abende und andere Pizzas, doch das war die beste. Ich glaube, es lag an den Oliven.« Lächelnd beugte er sich vor und küsste sie. »Ich liebe es, wenn du lachst. Du bist im Büro immer so ernst.«

»Ich bin ein ernster Mensch.«

Adam lehnte sich zurück. »Wer hat das behauptet?«

»Mein Vater.«

Du bist so verdammt ernst, Hannah. Schau mal für fünf Minuten von dem Buch auf und hab Spaß.

Sogar heute fühlte sie sich an manchen Tagen schuldig, wenn sie nach einem Buch griff, und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie etwas Besseres mit ihrer Zeit anstellen sollte.

»Da habe ich Neuigkeiten für deinen Vater – er irrt sich.«

Adam hatte ihren Schutzwall nach und nach abgetragen, und er hatte es so geschickt getan, dass sie völlig vergessen hatte, sich zu schützen.

In ihrem Job musste sie oft bis spätabends arbeiten. Daran war nichts Bemerkenswertes, bis Adam zum ersten Mal mit einem Pizzakarton in ihr Büro geschlendert kam.

Sie hatte ihn erstaunt angeschaut.

Ich esse keine Pizza.

Es gibt für alles ein erstes Mal, McBride.

Der Abend endete damit, dass sie es sich auf dem Boden bequem machten und Pizza aus dem Karton aßen, nachdem alle längst nach Hause gegangen waren.

Bevor sie Adam kannte, hatte Hannah niemals Pizza aus dem Karton gegessen.

Sie hatte niemals ihre Schuhe abgestreift oder es sich auf dem Boden ihres Büros bequem gemacht.

Sie konnte nicht einmal sicher sagen, ob sie sich hatte entspannen können, bevor er in die Firma gekommen war. Doch diese spätabendlichen Arbeitseinheiten wurden rasch zum liebsten Teil ihres Tages. Sie freute sich darauf, mit Arbeit zugeschüttet zu werden, um eine Gelegenheit zum Bleiben zu haben, wenn alle anderen fort waren.

Sie hatten zusammen gearbeitet, gegessen und geredet. In der nächtlichen Stille im Büro, eingehüllt von den glitzernden Lichtern der Stadt, fiel es irgendwie leichter, Dinge auszusprechen, die sie unter anderen Umständen niemals ausgesprochen hätte.

An einem dieser Abende erzählte er, seine Tante habe darauf bestanden, dass er Standardtänze lernte, weil sie das für eine wichtige Fähigkeit im Leben hielt.

Er hatte darauf bestanden, es Hannah beizubringen.

Jeder sollte Tango tanzen können, McBride.

Ich tanze nicht, Kirkman.

Doch irgendwie war sie dann doch mit ihm barfuß um den leeren Pizzakarton herumgetanzt.

Es war lächerlich, doch am Ende hatte sie so sehr lachen müssen, dass sie kaum noch Luft bekam.

Und so entstand Nähe, dachte sie, während sie beobachtete, wie er einen Schluck von seinem Drink nahm. Nicht in einem gewaltigen Sprung, sondern Schritt für Schritt, immer weiter voran, stetig wie die Flut. In der einen Minute stand man allein auf trockenem Boden, und im nächsten Moment schlug einem das Wasser über dem Kopf zusammen, und man ertrank.

Die Angst ließ ihre Haut kribbeln. Wenn diese Angst ihr Flügel verleihen würde, würde sie davonfliegen. Manche Menschen hatten Angst vor einer dunklen Gasse in der Nacht oder vor einem knurrenden Hund mit scharfen Zähnen. Sie hatte Angst vor Nähe.

Vielleicht glaubte er, dass er sie liebte, doch sie wusste, dass es nicht genug sein würde, was sie ihm bieten konnte.

Krachen und Fluchen rissen sie aus ihren Gedanken. Sie erblickte eine Frau, die versuchte, ihren Koffer in das Gepäckfach zu quetschen.

Adam erhob sich, um ihr zu helfen, und konnte das Gepäckstück dank seiner Körpergröße an den richtigen Platz rücken.

Hannah sah, wie der Blick der Frau auf seinem Profil ruhte und dann zu seinen Schultern wanderte. Ein leichtes Lächeln verriet, dass sie ihn als attraktiven Vertreter seines Geschlechts wahrnahm. Dann drehte sie sich um und registrierte Hannahs Anwesenheit. Ihre Miene veränderte sich von interessiert zu resigniert. Hannah konnte sie geradezu denken hören: Alle guten Männer sind vergeben.

»Wann wirst du Beth von uns erzählen?« Adam setzte sich wieder auf seinen Platz. »Nicht, dass es mir etwas ausmacht, dein schmutziges kleines Geheimnis zu sein, doch es wäre viel einfacher, wenn du es ihnen erzählen würdest. Ich könnte mit dir zum Essen kommen. Ich kann gut mit Kindern umgehen.«

Hannah hoffte, dass er das auch noch sagen würde, wenn sich herausstellte, dass sie schwanger war.

Er streckte wieder die Beine aus. »Wir leben praktisch seit sechs Monaten zusammen. Du kannst mich nicht für immer verstecken.«

Sechs Monate? »Ich verstecke dich nicht.«

Vor Adam hatte ihre längste Beziehung zwei Monate gehalten. Acht Wochen. Dieser Zeitrahmen passte zu ihr. Hannah zog es vor, ihre Energie auf Dinge zu verwenden, in denen sie gut war. Beziehungen fielen nicht in diese Kategorie.

Mit Adam war es anders.

Die Chemie zwischen ihnen war so stark, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Zuerst hatten sie nur miteinander gearbeitet. Sie konnte sich nicht erinnern, wer den ersten Schritt gemacht hatte.

Den ersten Sex hatten sie in seinem Apartment gehabt. Sie hatten es nicht einmal ins Schlafzimmer geschafft. Beim zweiten Mal waren sie bei ihr und schafften es immerhin auf den Boden ihres Wohnzimmers. Sie war davon ausgegangen, dass die Begierde nachlassen würde, doch an manchen Tagen hielten sie sich nicht mal mit einem Gespräch auf. Es war, als würde alles, was sie während ihres Arbeitstages in der Öffentlichkeit zurückhielten, nach Befreiung drängen, sobald sie zu zweit waren. In der letzten Woche hatten sie sich zweimal im Flur geliebt, im Stehen, bei eingeschaltetem Licht. Ein Teil von ihr fragte sich, warum Sex mit Adam immer so dringlich, so verzweifelt erschien. Vielleicht weil sie insgeheim davon überzeugt war, dass ihre Liaison bald enden würde.

Alles hatte ein Ende, Hannah wusste das, und dennoch saßen sie hier, sechs Monate später.

Sie verlagerte ihre Sitzposition.

Wenn sie schwanger war, würde sie das sicherlich wissen, oder? Wurde Frauen nicht normalerweise übel?

Ihr war nicht übel.

Als die Flugzeugmotoren aufjaulten und die Maschine bereit war zum Abheben, trank Adam sein Glas aus. »Wenn du dieses Weihnachten nach Hause zu deiner Familie fährst, sollte ich dabei sein.«

»Um Chaos zu stiften?«

»Um dich zu beschützen.« Dieses Mal lächelte er nicht. »Es gefällt mir nicht, dich so zu sehen. Ich möchte meine Hannah zurück.«

Meine Hannah.

Ihre Familie würde die Hannah, die Adam kannte, nicht wiedererkennen, das wusste sie. Sie selbst erkannte diese Frau kaum wieder.

»Es ist nicht nötig, dass du mitkommst, aber danke für das Angebot.« Sie konnte sich Suzannes Reaktion, wenn sie mit Adam auftauchte, nur zu gut vorstellen. Noch bevor Hannah auch nur ausgepackt hätte, würde sie einen Hochzeitstermin in der Kirche reserviert und einen Hut gekauft haben.

Über ihren Köpfen erlosch das Anschnallzeichen, und Adam machte es sich ein bisschen gemütlicher. »Wenn Weihnachten stressig ist, warum willst du dann hinfahren?«

»Ich möchte Suzanne nicht enttäuschen.« Denn dieses Gefühl, dass sie Erwartungen enttäuschte, rief unangenehme Erinnerungen wach.

»Suzanne? Du nennst sie nicht Mom?«

»Sie ist nicht meine Mutter. Meine Mutter ist tot.«

Sie sah die Überraschung in seinen Augen und fragte sich, was sie veranlasst hatte, ausgerechnet in dieser unpersönlichen Umgebung damit herauszuplatzen. Sie sprach nie über ihre leiblichen Eltern, doch Adam hatte irgendetwas an sich, das jenen Teil von ihr öffnete, den sie normalerweise verschlossen hielt.

»Das wusste ich nicht.« Er sprach leise. »Tut mir leid, das zu hören.«

»Es ist lange her. Ich war acht.«

»Verdammt, Hannah. Das ist ein schwieriges Alter, um einen Elternteil zu verlieren. Warum hast du mir das nicht früher erzählt?« Er hielt ihr seine ausgestreckte Hand hin. Sie zögerte kurz und nahm sie dann. Seine Finger umschlossen ihre, stark und beschützend, und sie spürte, wie sich die Kette der Nähe enger um sie schlang.

Ich liebe dich, Hannah.

»Das ist kein Thema, auf das man in einem alltäglichen Gespräch kommt. Wir haben damals beide Eltern verloren. Sie sind bei einem Unfall gestorben.«

»Auto?«

»Lawine. Sie waren Kletterer.«

Er sah sie erstaunt an. »Dann warst du also nicht immer ein Großstadtmädchen?«

Sie hatte das Gefühl, schon immer ein Großstadtmädchen gewesen zu sein.

»Wer ist Suzanne?« Sein Ton war neutral, als hätte er begriffen, dass sie nicht bemitleidet werden wollte.

»Suzanne und Stewart haben uns adoptiert. Suzanne ist Amerikanerin. Stewart ist Schotte. Nach dem … Unglück … zogen wir zurück nach Schottland, um in der Nähe von Stewarts Familie zu wohnen.« Ihr Herz pochte. »Können wir jetzt arbeiten?«

Einen Moment zögerte er. »Sicher.« Er packte seinen Laptop aus und öffnete ihn. »Es sei denn, du möchtest unsere Partie Schach beenden?«

»Ich habe deinen Springer geschlagen.«

»Ich erinnere mich.« Er grinste jungenhaft. »Ich kann immer noch deinen König mattsetzen. Gib mir eine Chance, es zu versuchen. Du hast die letzten beiden Partien gewonnen, und mein Selbstvertrauen hat einen empfindlichen Schlag abbekommen.«

Ihr war sein Selbstvertrauen immer unzerstörbar erschienen.

»Ich glaube, wir sollten lieber das Angebot fertigstellen.«

»Du hast Angst, dass du verlieren könntest.« Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf den Mund. »Ich habe mir deine Präsentation angesehen. Sie ist brillant. Wir werden diesen Auftrag bekommen.«

Etwas entspannter beugte sie sich vor, um die Tabelle auf seinem Bildschirm zu überfliegen. »Das musst du ändern.« Sie deutete auf eine der Zahlen. »Hast du meine E-Mail nicht bekommen?«

»Die, die du um drei Uhr morgens geschickt hast? Ja, ich habe sie heute Morgen auf dem Weg zum Flughafen gelesen, aber wir sind nicht alle so blitzschnell wie du.« Er änderte die Zahl. »Du bist ein Superhirn, McBride, aber warum hast du nicht geschlafen?«

»Ich mag Arbeit.« Um genauer zu sein: Sie liebte Zahlen. Liebte Daten und Computercodes. Zahlen waren verlässlich und verhielten sich so, wie man es wollte. Zahlen wickelten sich nicht um dein Herz und drückten zu, bis kein Blut mehr floss. »Ich wollte dieses Projekt abschließen.«

»Und das konntest du nicht an dem Achtzehn-Stunden-Tag, den du eingelegt hast?«

»Ich hatte andere Dinge im Kopf.« Und damit meinte sie nicht nur den Umstand, dass ihre Periode überfällig war.

Sie dachte an die beiden Nachrichten, die sich seit einem Monat auf ihrer Mailbox befanden.

Im Laufe der Jahre hatte sie bereits ähnliche Anrufe erhalten, insbesondere zu dieser Jahreszeit, in der sich der Tag des Unfalls jährte. Dieses Mal hatte sie den Namen des Anrufers nicht gekannt. Sie hatte gelernt, nicht zu antworten. Dennoch lag ihr die Nachricht wie ein Stein im Magen und erinnerte sie an Dinge, an die sie nicht denken wollte.

Um ein Haar hätte sie Beth gefragt, ob sie ebenfalls einen Anruf erhalten hatte, doch dann hätte sie darüber sprechen müssen, und das wollte sie nicht.

Das hatten sie und Suzanne gemeinsam. Beide bevorzugten sie es, die Vergangenheit zu ignorieren.

Adam speicherte die Datei, die er bearbeitet hatte. »Suzanne und Stewart waren eure Verwandten?«

»Freunde meiner Eltern. Sie adoptierten uns drei.« Was ihr Schuldgefühl verstärkte, dass sie nicht der Mensch war, der sie sein sollte.

»Und deshalb meinst du, du müsstest Weihnachten dort sein. Weil du ihnen etwas schuldig bist.« Es war eine Feststellung, keine Frage, und sie widersprach ihm nicht.

Sie war ihnen etwas schuldig und wusste, dass sie diese Schuld nie würde gutmachen können. »Das ist jedenfalls ein Teil des Ganzen.«

»Nimm mich mit.«

»Meine Familie lebt in Schottland, in den abgelegenen Highlands. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du mit schwachem WiFi und miesem Telefonempfang klarkommst.« Sie musterte seine polierten Schuhe. »Du würdest es hassen.«

»Ich würde es nicht hassen. Zum einen liebe ich Single Malt. Wohnen sie zufällig in der Nähe einer Destillerie?«

Hannah seufzte. »Tatsächlich tun sie das, aber …«

»Na, siehst du. Ich bin schon angetan. Außerdem weiß ich eine schöne Aussicht zu schätzen. Ein paar romantische Spaziergänge durch ein nebliges Tal wären eine perfekte Gelegenheit abzuschalten.«

»Ein nebliges Tal? Du hast wohl zu oft Braveheart gesehen. Zu dieser Jahreszeit ist das Tal vermutlich verschneit, und falls es Nebel gibt, wirst du dich verirren und an Unterkühlung sterben.«

Er zuckte demonstrativ mit den Schultern. »Ich wusste, dass es einen Grund gibt, warum ich mich für Manhattan entschieden habe. Aber ganz im Ernst: Denk drüber nach. Wenn ich mit dir hinfahre, könnten wir an der Präsentation arbeiten. Glaub es oder nicht, ich kann ohne Internetanschluss überleben. Kein Internet zu haben, ist vielleicht das beste Weihnachtsgeschenk von allen.«

Es war eine Sache, Adam von ihrer Familie zu erzählen. Sie ihm vorzustellen, war eine andere.

Champagnerkorken würden knallen.

Hannah würde von einer unkontrollierbaren Welle von Erwartungen mitgerissen werden.

»Du fliegst in die Karibik, und das, glaub mir, wird tausendmal besser als ein Weihnachten in den schottischen Highlands. Wahrscheinlich werden wir eingeschneit.« Allein der Gedanke ließ sie hyperventilieren. Gefangen. Unfähig, zu atmen. Begraben.

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