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Dieser Sommer gehört uns

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Eintauchen in den Roman des Sommers – lebensbejahend und sehnsuchtsvoll

Die 70-jährige Witwe Cecilia Lapthorne kann sich zu ihrem Geburtstag Schöneres vorstellen, als ihrem untreuen Künstlergatten zu gedenken. So flieht sie kurzerhand in das gemeinsame Haus am Meer, das seit Jahren leer steht. Einen ruhigen Sommer — mehr wünscht sie sich nicht.

Die junge Lily steht kurz vor dem Ruin, nachdem sie der Kunst zuliebe ihr Medizinstudium abgebrochen hat und nun ihre Miete nicht mehr zahlen kann. Das verlassene Cottage kommt ihr gerade recht.

Als Cecilia den unerwarteten Hausgast auf ihrem Sofa vorfindet, ist eines klar: Dieser Sommer wird alles andere als ruhig. Und für beide Frauen tun sich zweite Chancen auf, die das große Glück bergen.


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908134
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Morgan

Dieser Sommer gehört uns

Roman

Aus dem Englischen von
Judith Heisig

HarperCollins

Für Margaret O’Neill Marbury,
in Liebe und Dankbarkeit

1

Lily

Sie war nicht stolz darauf, vor ihrem Leben davongelaufen zu sein, doch bei einer so guten Aussicht fiel es schwer, die Entscheidung zu bereuen.

Lily umfasste den Lenker fester und trat in die Pedale. Weil der Rest der Menschheit noch keinen Kaffee getrunken hatte und dementsprechend schläfrig war, gehörte die nördliche Spitze von Cape Cod ihr allein.

Um sie herum erstreckten sich Sanddünen und bis zum Horizont das Meer. Sie fuhr jeden Tag die gleiche Route, aber jeder Tag zeigte sich anders. Heute zum Beispiel war der Himmel von einem tiefen Eisvogelblau, doch sie hatte auch schon verbranntes Orange, Flammenrot und rauchiges Silber gesehen.

Zugvögel und Touristen bevölkerten die Halbinsel, und grundsätzlich zog sie Erstere den Letzteren vor. Gestern noch hatte sie einen Graureiher und zwei Schmuckreiher gesehen. Wenn es nach ihr ginge, wären weniger Menschen auf der Insel besser. Allerdings verdankte sie den Sommertouristen ihren derzeitigen Job, also beklagte sie sich nicht.

Sie atmete tief ein, sog die salzige Luft in ihre Lungen. An diesem windigen und sonnigen Uferstreifen fühlte sie sich frei – und zum ersten Mal seit Monaten besser. Stärker. Als ob sie trotz allem überleben würde. Der Druck hatte nachgelassen. Sie wachte nicht mehr morgens um zwei schweißgebadet und voller Panik auf, gefangen in einem Leben, von dem sie jeden Moment hasste.

Sie verspürte so etwas wie Glück, doch dann vibrierte ihr Handy, und das Gefühl verflog sofort.

In dem Versuch, der drängenden Aufforderung zu entkommen, trat sie rascher. Sie musste nicht nachsehen, um zu wissen, wer sie anrief. Inzwischen war es genau zehn Uhr vormittags. Nur ein Mensch rief sie regelmäßig zu dieser Zeit an.

Verdammt.

Schuldgefühle und ihr unbeirrbares Pflichtbewusstsein ließen sie bremsen und anhalten. Atemlos holte sie das Handy heraus. Wenn sie den Anruf nicht jetzt entgegennahm, musste sie es später tun, und diese Aussicht würde ihr den ansonsten wolkenlosen Tag verdüstern. Es war der Preis, den sie dafür zahlen musste, dass sie fortgelaufen war. Man konnte zwar fortlaufen, doch die moderne Technik machte es unmöglich, sich zu verstecken.

»Lily, Liebes? Hier ist Mom.«

Sie schloss kurz die Augen.

Sie hatte diesen Anruf erwartet, seit sie die Einladung, nach Hause zu kommen und »über alles zu reden«, ausgeschlagen hatte. Als ob es etwas ändern würde, noch einmal darüber zu reden.

Immer, wenn der Name ihrer Mutter auf dem Handydisplay auftauchte, zog sich ihr Magen zusammen. Schuldgefühle krallten sich in ihre Eingeweide. Ihre Eltern hatten große Opfer für sie gebracht, und sie gab ihnen praktisch eine Ohrfeige. Und nannte ihnen nicht einmal einen Grund dafür. Zumindest keinen, den sie verstanden.

Sie hatten etwas Besseres verdient.

»Ich bin auf dem Weg zur Arbeit, Mom. Ich darf nicht zu spät kommen.« Nie waren ihr dreckiges Geschirr und die Wäsche anderer Menschen verlockender erschienen. Lieber beschäftigte sie sich damit, als mit ihrer Mutter zu reden. Jedes Gespräch warf sie zurück und hinterließ quälende Schuldgefühle, sodass sie das Vertrauen in den eingeschlagenen Weg verlor. »Ist alles in Ordnung?«

»Nein. Wir machen uns Sorgen um dich, Lily.« Die Stimme ihrer Mutter bebte. »Wir verstehen nicht, was los ist. Warum erklärst du es uns nicht?«

Lily umklammerte das Handy. »Nichts ist los. Und ihr braucht euch keine Sorgen zu machen.« Sie wiederholte dieselben Worte, die sie schon hundert Mal gesagt hatte, auch wenn sie nie zu ihnen durchzudringen schienen.

»Kannst du es uns verdenken, dass wir uns Sorgen machen? Wir haben eine aufgeweckte, hochintelligente Tochter, die sich entschieden hat, ihr Leben, für das sie hart gearbeitet hat, fortzuwerfen. Und das ohne Grund.«

Ohne Grund? Als ob sie aus einer Laune heraus gehandelt hätte. Als ob sie eines Morgens aufgewacht wäre und aus Spaß entschieden hätte, all diese Jahre harter Arbeit fortzuwerfen.

»Es geht mir gut. Das hier ist meine Entscheidung.«

Ihre Eltern waren wundervolle Menschen, aber mit ihnen zu sprechen war unmöglich.

»Isst du genug? Hast du etwas zugenommen? Als du fortgegangen bist, warst du nur Haut und Knochen.«

»Ich esse. Ich schlafe. Es geht mir gut. Wie geht es dir und Dad?«

»Wir vermissen dich natürlich. Komm nach Hause, Lily. Wir kochen für dich und verwöhnen dich und kümmern uns um dich.«

Beklommenheit umfing sie wie ein Umhang, der jeden Sonnenschein und alle Zuversicht abhielt.

Sie wusste, was es bedeuten würde, nach Hause zu kommen. Sie liebte ihre Eltern, doch sie würden mit besorgter Miene um sie herumschleichen, sodass Lily sich mehr Sorgen um sie als um sich selbst machte. Und dann würde sie Dinge tun, die sie nicht tun wollte, nur um sie zufriedenzustellen.

Sie hatte versucht, zu Hause zu wohnen. Am Anfang hatte sie es wirklich versucht (in erster Linie, weil sie keine andere Wahl gehabt hatte), doch es war zu anstrengend gewesen, so zu tun, als ginge es ihr gut.

»Ich bin glücklich, Mom. Ich brauche nur etwas Abstand. Es ist schön hier. Du weißt, dass ich das Meer immer geliebt habe.«

»Ich weiß. Ich erinnere mich, als du sechs warst und wir dich nicht von der Sandburg wegziehen konnten, die du gebaut hattest.« Eine Pause entstand. »Liebling, Dad hat ein paar Anrufe gemacht. Er glaubt, dass es nicht zu spät für dich ist, das Medizinstudium wieder aufzunehmen, wenn du möchtest.«

Lilys Herz begann zu hämmern. Aus der Beklommenheit drohte eine komplette Panikattacke zu werden. Ihre Brust zog sich zusammen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass ihr beinahe das Handy aus der Hand gefallen wäre.

Einmischung, auch gut gemeinte Einmischung, sollte als Verbrechen betrachtet werden.

»Das möchte ich nicht. Ich weiß, dass du und Dad enttäuscht seid …«

»Es geht nicht um uns, es geht um dich. Wir haben uns so bemüht, dir all die Möglichkeiten zu eröffnen, die wir nicht hatten.«

Lily sah hinaus aufs Meer und versuchte, ihre innere Ruhe wiederzufinden, doch die war mit dem ersten Vibrieren des Telefons dahin gewesen.

Sie hatten große Opfer für sie gebracht, und sie hatte ihnen quasi eine Ohrfeige versetzt. Sie fühlte sich furchtbar. Aber wenn sie geblieben wäre, würde sie sich noch furchtbarer fühlen.

»Auch für mich ist das schwierig, Mom.« Mit dem Kloß in ihrem Hals fiel ihr das Sprechen schwer. »Ich weiß, dass ich euch verletze, und das tut mir leid, aber genau hier möchte ich sein. Ich kann keine Ärztin sein. Ich will Künstlerin werden.«

»Das sagst du, aber du putzt Häuser.«

»Um Geld zu verdienen, während ich nach einer Arbeit suche, die ich liebe.« Und während sie versuchte, die Anspannung in ihrem Körper zu lösen und das Chaos in ihrem Kopf zu entwirren. »Es ist nichts Schlechtes daran, Häuser zu putzen. Mir gefällt es. Und es ist eine anständige Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Du hast das auch getan.«

»Weil ich nicht die Möglichkeiten hatte, die du hast.«

Lily spürte, wie die Schuldgefühle sie überwältigten.

Ihre Mutter seufzte. »Brauchst du Geld? Wir haben noch Ersparnisse.«

Angesichts dessen, was ihre Eltern ihr bereits finanziert hatten, musste es ihnen schwergefallen sein, weiteres Geld zurückzulegen. Sie hatte sich geschworen, nie wieder einen Cent von ihnen anzunehmen.

»Ich brauche kein Geld, aber danke.« Sie wollte nicht an ihren mageren Kontostand denken. Sie war entschlossen, allein zurechtzukommen, koste es, was es wolle.

»Lily …«, begann ihre Mutter mit sanfter Stimme. »Dein Vater würde mich umbringen, weil ich dich das frage, und ich weiß, dass ich es nicht fragen sollte, aber ist etwas geschehen, Liebes? Hat dir jemand wehgetan? Dein Dad und ich dachten immer, dass du eine wunderbare Ärztin abgeben würdest. Du bist so ein freundlicher und mitfühlender Mensch.«

»Nichts dergleichen.« Lilys Kehle brannte. Sie wollte dieses Gespräch unbedingt beenden. »Können wir über etwas anderes sprechen?«

»Natürlich. Lass mich nachdenken … Hier ist nicht viel passiert. Dein Vater ist im Garten zugange.« Sie plapperte in einem fröhlichen Ich-lenke-das-Gespräch-auf-ein-unverfängliches-Thema-Ton. »Die Hortensien beginnen zu blühen. Sie werden wunderbar aussehen. Letzte Woche habe ich einen köstlichen Orangenkuchen gebacken. Ohne Mehl. Du kennst deinen Vater. Gemahlene Mandeln statt Mehl.«

»Klingt lecker.« Sie stellte sich ihre Eltern zu Hause vor und verspürte einen Stich. Trotz allem vermisste sie sie. Fast wünschte sie sich, nach Hause zu fahren und sich verwöhnen zu lassen, doch sie wusste, dass dieses Gefühl in dem Moment verfliegen würde, in dem sie das Haus betrat. Innerhalb von Minuten würde ihr der Druck die Brust zuschnüren, und sie müsste nach Atem ringen.

»Ich bin sicher, dass ich dir noch etwas erzählen wollte.« Ihre Mutter hielt inne. »Was war es nur? Ach, ich erinnere mich – ich traf letzte Woche zufällig Kristen Buckingham. Sie ist immer so charmant und freundlich. So normal.«

Der letzte Mensch, an den Lily jetzt denken wollte, war jemand namens Buckingham.

»Warum sollte sie nicht freundlich und normal sein, Mom?« Lily wusste, wie unsicher ihre Mutter im Umgang mit ihren Freundinnen war, und sie hasste es. Es erinnerte sie an ihre Schulzeit, in der sie sich wie eine Hochstaplerin gefühlt hatte.

Ihre Eltern hatten geknausert und gespart und mehrere Jobs gehabt, um sie zur besten Schule vor Ort schicken zu können. Sie hatten geglaubt, dass sie eine hervorragende Erziehung genießen und einflussreiche Freunde finden würde, deren bessere Startchancen sie quasi durch Osmose aufsaugen könnte. Sie stellten sich ihr Leben als eine Blase des Erfolgs vor, in der sie mit Menschen zu tun hatte, deren Eltern Anwesen und Jachten und Jets besaßen. Menschen, deren Kühlschrank überquoll vor Essen und die sich nie Sorgen machen mussten, wie sie es bis zum Ende der Woche einteilten, damit es reichte. Menschen, die Fahrer hatten und Haushälterinnen und Angestellte, die den Schnee aus der Einfahrt schippten.

Tatsächlich hatte sie solche Menschen kennengelernt, doch die meiste Zeit war sich Lily wie ein Straßenköter vorgekommen, der sich in einen Wurf von Rassehunden geschmuggelt hatte. Sie scheute sich, irgendwas von ihrem Hintergrund zu offenbaren, weil sie wusste, dass er anders war als der der anderen. Sie verbarg ihr wahres Ich hinter einer Fassade, weil sie wusste, dass sie nicht dazugehörte. Trotz ihrer Anpassungsversuche war sie schlimm gemobbt worden. Dass die Arbeit und die elterlichen Erwartungen sie fast erdrückten, machte es noch schlimmer. Zu versagen hätte bedeutet, diese Menschen, die sie so sehr liebte und die auch sie liebten, im Stich zu lassen. Sie hatten sich fast umgebracht, um ihr die Möglichkeiten zu eröffnen. Sie durfte nicht versagen.

Die ganze Zeit hatte die Panik unter der Oberfläche gelauert und sie zu ersticken gedroht. Nur das Wissen um das Opfer ihrer Eltern und ihren Stolz auf ihre Tochter hatte sie morgens aus dem Bett getrieben. Sie hatte ihnen nicht sagen können, wie unglücklich sie war und dass es für sie kein Erfolg war, wenn sie sich mit einer Panikattacke in der Toilette einschloss.

Bis zu dem Tag, an dem Hannah Buckingham sie vor einem Quälgeist rettete, die ihr den Pferdeschwanz abschneiden wollte, ging es ihr furchtbar. Doch dann änderte sich alles.

Hannah war die Enkelin des berühmten Malers Cameron Lapthorne und eine Verteidigerin der Unterdrückten. Sie hatte einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gegenüber allem. Sie wollte Wale retten und Sumatratiger und die Antarktis. Lily wurde dieser Liste hinzugefügt, und von da an waren sie beste Freundinnen. Hannah sagte Lily, dass sie die Schwester sei, die sie nie gehabt habe. Hannah kümmerte der Unterschied ihrer Haushaltseinkommen nicht. Ihr war egal, dass Lily kein eigenes Badezimmer hatte und keine Haushälterin, die ihr Zimmer in Ordnung hielt, und keinen Nachhilfelehrer, damit sie bestmögliche Noten erzielte. Hannah fand Lily interessant und wollte alles über sie wissen. Sie wollte jeden ihrer Gedanken hören. Zum ersten Mal im Leben konnte Lily sie selbst sein.

Sie waren unzertrennlich. Mit Hannahs Schutz hörte das Mobbing auf, und Lily blühte auf. Mit Hannah als ihrer Freundin wuchs ihr Selbstbewusstsein. Sie fühlte sich nicht länger als Außenseiterin.

Sie wechselten beide ans selbe College, wo sie Biologie studierten, und bewarben sich dann für das Medizinstudium. Als ihre Zulassung eintraf, hatten Lilys Eltern geweint, weil sie so stolz und begeistert waren. Es war der glücklichste Tag ihres Lebens.

Lily war froh und erleichtert gewesen, dass sie ihre Ziele erreicht hatte. Dass sie all das war, was ihre Eltern sich für sie gewünscht hatten. Dass sie sie nicht enttäuscht hatte. Und eine kurze Zeit hatte sie auch geglaubt, dass sie das vielleicht durchhalten könnte.

Doch das Medizinstudium entpuppte sich als tausendmal schlimmer als die Schule. Sie war umgeben von hochintelligenten, ehrgeizigen und karriereorientierten Menschen.

Als der Druck wieder begann, ihr Denken zu beeinträchtigen, versuchte sie es zu ignorieren. Sie würde klarkommen. Sie hatte es bis hierher geschafft. Es gab so viele medizinische Fachgebiete. Sie würde das zu ihr Passende finden.

Dass Hannah keinerlei Zweifel hegte, machte die Sache nicht besser. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass sie wie ihr Vater Theo Chirurg werden wollte. Hannah wollte Leben retten. Sie wollte etwas bewirken.

Bei den wenigen Gelegenheiten, an denen sie ihm begegnet war, hatte Lily Theo einschüchternd gefunden, oder besser gesagt, sein Ruf hatte sie eingeschüchtert.

Hannahs Mutter Kristen war ebenso einschüchternd. Sie war Kunstexpertin, ein Wirbelsturm schierer Effizienz mit einem so geschäftigen Leben, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie Zeit zum Atmen fand.

Und dann gab es da noch Hannahs älteren Bruder Todd, der intelligent, attraktiv und liebenswürdig war und das Objekt der Begierde von Hannahs Freundinnen. Lily war keine Ausnahme. Als Teenager hatte Lily von Todd geträumt. Mit dreiundzwanzig hatte sie ihn während eines Klassentreffens in einer dunklen Ecke geküsst.

Lily war verliebt in Todd, doch Todd datete jetzt Amelie.

Lily hatte sich abgewöhnt, an Todd zu denken.

»Ich meine nur, dass Kristen sehr wichtig ist, Lily, das ist alles«, sagte ihre Mutter gerade. »Aber sie nimmt sich immer die Zeit, mit mir zu sprechen, wenn wir uns begegnen.«

»Sie ist nur ein Mensch, Mom. Ein Mensch wie wir anderen auch.«

»Nun, nicht wie wir anderen auch«, sagte ihre Mutter. »Ihr Vater war Cameron Lapthorne. Ich tue nicht so, als verstünde ich etwas von Kunst, aber sogar ich kenne seinen Namen.«

Hannah hatte Lily mal mit zum Lapthorne-Anwesen genommen. Es war der schönste Tag in Lilys Leben gewesen. Begierig hatte sie die Bilder des Malers eingesogen, jeden Pinselstrich studiert, voller Ehrfucht und auch voller Neid auf jeden, der ein Leben als Künstler führen konnte. Hannah hatte ihr ein Buch über das Werk ihres Großvaters geschenkt, und es war Lilys größter Schatz geworden. Sie markierte die Seiten, bewunderte die Bilder und schlief damit unter dem Kopfkissen.

Seit sie alt genug war, einen Pinsel in der Hand zu halten, liebte Lily Kunst. Sie hatte alles gemalt, was sie sah. Wenn ihr das Papier ausging, hatte sie die Wände bemalt. Sie hatte ihre Schultasche und die Laufschuhe bemalt. Sie hatte zu ihren Eltern gesagt: Ich möchte Künstlerin werden, und eine Zeit lang waren sie beunruhigt gewesen. Damit kann man kein Geld verdienen, hatten sie gesagt, und dass sie klug genug sei, um Ärztin oder Anwältin zu werden. Lily wusste, wie sehr sie sich das für sie wünschten und wie viel sie geopfert hatten. Sie brachte es nicht über sich, sie zu enttäuschen. Und so hatte sie pflichtschuldig begonnen, Medizin zu studieren – und unterschätzt, welchen Preis sie dafür bezahlen würde.

»Lily? Bist du noch dran?«

Lily zwang sich in die Gegenwart zurück. »Ja. Wie war Kristen so?«

»Beschäftigt wie immer. Sie organisiert gerade ein großes Event auf dem Lapthorne-Anwesen. Zur Feier des Geburtstags ihrer Mutter und anlässlich des Todestags ihres Vaters, des Malers. Ich glaube, es findet heute statt. Todd wird dort sein mit seiner Verlobten, ich habe ihren Namen vergessen. Ach ja, Amelie, so heißt sie. Und Hannah wird natürlich dort sein. Kristen hat uns und dich eingeladen, was sehr großzügig von ihr ist.«

Verlobte?

Lily begann zu zittern. »Todd ist verlobt?«

»Ja. Laut Kristen war es ein bisschen überstürzt. Sie gingen erst seit ein paar Monaten miteinander aus, und sie dachte, es sei nur oberflächlich. Sie hatte keine Ahnung, dass es so ernst war, und dann verkündeten die beiden plötzlich, dass sie heiraten würden. Ich bin sicher, dass die Hochzeit ein Riesenevent wird. Kristen sagte, dass das eine weitere Sache sei, die sie organisieren müsse, auch wenn ich nicht verstehe, warum sie dafür verantwortlich sein sollte. Sie ist eine beeindruckende Frau.«

Lily dachte nicht an Kristen. Lily dachte an Todd.

Sie stellte sich Todd im Garten von Lapthorne Manor vor, mit einem Glas Champagner in der Hand. Neben ihm Amelie, die einen riesigen funkelnden Diamanten am Finger trug und Todd mit diesem verführerischen Augenaufschlag ansah, der Männerhirne schmelzen und sie dumme Dinge tun ließ.

Amelie war an der Schule das beliebteste Mädchen gewesen. Sie hatte die besten Noten, die schnellste Zeit beim Laufen und das breiteste Lächeln. Amelie war das Mädchen, dem vermutlich alles gelang. Sie war außerdem das Mädchen, das versucht hatte, Lilys Pferdeschwanz abzuschneiden. Und jetzt heiratete sie Todd. Den netten, lustigen, klugen Todd.

Todd hatte Lily das Herz gebrochen und wusste es nicht einmal.

Ihre Handflächen waren feucht, als sie versuchte, sich auf den Anruf zu konzentrieren. »Gehst du zu der Party?«

»Nein, natürlich nicht. Dein Vater wüsste nicht, was er sagen sollte, und ich wüsste nicht, was ich anziehen sollte. Sie sind deine Freunde, nicht unsere. Kristen erwähnte, dass Hannah ihre Famulatur Spaß macht, aber das weißt du vermutlich, da sie deine beste Freundin ist.«

Lily wusste es nicht. Seit dem schrecklichen Streit an dem Abend, als sie ihre Sachen gepackt und die Medizinische Hochschule endgültig verlassen hatte, hatten Lily und Hannah nicht mehr miteinander gesprochen.

Immer wenn Lily an Hannah dachte, war ihr zum Weinen zumute. Sie hatten geschworen, dass nichts und niemand jemals zwischen sie käme, und hatten das aufrichtig geglaubt.

Sie hatten sich geirrt.

»Ich muss los, Mom. Ich komme zu spät zur Arbeit und möchte die Leute nicht im Stich lassen.« Sie zuckte zusammen, weil ihr bewusst wurde, dass sie ihre Eltern im Stich gelassen hatte. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin glücklich. Ich mag mein Leben.«

»Wir wollen nur nicht, dass du deine Talente vergeudest, Liebes. Du kannst so vieles. Du könntest Krebs heilen …«

Krebs heilen? Aber kein Druck.

»Ich habe das Medizinstudium gehasst.« Die Worte brachen aus ihr heraus. »Es war nichts für mich.« Und an dem Druck, so zu tun, als hielte sie mit den anderen mit, wäre sie fast zerbrochen. Sie erwartete nicht, dass ihre Eltern es verstanden. Sie glaubten, dass, wenn man klug genug war, Ärztin zu werden, es keinen Grund gab, es nicht zu werden. Sie wusste nicht, wie sie ihre Eltern stolz machen und dennoch das Leben führen konnte, das sie führen wollte. »Ich will Künstlerin sein, Mom. Das ist alles, was ich je wollte. Das weißt du.«

»Ich weiß, aber was für eine Zukunft hat das? Dein Dad und ich wollen nicht, dass du finanzielle Probleme hast wie wir, das ist alles. Das Leben kann hart sein, Lily.«

Lily schloss die Augen. Das wusste sie. Sie wusste, wie hart das Leben sein konnte.

»Ich komme bestens zurecht. Und ich werde es dir und Dad zurückzahlen.«

»Das ist nicht nötig, Liebes. Wir lieben dich. Denk daran, dass du hier ein Zuhause hast und immer willkommen bist, wenn du es brauchst.«

Lily spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte. Es wäre einfacher, sie zu enttäuschen, wenn sie nicht so nett wären. Wenn sie sie nicht so lieben würden. »Danke. Liebe Grüße an Dad.«

Sie beendete das Gespräch und fragte sich, warum große Lebensentscheidungen so schwierig sein mussten und warum ihre Mutter von all den Menschen, die sie hätte treffen können, ausgerechnet Kristen Buckingham über den Weg gelaufen war.

Ihre kleine Blase aus Glück hatte eine ziemliche Delle bekommen.

Todd war verlobt. Er würde Amelie heiraten, und zweifellos würden sie zwei perfekte Kinder und einen Hund haben und ein langes und glückliches Leben ohne jegliche Hindernisse führen.

Doch daran würde sie jetzt nicht denken. Und auch nicht an Hannah. In den letzten Monaten hätte sie ihr zweimal beinahe eine Nachricht geschickt. Das eine Mal hatte sie die Nachricht sogar geschrieben, sie dann aber gelöscht. Hannah war furchtbar wütend auf sie gewesen, und Lily war wütend auf Hannah gewesen. Sie waren beide gekränkt, und Lily hatte keine Ahnung, wie sie diese Kränkung überwinden sollten. Da sie von Hannah nichts gehört hatte, wusste die es offenbar ebenfalls nicht.

Die Freundschaft, von der sie geglaubt hatten, dass nichts sie zerstören könne, war zerstört. Zerbrochen. Amelie hätte sie ebenso gut mit der Schere durchschneiden können.

Doch das lag in der Vergangenheit.

Hannah wohnte in der Stadt, und Lily war hier am Cape. Und auch wenn sie ihre ganzen Emotionen mitgebracht hatte, war das der erstickenden Atmosphäre ihres Elternhauses immer noch vorzuziehen. Immerhin war es ihre Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Zum ersten Mal lebte sie ein selbst gewähltes Leben.

Sie wünschte nur, dass es einfacher wäre.

Mit feuchten Augen verstaute sie das Handy wieder in der Tasche und trat in die Pedalen. Der Anruf hatte sie zehn Minuten gekostet, doch wenn sie sich beeilte, würde sie die Arbeit trotzdem schaffen.

Der Wind trocknete die Tränen auf ihren Wangen. Eines Tages würde sie ihre Eltern entschädigen. Sie würde einen Weg finden, sie stolz zu machen, auch wenn sie keinen Krebs heilte.

Sie bog in die Auffahrt eines großen Anwesens und fuhr hinauf zur Villa, wo ihr plötzlicher Stopp ein paar Kiesel aufspritzen ließ. Dann griff sie nach ihrem Rucksack, lief zur Eingangstür und winkte dem Gärtner Mike zu, der Paletten mit Pflanzen von der Ladefläche seines Trucks lud.

Dieses spezielle Strandhaus war eine Erste-Klasse-Immobilie und in den Sommermonaten verlässlich ausgebucht. Es bot Platz für bis zu vierzehn Personen, und die letzten vierzehn, die es bewohnten, hatten, nach dem Zustand der Küche zu urteilen, offenbar eine gute Zeit gehabt.

Die Vermietungsagentur, für die sie arbeitete, versorgte den Luxusmarkt, und Lily war immer wieder überrascht, dass diese Klientel es offenbar nie gelernt hatte, auch nur ansatzweise hinter sich aufzuräumen.

Sie hob leere Pizzakartons auf, entfernte eine weggeworfene Hummerschale von einem der Küchenstühle (sie könnte Krebs heilen, doch stattdessen hob sie Hummerschalen auf) und warf ein halbes Dutzend leere Champagnerflaschen in den Recyclingcontainer. Sie wischte und spritzte und schrubbte und polierte. Nachdem sie die Küche in ihren herkömmlichen tadellosen Zustand zurückversetzt und sich versichert hatte, dass kein bleibender Schaden entstanden war, nahm sie sich die Schlafzimmer vor.

Als sie fertig war, war es Nachmittag.

Sie trank aus der Wasserflasche, die sie sich mitgebracht hatte, und holte ihr Fahrrad.

»Ich bin fertig.« Sie schob ihr Rad zu Mike, der über einem Blumenbeet kauerte.

Mike hatte als Investmentbanker gearbeitet, bis er einen schweren Burn-out erlitt. Jetzt arbeitete er als Gärtner und sagte, dass dies die beste Entscheidung seines Lebens gewesen sei. Hilfreich war natürlich, dass er vor seinem Richtungswechsel eine große Summe Geld gemacht hatte.

Er stand auf, stieg über ein Büschel von Petunien hinweg und kam zu ihr. »Wo willst du als Nächstes hin?«

»Dune Cottage.«

»Der Ort ist mir ein Rätsel.« Er zog sich den Hut tiefer ins Gesicht, um die Sonne abzuhalten. »Hast du irgendwann mal erlebt, dass dort jemand wohnt?«

»Nie. Der einfachste Putzjob der ganzen Woche. Ein bisschen Staub wischen. Die Fenster putzen, die Terrasse wischen. Gelegentlich die Betten neu beziehen. Alles melden, was repariert werden müsste.«

»Was glaubst du, wem es gehört?«

Lily zuckte die Achseln. »Ich schätze, irgendeinem Millionär aus Manhattan, der es sich leisten kann, es leer stehen zu lassen.«

»Ist es nicht etwas zu klein für einen Millionär?«

»Vielleicht ist er ein Millionär-Single.«

Mike grinste. »Ein Millionär-Single. Gibt es so etwas? Geld ist ein mächtiges Aphrodisiakum.«

»Nicht für jeden.« Ihrer Erfahrung nach brachte Geld nicht immer das Beste in den Menschen hervor. »Ich muss los. Bis morgen, Mike.« Sie stieg auf und fuhr die Auffahrt hinunter auf den Radweg, der zu einem entlegenen Teil des Outer Cape führte. Sie fuhr über sandige Dünen und an Salzwiesen vorbei, bis endlich das Cottage auftauchte, versteckt zwischen Dünen und durch weichen Sand und wogendes Schilf vom Meer getrennt. Die weißen Holzplanken an der Wand und das Schindeldach waren verwittert von den Elementen, dennoch stand das Gebäude stabil. Wie die Dünen drum herum war es zu einem Teil der Landschaft geworden.

Wem auch immer es gehörte, derjenige war der glücklichste Mensch auf der Welt, fand Lily. Und der dümmste, denn wer besaß ein solches Haus und nutzte es nicht? Das war eine sträfliche Verschwendung.

Manchmal spekulierten sie und die Kollegen. Es gehört einem Rockstar, der zehn Anwesen hatte und es nie schaffte, hierherzukommen. Es war ein Safe House des FBI. Der Eigentümer war tot und unter der Terrasse vergraben (da sie dort viel Zeit allein verbrachte, war das nicht Lilys bevorzugte Theorie).

Wer auch immer es besaß, sorgte dafür, nicht identifiziert zu werden. Die Verwaltungsgebühren wurden von einer merkwürdigen anonymen Firma bezahlt. Niemand konnte sich erinnern, wann das Cottage das letzte Mal bewohnt gewesen war. Es war, als wäre es vergessen, aufgegeben. Aber nicht endgültig aufgegeben, denn es wurde gepflegt, als könnte der Besitzer jeden Tag zurückkehren. Und Lily hatte die Aufgabe, das so beizubehalten.

In ihren Augen war es der perfekte Job. Wenn sie ihr Arbeitspensum schneller als geplant erledigt hatte, nahm sie sich eine Stunde oder mehr, um zu malen. Das Licht und die Ausblicke waren in diesem speziellen Bereich des Cape spektakulär.

Sie lehnte ihr Fahrrad an die Wand, nahm ihren Rucksack aus dem Korb und ging die Holzstufen zu der Terrasse hinauf, die sich um das Cottage schlängelte.

Wenn man Lily nach ihrem Traumhaus gefragt hätte, wäre es dieses. Die Villen entlang der Küste von Provincetown bis Hyannis waren nichts für sie. Sie wollte keinen Marmor, keinen Whirlpool, keinen Spieleraum, Fitnessbereich oder Kinosaal.

Sie wollte dies. Das ständig wechselnde Licht. Die Ausblicke. Das Gefühl, am Ende der Welt zu wohnen. An diesem Ort fühlte sie sich besser. Ihre Energie kehrte zurück, und sie wollte den Ausblick auf ihrem Skizzenblock festhalten, damit die Erinnerung für immer bei ihr blieb.

Sie kramte in ihrem Rucksack nach dem Schlüssel und öffnete die Haustür. Immer, wenn sie über die Schwelle trat, verliebte sie sich von Neuem in das Cottage. Es war ihr egal, dass es abgewohnt und verwittert war. Für sie machte das seinen Charakter aus. Dieses Cottage war bewohnt und geliebt worden. Es hatte Geschichte.

Sie zog die Schuhe aus und ließ die Tür weit offen, damit Luft und Sonnenschein ins Haus drangen.

Die Einrichtung war einfach und jedes Stück passend zum Meeresambiente ausgewählt. Das durchgesessene Sofa war mit einem blauen Stoff bezogen, der inzwischen ausgeblichen war, aber einst den Sesseln gegenüber entsprochen hatte. Überall gab es Hinweise auf Schifffahrt. Der Couchtisch war aus dem Holz eines Schiffswracks gefertigt, das zweifellos Opfer der gefährlichen Untiefen und wandernden Sandbänke geworden war. Auf dem Tisch stapelten sich Bücher, und manchmal kuschelte sich Lily abends aufs Sofa und las, während sie dem Rauschen der Wellen lauschte.

Das Wohnzimmer öffnete sich zu einer weiten Veranda, die Lily ständig wischte. Auf der hinteren Seite des Cottages, der Nordseite, befand sich ein Studio mit riesigen Fenstern, sodass das Licht in den Raum flutete.

Oben gab es ein Hauptschlafzimmer mit herrlichem Blick über die Dünen, ein zweites großes Schlafzimmer sowie einen dritten Schlafraum unter dem Dach.

Lily ging hinauf und zog den Kopf ein, um nicht gegen die Dachschräge zu stoßen, als sie ihren Rucksack in das kleinste Schlafzimmer brachte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und musste sich zusammennehmen, um nicht über die Schulter zu sehen, ob jemand sie beobachtete.

Nur eine Nacht, hatte sie sich gesagt, als sie das erste Mal hier übernachtete. Und dann waren aus der einen Nacht zwei Nächte geworden, und die zwei waren zu einer Woche geworden und zwei Monate später war sie immer noch hier. Am Anfang hatte sie sich so schuldig gefühlt, dass sie nicht mal das Bett benutzt hatte. Sie hatte ihren Schlafsack ausgepackt und auf dem Sofa im Wohnzimmer geschlafen, wo sie das Morgenlicht weckte. Sie hatte die Dusche in dem kleineren der beiden Badezimmer benutzt und sich eingeredet, dass ein gelegentlicher Wasserdurchfluss in Dusche und Toilette ein wichtiger Teil ihres Jobs sei und zu ihren Aufgaben gehöre.

Sie hatte nicht immer hier gewohnt. Im Winter hatte sie sich mit zwei anderen Mädchen ein Zimmer in einem Stadthaus geteilt, doch dann begann die Touristensaison, und alle Betten wurden für Gäste benötigt. Lilys Geld reichte nicht, um die Miete für eine neue Unterkunft zu bezahlen.

Das redete sie sich jedenfalls ein, doch in Wahrheit konnte sie es nicht über sich bringen, diesen wunderschönen Ort zu verlassen. Manchmal hatte sie das Gefühl, das Cottage brauche sie genauso, wie sie das Cottage brauchte. Und wer sollte schon davon erfahren? Nach Sonnenuntergang kam niemand hier draußen raus. Und wenn sie jemand tagsüber hier antraf, würde sie einfach sagen, dass sie im Cottage sauber machte. Das war schließlich ihr Job.

Nach und nach hatte das Cottage sie eingeladen und ihr das Gefühl gegeben, zu Hause zu sein. Sie war von dem etwas klumpigen Sofa zu dem kleinen Schlafraum unterm Dach aufgestiegen (das Hauptschlafzimmer hätte eine Grenzüberschreitung bedeutet), und nun lag ihr Schlafsack auf dem Bett, und sie hatte sogar ein paar Toilettenartikel im Badezimmer.

Mit der Zeit hatte sie begonnen, das Cottage als ihres zu betrachten. Sie kümmerte sich ebenso liebevoll darum wie um ein Familienmitglied. Sie konnte nichts gegen die abblätternde Farbe oder die etwas abgewohnten Möbel tun, aber sie konnte dafür sorgen, dass es sauber war und immer bestmöglich aussah. Während sie die Kissen ausschüttelte und Staub wischte, redete sie manchmal sogar mit dem Haus.

Warum kommt niemand und wohnt in dir? Was sind das für Menschen, dass sie dich so allein lassen?

Wenn sie gefragt wurde, wo sie wohne, gab sie immer eine schwammige Antwort, sodass die Leute dachten, sie würde couchsurfen, bis sie etwas Längerfristiges fand. Tatsächlich hatte sie aufgehört, danach zu suchen. Zum Teil, weil sie nicht genug Zeit dafür hatte, vor allem aber, weil sie sich nicht überwinden konnte, hier fortzugehen. Und sie sah keinen Grund dafür, das Cottage stand schließlich leer.

Sie war gern allein. Das bedeutete, dass sie sie selbst sein konnte und nicht etwas vorgeben musste, was sie nicht war. Sie liebte es, abends auf der Terrasse sitzen zu können und zuzusehen, wie die untergehende Sonne rote Streifen über den Himmel und das Wasser schickte. Wenn sie nicht schlafen konnte, konnte sie das Licht anmachen und lesen, ohne jemanden fragen zu müssen, ob das okay war. Sie konnte essen oder nicht essen, ohne dass jemand auf ihre Nahrungsaufnahme achtete. Sie konnte fühlen, was sie fühlte, ohne den zusätzlichen Druck, dass sie damit jemandem Sorgen bereiten könnte.

Sie musste nicht so tun, als ginge es ihr gut.

Denn es ging ihr nicht gut. Sie war wund, innerlich und äußerlich, und bis sie heilte, wollte sie nirgendwo anders sein als hier. Sie konnte sich keinen besseren Ort vorstellen, um ihre Wunden zu lecken.

Das Cottage tat ihr gut, weil es sie verlockte, auf der sonnigen Terrasse zu sitzen oder in die gemütliche Küche zu gehen, um sich ein Sandwich oder einen Becher heiße Schokolade zu machen. Anders als die funktionalen, modernen Küchen in den Häusern, die sie ansonsten putzte, verströmte die Küche hier mit den alten Holzschränken und den Holzoberflächen ein warmes Willkommensgefühl.

Doch der größte Trost für Lily waren die Bilder. Die Wände waren übersät damit. Zeichnungen, Ölgemälde und Pastelle – sie hatte sie alle eingehend studiert, jeden Pinselstrich und jede Linie genau gemustert, weil sie alle außergewöhnlich waren. Sie konnte kaum fassen, dass Bilder dieser Qualität an den Wänden eines fast aufgegebenen Strandhauses hingen. Schließlich handelte es sich nicht um Drucke, wie man sie zu Tausenden in diversen Läden am Cape kaufen konnte, und sie waren keinesfalls das Werk eines Amateurs. Sie war sicher – jedenfalls so sicher, wie sie sein konnte –, dass zumindest einige der Bilder von Cameron Lapthorne stammten. Seine Initialen standen unten auf den Bildern. CL. Und sie erkannte seinen Stil wieder.

Das beste Bild war ihrer Meinung nach das große Aquarell, das im Wohnzimmer hing. Sie hatte das Bild stundenlang betrachtet, angezogen von den subtilen Farbübergängen und fasziniert von der Frauenfigur im Sand, die auf das Meer hinausstarrte. Wer war sie und was dachte sie? Bewunderte sie nur die Aussicht oder wollte sie sich ins kalte Wasser werfen und ihrem Elend ein Ende bereiten?

Jedes Mal wenn sie das Bild betrachtete, erschien es ihr anders. Die Schatten. Das sanfte Leuchten auf der Meeresoberfläche. Es war ebenso wechselhaft wie die Landschaft, die das Bild inspiriert hatte. Beim Betrachten spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenzog und ihre Kehle sich zusammenschnürte. Das war nicht nur ein Bild, es war eine Geschichte. Es ließ sie fühlen. Wer auch immer die Frau war – Lily fühlte sich ihr verbunden.

Und wenn sie richtiglag, dass dies ein Original war, dann war allein dieses Bild Millionen wert. Doch das Geld kümmerte sie nicht. Für sie lag der Wert in seiner Schönheit. Dieses Bild stundenlang betrachten zu können war ein Privileg. Als hätte man einen Exklusivblick auf die Mona Lisa oder Monets Seerosen.

Mike irrte sich vermutlich, wenn er glaubte, dass der Besitzer des Cottages nicht viel Geld hatte. Vielleicht gehörte es keinem Milliardär, doch zumindest jemandem, der so viel Geld hatte, dass es ihn nicht kümmerte, wertvolle Kunst unbeaufsichtigt zu lassen.

Oder vielleicht war es doch kein Original.

Sie hatte sich eingehend mit Cameron Lapthornes Werk befasst, doch dieses Bild war nirgends erwähnt, und es entsprach auch nicht seinem üblichen Stil.

Sie riss sich von dem Bild los und ging ins Studio, wo sie ihre Farben und Leinwände in einem der Schränke versteckt aufbewahrte.

Sie hatte mittags nichts gegessen, doch wenn sie sich jetzt etwas zu essen zubereitete, verlor sie kostbare Momente des Lichts. Außerdem hatte das Gespräch mit ihrer Mutter ihr ohnehin den Appetit verdorben. Statt zu essen, griff sie nach ihrem Block und den Ölpastellkreiden und ging auf die Veranda.

Sie wollte malen. Und auch wenn nichts von dem, was sie schuf, das magische Licht am Cape auch nur annähernd so einfing, wie Cameron Lapthorne es seinerzeit gelungen war, würde sie es weiterhin versuchen.

Das Essen konnte warten. Und auch die Suche nach einer anderen Unterkunft.

Es bestand keine Dringlichkeit. Schließlich nutzte niemand anders diesen Ort.

2

Cecilia

Sie war viel zu alt, um vor Schwierigkeiten davonzulaufen, doch das sollte sie nicht davon abhalten.

Cecilia Lapthorne sah aus ihrem Schlafzimmerfenster oben in dem alten weitläufigen Herrenhaus und fragte sich, wie sie ihre Flucht am besten bewerkstelligte. Sie konnte aus dem Fenster klettern, doch das schien ein bisschen dramatisch, wo es doch eine wunderbare Treppe in der Nähe ihres Schlafzimmers gab. Oder sie konnte direkt aus der Haustür marschieren (schließlich war es ihre eigene Haustür) und für den Fall, dass ihre Kinder sie aufhalten wollten, ihnen sagen, dass sie zurückkehren würde, wenn diese lächerliche Party, die sie unbedingt geben wollten, vorbei wäre.

Mit wachsender Missbilligung beobachtete sie, wie man die Rasenflächen und die Terrasse vorbereitete für eine Invasion von Menschen, denen sie nicht begegnen wollte. Gab es irgendetwas Lästigeres als Small Talk? Sie führte lieber ein einziges anständiges Gespräch über etwas Sinnvolles als hundert Gespräche über nichts.

Cecilia wusste, dass Kristen und Winston nur taten, was ihnen richtig für ihre Mutter erschien, doch was sie für das Richtige hielten, unterschied sich von dem, was sie selbst für das Richtige hielt. Als sie ihr zum ersten Mal von der geplanten Party erzählt hatten, hatte sie versucht, sie ihnen auszureden. Doch sie ließen sich nicht davon abbringen, dass diese Party sie in ihrem Kummer aufheitern würde. Sie fragte sich, ob das die Rache für den Brokkoli war, den sie als Kinder hatten essen müssen.

Jedenfalls ignorierten sie ihr Flehen, was sie nicht überraschen sollte. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt und hatte etwas mehr als fünfzig Jahre in Camerons Schatten gelebt – überragt von seiner großen und lauten Persönlichkeit (manche Menschen behaupteten, dass Cameron mindestens fünf Minuten vor seinem persönlichen Erscheinen bereits zu hören war). Bei öffentlichen Events war sie »Cameron Lapthornes Frau« oder manchmal »die Frau des Künstlers«. Sie war ein Accessoire, wenn auch, wie sie gern dachte, nicht so nutzlos wie die lächerliche Taschenuhr, die er in dem Irrglauben trug, dass sie ihn auf liebenswerte Weise exzentrisch erscheinen ließe.

Sie nehmen mich nicht wahr, hatte sie einmal zu Cameron gesagt, der ohne eine Spur von Ironie antwortete: Natürlich nehmen sie dich wahr – du bist mit mir hier.

So hatte sie die meiste Zeit ihrer Ehe verbracht. Als eine Begleitung. Ein Anhängsel. Ein Satellit. Unter Bildern in der Zeitung stand: Cameron Lapthorne und seine Frau Cecilia. Niemals Cecilia Lapthorne und ihr Mann Cameron. Es hatte nie einen Zweifel gegeben, wo sie in der Rangliste der Wichtigkeit stand. Meist hatte sie das nicht gekümmert. Sie war eine ruhigere, zurückhaltendere Person als ihr lauter, überschwänglicher Mann, freute sich für ihn, wenn er im Scheinwerferlicht stand, während sie sich lieber am Rande aufhielt, fern von der ungewollten Aufmerksamkeit.

Cameron war seit einem Jahr tot, doch sein Ableben hatte sie nicht von seinem Schatten befreit, denn nun war sie statt seiner Frau seine Witwe – noch immer wurde ihre Existenz durch ihre Beziehung zu dem Mann definiert.

Sie war die Hüterin seines Vermächtnisses, die Verwalterin seines strahlenden und überragenden Talents.

Sie musste neu anfangen. Aber wie?

Es war schwer, ein neues Leben zu beginnen, wenn das alte einen umgab. Camerons Präsenz war überall spürbar, umschlang sie wie Tentakeln, die sie festhielten.

Einen Monat nach seinem Tod hatte sie Camerons persönliche Habseligkeiten in ein Zimmer geräumt und die Tür abgeschlossen. In ihrem Schlafzimmer hatte sie seine Bilder abgehängt. Das hätte sie am liebsten im ganzen Haus getan, doch die Folge wären hochgezogene Augenbrauen und sehr viele Leerstellen an den Wänden gewesen.

Sie hatte sogar kurz überlegt, ob sie umziehen sollte, doch sie wollte den wunderschönen Garten nicht verlassen, den sie drei Jahrzehnte lang gehegt hatte. In jüngeren Jahren war ihre Leidenschaft für Kunst ebenso groß gewesen wie Camerons. Sie hatte gemalt, gezeichnet, sich in der visuellen Welt verloren. Heute war der Garten ihre Leinwand, hier experimentierte sie mit Formen, Farben und Textur. Ihr Garten fand landesweite Anerkennung, doch sie pflegte ihn nicht wegen der Aufmerksamkeit oder der Bestätigung. Sie tat es zu ihrem eigenen Vergnügen. Gartengestaltung befriedigte ihr Bedürfnis nach Kreativität, ohne dabei mit ihrem Mann zu konkurrieren.

Und jetzt gab es diese Party. Eine Feier der künstlerischen Meisterschaft von Cameron Lapthorne. Eine Retrospektive seines Werks, die einige bislang unbekannte Bilder zeigen sollte, um neue Perspektiven auf den Künstler zu eröffnen.

Cecilia hätte eine Menge Perspektiven auf den Künstler eröffnen können, inklusive der Tatsache, dass vieles von dem, was die Öffentlichkeit zu wissen meinte, nicht stimmte. Dort sah man nur das Genie. Das Publikum sah weder die Unsicherheiten noch die Fehler.

Die Party war natürlich Kristens Idee gewesen. Kristen, ihre älteste Tochter. Daddys Mädchen. Kristen, die so viel tatkräftiger war als ihr jüngerer Bruder Winston.

Liebte Cecilia sie? Ja, natürlich tat sie das. Aber mochte sie ihre Tochter? Nicht immer. Im Moment nicht.

Es war Kristen, die sich um das Tagesgeschäft des Lapthorne-Vermächtnisses kümmerte. Als Cameron noch lebte, hatte sie ihm mit dem Archiv geholfen, indem sie jedes Bild, das er malte, sorgsam katalogisierte. Sie arbeitete mit Museen, Galerien und Privatsammlern zusammen, kümmerte sich um die Lagerung, den Transport und die Ausstellung der Kunstwerke. Mit einem kleinen, sorgfältig ausgewählten Team bearbeitete sie zudem die Anfragen von Presse und Forschung.

Und sie hatte diese Party organisiert, um Camerons Leben und Cecilias fünfundsiebzigsten Geburtstag gemeinsam zu feiern.

Kristen war der Grund, warum Cecilia sich von Cameron nicht getrennt hatte.

Als Kristen neun Jahre alt war, hatte Cecilia ihr eröffnet, dass sie und Cameron sich scheiden lassen würden. Weil sie keinen Keil zwischen Vater und Tochter treiben wollte, erzählte sie ihr nichts von ihren Gründen. Angesichts der Umstände war sie stolz auf ihr gefasstes, erwachsenes Verhalten. Leider ging ihre Gefasstheit nach hinten los und mündete darin, dass Kristen Cecilia die Schuld für alles gab. Cecilia lebte noch im Haus, ihr Vater hatte gegen seinen Willen ausziehen müssen. Kristen war überzeugt, dass ihre Mutter ein schrecklicher Mensch war. (Winston war damals fünf Jahre alt gewesen und hatte von alldem fast nichts mitbekommen.)

Kristen war so wütend gewesen, dass sie sich weigerte, bei ihrer Mutter zu bleiben und weinend aus dem Haus rannte. Als sie blind vor Tränen die Straße überquerte, wurde sie von einem Wagen erfasst, der gerade die Commonwealth Avenue entlangfuhr. Sie wurde so schwer verletzt, dass ihr Leben tagelang am seidenen Faden hing. Cecilia und Cameron schoben ihre Meinungsverschiedenheiten beiseite und saßen gemeinsam an ihrem Krankenbett. Cecilia machte sich Vorwürfe und schloss aus Camerons demonstrativem Schweigen, dass er ihr ebenfalls Vorwürfe machte. Als Kristen endlich aus dem künstlichen Koma aufwachte, wollte sie beide Eltern an ihrem Bett. Sie waren so erleichtert gewesen und so entschlossen, das Trauma zu heilen, dass fortan von Trennung keine Rede mehr war.

Cameron zeigte sich erfreut, dass der Unfall etwas erreicht hatte, was er mit all seinen Entschuldigungen und Beteuerungen nicht geschafft hatte.

Am Tag vor Kristens Entlassung aus dem Krankenhaus zog er stillschweigend zurück ins Haus.

Cecilia hatte die Bedürfnisse ihrer Kinder über die eigenen gestellt. Die Schuldgefühle, dass ihr Handeln unabsichtlich den Unfall ihrer Tochter herbeigeführt hatte, zerfraßen sie fast.

Irgendwie waren sie und Cameron durch die Jahre nach der Trennung und nach Kristens Unfall gestolpert, bevor sie mit der Zeit einen Rhythmus fanden.

Kristen hatte sich langsam erholt, doch die Beziehung zu ihrer Mutter hatte sich für immer verändert. Sie verteidigte entschieden ihren Vater, ergriff bei allem für ihn Partei. Die beiden wuchsen zu einer Einheit zusammen, und so blieb es.

Während sie jetzt in den Garten hinunterschaute, sah Cecilia, wie Kristen mit den Händen fuchtelte und Anweisungen an das verwirrte Personal gab, dessen Leben normalerweise ruhig und unaufgeregt verlief. Die Angestellten führten den Haushalt ohne große Einmischung von Cecilia, die es bevorzugte, jemanden für einen Job einzustellen und ihn diesen Job dann erledigen zu lassen. Ihre Tochter dagegen bevorzugte es, jemandem einen Job zu geben und dann jeden Arbeitsschritt zu kontrollieren, um der Person dann mitzuteilen, was sie alles falsch machte.

Seit dem Tag ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus kommandierte sie alle herum.

Als sie entschieden hatte, dass es an der Zeit war zu heiraten, hatte sie einen Chirurgen gewählt, der in seiner Arbeit so aufging, dass er seiner Frau nur zu gern erlaubte, jeden anderen Aspekt seines Lebens zu regeln. Cecilias Gefühle für ihren Schwiegersohn Theo waren kompliziert. Zweifellos war er ein brillanter Mann und dem Vernehmen nach ein hervorragender Chirurg, doch die wenigen Male, die er es zu einem Familientreffen geschafft hatte, war er mit den Gedanken woanders gewesen. Und wegen der häufigen Notrufe vom Krankenhaus war dann meist auch der ganze Mann bald woanders. Seine berufliche Wichtigkeit stand außer Frage, auch wenn Cecilia sich gelegentlich fragte, wer all die Unfallopfer in Massachusetts retten sollte, wenn Theo wegen Überarbeitung den Herztod starb. Manchmal hatte sie während eines Gesprächs mit ihm plötzlich ins Leere gesprochen, weil sein Handy vibriert hatte und er aufgestanden war, um dranzugehen. Trotz allem hatte sie eine tiefe Zuneigung für ihn entwickelt. Es war schwer, jemanden nicht zu mögen, der sich seiner Arbeit und der Rettung menschlichen Lebens mit solcher Leidenschaft verschrieben hatte. Zugleich empfand Cecilia, die den größten Teil ihres Lebens mit einem Mann verbracht hatte, der seine Arbeit über alles stellte, Mitgefühl mit ihrer Tochter. Doch Kristen machte es offenbar nichts aus. Sie schien völlig unberührt von einer Frustration, wie sie Cecilia damals gefühlt hatte, und war damit beschäftigt, für ihren Vater zu arbeiten, den Haushalt zu führen und die Kinder großzuziehen, bis sie das Haus verließen.

Seit Camerons Tod hatte sie sich angewöhnt, Cecilia einmal die Woche zu besuchen, um »nach ihr zu sehen« – Begegnungen, die sie beide anstrengten. Kristen wollte ständig über Cameron sprechen. Cecilia wollte an alles andere denken als an Cameron.

»Mom?« Hinter ihr ertönte Kristens Stimme. »Was versteckst du dich hier oben?«

Cecilia fuhr zusammen, als sie aus ihrer Betrachtung der sieben Catering-Trucks gerissen wurde, die gerade eingetroffen waren. (Sieben? Versorgten sie ganz Boston?) Sie war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie ihre Tochter den Garten verließ. Doch nun stand sie im vollen Kontroll-Modus auf der Schwelle von Cecilias Schlafzimmer. Hinter ihrer besorgten Miene lag Gereiztheit.

Cecilia war ebenfalls gereizt, hatte sie doch vorgehabt, irgendwie zu verschwinden, bevor Kristen auftauchte.

»Ich verstecke mich nicht. Ich lasse mir Zeit.«

Kristen trat ins Zimmer. »Die Gäste kommen bald, und du bist nicht einmal angezogen. Stimmt irgendwas nicht? Passt dir der Anzug? Du hast abgenommen, seit Dad gestorben ist. Ich wünschte, du würdest zum Arzt gehen.«

Reparieren, wiederherstellen, in Ordnung bringen. Das war Kristens Haltung zu allem. Sie schien nicht zu verstehen, dass man einige Dinge nicht in Ordnung bringen konnte, sondern sie erleiden und akzeptieren musste.

Sie schien nicht zu verstehen, wie komplex Cecilias Trauer war.

Ihre Lösung für Cecilias Ablehnung der Party bestand darin, ihr ein neues Outfit zu kaufen. Es lag vor ihr auf dem Bett, bereit, es anzuziehen.

Cecilia hatte keine Ahnung, ob es passte, weil sie es nicht anprobiert hatte. Sie musste nicht ihre Kleidung ändern, sondern ihr Leben.

»Ich brauche keinen Arzt. Ich habe keinerlei Verlangen, an dieser Party teilzunehmen, das ist alles. Das habe ich von Beginn an klargestellt.« Klang das bockig?

Kristen fand das offenbar, denn sie atmete tief ein und schloss die Schlafzimmertür.

Cecilia seufzte. Die geschlossene Tür bedeutete, dass sie »miteinander reden« würden.

Sie fragte sich oft, ob sie im Mittelpunkt der regelmäßigen Therapiesitzungen ihrer Tochter stand. Meine Mutter ist schwierig. Wir haben keine einfache Beziehung.

Kristen war zusammengebrochen, als ihr Vater starb. Als sie die Nachricht hörte, war sie schreiend zusammengesackt. (Genauso hatte sie reagiert, als Simon Overbrook im zweiten Collegejahr mit ihr Schluss machte. Die Erkenntnis, dass sie nicht alles und jeden nach ihrem Willen kontrollieren konnte, war ein einschneidender Schock gewesen.)

Immer wieder hatte sie »Warum? Warum?« gerufen. Cecilia war davon ausgegangen, dass sie fragte, warum es ihren Vater und nicht ihre Mutter getroffen hatte.

Niemand hatte sie trösten können, weil offensichtlich niemand sie je verstehen und niemand ihren Vater ersetzen konnte. Bei der Beerdigung hatte Theo bewegungslos neben ihr gestanden, erstarrt angesichts der immensen Trauer seiner Frau. Physische Verletzungen schreckten ihn nicht, aber mit emotionalen Verletzungen umzugehen lag jenseits seiner Möglichkeiten.

Kristen schien sich nach und nach aus dem lähmenden Kummer befreit zu haben und hatte sich in die Arbeit geworfen. Sie war beschäftigt, beschäftigt, beschäftigt, als wollte sie sich keinen noch so winzigen Moment erlauben, in dem sie an ihren Vater denken konnte.

Cecilia fiel ein, dass diese Ausstellung vielleicht Kristens Versuch war, ihren Vater lebendig zu halten.

Ihre Tochter schritt durch den Raum, hockte sich neben Cecilias Sessel (die Gelenkigkeit verdankte sie zwei wöchentlichen Yogastunden und einem persönlichen Pilates-Trainer) und ergriff die Hand ihrer Mutter.

»Du bist niedergeschlagen, das weiß ich. Trauer ist etwas Schreckliches. Erbarmungslos. Kraftraubend. Du musst am Boden zerstört sein.« Sie drückte ihr die Hand, vermutlich um ihr zu versichern, dass Cecilias Gefühle völlig normal waren.

Cecilia wusste, dass ihre Gefühle ganz und gar nicht normal waren. Sie sollte am Boden zerstört sein, doch das war sie nicht. Es war nicht so, dass sie nicht trauerte. Das tat sie durchaus, schließlich hatte sie ein ganzes Leben mit Cameron verbracht. Doch was sie nicht zugeben konnte, war, dass sie sich zugleich befreit fühlte.

Und sie musste noch entscheiden, was sie mit dieser Freiheit anfangen wollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie nur an sich selbst denken. Das war ebenso aufregend wie einschüchternd.

Der Parfumduft ihrer Tochter stieg ihr in die Nase.

Sie sah, dass Kristen frische Strähnchen im Haar hatte und die Frisur ein bisschen weicher fiel als ihr üblicher stumpfer Bob. Sie trug ein fließendes, körperumspielendes Kleid in Blau- und Grüntönen, das von einem der frühen Aquarelle ihres Vaters inspiriert sein könnte. Sie wirkte irgendwie jünger. Anders.

In den ersten Wochen nach Camerons Tod war Kristen nicht aus dem Bett aufgestanden, doch inzwischen schien sie ihre Energie wiedergewonnen zu haben, und heute strahlte sie geradezu.

»Das muss sehr schwer für dich sein.« Kristen sah sie mitfühlend an. »Es ist sehr bewegend, so viele von Dads Bildern hier ausgestellt zu sehen, oder? Ich verstehe das. Als sähe man die Geschichte seines Lebens.«

Cecilia blinzelte. Geschichte seines Lebens?

Da eine Antwort nötig war, bezog sie sich auf den Teil von Kristens Annahmen, der der Wahrheit entsprach. »Es ist schwer.«

»Ich vermisse ihn auch. Jeden Tag.« Kristens Augen wurden feucht, die Tränen flossen immer leicht, wenn sie an ihren Vater dachte. »Aber dieses Event ist eine Feier. Sie ist unsere Chance, der Kunstwelt und seinen Bewunderern zu zeigen, wer er wirklich war. Seine ganze Karriere, von Anfang bis Ende. Und wir haben Glück, dass es so ein schöner Tag ist. Wir dachten, du könntest deine Rede im Garten halten.«

Sie hatte die verdammte Rede vergessen, die Kristen für sie geschrieben hatte. Cecilia hatte sie erst vor ein paar Stunden gelesen und sofort gewusst, dass sie sie nicht halten konnte. Sie wollte nicht über Cameron sprechen. Sie wollte nicht über ihr gemeinsames Leben sprechen.

»Das kann ich nicht.«

Kristen tätschelte ihre Hand. »Das ist in Ordnung. Wir stopfen alle in das Gartenzimmer, wenn dir das lieber ist.«

Cecilia veränderte ihre Haltung. »Ich meine die Rede an sich. Ich kann sie nicht halten, Kristen.«

Jetzt war ein guter Zeitpunkt zu gestehen, dass sie nicht die Absicht hatte, auf die Party zu gehen. Aber sie scheute die Konfrontation.

Sie war ein Feigling.

Kristen wirkte beunruhigt. »Du musst nur ein paar nette Worte über Dad sagen. Das ist doch ganz leicht.«

Cameron, Cameron. Es ging immer um Cameron.

Was war mit ihrem Leben geschehen? Wo in all diesem Geschehen war sie, Cecilia?

»Mama?« Kristen klang angespannt, und Cecilia setzte sich aufrechter hin.

»Ich werde es nicht tun, Kristen. Halt du die Rede, wenn du möchtest, ich tue es nicht.«

»Aber warum?«

Weil sie nicht sicher war, dass die Worte aus ihrem Mund die richtigen sein würden.

Es war an der Zeit, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen. Zeit, neu anzufangen.

»Ich bin zu alt, um Reden zu halten«, sagte sie schließlich. Kristen stand abrupt auf.

»Gut. Ich mache es.«

Cecilia sah, wie sie innerlich ihre nie enden wollende To-do-Liste neu ordnete, und bemerkte, wie Kristen kurz auf ihr Handy sah, als wartete sie auf eine Nachricht.

»Ist Theo da?«

»Nein. Er konnte sich nicht vom Krankenhaus freimachen, aber er lässt grüßen.« Kristen steckte ihr Handy zurück in die Jackentasche. »Du solltest dich anziehen. Du weißt, dass du für die Dinge inzwischen ein bisschen länger brauchst.«

»Ich brauche nicht länger für die Dinge.« Sie wies die Andeutung, sie sei nur ein Schatten ihres früheren Ichs, zurück. »Ich nehme mir mehr Zeit für die Dinge, weil ich es mir erlauben kann.«

Geheimnisse machen einsam, erkannte sie. Ohne Aufrichtigkeit gab es keine tiefe Verbindung zwischen Menschen, und sie hatte ihren Kindern zu viel verheimlicht, um erwarten zu können, dass sie sie verstanden. Das schuf eine Distanz, denn es gab zu viele Dinge, von denen sie nichts wussten.

Kristen ging durchs Zimmer und nahm Cecilias Anzug vom Bett. »Ich kann es kaum erwarten, dich darin zu sehen. Er wird dir bestens stehen und du wirst auf den Bildern umwerfend aussehen.«

Cecilia sah die Bildunterschrift vor sich. Cameron Lapthornes Witwe Cecilia.

»Als du sechs warst, hast du dich oft geweigert, dich anzuziehen und zur Schule zu gehen.«

Kristen hielt sich den Anzug an. »Ist das hier die Rache für etwas, das ich mit sechs getan habe?«

»Nein. Du wolltest dich damals nicht anziehen und zur Schule gehen, weil du keinen Sinn darin gesehen hast. Du wolltest dort nicht hin.«

»Und du willst sagen, dass es dir heute genauso geht? Dass du den Sinn darin nicht siehst? Das ist verletzend, Mom.« Ihre Augen glänzten. »Diese Feier zu planen war ein Haufen Arbeit. Hast du eine Ahnung, wie sehr mich das gestresst hat?«

»Es tut mir leid, wenn du gestresst bist«, sagte Cecilia. »Aber du warst diejenige, die darauf bestanden hat.«

Ein Teil der Schuld traf allerdings sie. Sie hätte ihre Meinung schon früher deutlicher zum Ausdruck bringen sollen. Stattdessen hatte sie einfach alles geschehen lassen.

So lange hatte sie die Dinge geschehen lassen. Es war an der Zeit, dass sie die Kontrolle übernahm, doch sie wusste nicht so genau, wie sie das bewerkstelligen sollte. Konnte man eine lebenslange Gewohnheit wirklich noch verändern?

Gekränktheit lag in Kristens Miene. »Diese Party ist auch für dich. Ich habe Stunden um Stunden dafür gearbeitet, dass sie perfekt wird.«

Perfekt für wen?

Cecilia musterte ihre Tochter. Irgendetwas war eindeutig anders an ihr, doch sie konnte es nicht benennen und es war sinnlos, nachzufragen, weil sie diese Art von Beziehung nicht hatten. Sie hatten niemals eine Mutter-Tochter-Shoppingtour gemacht oder Mutter-Tochter-Wellnesstage. Sie fühlte sich schuldig, denn sie wusste, sie hätte sich mehr bemühen sollen, die Kluft zwischen ...

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