Kapitel 4
Ich bin mit Evie auf meiner Brust eingeschlafen, aber jetzt bin ich wach. Irgendetwas hat mich geweckt. Roxanne? Nein, das kann nicht sein. Sie ist schon vor Stunden gegangen.
»Joanne? Ich bin’s!«
»Richard?« Ich stehe auf und lege die verschlafene Evie zurück ins Bettchen. »Du bist schon zu Hause!« Ich laufe ihm entgegen, die Treppe hinunter. »Ich dachte, du müsstest heute länger arbeiten?«
Er knöpft seinen Mantel auf. »Ich habe Geoffrey gesagt, er kann es selbst machen, wenn er will. Aber ich gehe nach Hause. Ich vermisse meine Mädchen zu sehr.« Er stellt seine Aktentasche auf den Boden und breitet die Arme aus.
»Aber du bist trotzdem so früh zurück!« Ich schmiege mich in seine Umarmung.
»Ich habe mir für den Rest des Tages freigenommen.« Er küsst mich auf den Scheitel. »Es tut mir leid«, sagt er leise.
»Was denn?«
»Du wolltest heute Abend etwas Besonderes für uns machen, und ich bin ein langweiliger alter Mann. Ich lasse dich viel zu oft allein. Ich habe dich nicht verdient«, sagt er.
»Hättest du nur angerufen. Dann hätte ich mir zumindest die Haare gekämmt!«
Er fährt mir mit der Hand über den Kopf. »Dein Haar ist perfekt.«
Ich ziehe mich zurück und schaue an mir herunter. »Aber ich sehe schrecklich aus.« Ich trage ein unförmiges altes Sweatshirt und ausgebeulte Yogahosen. Und ich habe überall Evies Rotz an mir.
»Und ich finde, du siehst wunderschön aus. Komm, wir köpfen eine Flasche Wein.«
Das ist der Vorteil, wenn man nicht stillen kann. Ich darf abends ein Glas Wein trinken.
»Ich habe nichts zu essen vorbereitet«, sage ich.
»Lass uns was von Piccolino holen.« Er nimmt meine Hand.
»Oh, das machen wir«, sage ich. »Ich könnte töten für eine Pizza.«
*
Später sitzen wir an dem großen Holztisch in der Küche, zwischen uns das Babyfon. Richard wickelt Spaghetti um seine Gabel. Sein Haar fällt ihm in die Stirn. Ich sollte ihm einen Haarschnitt verpassen. Ich frage mich oft, weshalb sich jemand, der so intelligent und erfolgreich wie Richard ist, als ein solcher Nerd präsentiert. Manchmal muss ich ihn aufhalten, bevor er das Haus verlässt, um seinen Hemdkragen zu richten, weil er einen Knopf vergessen hat. Oder er trägt ein Paar Socken, das fast passt, aber nicht ganz. Oder er sucht seine Brille eine halbe Stunde, obwohl er sie buchstäblich auf dem Kopf hat. Ich habe ihn einmal zum Optiker geschickt, um sicherzugehen, dass er nicht blind wird. Aber nein, seine Sehkraft ist unverändert. Er brauchte nicht einmal eine neue Brille. Er ist einfach so, und ich würde ihn auch nicht anders haben wollen. Er ist mein persönlicher, gut aussehender Clark Kent mit grauen Schläfen, und ich schmelze dahin, wenn ich ihn nur ansehe.
»Du siehst müde aus, Darling.«
Ich versuche zu lächeln. »Sie ist letzte Nacht erst nach zwei Uhr eingeschlafen.«
»Du hättest mich wecken sollen.«
»Nein! Du musst doch zur Arbeit. Das wäre nicht fair.«
»Ich hätte helfen können. Wie ging es dem kleinen Monster heute?«
»Sie hat natürlich den ganzen Tag geschlafen. Wie ein Engel.« Ich beiße in mein Pizzastück und wische mir den Mund mit der Serviette ab. »Wie auch immer, ich habe Neuigkeiten.«
»Oh?«
»Ich habe heute mit Shelley gesprochen.«
Er schenkt uns beiden ein Glas Wein ein. »Shelley?«
»Von der Agentur.«
»Shelley. Ja, natürlich. Und wie geht es Shelley?«
»Ihr geht’s sehr gut. Aber ganz ehrlich, sie haben da enorm viel zu tun. Sie kommt kaum dazu, Luft zu holen.« Ich fange an, mit meiner Serviette zu spielen, sie zu falten und wieder zu entfalten. »Jedenfalls«, fahre ich fort, »hat sie mich gefragt, ob ich ein paar Tage in der Woche aushelfen könnte. Natürlich nur von zu Hause aus«, füge ich schnell hinzu, damit er nicht denkt, ich würde jeden zweiten Tag nach Chelmsford fahren.
Er sieht mich über den Rand seines Weinglases hinweg stirnrunzelnd an. »Aber Darling, hast du wirklich Lust darauf?«
Ich nehme mir noch ein Stück Pizza und vergesse dabei meinen früheren Entschluss, so schnell wie möglich wieder in Form zu kommen. »Na ja … Sie braucht meine Hilfe, also …«
»Aber was willst du?« Er greift nach meiner Hand. »Du bist doch glücklich, oder? Manchmal mache ich mir Sorgen um dich. Haben wir das alles überstürzt? Ich weiß, du wolltest hier leben, in diesem Haus, weit weg von der Stadt … Aber war das ein Fehler?«
Genau deshalb habe ich es für nötig gehalten, diese kleine Notlüge zu erzählen. Shelley hat mich nicht gebeten, wieder zu arbeiten. Sondern ich hatte das Thema angeschnitten und sie fast angefleht, mich in der Agentur arbeiten zu lassen. Aber Richard erinnert mich zu Recht daran, dass dieses Haus, dieses Leben, genau das ist, was ich wollte. Ich wollte viele Kinder und ein Haus, um das ich mich kümmern kann. Ich wollte eine große Küche mit Töpfen und Pfannen, die von der Decke hängen. Ich wollte jeden Abend köstliche Mahlzeiten für meine Familie kochen. Ich wollte all diese Dinge, und ich bin diejenige, die monatelang davon schwärmte, wie sehr ich mich auf die Vollzeitmutterschaft freute und wie ich dieses Haus mit Kindern und Freunden und Lachen füllen wollte und wie beschäftigt ich sein würde und wie fantastisch das Leben jenseits der Arbeit wäre. Richard ist egal, was ich will, solange ich nur glücklich bin. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Richard nicht im Geringsten interessiert, ob ich meine Meinung ändere oder ob ich Teilzeit arbeiten möchte oder nicht. Er ist nicht von mir enttäuscht. Aber ich bin es.
»Ich glaube, es könnte Spaß machen. Ich vermisse die Hektik im Büro.«
Er nimmt einen Schluck Wein. »Und du willst mit Anthony in diesem hektischen Büro arbeiten? Was ist mit unserem Baby? Was passiert mit Evie?«
Ich lege meine Hand auf seine. »Erstens: Ich würde von zu Hause aus arbeiten. Dass ich die Hektik im Büro vermisse, war nur metaphorisch gemeint. Zweitens: Ich weiß nicht mal, ob Anthony noch dort arbeitet.«
Das ist schlicht gelogen. Anthony arbeitet noch in der Agentur. Er schickt mir gelegentlich Nachrichten, einfach nur um Hallo zu sagen. Aber Anthony ist ein heikles Thema zwischen uns. Ein paar Wochen bevor ich Richard kennenlernte, haben Anthony und ich uns einmal geküsst. Das war nach der Weihnachtsfeier der Agentur, er hatte mich nach Hause begleitet. Danach haben wir auf der Arbeit geflirtet, und ich hatte immer gehofft, dass er mich um ein Date bittet, aber wir haben die Sache nicht weiter verfolgt. Dann lernte ich Richard kennen. Und ich habe den Fehler gemacht, ihm von Anthony zu erzählen. Ich glaube, ich wollte ihm das Gefühl geben, dass ich ein guter Fang sei. Dass die Männer Schlange stehen, um mit mir auszugehen.
»Da ist so ein Typ auf der Arbeit, der mich noch wahnsinnig macht. Er flirtet ständig mit mir. Es ist sehr süß, aber weißt du, er will es einfach nicht kapieren«, sagte ich. Wir saßen gerade in einem sehr teuren Restaurant in Mayfair. Ich hatte mir für diesen Anlass sogar ein neues Kleid gekauft, das die Hälfte meines Monatsgehalts verschlungen hatte.
Eine Ader pochte plötzlich an seiner Schläfe. »Wie kommt er dazu? Er weiß doch, dass du liiert bist, oder?«
»Ja! Natürlich weiß er das. Es ist nur so, dass …« Ich hätte es nicht sagen sollen. Ich hätte an seinem Tonfall merken müssen, dass das nicht so ankam, wie ich es erwartet hatte, aber ich war in meiner eigenen kleinen Vorstellung gefangen. »Wir haben uns geküsst, ein Mal.« Ich wedelte mit einer Hand in der Luft. »Ich war betrunken. Weihnachtsfeier. Muss ich noch mehr sagen? Wie auch immer«, seufzte ich theatralisch. »Ich glaube, er ist ein bisschen in mich verliebt.«
Er stellte sein Glas ganz langsam ab. »Und machst du das oft? Dich betrinken und andere Männer ficken?«
Ich schnappte hörbar nach Luft. Er gab dem Kellner ein Zeichen. »Die Rechnung, bitte.«
»Was machst du, Richard? Wir haben uns doch gerade erst hingesetzt!«
»Ich will dich nicht von deinem Lover fernhalten. Wenn du die Nacht lieber mit ihm verbringen möchtest, dann tu dir keinen Zwang an.«
Ich protestierte, erklärte, ich wäre dumm gewesen und hätte es nur gesagt, um ihn ein bisschen eifersüchtig zu machen. Ich würde niemals auch nur auf die Idee kommen, mit jemand anderem zusammen zu sein. Aber er war vor Wut rot im Gesicht und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Diese Seite von ihm hatte ich noch nie gesehen, und ich konnte seine Reaktion einfach nicht fassen. Ich versuchte, es zu erklären. Es hätte nichts zu bedeuten. Es wäre nur ein Kuss gewesen. Anthony bedeute mir nichts. Nur er, Richard. So ging es weiter und weiter, aber er hörte einfach nicht zu. Normalerweise hätte ich bei ihm in seiner Wohnung in Kensington übernachtet, aber stattdessen setzte er mich in ein Taxi und schickte mich weg. Ich nahm anschließend die Bahn nach Hause in meinem eleganten neuen Kleid und schluchzte die ganze Fahrt über.
Am nächsten Tag schickte er ein Dutzend rote Rosen mit einer Karte. Ich bin nur ein alberner alter Mann, der unglaublich in dich verliebt ist. Verzeihst du mir bitte?
Natürlich tat ich das. Aber danach war ich vorsichtig, denn mein etwas nerdiger, trotteliger Clark Kent mit den silbergrauen Schläfen hatte offenbar auch eine empfindliche Seite. Ich habe danach nur noch einmal erlebt, dass er die Fassung verlor. Wegen einer Sache, die sich in seinem Büro zutrug. Ich bin mir allerdings nicht sicher, worum es ging. Wir waren zu Hause, und er telefonierte. Er schlug mit der Faust gegen ein Fenster. Immerhin hielt die Scheibe, aber es muss ziemlich wehgetan haben.
»Ich bin ja schließlich nicht die Erste, die von zu Hause aus arbeitet«, sage ich jetzt. »Es gibt mehrere Leute im Büro, die in der Woche ein oder zwei Tage im Homeoffice sind. Das ist heutzutage ganz normal.«
»Aber was ist mit Evie?«, hakt er nach.
Richard hat einen starken Beschützerinstinkt, wenn es um Evie geht, was zu den Dingen gehört, die ich am meisten an ihm liebe. Von der Minute ihrer Geburt an hat er sich um sie gekümmert, sich um sie gesorgt und sie beschützt. Er war begeistert, als ich sagte, ich wolle eine lange Auszeit nehmen, wenigstens für die ersten zwei Jahre. Manchmal kommt es mir vor, als wäre sein Beschützerinstinkt bei ihr noch ausgeprägter als bei mir – und das will etwas heißen. Bei der Wahl des richtigen Babyfons – ein ziemlich trivialer Gegenstand, wie ich finde – hat er vor dem Kauf so gründlich recherchiert, als ginge es um die Wahl der richtigen Schule.
»Ich besorge mir natürlich Hilfe. Ein Kindermädchen kann vorbeikommen und an den Tagen, an denen ich arbeite, auf Evie aufpassen.«
»Aber woher willst du wissen, ob du dem Kindermädchen trauen kannst? Was ist, wenn sie Evie für sich selbst will? Was ist, wenn sie unser Baby stiehlt?«
Ich weiß, dass er es nicht ernst meint. »Richard! Es gibt da draußen genug professionelle Kindermädchen. Ich wende mich an eine seriöse Agentur. Die arbeiten nur mit geprüften Leuten, die hervorragende Referenzen vorweisen können. Ich werde nicht irgendjemanden von der Straße auflesen. Das verspreche ich.« Ich lächle, und er lächelt zurück.
»Joanne, Darling, wenn du das willst, finde ich das wunderbar. Herzlichen Glückwunsch!« Er erhebt sein Glas, und ich tue es ihm nach.
»Ich danke dir. Das bedeutet mir sehr viel.«
Wir plaudern über seinen Tag, und dann fragt er: »Was hast du heute sonst noch so gemacht?«
Tja, ich habe den ganzen Morgen mit Evie zusammengesessen, ich habe die Post geholt und auf den Konsolentisch gelegt, die du kaum durchgeblättert hast, sodass dir der Brief von Isabella bisher entgangen ist, danach habe ich versucht, mit Roxanne zu reden, aber sie wollte nichts hören, und dann bin ich mit Evie eingeschlafen, und dann bist du nach Hause gekommen.
»Ich hatte einen sehr anstrengenden Tag«, antworte ich. »Ich spiele mit dem Gedanken, mir ein Fahrrad zu kaufen.«