Nagel & Kimche E-Book
Niko Stoifberg
Dort
Es ist Donnerstag, der zwölfte August 1999. Träume ich? Ich will gerade aus dem Haus, und davor steht – direkt vor mir – die Frau, die ich seit Jahren suche. Suchen ist das falsche Wort; ich wusste nicht, dass ich sie suchte, wusste nicht, dass es sie gibt – und weiß doch auf den ersten Blick, dass ich auf sie gewartet habe, nur auf sie, genau auf sie. Im Traum ist alles plötzlich klar, im Traum, da gibt es keinen Zweifel, ist die Wahrheit wie ein Fieber, fällt uns an und schüttelt uns. Im Traum, da ist die Wahrheit plötzlich da, man kann sie nicht ergründen, nur erfahren, nur erleiden. Da, die Wahrheit: diese Frau. Sie ist es, sie hat mir gefehlt; ich brauche bloß eine Sekunde, um das zu begreifen – die Sekunde, die sie zu mir aufschaut, sich die Schuhe schnürt, die weißen Trimm-Trabs, auf dem Treppenabsatz, eine Armlänge vor mir. Sie trägt ein weißes Kleid, ein weißes, kurzes Kleid aus Frotteestoff. Ich schrecke auf, mehr noch als sie, lasse die Klinke gleiten. Krachend fällt die Tür zurück ins Schloss. Was jetzt? Mir ist, als ob man mir ein dunkles Tuch umbände; mir wird schwarz, ich muss mich niedersetzen, auf den speckig kalten Stein.
Was jetzt? Ich wollte lesen gehen, hab das Buch in meiner Hand. Ich schlag es auf und wieder zu; zu dunkel hier im Vorhaus, und ich hab die Sonnenbrille auf. Ich fasse mir ein Herz, trete zur Tür und öffne sie noch mal, vorsichtig, spaltbreit: Sie ist weg. Ich trete vor das Haus, schaue die Gasse rauf und runter – nichts. Ich renne auf den Platz raus, stolpere, verliere meine Brille, heb sie auf und renne weiter, um die kleine Kirche rum. Die Sonne schlägt mir ins Gesicht. Ich seh erst nichts, dann viele Leute, und dann, endlich, ihren Umriss: Ja, das ist sie, an der Ampel. Sie trägt irgendetwas Schweres, etwas zieht an ihrem Arm, sie trägt oder – sie hält ein Kind.
Die Ampel schaltet um auf Grün. Sie zieht das Kind mit sich, in Richtung See. Spaziergang. Ja, ein Kind.
Ich halte an und atme durch. Ich zögere – was mach ich hier? So was hab ich noch nie getan. Es ist, als wäre ich außer mir, als würd ich träumen, immer noch. Ich laufe keinen Frauen nach, schon gar nicht, wenn sie Kinder haben. Wenn schon ist es andersrum: Sie laufen mir nach, das kommt vor. Ich habe schwarze Haare, blaue Augen, das ist ziemlich selten. Schwarz und blau, das zieht sie an, das wirkt, das reicht dann in der Regel, viel muss ich da nicht mehr tun. Nur diesmal – diesmal ist anders. Diesmal muss es anders sein. Sie hat mich schon gesehen, doch, hat zu mir aufgeschaut, das schon. Doch – was? Was war? Die Sonnenbrille. Meine Brille hatt ich auf. Das war’s, die blöde Sonnenbrille. Sie hat mich nicht sehen können. Jetzt muss ich ihr nach. Ich muss. Mir bleibt jetzt gar nichts anderes. Ich geb mir eine Stunde Zeit, so lange wie ich lesen wollte. Kann jetzt nicht den Tag vertrödeln. Seit ich wieder hier bin, seit der Flower Show in Chelsea, hab ich grade mal all die Offerten sichten können, die reinkamen, Innsbruck, Augsburg, Rovaniemi, Shigakogen (!), São Paolo (!!), Dubai (!!!), dazu Gersau, Teufen und natürlich Ligornetto, wo ich unterschrieben habe, wo schon übernächste Woche diese erste Sitzung ist. Nein, allzu viel Zeit hab ich nicht. Aus England kommt dann auch noch was, da könnte ich drauf wetten, so wie die losklatschten, diese Briten, als ich meinen Laptop schloss, die wollten gar nicht mehr aufhören. Eine Ovation war das, für mich, der ich noch überhaupt nie in der Show gewesen bin, nicht mal als Gast im Publikum. Die lieben mich, die Briten, mehr als irgendwer, so viel ist klar. So einfach kann das manchmal sein.
Wo sind sie jetzt? Aha, da vorn. Die Ampel ist schon wieder rot. Sie zieht das Kind mit in die Menge, die den Quai bevölkert. Ich muss warten, schaue ihnen nach. Zum Glück ist sie sehr gut zu sehen, in dem strahlend weißen Kleid, die goldenen Haare hochgesteckt. Die weiße Frau, so schaut sie aus, wie man sie kennt aus alten Sagen: Diese Frauen, die da plötzlich still und weiß am Wegrand stehen und die Männer zu sich winken – ins Verderben, notabene. Sie hier nicht, so hoffe ich. Die weiße Frau. La belle dame blanche. Ganz kurz hat sie schon aufgeschaut, als ich die Haustür aufstieß, doch gleich wieder weg, nicht sehr beeindruckt. Und gewunken hat sie nicht, im Unterschied zu diesen Sagen. Ich muss sie noch einmal sehen, richtig sehen – und sie mich. Das Kind rennt einer Taube nach. Vielleicht ist es ja nicht ihr Kind? Das ist bestimmt nicht ihres, nein, dafür ist sie noch viel zu jung. Sie dreht sich um – nicht nach dem Kind, nach etwas anderem – als ob sie wüsste, dass ihr jemand nachschaut. Ganz kurz hat sie aufgeschaut, ganz kurz, erstaunt, ja doch, das schon. Das hat gereicht – mir hat’s gereicht. Vielleicht geht’s ihr ja ebenso. Gut möglich, manchmal braucht’s nicht viel. Am rechten Ort zur rechten Zeit, und schon nimmt alles seinen Lauf. So war es ja schon diesen Frühling: ein Artikel hat gereicht, ein schönes Bild im Wallpaper – et voilà, here’s The New Thoreau. Die hatten bis dahin noch nie von mir gehört in England oben, und dann kommt so ein Artikel, kommt die Einladung nach Chelsea, kommen prompt all die Anfragen.
Grün, ich darf sie nicht verlieren.
The New Thoreau, schon nicht schlecht; der Titel tat sein Übriges. Wer weiß, ob ohne ihn auch jemand diesen Text gelesen hätte, meinen Namen kennen würde. Und wer weiß, ob beim Wallpaper jemand draufgekommen wäre, so was über mich zu schreiben, wenn ich die Idee damals nicht unter diesem Namen, Nature directe, angepriesen hätte. Dieser Name gab den Anstoß, auf so Dinge kommt es an, auf Kleinigkeiten, die auffallen. Nature directe, das kam an – es funktioniert ja auch auf Englisch, selbst wenn ich’s französisch meinte; Neytschä dajrect sagten sie; das hat sich jetzt so festgesetzt, das weckt Sehnsüchte, offenbar, und das ist gut. So funktioniert das.
Gleich hab ich sie eingeholt, was dann? Das Kind – ein Bub, glaub ich, und dunkelhaarig, nicht wie sie, also bestimmt nicht ihres, nein – das Kind will ständig irgendetwas, bückt sich, zerrt an ihrem Kleid. Dann, plötzlich, zieht sie es zur Seite, weg vom Quai, unter die Bäume, wo ein Mann auf einer Bank sitzt, der die beiden kennt – der Vater? Nein, der Vater ist das nicht, zumindest nicht ihr Mann, sonst würde sie nicht so viel Abstand halten, während er das Kind betatscht. Er fährt dem Buben übers Haar, doch sie will nicht mal Hände schütteln. Sieht auch wirklich komisch aus, der Typ, mit seinen Riesenschultern und dem langen, schwarzen Rossschwanz. Jetzt will er das Kind hochheben, doch es will nicht, es will weg. Sie sagen tschüss und gehen weiter – wohin gehen sie? Zum Spielplatz. Der ist ziemlich nah von dieser Parkbank, wo der Hüne sitzt – allein dasitzt, und ihnen nachwinkt. Das kann meine Chance sein. Ich werde mich jetzt zu ihm setzen, ein Gespräch beginnen und dann fragen, wer die beiden sind. Die andern Bänke sind besetzt, mit Müttern, Rentnern und Touristen; ich hab also guten Grund, mich neben ihn zu setzen. Er ist mindestens zwei Meter groß, sein Rossschwanz dicker als mein Arm.
«Ist hier noch frei?»
Er zuckt zusammen. Ich auch, als er sich umdreht: Er ist kein Mann – er ist … ja, doch – er ist eindeutig eine Frau, so riesenhaft, wie ich im Leben nie eine gesehen habe. Diese Frau, sie nickt, senkt ihren Kopf, der aussieht wie aus Holz, wie eine Totempfahlfigur. Du lieber Gott. Sie nickt nochmals. Ich setze mich, strecke die Beine, blättere in meinem Buch. Du meine Güte, das Gesicht, und Hände hat sie wie ein Räuber. Greift in ihre Tasche, kramt ein Klatschheft raus, beginnt zu lesen. Nimmt mich ja beim Teufel wunder, woher die einander kennen, diese Riesin und die beiden, die jetzt auf dem Spielplatz sind.
Der Bub will auf die Rutschbahn, la dame blanche muss ihn raufheben, offenbar kann er nicht selbst hochsteigen. Wie ihr Kleid sich dehnt in ihrem Rücken, wenn sie sich so streckt! Er kreischt, beginnt wie wild zu strampeln, als sie ihn absetzen will, aus Freude oder Angst, wer weiß; ich kann nicht hören, was sie sagt.
Ich blättere in Thoreaus Walden, den ich endlich lesen sollte, schnappe hier und da was auf und schaue in die Ferne, so, als ob’s was zu bedenken gäbe – in den Dunst der Berge, aber eigentlich nur auf den Spielplatz.
Sehr viel Volk hat es am Quai für Donnerstag halb fünf. Die Frauen in Spaghettiträgershirts, die Männer kurz vor dem Verschmachten, ihre Blicke schweißgetrübt. Ich wische meinen klar, damit ich durch die Menge sehen kann. Die Menge: Sie relativiert, sie macht das Individuum vergleichbar, würdigt es herab, es sei denn – da, sie hebt ihn hoch, den Buben, wieder auf die Rutschbahn. Wie ihr Kleid sich dehnt, ich kann’s nicht richtig sehen, zu weit weg. Wenn sie doch nur die Güte hätte, einmal kurz zurückzuschauen, zu der Riesenfreundin hier, dann würd sie mich hier sitzen sehen.
Viel Getier in diesem Walden, und viel Transzendentalismus. Eskapismus auch, natürlich, Zivilisationskritik. Die wussten schon, warum sie mich mit dem verglichen, im Wallpaper. Das sei Thoreau in a nutshell, was ich da mit Nature mache, meinten sie, und ja, tatsächlich, da ist schon was dran, das stimmt: Aussteigertum im Kleinformat, die komfortable Variante. Dekadent? Nein, vielmehr ehrlich. Wenigstens tu ich nicht so, als ob man Waldmensch werden könnte. Hat Thoreau dann auch gemerkt.
Die Riesin schüttelt ihren Arm – ein Seemann wäre darauf neidisch –, um zwei Fliegen loszuwerden. Beide landen just auf mir; mich schaudert, und sie fliegen weg. Ich muss jetzt was zum Reden finden.
Nochmals auf die Rutschbahn. Nochmals. Eine Schaukel gäb es auch, ein Federpferd, ein Federauto, auch ein kleines Karussell. Das interessiert ihn alles nicht, er will bloß hochgehoben werden. Über dieses weiße Kleid.
Die Riesin, derweil, interessiert sich offenbar für Prominenz. Wie lange es wohl dauern wird, bis ich in solchen Heften drin bin? In zwei Wochen Ligornetto, das wird schon mal ein Spektakel, mit der großen Hängebrücke. Dann Talinn, die Holzbaumesse, dann wahrscheinlich Teufen, und dann vielleicht Finnland, São Paolo. Überall Behördengänge, Orte und Formalitäten, die mir gänzlich unbekannt sind. Doch jetzt bin ich erst mal hier, zwei Wochen Zeit für Büroarbeit: Aufträge erteilen, Leute buchen und Verträge schreiben, Absagen und Pressezeug. Und morgen noch den Vater treffen, um halb neun im Café du Lac, ihn und seine Flamme, endlich, wie hieß sie noch? Xenia.
Die Riesin ist bei Lady Di, der Bub jetzt doch noch auf der Schaukel. Beine hoch! Das checkt er nicht, so wird er keinen Schwung aufnehmen. La dame blanche will’s ihm erklären, allerdings ohne Erfolg. Dafür begreife ich allmählich, warum ich hier sitze, warte, warum ich ihr hinterher bin, dieser fremden, weißen Frau. Wie sagte doch der Vater, als er zugab, dass er jemand Neues habe, als er sich erklärte: «Sie ist es, ich weiß es, Sebi. Es ist wieder wie bei Mama. Sie ist es, die mir gefehlt hat.» Damals wollt ich ihm nicht glauben, der Vergleich empörte mich, doch jetzt weiß ich, was er gemeint hat: Was man wirklich braucht, was einem fehlt, weiß man erst, wenn es da ist. Was fehlt mir nach diesen Wochen, diesem letzten Jahr denn noch? Nichts mehr – nur eine Frau wie diese. Diese Frau. Nur diese Frau. Sie bindet sich die Haare neu. Auch wenn sie von hier aus nicht viel mehr ist als eine Silhouette, hab ich ihr Gesicht noch direkt vor mir, sehe jedes Detail. Ein Gesicht, so fein wie mit der Tuschefeder hingemalt, mit hohen Wangen, Augenbrauen, die sich kurz zusammenzogen, als sie zu mir aufgeschaut hat. Eine Offenbarung war das, wie sie zu der Tür hochschaute, eine Offenbarung, die zu ignorieren Frevel wäre. Ja, ich weiß, warum ich hier bin, spüre, dass es richtig ist, ich fühle mich großartig – so, wie man sich fühlt, wenn man voraussieht, dass man sich schon bald noch viel, viel besser fühlen wird. Großartig.
Ich muss was zum Reden finden. Lady Di wird umgeblättert, es folgt ... noch mehr Lady Di. Die Details über ihren Tod, zwei Jahre ist das jetzt schon her, sieht krass aus, dieser Unfallwagen. Thoreau lästert über Spießer. Dodis Yacht, auf deren Deck sich jetzt die beiden Fliegen setzen. Sie versucht sie wegzuwischen, doch sie sind gleich wieder da; die Yacht scheint ihnen zu gefallen. Sie hat Haare auf den Fingern! Trägt eine geblümte Bluse und die Art von Cargohose, wie sie Fidel Castro hat. Die beiden Fliegen landen auf der Spitze ihres Geox-Stiefels, Größe vier- bis fünfundvierzig, mindestens, größer als meine. Sie kreuzt ihre Beine, scheucht die Fliegen auf, doch diese landen auf dem andern Schuh, landen zu zweit, als Tandem – kopulieren. Zwei nervöse schwarze Punkte, kurz in Seligkeit erstarrt. Die Riesin schüttelt ihren Fuß, die Fliegen schießen auf, noch immer festgekoppelt aneinander, torkeln durch die Luft und landen ganz genau am selben Ort. Ich schaue ihnen zu, die Riesin merkt’s und schaut zum ersten Mal kurz zu mir hin, läuft tiefrot an, schlägt ihre Illustrierte zu. Sie wedelt damit rum, kreuzt ihre Beine umgekehrt, sie scharrt im Kies, stampft mit den Schuhen, doch die Fliegen bleiben stets bei ihr, ein surrendes Vehikel, setzen sich auf ihre Füße, Beine, Arme, mitten ins Gesicht. Das ist jetzt dunkelviolett, und plötzlich steht sie auf – mit einem Ruck, wie eine Marionette –, murmelt irgendetwas Unverständliches und stakst davon. Bevor ich etwas sagen konnte. Idiot, jetzt ist’s zu spät. Bevor ich fragen konnte, was sie hier so macht, ob sie allein sei oder wer die andern seien, dieser kleine Bub da drüben, ob sie die Großmutter sei. So irgendetwas hätte ich sie fragen können, kein Problem, wenn ich nur nicht gewartet hätte, Idiot, ich, bis sie geht. Jetzt ist sie weg. Die Chance auch. Das war sie, die Gelegenheit.
Ich bleibe sitzen, ziemlich ratlos, bis dann auch die beiden gehen, unfreiwillig zwar, der Bub – sie zieht ihn mit sich, weg vom Spielplatz und zurück zum Uferquai.
Sie gehen nicht der Riesin nach, sondern dem Quai entlang stadtauswärts, und ich latsche hintendrein, wie ein Schlafwandler, leicht belämmert – was bleibt mir denn anderes? Ich weiß nicht wohin mit den Füßen, derart langsam gehen sie. Wohin wohl? Doch noch nicht nach Hause? Ständig sieht der Kleine etwas, will nach links, nach rechts, zurück, sie lässt ihn streunen, fast wie einen Hund, und ziemlich unbekümmert. Was, frag ich mich, wenn er auf dem Quairand ausrutscht, in den See fällt? Einsam wirkt sie, so von hinten, unbeteiligt, abgehoben, fast wie wenn sie schweben würde.
Irgendwann sind wir dann bei der Voliere, beim Seebad. Sie gehen weiter, als ich dachte, vielleicht ins Naturmuseum? Hier hat’s jetzt kaum noch Touristen; selbst wenn ich viel Abstand halte, wird sie mich demnächst entdecken. Und was dann? Ich weiß es nicht. Seeauswärts kräuselt sich das Wasser, sanfter Wind kommt auf und schiebt die Quellwolken zusammen, türmt sie auf zu großen Cumuli, aus denen sich dann wiederum, sobald die Kirchenglocken ruhig sind, ein Gewittersturm entlädt – in etwa einer Stunde, schätze ich, so ist das jeden Abend.
Schritt für Schritt entvölkert sich der Quai, seh ich die beiden besser, bald sind sie allein vor mir. Der Kies geht über in Zement, in hohl klingende Fliesen, über die sich Trauerweiden beugen. Unter einer dieser Weiden bleiben sie jetzt plötzlich stehen, als der Bub auf einen Schwan zeigt. Sie schwingt ihre Tasche von der Schulter, kramt etwas hervor. Ich muss mich jetzt entscheiden. Einfach weitergehen kann ich nicht, einfach an ihr vorbeispazieren – dann lass ich sie hinter mir. Entweder sprech ich sie jetzt an, oder ich setze mich ans Ufer.
Gut, ich setze mich ans Ufer. Sieht bestimmt recht läppisch aus, wie ich die Beine baumeln lasse, beide Hände abgestützt, damit ich nicht vom Quairand gleite, der hier draußen mühsam rund ist. Läppisch ist’s und unbequem und nicht ganz passend für mein Alter. So sind wir mit fünfzehn hier am See gesessen, extra easy, haben möglichst noch geraucht. Wie fünfzehn, so komm ich mir vor, je nun, sei’s drum, was soll ich sonst? Mein Hintern wird ganz staubig sein, wenn ich aufstehe, das ist klar. Und sie? Sie holt jetzt Brot hervor für diesen Schwan, man hört es rascheln. Ich schlage den Walden auf, versuche es mit der einen Hand – und prompt verlier ich fast den Halt, kann grade noch hochrutschen. So. Ich muss das rechte Bein über das linke legen, Buch darauf, in die Kniekehle, ja, das geht. So hält es, so kann ich mich halten. Locker soll es wirken. Gut. Und dann kommt dieser Schwan doch wirklich hierher, auf mich zugeschwommen, denkt wohl, ich sei der, der Brot hat. Kommt geschwommen, und ich glaube, dass der Bub jetzt auch zu mir läuft. Starre konzentriert ins Buch. Der Schwan reckt seinen Hals; ich habe nichts für ihn. Nein, nichts! Die beiden kommen tatsächlich zu mir. Der Schwan scheint gar nichts zu begreifen. Sie sind weder links noch rechts, sie müssen irgendwo in meinem Rücken sein, sonst säh ich sie. Warum bin ich derart nervös? Ich bin sonst nie nervös. Doch jetzt ...
«So sieht er lustig aus, ja, gell.»
Das ist sie. Das ist ihre Stimme. Ihre Stimme, hinter mir. Es dauert, bis ich merke, was sie meint: den Schwan, er taucht nach etwas – kippt vornüber, rudert, wackelt. Lustig, ja, das Hinterteil. Der Bub zumindest gluckst vor Freude.
«Willst du ihm was geben?»
Ihre Stimme, warm und voll; man fragt sich, wo sie diesen Ton hernimmt, so zierlich wie sie ist.
«Komm, schau.»
Der Bub gluckst laut, er klingt sehr komisch, so wie ich’s noch nie gehört hab. Über meine Schulter, aus dem Augenwinkel seh ich ihn; er kauert über einem Säckchen, wühlt darin herum wie wild, und ihre Hand, die seh ich auch, die nimmt ihm jetzt das Säckchen weg.
«Komm, schau, gib her, ich kann’s dir zeigen.»
Fein und weiß die Hand, und warm und voll die Stimme, wunderschön. Dann fliegt ein Brotstück durch die Luft; der Schwan schwimmt hin und schnappt es sich. Ein zweites Brotstück folgt.
«Das hat er gern. Siehst du? Jetzt darfst du auch.»
Der Bub macht wieder einen Gluckslaut, und das nächste Brotstück landet auf der Mauer statt im See. Der Schwan bemerkt es nicht einmal.
«Du musst ein bisschen weiter werfen. Schau.»
Eins fliegt ins Wasser raus, das nächste wieder auf den Quai.
«Viel weiter. Noch ein wenig weiter.»
Sie bemüht sich um Geduld, doch helfen tut es leider nichts: Es kommt zwar noch mehr Brot geflogen, drei, vier Stücke miteinander, doch keins schafft es bis ins Wasser, alle landen auf dem Quai, das eine sogar gleich bei mir.
«Pass auf, du kannst es nicht dem Mann an seinen Rücken werfen, gell.»
Ich höre ihn hertapsen.
«Lass den Mann da lesen, Milo, gell.»
Der Bub steht direkt hinter mir. Soll ich nach diesem Brotstück greifen, das noch immer neben mir liegt, und ihm zeigen, wie man wirft? Soll ich was zu ihm sagen, und dann sie ansprechen? Soll ich das? Mein Hosenboden juckt, ich wippe hin und her und atme durch.
Dann klingelt es. Ihr Telefon. Sie nimmt es ab, läuft weg, wird leiser. «Ja, am See. Nein, hat er nicht. Ja, hab ich alles mit dabei ...»
Jetzt muss ich mich einfach umdrehen. Tu es, sehe zweierlei: Erstens, sie läuft tatsächlich weg. Zweitens, der Bub ist mongoloid. Man sieht’s ihm an den Augen an, die fast noch blauer sind als meine, und so fein geschnitten wie die seiner Schwester – Nanny, Tante, alles, nur nicht seiner Mutter. Nein, ihr Sohn kann das nicht sein, so schwarz, wie seine Haare sind, und diese schmalen Augen hätte er auch sonst, mit Trisomie. Vielleicht vierjährig ist er, trägt ein blau-weißes Matrosenshirt. Er staunt mich an, den Mund weit offen; ich wohl ebenso, schau über ihn hinweg zu ihr, wie sie davongeht, und zurück zu ihm.
Ich dreh mich wieder um. Die Wellen klatschen unter meinen Füßen. Schleierwolken ziehen auf. Kein Mensch mehr weit und breit, weder quaiauf- noch -abwärts, nur die beiden. Sie hat offenbar keine Bedenken, ihn allein zu lassen, will in Ruhe reden können, nehm ich an, mit wem auch immer. Denkt sich wohl, dass ich, solang ich hier bin, schon ein bisschen schaue, sehen würde, wenn er sich zu nah ans Wasser wagen sollte. Ob sie wohl gemerkt hat, dass ich ihnen nachgelaufen bin? Dass ich derselbe bin, vor dessen Tür sie sich die Schuhe band? Wohl kaum.
Ich könnte ihm das zeigen, mit dem Brot, wie man das macht. Und dann, wenn sie zurückkommt, fragen, ob das denn ihr kleiner Sohn sei oder doch ihr Patenkind, wie alt er sei et cetera. Wie käme das wohl an bei ihr? Als freundlich oder unverschämt? Ganz kurz hat sie nur aufgeschaut zu mir, und dann gleich wieder weg. Ich sollte mir nicht viel einbilden. Das ist anders hier als sonst, und sie ist anders als die andern. Merci, würde sie wohl sagen, merci, schönen Abend noch.
Ich schaue noch einmal nach ihr, sie schlendert seeauswärts, ich kann schon nicht mehr hören, was sie sagt. Der Bub scheint hin- und hergerissen, zwischen ihr und Schwanenfüttern. Ja, natürlich lässt sie ihn nur hier, weil sie ihn sicher glaubt. Wenn er zu nah ans Wasser kommt, kann ich ihn jederzeit aufhalten. Und selbst wenn er stolpern sollte, in den See, dann säh ich das. Ich sähe das und würd ihn retten. Ein Gefühl steigt in mir auf wie Dampf, wie eine warme Wolke, quillt aus meiner Brust, füllt mir den Kopf – jetzt weiß ich, was ich tun muss.
Hier, das Brotstück: Ich heb’s auf und halte es dem Kleinen hin. Er kommt getrippelt, ohne Angst. Ein letztes Mal schau ich zu ihr: Sie ist am Telefon, noch immer, von uns beiden abgewandt. Der Kleine schaut mich fragend an, greift nach dem Brot, und ich nach ihm. Ich fasse ihn um seinen Bauch und stoße ihn vom Mauerrand.
Er klatscht auf – leiser als erwartet. Weder hat der Bub geschrien, noch hat sie sich umgedreht, noch kann ich sehen, was sich vor der Mauer unter mir abspielt. Stattdessen schrecke ich zurück, erstarre, bis mein Hirn mir zu verstehen gibt: Jetzt bist du dran. Jetzt ist dein Auftritt fällig, spring. Ich springe auf, brülle «Das Kind!», vergesse, mich zu ihr zu drehen, mir das T-Shirt auszuziehen, den Hechtsprung, vergesse alles, platsche bäuchlings in den See. Ein Kloß rammt sich in meinen Magen, Wasser sticht mir in die Nase, schwarzgrün, voll mit dumpfem Lärm, ich schnelle wieder hoch ins Licht, Geschrei, verliere mich im Dunkel, schlage um mich, schlage an, bekomme was zu fassen, Haare, reiße dran, das Kind!, das Kind!, es zappelt, ich kann es kaum halten, schlucke Wasser, würge, schlucke einen Schwall Erbrochenes, ich lasse los, will hoch, nur hoch, ans Licht und an die Oberfläche, kämpfe um mein Leben, strample, hechle, Luft!, jetzt endlich Luft!, doch gleich zieht es mich wieder runter, ein Gewicht an meinem Bein, schlingt sich um mich, ich heule auf, versuch mich loszuwinden, rudere und ringe, rettungslos, reiße das Bein nach oben, japse, stoße plötzlich an, die Mauer!, grapsche, glitsche ab, grapsche nochmals und krall mich in den Stein, ich krümme mich, greife nach unten, will das Bein hochziehen, und den Bub, versuche ihn zu halten, presse ihn an mich, wuchte ihn hoch, er droht mir zu entgleiten, klemme seinen Hals in meinem Ellenbogen fest, er gurgelt, drücke ihn gegen die Mauer, quetsche ihm ein Knie zwischen die Beine, er verkrampft sich, zuckt. Dann spüre ich, wie er erschlafft, ich streiche ihm mit meiner Wange seine Strähnen aus der Stirn, seh ihm in seine blauen Augen, sehe, wie sie enger werden, sehe, wie ein weißer Arm vom Quairand nach ihm runterlangt, ihn hochreißt, über mich hinweg, hab keine Kraft mehr mitzuhelfen, keine Kraft, den Kopf zu heben, falle ab, zurück ins Wasser.
Irgendwann, wohl nicht viel später, hocke ich auf der Quaimauer, warte, bis der nächste Krampf das Blut in meinen leeren Kopf treibt, saure Galle in den Mund. Gleich neben mir kniet sie, den Bub an ihre weiße Brust gedrückt. Sie kniet in einer Wasserlache, die nach allen Seiten ausläuft.
Wind kommt auf, es fallen Tropfen, Wetterleuchten überm See.
Ein Hund läuft her, ein Herr mit Stock, dann finden sich die Gaffer ein. Der Hund bellt los, der Herr beruhigt ihn, manche zücken Telefone. Wolken platzen, Schirme springen auf, die Leute rennen weg. Die Sturmleuchte beginnt zu blitzen, Donner folgt, eine Sirene, Streiflicht färbt den Regen blau, die Ambulanz biegt auf den Quai, drei Sanitäter stürmen raus, versuchen Frau und Kind zu trennen, schaffen es nur mit Gewalt, dann stürzen sie sich auf den Bub, der eine drückt, der andre bläst, der Dritte reißt ein Set aus Plastikröhren aus der Notfallbox. Sie reden kaum, hantieren still, die Gaffer drängen sich nach vorn, der Hund dreht seine Runden, schnüffelt, und sein Herr klopft mit dem Gehstock an seinen Mephisto-Schuh. Die Sanitäter stehen auf, die Gaffer werden abgewiesen, Absperrband wird ausgerollt, zwei Streifenwagen fahren vor. Sie kniet noch immer neben mir, allein, in dieser Wasserlache. Eine Polizistin eilt zu ihr, ein Polizist zum Kind. Der alte Herr hinkt weg, winkt seinen Hund zu sich, gibt ihm drei Klapse. Mir wird schwarz, das Kind ist tot.
Als ich wieder zu mir komme, hält sie mich umklammert. Sie. Sie drückt den Kopf an meine Brust, als wollte sie sich dran ersticken. Ich bleibe am Boden sitzen, kann mich ohnehin kaum regen, lege dann auch meinen Arm um sie, so sachte, wie ich kann. Sie atmet warm an meinen Hals; während die Kälte in mir hochkriecht. Regen prasselt unentwegt, der Wind treibt ganze Bäche vor sich her, sie fließen um den Bub rum. Neben ihm, da kniet ein Mann. Der Mann befühlt den schlaffen Körper, hebt ein Ärmlein hoch, den kleinen Kopf, die schweren Augenlider. Ich muss meine schließen.
«So, der Arzt», flüstert die Polizistin, die sich uns genähert hat. Uns: mir und diesem nassen, weißen Körper, der sich an mich drängt. «Der Arzt ist jetzt gekommen, er ist bei dem Kind, er ist jetzt da.» Die Polizistin bückt sich, seufzt, sie tätschelt diese weiße Schulter, die vor meinen Augen bebt. Man hört ihr an, dass sie den Ort, bei all ihrer Betulichkeit, wenn möglich bald verlassen will. Sie steigt von einem Bein aufs andere, stapft in einer Pfütze rum. Sie hat die Pflicht, uns beizustehen, und weiß doch, dass sie nur stört.
Ihr Polizeikollege will ihr helfen, stellt sich stumm dazu. «Wir sollten ...», sagt er endlich.
«Ja, wir sollten», sagt sie hintennach. «Wir sollten Ihre Namen, Ihre Personalien aufnehmen.»
Ihre Arme ziehen sich um meine Brust zusammen. Ich bin außerstande, irgendwas zu tun, geschweige zu reden, bleibe einfach, wie ich bin.
Die Polizistin dreht sich ab; ich höre, wie sie wegstapft, ihr Kollege auch, ich hör sie reden.
«Amtsstatthalter?», fragt jemand, und jemand, wohl der Arzt, bejaht. Wir fangen beide an zu schlottern. Zeit vergeht, das Wasser staut sich, Gurgeln, Murmeln rund um uns.
Dann biegt ein weiterer Wagen auf den Quai ein; jetzt schau ich doch auf. Aus steigt ein kleiner, dünner Mann, der seinen Schirm aufschnellen lässt und gradewegs auf uns zukommt. Der ganze Pulk folgt ihm – die Polizisten, auch die Sanitäter und der dicke Arzt –, sie staksen alle hinter ihm durchs Wasser, sein Kielwasser sozusagen. Diesen Mann, den kenne ich, vom Vater her, ein Dienstkollege. Ja. Mein Herz beginnt zu hämmern. «Keine Angst», sag ich zu ihr und spüre ihre Hand im Rücken, und dann eine andere: die von Statthalter Fritz Zanetti.
«Kommen Sie, wir müssen fort. Hier ist kein Ort zum Sitzenbleiben. Fort von hier, und zum Museum.»
Ich weiß nicht, was mich mehr überrascht: dass sie dem Vorschlag folgt oder dass sie mich auch jetzt noch fest umklammert hält, im Gehen noch. Mir bleibt gar nichts, als mitzugehen, quasi als Gefangener. Im Gleichschritt trotten wir Zanetti nach, der im Vorübergehen seine Leute anweist: «Zum Museum!», und die Sanitäter: «Ja, der Sack kann in die Ambulanz, ist gut, dann zum Museum.» Ich versuche wegzusehen. Querfeldein geht es, quer durch den Seepark, der mehr See als Park ist, bis auf ein paar einzelne Grasinseln komplett überschwemmt. Wieso wir nicht im Auto fahren, außenrum, so wie die andern, weiß ich nicht, ist mir egal, wie auch der Matsch, durch den wir waten. Das Museum ist geschlossen, doch es hat ein großes Vordach. Davor stehen die drei Wagen und die Ambulanz parkiert. Der Regen, der vom Dach trieft, ist ein Vorhang, durch den wir jetzt treten, unsere Köpfe eingezogen. Gleich dahinter ist es trocken, aber noch mal finsterer. Licht kommt nur von den Autolampen, durch den schwarzen Wasservorhang – und von den Bewegungsmeldern, deren rote Lämpchen hinter einer schwarzen Glaswand leuchten, aus dem Innern des Museums. Man hat hier auf uns gewartet; Polizisten, Arzt und Sanitäter, alle stehen da. Zanetti bietet Zigaretten an, reihum verzichten alle. Er steckt sie in seinen Mantel.
«So, jetzt brauch ich Ihre Namen.»
Ich versuch mir klarzumachen, dass ich etwas sagen muss, ich oder sie, wir müssen reden. Immer noch hält sie mich fest, und zittert, oder auch ich selbst. Ich ringe mit mir, will mich fassen, bringe endlich meinen Mund auf. Da sagt sie, an meiner Schulter: «Lydia Fischlin, zweiundsiebzig. Jahrgang 1972.»
«Fischlin ... Fischlin?»
«Fischlin, ja.»
«Sie haben sicher einen Ausweis.»
Sie kramt etwas aus der Tasche, ohne ihren Kopf zu heben, hält es dem Statthalter hin. Der macht Notizen. Jetzt bin ich dran, denke ich, doch er fragt nach: «Vom Architekten Fischlin?»
«Ja.»
«Der vor fünf Jahren ...»
«Ja, mein Vater. Und ich weiß, Sie kannten ihn. Sie haben damals ...»
«Ja, das hab ich. Guter Gott. Nun gut. Nun gut. Name des Kindes?»
«Milo Fischlin, fünfundneunzig.»
«Ihr Kind?»
«Nein. Von meiner Mutter.»
«Ihrer Mutter?»
«Ja.»
«Nun dann – Ihr Bruder?»
Sie versucht zu nicken, gegen meine Schulter.
«Ah, ich sehe. Gut, dann – wenn das so ist, sollten wir jetzt Ihre Mutter ...»
Plötzlich fährt sie auf. Starrt in den Regen raus, durch ihn hindurch. «Ich rufe meine Mutter an. Das mach ich selber. Gehen Sie. Wir können das allein. Was müssen Sie noch wissen? Gibt’s noch was?» Sie spricht sehr fest und deutlich, aber nicht mit uns, nur in den Regen; es ist nicht zu sagen, ob sie wirklich so gefasst ist oder einfach nur völlig verwirrt.
Zanetti scheint sich auch nicht sicher. Er schaut mich an, fragend, doch ich bringe immer noch nichts raus. Er wendet sich zurück an sie. «Ihr Freund hier – ist das hier Ihr Freund?»
Sie nickt, sagt ja, sagt wirklich ja. «Ja, und wir gehen jetzt nach Hause, rufen meine Mutter an. Bitte bestellen Sie ein Taxi. Wir sind dankbar für die Hilfe, und wir melden uns bei Ihnen, ich und meine Mutter, ja. Doch jetzt wären wir gern allein.»
Zanetti ist beeindruckt, scheint geneigt, den Wunsch zu respektieren, zupft sein Schnäuzli, räuspert sich. Was hält ihn davon ab zu gehen? Ich natürlich, nur noch ich. Mein Blick verschwimmt im Regenvorhang, der das Autolicht zerfasert, flattern lässt, in grellen Fetzen, wenn ein Windstoß ihn aufreißt. Die Polizisten, Sanitäter und der Arzt, sie warten alle, warten auf Zanettis Order. Lydia Fischlin. Lydia Fischlin. Ich bin jetzt für diese Lydia Fischlin, die ich gar nicht kenne, die mir völlig fremd ist, auf einmal der nächste Mensch auf Erden. Ich für sie, und sie für mich. Ihr Freund, hat sie gesagt, ihr Freund. Ich spüre ihre Finger, spüre, dass das alles gut kommt, wenn ich nur jetzt endlich auch was sage, mir ein Beispiel an ihr nehme.
«Er wollte ihn retten.» Und schon wieder redet sie für mich. «Wir waren Schwäne füttern, und er» – sie meint mich –, «er hat gelesen. Ich war kurz am Telefon, und plötzlich ist er weggerannt, der Bub, wieso versteh ich nicht. Er weiß, dass er nicht wegdarf, hat das sonst noch nie gemacht, noch nie. Er muss etwas gesehen haben. Einfach weggerannt, zum See, er weiß doch, dass er das nicht darf.» Sie redet in der Gegenwart. «Vielleicht hat er dem Schwan – vielleicht hat er so Anlauf holen wollen, und dem Schwan das Brot – ich weiß es nicht, versteh es einfach nicht. Er ist sonst nie davongerannt, das war nie ein Problem mit ihm. Es gab genug Probleme, aber das war nie eins, wirklich nie. Davongerannt ist er, gestolpert, von dem Mauerrand gerutscht. Er» – sie meint mich – «hat’s nicht gesehen, oder erst zu spät gesehen. Er hat’s gar nicht sehen können, er hat ja gelesen, doch dann ist er aufgesprungen, sofort, sofort in den See hinein, mit allem, sofort, hintennach. Ich konnte nur zuschauen, hab nur zugeschaut, ja, was denn sonst? Was hätte ich denn sonst tun sollen? Er hat ihn sofort gepackt, hat ihn gehalten, über Wasser. Ich hab ihn dann hochgezogen. Leute kamen, viele Leute, aber niemand tat etwas. Ich auch nicht, konnte nichts mehr tun. Er» – ich – «auch nicht mehr, niemand mehr. Nur ich bin schuld, nur ich allein.»
Ich glaub, ich träume immer noch, von ihrer Stimme eingelullt. Der Bub, plötzlich zum See gerannt? Ich hintennach? Sie hat’s erzählt, als ob sie es gesehen hätte. Hat sie aber nicht, das kann nicht sein, sie war am Telefon; das weiß ich, hat nicht hingeschaut. Vielleicht glaubt sie das wirklich, dass sie alles so gesehen hat, so, wie sie’s grad erzählt hat. Kann schon sein, dass sie das glaubt. Wahrscheinlich. Ist wahrscheinlich ganz normal, passiert im Kopf, Bewältigung.
Ich spüre ihren Atem, spüre, wie sie sich jetzt doch entspannt, und fühle mich befreit, erlöst, von ihr erlöst, kann mich jetzt endlich auch aus ihren Armen lösen, kann auf einmal wieder denken, reden, sage zu Zanetti: «Ja, ich hätt ihn sehen sollen, als er plötzlich losgerannt ist, hätt ihn früher sehen sollen, ihn im Blick behalten, ja. Als er gerannt kam, konnt ich nur noch … und ich hätt ihm helfen sollen, als ich ihn am Ufer hatte, da war es noch nicht zu spät. Ich wollte ihm ja helfen, doch ich konnte nicht mehr, war am Ende, kann mich nicht mal mehr erinnern, wie ich hochgekommen bin.» Das sag ich, sehe an mir runter, sehe, dass mein Hemd noch immer tropft und aufgerissen ist, und mit Erbrochenem verschmiert. Mir schießen Tränen in die Augen. Sie drückt mir die Hand, Zanetti räuspert sich.
«Jetzt brauche ich Sie kurz allein, verstehen Sie.»
Er zieht mich weg; statt mir soll sich die Polizistin um sie kümmern.
«Nicht dass wir nicht glauben würden, was Sie eben sagten, und Frau Fischlin, doch – wie heißen Sie? Ich hab noch nicht mal Ihren Namen.»
«Zünd», sag ich, «Sebastian Zünd.»
«Sebastian Zünd? Der Gartenbauer?» Er ist überrascht, noch mehr als voher, spielt mit seinem Bleistift. «Zünd, vom Fliegeroberst Zünd? Vom Fliegeroberst Zünd der Junge?»
«Ja, genau. Genau. Der bin ich.»
«Ha, dann sagen Sie, Herr Zünd – ha, das ist was. Dann sagen Sie – das war vollständig, was Sie sagten? Oder gibt es sonst noch was? Fürs Protokoll, was Wichtiges? Gibt es ein Detail, das noch fehlt?»
Ich schüttle nur den Kopf.
«Und mit Frau Fischlin sind Sie schon – schon lange ...?»
«Nicht sehr lange, nein ...»
«Schon gut.» Er schreibt was auf, dreht sich den Schnauz. «Nun denn, Herr Zünd, vielleicht wär’s besser, Sie und Ihre Freundin würden mit uns auf den Posten kommen. Sie braucht Hilfe, das ist klar –»
Er sagt’s mit Blick auf Lydia Fischlin, die, als hätte sie’s gehört, sich von der Polizistin losreißt, zu uns rüberkommt, mich anschaut – erstmals überhaupt, fällt mir jetzt auf, seit sie vor meiner Tür stand –, mich anschaut, sich zwischen uns stellt, zwischen mich und Fritz Zanetti, ihren Kopf an meine Brust schlägt, mich an ihre reißt, und wieder zittert, schlottert, wie vorher.
«Ich glaube, Lydia», hör ich mich sagen, «Lydia hat recht: Am besten sind wir jetzt allein.»
Der Statthalter sagt nichts darauf. Er lässt sich meinen Ausweis geben, macht nochmals Notizen, schaut von ihr zu mir, wieder zu ihr, scheint nochmals nachzudenken, klappt sein Büchlein zu und sagt nur: «So.»
Das muss das Aufbruchszeichen sein. Nur noch der dicke Arzt fragt nach: «Was meinen Sie», schnauft er, «Forensik?»
«Ist in diesem Fall nicht nötig», sagt Zanetti.
Und zu mir: «Wer jetzt gefragt ist, das sind Sie. Ich lasse Sie allein, Herr Zünd – doch nur, wenn Sie mir jetzt versprechen, dass Sie sich umgehend melden, wenn Sie Hilfe brauchen, klar? Dann melden Sie sich gleich bei mir. Nicht irgendwo – direkt bei mir.» Er gibt mir seine Karte. «Und wenn Sie sich um Frau Fischlin kümmern, und natürlich um die Mutter. Auch die muss sich bei mir melden, möglichst bald, direkt bei mir. Sind wir uns einig? Dann ist gut. Und Ihrem Vater, Alois ... dem richten Sie dann einen Gruß aus, hören Sie, wenn Sie so gut sind. Ich kenn ihn ja schon seit langem.» Wieder zwirbelt er den Schnauz. «Wie Ihren auch, Frau Fischlin, habe Gott ihn selig, Ihren Vater, so wie Ihren kleinen Bruder. Unfassbar, was er sich ausdenkt, unser guter Gott, unfassbar. Also jetzt, ein Taxi für Sie – oder nein, ich fahre Sie, ja, ja, ich fahre Sie nach Hause. Warten Sie, ich hol den Wagen, der steht immer noch am Quai, nicht wahr? So, so!» Er hebt die Hände, scheucht die Polizisten auf, marschiert davon, quer durch die Lachen, lässt uns unterm Dach zurück.
Sofort kommt Hektik auf, auch wenn nicht klar ist, was es noch zu tun gibt. Wie ein Karussell drehen sich Polizisten, Sanitäter, folgen ihren Dienstvorschriften, rufen aufs Quartier zurück, besprechen scheinbar Wichtiges und haben doch nur eins im Sinn: sich mit Anstand davonzuschleichen. Niemand wagt es allerdings, bevor Zanetti wieder hier ist, niemand, nicht einmal der Arzt. Der stapft zur Ambulanz, verschwindet darin, kommt dann wieder her, stellt sich noch einmal vor uns auf und sagt: «Ich schaue für den Bub.»
Dann endlich glänzt der Asphalt auf, Zanettis Jaguar rollt her. Er hält vor dem Museum, doch der Motor läuft, die Tür bleibt zu. Die Polizisten zögern, eilen dann zu ihrem Streifenwagen, lenken ihn zum Jaguar, besprechen was durchs Fenster, fahren weg, der Arzt tut’s ihnen gleich, die Sanitäter folgen ihm, sie steigen in die Ambulanz, ziehen die Rücktür richtig zu, es winkt noch einer kurz zurück. Dann geht das Blaulicht an, warum auch immer das noch nötig ist, und auch die Ambulanz ist weg.
Jetzt stehen wir allein, also zu zweit, hinter dem Regenvorhang, der sich auflöst, fädig wird. Der Jaguar lichthupt. Ich will aufbrechen, doch sie rührt sich nicht. Der Jaguar schaltet auf Fernlicht. Ich will sie mit mir ziehen, sie kommt nicht, ich dreh mich um nach ihr. Sie starrt zurück in das Museum: Zwischen den Bewegungsmeldern, eingerahmt von roten Punkten, leuchtet eine Fratze auf. Ich bin erst starr vor Schreck wie sie, und muss dann vor Erleichterung, Verzweiflung, was weiß ich, fast lachen: Das ist dieser Bär, der seit Jahrzehnten hier im Eingang steht. Ich kann mich gut erinnern, wie ich schon als Kind, auf Schulausflügen, mit den Eltern vor ihm stand, sehr froh darüber, dass es streng verboten war, ihn zu berühren. Jetzt, im Kegellicht des Autos, friert der ausgestopfte Kopf zu einer grellen Maske ein. Den Fang weit aufgerissen, macht das Tier doch nicht den Eindruck, als ob es zum Biss ansetzen würde, eher schreckt es selbst zurück. «Komm», sage ich, «der tut uns nichts; der steht schon hundert Jahre da. Das war, glaub ich, der letzte Bär, den sie damals geschossen haben.» Sie kommt mit, Zanetti hupt.
Wir steigen in den Fond des Jaguars, drängen uns aneinander. Lydia gibt, als wär’s ein Taxi, ihre Wohnadresse an. Zanetti biegt in ein Quartier ein, das nur knapp beleuchtet ist; ich kann nicht sagen, wo wir sind. Die Straße, steil bergan, führt so viel Regen, dass sie uns quasi entgegenkommt, ein schwarzer Fluss. Zanetti nimmt vier Kehren, hält vor einem Jugendstilbriefkasten.
Familie E. & X. Fischlin
«Gebt Sorge zueinander», sagt er, «und dann melden Sie sich morgen.» Ohne uns noch mal die Hand zu schütteln, lässt er uns aussteigen.
Die Steintreppe, vor der wir stehen, führt in einem weiten Bogen hangaufwärts zu einer Villa. Sie ist moosbewachsen, links wie rechts von Kirschlorbeer gesäumt, der kaum etwas vom Straßenlampenlicht zu Boden tropfen lässt. Mit jedem Schritt nehm ich zwei Stufen, gleite immer wieder aus. Vor mir ist sie, ein weißer Schatten, ja, die Weiße Frau, tatsächlich. Sie macht Zwischenschritte, und da, wo sie hintritt, wächst kaum Moos, da ist die Treppe blank und griffig. Kurze Frauenschritte. An der Haustür langt sie in die Tasche, sucht nach ihrem Schlüsselbund. Obwohl ein Licht anspringt, verpasst sie wiederholt das Schloss; sie dreht sich um und drückt sich zitternd an mich. Ich nehm ihr den Schlüssel ab und fingere damit in ihrem Rücken an der Haustür rum, bis ich das Schloss gefunden habe. Sie scheint sich zu schämen, rafft sich auf und lässt mich mit hinein.
«Komm», sagt sie, «komm nur, komm –»
«Sebi.»
«Komm, Sebi, komm. Ich Lydia.»
Die Tür fällt scheppernd zu; die eingelegte Scheibe leuchtet gelb, durchwirkt von schwarzen Eisenranken. Stickig riecht’s in dem Entree.
«Fixierer», sagt sie, ohne dass ich frage, «das ist der Fixierer. Hier rechts geht’s ins Atelier.»
Ich frage, ob sie Fotografin sei; hab Mühe, du zu sagen.
«Ja», sagt sie, «das bin ich. Food.»
Ich werfe einen Blick hinein. Abzüge an den Wänden, Früchte, Fleisch, Seeigel, Kaviar. Der größte, gegenüber, sicher zwei mal drei, vier Meter groß, zeigt einen grünlich gelben Apfel, und darüber steht in Schnürchenschrift: Ceci n’est pas une pomme. Ein Magritte-Remake als Foto. Der Apfel, rötlich angehaucht, ist freigestellt, allein, auf Weiß, mit vier leicht schrumpeligen Blättern, die als Kreuz vom Stiel wegstehen, ganz genau wie bei Magritte. Doch, ha!, da ist ein Unterschied, und ich bin stolz, ihn zu bemerken: Dieses Bild zeigt keinen Apfel, sondern … sondern eine Guave, Psidium longipetiolatum. So scharf ist sie aufgenommen – aufgelöst müsste man sagen, denn das Bild ist digital –, dass man die Poren sehen kann, förmlich zu atmen sehen glaubt. Ein großer Krater jede Delle, jeder Punkt ein kleiner Berg. Ganz frisch muss sie gewesen sein, die Frucht, direkt vom Baum gepflückt, und trotzdem würde man, wenn man sie so sieht, lieber nicht reinbeißen. Fast wie Cellulite sieht das aus, wie kleine Wucherungen, appetitlich nur von fern. Ceci n’est pas une pomme: Der Satz, mit dem Magritte wohl sagen wollte, dass ein Bild doch nur ein Bild ist, der wird hier erst recht verwirrend. Kennt man nämlich Magrittes Bild, glaubt man die Pointe zu verstehen, geht man davon aus, dass man das Abbild eines Apfels sieht, und fällt so auf die Täuschung rein – obwohl sie jedem, der im Leben schon mal einen Apfel aß, sofort auffallen müsste, erst recht, weil der Text noch darauf hinweist.
«Kochbücher und so.» Sie reißt mich aus der Bildbetrachtung. «Das ist, was ich mache: Kochbücher.»
Ich seh sie an. Dann diese Frucht. Dann wieder sie. Die Frucht. Und sie. Ich mache einen Witz, nur aus Verlegenheit, ich sage: «Diese Frucht, die ist dann aber doch ein eher einfaches Rezept.»
Sie lacht, sie muss tatsächlich lachen, und ich lache mit, so laut, wie man nur lachen kann, wenn einem ganz und gar nicht darum ist.
«Es hat dann oben schon noch mehr, im Kühlschrank», sagt sie, geht voran, auf einer Marmortreppe hoch. Ich lasse beide Hände über die Geländer laufen, Gusseisen auch hier, à la Guimard.
Das Wohnzimmer ist wunderbar. Am schönsten wohl das Cheminée, dessen Abzug wie ein Blumenstengel in die Diele wächst – als würde er sich von dem Feuer nähren. Diese beiden Stühle, die sich über einen Salontisch anschauen, schmal, aus schwarzen Sprossen, mit grotesken Rückenlehnen, mindestens zwei Meter hoch – wenn darauf mal ein dicker Mensch sitzt, denke ich, wie sieht das aus? Dann dieser kleine Kabinettschrank, Kirschholz, der zwei Arme hat, die er, wenn man so sagen will, in seine Hüften stemmt; das Bild darüber, diese Geisterbräute, deren Haar und Kleider durch den Nachtwind wallen, ewig lang; die Feenstatuette auf dem Tisch, aus ziseliertem Silber, über blauem Opalglas; der Bronze-Teufel in der Ecke, dessen ganzer, schwerer Körper runter in den Klumpfuß fließt: Ich kann mich kaum sattsehen, und doch kommt mir dieser ganze Raum, bei all seiner Exquisität, vertraut vor, irgendwie bekannt.
«Papa war Architekt», sagt sie.
Er war – das heißt ... «Nicht mehr?», frag ich.
«Er ist gestorben, vor fünf Jahren. Kletterunfall.» Sie verschwindet, geht durch eine Flügeltür, die wie die große Tür am Eingang glasbesetzt ist, farbig leuchtet. Durch die Scheiben seh ich sie an einem Küchenherd hantieren. Wie blöd kann man sein, so was zu fragen? Sie räumt Sachen auf. Ich warte, eine Hand im Türspalt, stoße dann die Flügel auf und schaue ihr von hinten zu. Sie bückt sich, sucht nach einer Pfanne, hebt sie auf den Herd, kreist mit dem Öl zweimal darüber und schält eine Zwiebel, hackt sie fein. Alles sehr rasch, alles sehr fahrig, so wie vorhin mit den Schlüsseln. Vielleicht kocht sie nur, damit sie nicht mehr reden muss, wer weiß. Vielleicht weint sie und hackt die Zwiebel als Entschuldigung dafür. Als ob sie eine brauchen würde.
«Wegen mir musst du nichts machen», sage ich.
Sie schneidet weiter.
«Oder kann ich etwas helfen?» Ich muss mich anlehnen, derart müde bin ich mittlerweile. Müde wie bei einem Jetlag, und gleichzeitig aufgeputscht. Wenn ich nur kurz die Augen schließe, an was andres denken will, dann kommen sofort diese Bilder, Bilder dieser letzten Stunden, kommen hoch und stoßen mich zurück hierher, in diese Küche, zeigen mir, warum ich hier bin. Trotzdem, im Vergleich zu ihr, die vor mir steht und Zwiebeln rüstet, bin ich recht gefasst und ruhig. Ich weiß genau, was ich getan hab. Was könnt ich denn jetzt noch tun? «Sag einfach, wenn es was zu tun gibt.»
«Bist du Vegetarier?», fragt sie, ohne sich umzuschauen.
«Nein ...»
Sie geht zum Kühlschrank, nimmt ein Riesenkotelett heraus und legt es in das Öl. Es zischt. «Ich schon.» Sie sticht das Fleisch mit einer Gabel an und wendet es.
«Mir sind die auch sympathisch», sage ich, «die Vegetarier. Ich hab’s mir auch schon überlegt.» Dann stutze ich: Wenn sie ein solches Kotelett im Kühlschrank hat, wohnt sie dann hier doch nicht allein? «Gut riechen tut es», sage ich.
«Ich kann nicht garantieren, dass es auch gut schmeckt.» Sie wendet’s noch mal, zieht den Dampfabzug hervor. «Für mich muss es nur gut aussehen.»
«Das ist sicher so», sag ich, und hab sie vielleicht nicht verstanden.
«Weißt du, ich habe dieses Fleisch nicht hier, weil ich es essen wollte. Ich erklär’s dir, wart –» Sie dreht den Dampfabzug zurück, spricht aber immer noch zur Küchenwand. «Ich hab so was nur für die Fotos. Für ein Buch, das nächsten Frühling rauskommt, eine Art Rezeptbuch. Ohne die Rezepte allerdings, Rezepte hat es keine. Jedenfalls nicht richtige. Nur die Produkte und Legenden. Also heißt es dann zum Beispiel unter diesem Kotelett: zweihundertzwanzig Gramm Angus von Ernst und Ida Nyfenegger, Alp Schwandhubel, Feutersoey. Oder: eine Ajoie-Damassine von Pierre Perret, Porrentruy. Oder: ein Costoluto von Armando Pozzi, Cefalù. Oder: zwanzig Gramm Ossietra von Wadim Tarrasow, Jaroslawl. Weißt du, was ich meine? Ossietra, das ist Kaviar, die Damassine ist eine Pflaume. Und so weiter und so fort. Nur die Produkte auf dem Foto, roh, allein, sonst nichts dazu. So wie die Frucht im Atelier, die du so lange angeschaut hast.»
«Diese Guave?», frage ich – ich muss sie einfach wissen lassen, dass ich mich nicht täuschen ließ.
«Wie diese Guave, ja, genau. Die wird auch drin sein in dem Buch. Verstehst du? Das ist die Idee: Produkte, die so gut sind, dass sie keinerlei Zutaten brauchen. Kein Gewürz, kein Salz, rien. Die man roh essen kann, so, wie sie sind, weißt du, sogar das Fleisch. Im Ernst, selbst dieses Kotelett hier könnte roh gegessen werden, wie ein Tatar, wie Carpaccio, und ganz ohne etwas dran. Weißt du, ein Rind wie dieses hier, das würzt sich sozusagen selbst, mit all den Kräutern, die es frisst, mit Thymian und Arnika und Silbermantel, was weiß ich.» Jetzt dreht sie sich doch kurz zu mir. «Doch keine Angst, ich brate es und salze es für dich, ich weiß ja nicht, wie heikel du so bist.» Sie lacht.
«Ich, heikel? Überhaupt nicht. Bloß ein gutes Messer bräuchte ich dann wohl ...»
Sie lacht noch lauter, mehr als über meinen Guavenwitz, der, wie sich jetzt herausstellt, gar nicht funktioniert als Witz; sie meint das ja tatsächlich so, mit den Rezepten, offenbar. Ein ganzes Fleischstück, einfach so, und roh, wie die Neandertaler ...
«Authentizität, weißt du, das ist das Zauberwort, n’est-ce pas? Das Echte, Unverfälschte, weißt du, was ich meine?»
«Ja. Ja, ja.» Und wie! Was sie mir da erzählt, das ist ja – ist das nicht genau dasselbe, was ich auch mit Nature mache? Doch, das ist es, klar, du meine Güte. Wer ist diese Frau? Ich hab’s gewusst, als sie vor meiner Tür stand, hab’s ja gleich gewusst. Von Anfang an, ich hab’s gewusst. Du meine Güte, das ist doch – was ist das für ein Traum, der uns zusammenführt? Was für ein Zufall? Unfall, mehr als Zufall, eher Unfall, mir wird schwarz und grün, ich sehe Wasserpflanzen, schwarze Haare, die darin versinken ... «Eben, dieses Fleisch», frag ich, «das hättest du sonst fortgeworfen? Nach dem Foto? Einfach weg?»
«Nein, nein, für Mama aufgehoben. Sie bringt mir das Fleisch mit, wenn ich welches brauche, vom Hotel. Sie hat ein Hotel, Mama, weißt du. Da hat’s ziemlich viel davon. Du musst dir kein Gewissen machen, wenn du’s mir jetzt wegisst, kein Problem. Die schlachten manchmal ganze Rinder nur für das Hotel, weißt du. Da kommt’s nicht auf ein Kotelett an.»
Für Mama. Ihre Mutter, also auch die Mutter von dem Kind. Ich merke, dass ich friere. Komplett lächerlich muss ich aussehen, wie ich hier an dieser Wand steh, in den nassen Sachen, die mich jucken, hinten und im Schritt. Und sie? Hantiert am Herd, als ob das Fleisch allein nicht brutzeln könnte. Weint sie wieder? Wär normal. Was sie da sagt von diesem Kochbuch – was soll das? – das ist ja nur – das geht ja gar nicht, eigentlich. Ihr Kleid klebt ihr im Rücken, so wie mir das Hemd an meinen Schultern – stört sie das denn überhaupt nicht?
Ich nehm allen Mut, oder was davon übrig ist, zusammen, stell mich hinter sie, leg meine Hände an das nasse Kleid. Sie zuckt zusammen, dreht sich um, drückt ihr Gesicht an meine Brust, wie schon vorher am Hauseingang, im Auto, beim Museum, wie am See, am Quai, gleich nach dem Unfall. Sie hält mich, ich halte sie, das Kotelett brutzelt vor sich hin.
«Wart, ich hol dir ein T-Shirt», sagt sie schließlich, rennt ins Wohnzimmer und dann durch eine Seitentür. Ich stell mich vor das Cheminée; warte.
Als sie wieder durch die Tür kommt, trägt sie statt des weißen Kleids ein graues Sweatshirt und Bluejeans. Mir bringt sie eine Trainerhose mit und ein Matrosenshirt, ihr eigenes, nehm ich an, es ist blau-weiß wie jenes, das der Bub trug. Ihre Augen sind verquollen, doch selbst Tränensäcke, die das ganze Leid der Welt enthielten, würden diese Augen nicht beschweren, nicht herunterziehen. Ich nehm ihr die Kleider ab.
«Ich hoffe, dass das passt», sagt sie, verschwindet in der Küchentür.
Man hört das Fleisch aufzischen, dann das Pling des Mikrowellenofens. Hinter dem Kamin streif ich die nassen Sachen ab; sie lösen sich noch jetzt kaum von der Haut. Wohin damit zum Trocknen? – An den Knauf des Cheminéeschiebers. So. Die Trainerhose ist zu kurz; sie ist wohl ebenfalls von ihr, ganz sicher nicht von einem Mann. Ich ziehe mir das Shirt über, rudere mit den Armen, atme ein und aus, so fest ich kann – es schnürt mir zwar nicht grad die Luft ab, reicht aber nur bis zum Bauchnabel.
«Wie ein Tänzer siehst du aus!», sagt sie, als sie zurückkommt und ein riesiges Tablett vorbeiträgt, vollbeladen mit Geschirr, mit Gläsern, einer Schüssel Pasta, Wasser, mit dem Kotelett und sogar einer Flasche Wein. Ob sie mich auslacht oder an – ich weiß es nicht, sie vielleicht auch nicht. Wenn nur das Tablett nicht kippt.
Der Tisch steht zur Seeseite hin, vor einem hohen Flügelfenster. Draußen sind die Wolken mittlerweile wieder aufgebrochen; auf die vorzeitige Nacht folgt jetzt ein violetter Abend. Überall steigt Dampf auf, aus dem See, den Gärten, Straßenfluchten – aus der Schüssel, die vor mir steht; Lydia hat sie hingeschoben.
«Nimm, so viel du magst, auch von dem Wein, gell, wenn du welchen willst.»
Ich schenke mir aus der halbvollen, kühlschrankkalten Flasche ein, Dolcetto d’Alba – kenne ich. Was machen wir hier? Sie will keinen, das erspart uns das Anstoßen. Hastig esse ich drauflos, so kann ich nicht nachdenken, während sie mir dabei stumm zusieht und mehr rumstochert, als sie isst. Ein Spiegel aus Fleischsaft füllt meinen schon fast leeren Teller aus. Der Wein färbt sicher meine Zähne, derart tintig, wie der ist. Ich fahre mit der Zunge drüber. «Deine Mutter, darf ich fragen – wie war das – hat ein Hotel?»
«Ja.» Ihre Unterlippe zuckt.
Vielleicht ist das kein gutes Thema. Aber ignorieren geht auch nicht, sie muss sie doch anrufen, ihre Mutter, irgendwann. Wir können doch jetzt nicht einfach hier sitzen, bisschen Rotwein trinken, als ob nichts geschehen wäre! Sie muss sich doch melden bei ihr, möglichst bald, das muss sie doch. «Was für ein Hotel denn?»
«Hohwand.»
«Hohwand? Das kenne ich, das ist ein Lieblingshotel meines Vaters. Der wohnt überhaupt nur noch in Hotels», sage ich, «seit meine Mutter tot ist, seit zehn Jahren. Nur noch in Hotels seither. Ja», sage ich, «das haben wir gemeinsam: Ich bin auch Halbwaise. Und wir haben», füg ich an, als sie dazu nichts sagen will, «noch mehr gemeinsam, glaube ich: Was ich so mache, ist im Grunde gar nicht so unähnlich wie das, was du mir vorhin erzählt hast. Irgendwie vergleichbar, mindestens, was das Prinzip betrifft ...»
«Was machst du?»
«Wie, was? – Gärten», sag ich, froh, dass sie jetzt wieder redet, «Gärten, ja, das mache ich. Doch machen ist das falsche Wort, und Garten auch, wenn man’s genau nimmt. Meine Gärten gibt es schon, ich lasse sie so, wie sie sind – so wie du deine Früchte lässt, dein Fleisch, deshalb ist das so ähnlich – da, wo schon ein Garten ist, da schlag ich eine Brücke hin. Von Leuten, die sich einen Garten wünschen, zu dem Garten selbst. Wobei der Garten dann, wie schon gesagt, nicht mal ein Garten ist, sondern Natur, nichts als Natur, ein unberührtes Stück Natur.»
«Natur?»
«Ja», sage ich, «genau, zum Beispiel eine Waldlichtung. In Erlenbach zum Beispiel, kennst du das?» – sie nickt – «Da gibt’s ein Haus, ein Einfamilienhaus, zweihundert Meter nur vom Waldrand weg; das war das erste, wo ich so etwas gemacht hab, als Versuch. Der Eigentümer – Immobilienunternehmer, ziemlich reich; der Wald gehört zum Teil ihm selbst – der hat mich einfach machen lassen. Seine Frau, die ...