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Drei Schwestern am Meer (Neuauflage)

Als Buch hier erhältlich:

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Eine Insel, drei Frauen, ein altes Familiengeheimnis

Das Weiß der Kreidefelsen und das Grün der Bäume spiegeln sich im Türkis des Meeres – Rügen! Viel zu selten fährt Rina ihre Oma auf der Insel besuchen. Jetzt endlich liegen wieder einmal zwei ruhige Wochen voller Sonne, Strand und Karamellbonbons vor ihr. Doch dann bricht Oma bewusstlos zusammen, und Rina muss sie ins Krankenhaus begleiten. Plötzlich scheint nichts mehr, wie es war, und Rinas ganzes Leben steht auf dem Kopf.

Mit zuckersüßen Versuchungen und Rezepten zum Nachkochen


  • Erscheinungstag: 28.10.2020
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902132

Leseprobe

1. Kapitel

Ich schließe die Augen, lausche dem sanften Rauschen der Wellen und atme die würzige, salzhaltige Luft ein. Mein Gesicht halte ich der Sonne entgegen, die hoch über dem Wasser steht. Irgendwo in der Ferne kreischen ein paar Möwen. Einen Moment bleibe ich einfach so stehen und genieße, dass ich endlich wieder hier bin. Noch einmal fülle ich meine Lungen mit der gesunden Meeresluft, bevor ich meine Augen wieder öffne und meinen Blick über die Steilküste schweifen lasse. Ich sollte häufiger nach Rügen kommen, um Oma zu besuchen – und das Meer. Wie sehr habe ich diesen Anblick vermisst! Die alten Buchenwälder heben sich kontrastreich von den Kreidefelsen ab. Das dunkle Grün der Bäume und das strahlende Weiß der Kreide spiegeln sich im Wasser und vermischen sich zu einem leuchtenden Türkis. Ein wahnsinnig schöner Anblick! Natürlich mag ich auch die endlos weiten Sandstrände der Insel, die zum Baden einladen, aber dieser naturbelassene Steinstrand ist mir lieber. Hier kann ich nur für mich sein. Es ist weit und breit kein Tourist in Sicht, obwohl in einigen Bundesländern die Sommerferien bereits begonnen haben.

Ich hebe einen besonders hübschen, rot-braun gesprenkelten Kieselstein auf. Er fühlt sich warm und glatt an, als ich ihn mit meiner Hand umschließe. Früher bin ich oft stundenlang mit meinen beiden Schwestern hier am Ufer entlanggegangen, auf der Suche nach außergewöhnlichen Fundstücken wie Hühnergöttern oder Bernstein. Und auch heute noch suche ich immer wieder zwischendurch mit den Augen den Boden ab und freue mich wie ein kleines Kind, wenn ich etwas Besonderes dabei entdecke.

Als ich lautes Bellen höre, drehe ich mich überrascht um. Murphy kommt auf mich zugestürmt. Ich gehe in die Knie und kippe fast nach hinten, als der bullige Rottweiler mich freudig begrüßt. »Na, du Ganove!« Ich blicke auf und winke Daniel zu, der lässig, in der für ihn typischen Gangart, auf uns zugeschlendert kommt. Die Hundeleine hat er über die rechte Schulter gelegt und beide Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Er trägt eine olivfarbene, dreiviertellange Cargohose und dazu ein braunes Poloshirt. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr, kraule den schwanzwedelnden Murphy und warte, bis Daniel vor mir steht.

»Was macht ihr denn schon hier?«, frage ich. »Ich habe frühestens in einer Dreiviertelstunde mit euch gerechnet. Es ist erst kurz nach eins!«

»Es war kaum Verkehr, ich bin gut durchgekommen.«

Tatsächlich bedeutet das, dass Daniel die ganzen dreihundert Kilometer von Berlin nach Rügen mit durchgedrücktem Gaspedal auf der Überholspur gerast ist. Ich verkneife es mir, einen Kommentar dazu abzugeben und zeige auf seine Füße, die in dunkelbraunen Wildledersandalen stecken. »Steht dir gut, der Freizeitlook.«

Daniel grinst mich an und streckt seine Hand aus. Ich greife zu und lasse mich nach oben ziehen.

»Na, du lecker Dropje.« Den Kosenamen hat Daniel mir vor vier Jahren gegeben, kurz bevor wir ein Paar wurden. Er hat mich dabei beobachtet, wie ich auf der Feier eines Kollegen eine Schüssel holländischer Lakritze, die man Dropje nennt, fast ganz allein aufgefuttert habe. Ich sterbe für das schwarze Zeug, das ruhig schön salzig sein darf, so wie das Meer.

»Hi.« Ich drücke Daniel einen Kuss auf den Mund. Den Kiesel werfe ich in hohem Bogen ins Wasser. Murphy springt sofort hinterher. Er wird wie immer eine Weile brauchen, bis er begreift, dass er den Stein nicht wiederfinden wird. Wir stehen nebeneinander und beobachten Murphy, der schnaufend wie ein Walross auf der Suche nach dem verschwundenen Wurfgeschoss das Wasser durchpflügt.

»Dumpfbacke«, sagt Daniel liebevoll. »Nachher ist er wieder so kaputt, dass er schnarcht wie ein Reibeisen.« Er lacht. »Aber er liebt das Meer eben«.

»Ich auch. Es fehlt mir.« Wie sehr, merke ich immer dann besonders, wenn ich wieder hier bin. »Die Woche bei Oma wird mir guttun.« Ich schmiege mich an Daniel. »Schön, dass du dir wenigstens das Wochenende freinehmen konntest und wir auch ein paar Tage für uns haben.«

»Das finde ich auch. Drei Tage ohne Hektik – und ohne Klinik. Ist das nicht herrlich?«

»Ja, unfassbar, dass es geklappt hat. Ich habe ständig damit gerechnet, dass mein Handy klingelt und du mir sagst, irgendein Notfall sei dazwischengekommen.«

Daniel sieht mich streng an. »Nein, wir hatten doch vereinbart: dieses Wochenende kein Job. Keine Jobgespräche und keine Notfälle.«

»Zum Glück! Lass uns ein paar Meter spazieren gehen. Ich würde meinem alten Freund gerne einen Besuch abstatten. Aber vorher muss ich ein Foto schießen, als Beweis dafür, dass wir tatsächlich gemeinsam hier sind.«

Wir stellen uns mit dem Rücken zum Wasser. Ich drücke Daniel mein Smartphone in die Hand. »Dein Arm ist länger.«

Mein Kopf lehnt an seinem, als Daniel kurz hintereinander mehrmals auf den Auslöser drückt, bevor er mir das Handy wiedergibt.

Ich öffne die Fotogalerie, doch das Sonnenlicht blendet so sehr, dass ich kaum etwas erkennen kann. Aber immerhin sieht man, dass wir es sind. »Ich möchte meinen Schwestern eins schicken. Pia und Jana haben gewettet, ob wir es diesmal wirklich schaffen, nach Rügen zu kommen.«

»Und wer hat gewonnen?«

»Wir sind hier, Pia also«, antworte ich, drücke auf Senden und stecke das Handy wieder in meine Tasche. »Gehen wir weiter.«

Murphy hüpft die ganze Zeit munter neben uns her durch die Wellen.

Die Steine hier am Ufer sind unterschiedlich groß. Manche liegen fest im Boden verankert, andere lose auf dem Sand. Man muss etwas aufpassen, dass man nicht wegrutscht oder umknickt, wenn man auf sie tritt. Aber wir haben ja Zeit, ein Genuss, in den ich lange nicht gekommen bin. Hand in Hand gehen wir langsam am Ufer entlang.

»Gehen wir nachher baden?«, frage ich. »Wir könnten mit den Rädern nach Glowe fahren.«

»Meinst du nicht, dass das Wasser noch ein wenig zu kalt ist?«

»Ach, so um die siebzehn, achtzehn Grad dürfte es schon haben. Die letzten Tage waren ganz schön heiß.« Der Juni war verregnet und relativ kühl, aber nun macht der Sommer seinem Namen alle Ehre. Seit gut einer Woche haben wir traumhaftes Wetter. Ich habe mir also genau die richtige Zeit für meinen Urlaub ausgesucht. »Du musst ja nicht mit reinkommen. Aber ich möchte auf jeden Fall heute noch wenigstens einmal ins Meer.«

»Na gut. Lass uns statt der Räder das Auto nehmen und danach in das nette Fischrestaurant nach Binz fahren.«

Ich schüttele den Kopf. »Das können wir Oma nicht antun. Heute Abend gibt es Pfefferlinge mit Pellkartoffeln – mit vielen Zwiebeln extra für dich.« Pfefferlinge, das sind Heringe, die Oma nach einem alten Familienrezept mehrere Tage in einem Sud aus Essig und Gewürzen einlegt. Gleich nachdem ich ihr erzählt habe, dass Daniel über das Wochenende mitkommt, hat sie sich an die Arbeit gemacht.

»Ach so, das ist ja noch besser, da sage ich natürlich nicht Nein.« Daniel strahlt. Er liebt Omas Pfefferlinge. »Sie war übrigens nicht da, als ich eben angekommen bin. Auf mein Klopfen hat sich niemand gemeldet.«

»Dann ist sie bestimmt bei ihrer Freundin«, überlege ich laut. »Oma hat ja jetzt noch nicht mit dir gerechnet. Hast du deine Sachen schon ins Haus gebracht?« Daniel weiß, dass Oma einen Ersatzschlüssel ganz klassisch unter dem großen Blumenkübel neben dem Haus deponiert.

»Nein, ich wollte erst einmal zu dir. Ich hab mir gedacht, dass wir dich hier finden, als du geschrieben hast, dass du zum Wasser gehst. Was ist mit deinen Schwestern? Kommen sie auch?«

»Jana will am Sonntag mal vorbeischauen, je nachdem, um wie viel Uhr du zurück nach Berlin fährst, triffst du sie noch. Pia kommt erst nächsten Freitag aus England zurück.«

Nach einer Weile bleibe ich stehen. »Sag mal, gilt unser Gesprächsverbot für alles, was irgendwie mit der Arbeit zusammenhängt?«

»Das kommt darauf an. Was hast du denn auf dem Herzen?«

»Meine Spezialisierung. Im Moment tendiere ich doch eher zu Gastroenterologie. Ich weiß nicht, ob Kardiologie wirklich das Richtige für mich ist.«

»Hm«, macht Daniel.

»Was, hm?« Ein Hm in diesem Tonfall bedeutet, dass Daniel meine Überlegung überhaupt nicht nachvollziehen kann. »Warum sagst du nicht einfach, was du denkst?«

»Na ja, ich dachte, du wolltest unbedingt Kardiologin werden.«

»Ja, schon … Aber die Gastroenterologie bietet ein breiteres Spektrum an Krankheitsbildern. Außerdem weiß ich nicht, ob die Arbeit im Krankenhaus auf Dauer das Richtige für mich ist. Internistin in einer Praxis zu sein, hätte auch so seine Vorteile.«

»Ich denke, dass du auf jeden Fall das Zeug zur Kardiologin hast, zu einer ausgezeichneten sogar. Was möchtest du in einer Praxis? Das willst du dir doch nicht wirklich antun. Da vergeudest du dein Talent. Davon mal ganz abgesehen, kannst du auch als Kardiologin in einer Praxis tätig werden.« Manchmal ärgert mich Daniels Einstellung. Er wirkt dann so arrogant – genau wie es Kardiologen oft vorgeworfen wird. Trotzdem ist etwas dran an seinem Einwand.

»Ja, wahrscheinlich hast du recht, ich weiß auch nicht, was auf einmal mit mir los ist.« Ich lasse meinen Blick über das Meer schweifen, das ich im letzten Jahr so selten gesehen habe. »Vielleicht bin ich einfach nur überarbeitet.« Schon seit ich sechzehn Jahre alt bin, möchte ich unbedingt Kardiologin werden. Damals habe ich mir geschworen, mich nie wieder so hilflos zu fühlen wie in der Zeit, nachdem unsere Eltern durch einen Unfall plötzlich gestorben sind. Ich war überzeugt davon, dass die Ärzte einen Fehler gemacht haben, da unsere Mutter während der OP an Herzversagen starb. Der Gedanke, selbst Kardiologin zu werden und es mal besser zu machen, hat mir über die schwere Zeit geholfen. Ich hatte ein Ziel. Doch jetzt, wo es endlich so weit ist, fühlt es sich auf einmal nicht mehr richtig an. Und ich habe keine Ahnung, warum.

»Ich habe da noch eine andere Idee«, sagt Daniel jetzt. Er lächelt breit.

Ich sehe meinen Freund skeptisch an. Irgendetwas führt er im Schilde. Das ist mir die letzten Tage schon aufgefallen. Er hat ausgesprochen gute Laune. Als ich ihn gefragt habe, was ihn so glücklich macht, hat er behauptet, das sei, weil wir endlich mal wieder ein Wochenende gemeinsam ans Meer fahren. Ich kenne Daniel, und das passt überhaupt nicht zu ihm. Dahinter steckt etwas anderes.

»Hast du etwa die Zusage für die Forschungsgruppe erhalten?«, frage ich.

»Wer weiß …?«

Ich schubse ihn in die Seite. »Jetzt erzähl schon!«

Daniel schmunzelt geheimnisvoll. »Alles zu seiner Zeit.«

Wir gehen noch etwa zweihundert Meter das Ufer entlang, bis wir an meinem Lieblingsplatz angekommen sind, dem großen Findling, der schon seit der Eiszeit jeden Tag der Brandung und dem Wetter trotzt.

»Hallo, Svantekahs, mein alter Freund«, sage ich und lege meine Hand flach auf den großen, von der Sonne gewärmten Stein. Der Name Svantekahs kommt aus dem Altslawischen und bedeutet »Heiliger Stein«. Der Findling ist etwa zwei Meter hoch. Es ist nicht ganz leicht, ihn zu erklimmen, aber mit den Jahren habe ich eine gute Technik entwickelt. Wenn man weiß, wie man die Füße setzen muss, geht es ganz einfach.

Ich weiß nicht, wie oft ich das als Jugendliche gemacht habe, um mich darauf zu sonnen, einfach nur über das Meer zu schauen oder ihm meine schönsten Erlebnisse und meine Sorgen zu erzählen. Wenn ich wieder einmal das Gefühl hatte, nicht mehr mit meiner Schuld leben zu können – hier habe ich mich meiner Mutter immer besonders nah gefühlt. Sie war es gewesen, die uns oft erzählt hat, eine besondere Energie würde ihm innewohnen, weil Svantekahs die Sonnenstrahlen aus Zigtausenden Jahren in sich speichere. Rein wissenschaftlich gesehen, ist das Blödsinn. Dennoch fühle ich jedes Mal, wie sich eine leichte, sehr wohlige Gänsehaut meinen Nacken entlang über meine Kopfhaut ausbreitet, wenn ich in seine Nähe komme. So wie jetzt auch wieder. Natürlich weiß ich, dass es wahrscheinlich einfach an den vielen schönen Erinnerungen liegt, die an diesen Ort geknüpft sind. Mama hat Papa hier das erste Mal geküsst. Das hat sie mir erzählt, als wir alle, Papa, Mama, Pia, Jana und ich, an einem warmen Sonntag gemeinsam hier zwischen den Steinen im Wasser nach Krebsen gesucht haben. Ich rechne schnell nach. Das ist jetzt ziemlich genau sechzehn Jahre her. Wie die Zeit vergeht … Damals war ich fünfzehn und das erste Mal schwer verliebt. Deswegen wäre ich viel lieber zu Hause in Berlin bei meinem Freund geblieben. Aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich mitkomme und Oma hier auf Rügen besuche. Es war das letzte Mal, dass wir gemeinsam als Familie etwas unternommen haben. Drei Monate später waren meine Eltern bereits tot. Ich weiß, wie sehr meine Mutter diesen Platz geliebt hat. Und wenn ich hier bin, habe ich immer das Gefühl, dass sie bei mir ist.

Daniel drückt meine Hand, zieht mich an sich und küsst mich leidenschaftlich.

»He, was war das denn?«, frage ich lachend.

»Katharina …« Seine Stimme klingt seltsam rau. »Warte einen Moment.« Er ruft Murphy zu uns, lässt ihn Sitz machen und kniet neben ihm nieder. Beide schauen von unten zu mir auf. Mir wird augenblicklich mulmig zumute. Bitte nicht, denke ich, aber da sagt er auch schon: »Katharina, ich liebe dich. Und ich verspreche dir hier und heute, vor deinem geliebten heiligen Stein, dir nie wieder wehzutun. Willst du meine Frau werden?«

»Daniel …« Ich lasse mich zu ihm auf den Boden sinken, sodass wir uns gegenüberknien, und suche nach den richtigen Worten. »Ich weiß nicht … ich glaube, das kommt etwas früh. Ich … ich bin noch nicht so weit. Es ist jetzt gerade mal ein Jahr her.« Ein kleiner spitzer Stein hat sich in mein Knie gebohrt. Es tut höllisch weh, aber ich bewege mich keinen Zentimeter von der Stelle.

Daniel lässt meine Hand los. »Ach, Cat, wir haben das jetzt schon so oft durchgekaut. Es tut mir leid, wirklich. Und es wird nie wieder passieren.«

»Das weißt du nicht.«

»Doch.«

Ich schüttele den Kopf.

»Du hast mir noch immer nicht verziehen.« Er sieht verletzt aus.

»Habe ich, aber vergessen kann ich es nicht.« Ich bemühe mich, ruhig und gelassen zu bleiben, kann aber nicht verhindern, dass meine Stimme gereizt klingt.

»Dann vertraust du mir also immer noch nicht!«

»Doch, nein … Daniel, das ist unfair. Du hast mich betrogen, wochenlang, da ist es doch normal, dass das Vertrauen einen Knacks bekommt. Das haben wir doch schon ein paar Mal besprochen.«

Daniel lässt sich nach hinten auf den Boden sinken. Ich bin froh, dass er die kniende Haltung verlassen hat, und setze mich neben ihn.

»Ich dachte, wir wären darüber hinweg«, sagt Daniel.

Seit Monaten kriselt es zwischen uns wegen seiner blöden Bettgeschichte, und immer wieder läuft es auf das Gleiche hinaus. Er würde die ganze Sache am liebsten vergessen, ich kann es nicht. Und jedes Mal endet es mit meiner Bitte, mir etwas mehr Zeit zu geben, um das Vertrauen wiederaufbauen zu können. Ich weiß, dass es für die Liebe keine Garantie gibt. Es kann sein, dass es wieder geschehen wird. Auch für mich würde ich da die Hand nicht ins Feuer legen. Daniel hat recht: Jeder macht mal Fehler. Ich bin die Letzte, die das nicht unterschreiben würde. Hätte es sich um einen einmaligen Ausrutscher gehandelt, käme ich vermutlich viel besser damit klar. Aber die Geschichte hat sich wochenlang hingezogen. Und ich war so blöd, Daniel auch noch zu bemitleiden, weil er plötzlich so viele Überstunden machen musste. Ich suche nach den richtigen Worten, kann aber im Moment keinen klaren Gedanken fassen. Daniels Antrag hat mich überrumpelt.

»Habe ich nicht alles gemacht, um dir zu zeigen, wie leid es mir tut? Ich habe deinetwegen die Klinik gewechselt, weil du … ach, ist ja auch egal.« Er zuckt mit den Schultern. »Wir landen immer wieder an demselben Punkt. Das bringt uns nichts, uns beiden nicht. Wir haben es versaut.«

»Wir?«

Ich war es nicht, die fremdgegangen ist. Ich habe gerne in der Klinik hier auf Rügen gearbeitet – bis ich mitbekommen habe, dass Daniel sich zu einem Techtelmechtel mit einer fast zehn Jahre jüngeren Kollegin hat hinreißen lassen, die gerade im ersten Assistenzjahr steckte.

»Niemand ist perfekt, Katharina. Auch du nicht.« Daniel bückt sich, hebt einen Kieselstein auf und wirft ihn wütend ins Meer. Murphy hat die Aktion beobachtet, rührt sich aber nicht von der Stelle, er macht immer noch Sitz, so wie Daniel ihm befohlen hat. »Du schon, alter Junge, du bist perfekt, na, lauf schon!«

Wie der Blitz jagt der Rottweiler davon. Ich bin unsicher und weiß nicht so genau, was ich sagen soll.

»Ich dachte wirklich, Plan C wäre vielleicht eine Alternative für dich«, fährt Daniel fort. »Du bist einunddreißig, ich mit meinen fünfunddreißig bin auch nicht mehr der Jüngste.«

Es dauert einen Moment, bis ich verstanden habe, was Daniel damit meint. »Anstatt mich zu spezialisieren und weiterzubilden, könnte ich also auch ein paar Schwangerschaftskurse und danach welche in Babygymnastik belegen?«

»Warum nicht? Wäre das so abwegig? Du wolltest doch unbedingt Kinder.« Daniel lächelt süffisant. »Jetzt, wo du Kardiologie anscheinend an den Nagel hängen willst, wäre das doch der richtige Zeitpunkt.«

»Natürlich möchte ich Kinder, aber das heißt doch nicht, dass ich meine Karriere komplett hinter mir lassen will. Können wir nicht einfach noch ein wenig warten?«

»Nein, jetzt oder gar nicht!«, sagt Daniel energisch. »Wenn du dich heute nicht für mich entscheidest Katharina, dann wirst du es nächstes Jahr auch nicht tun. Oder was meinst du mit ‚noch etwas mehr Zeit‘?«

So oft hintereinander hat Daniel meinen Namen noch nie vollständig ausgesprochen. Wenn alles gut ist, nennt er mich Cat oder Dropje. Ich möchte mich nicht streiten. Und es bringt auch nichts, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen.

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.« Auf einmal ist mir nach Heulen zumute. Meine Stimme zittert, als ich weiterspreche. »Hätte ich dich sonst eben nach deiner Meinung zu den Weiterbildungsmöglichkeiten gefragt? Ich habe mich fünf Jahre lang mit meiner Facharztausbildung rumgeschlagen, davon zwei Jahre Gastroenterologie, ein Jahr Intensivmedizin, zwei Jahre Kardiologie. Ich war mir so sicher, dass Kardiologie mein Fachgebiet ist. Aber jetzt, wo ich fertig bin, fühlt es sich nicht mehr richtig an. Ich weiß absolut nicht, warum. Ich habe gehofft, in der Woche hier zu mir zu finden. Und was uns betrifft … Hättest du mich vor einem Jahr gefragt, hätte ich wahrscheinlich sofort Ja gesagt. Aber jetzt bin ich vollkommen überrumpelt.«

Daniel rollt mit den Augen. »Im Grunde genommen weißt du doch ganz genau, was du willst. Du willst es nur nicht wahrhaben.«

»Was meinst du?«, frage ich, doch ich ahne, worauf Daniel hinauswill.

»Das war’s dann wohl mit uns beiden, oder?«

Mein Magen verkrampft sich, und ich muss schlucken, bevor ich antworte: »Wenn du nicht warten kannst …«

»Wie lange soll ich denn noch warten, bis du dich für uns entscheidest? Ein Jahr, zwei? Warum nicht sofort? Gib dir einen Ruck, Cat, trau dich, hier und jetzt.« Daniel lächelt mich schief an.

Ich wünschte, ich könnte Ja sagen. Aber irgendetwas in mir hindert mich daran. »Ich kann nicht …«

»Na dann.« Daniel tritt gegen einen etwas größeren Stein und stößt im nächsten Moment mit gepresster Stimme einen Fluch aus. Er hat nicht damit gerechnet, dass er sich nicht einen Zentimeter bewegen würde. »Ich glaube, dann ist es besser, wenn ich sofort wieder fahre.« Er zögert einen Moment. »Du kannst dir ja noch mal ganz in Ruhe Gedanken darüber machen, was du willst, beruflich und auch privat. Vielleicht denkst du wirklich etwas klarer, wenn du ein bisschen Abstand von allem hast.«

»Okay.«

»Gut. Aber lass mich nicht zu lange auf eine Antwort warten. Meldest du dich Montag?«

»Mach ich.« Mein Bauch grummelt. Etwas in mir möchte Daniel zurückhalten, aber ich kann mich nicht dazu überwinden.

Daniel dreht sich um und geht. Ich sehe ihm einen Moment nach, fassungslos darüber, dass er mir einen Antrag gemacht hat und nicht bereit dazu ist, noch etwas zu warten. Warum will er das plötzlich so übers Knie brechen?

»Daniel, warte mal«, rufe ich.

»Ja?«

»War das eben eine spontane oder eine geplante Aktion?«

»Der Champagner steht in der Kühltasche im Auto. Warum fragst du, ist das wichtig?«

»Na ja … ich weiß, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen schräg, aber ich würde zu gerne mal den Ring sehen.«

»Ich war mir nicht sicher, ob du Ja sagst. Aber wir holen einen, wenn du dich für uns entschieden hast, versprochen.«

Schade, denke ich, eventuell hätte mich ein richtig schöner Verlobungsring umgestimmt. Denn das hätte bedeutet, dass Daniel das Risiko eingegangen wäre, den Ring umsonst gekauft zu haben. Aber dafür ist er viel zu berechnend. Vielleicht ist er sogar davon ausgegangen, dass ich Nein sage. Warum hat er mich dann überhaupt gefragt? Um mir dann die Verantwortung für das Ende unserer Beziehung geben zu können? Nein, so berechnend ist Daniel auch wieder nicht, sage ich mir. Oder doch?

Tränen laufen über mein Gesicht. Ich will Daniel nicht verlieren, ich möchte ihn nur nicht heiraten. Ich bleibe noch einen Moment stehen und sehe ihm nach, wie er mit Murphy am Ufer entlang zu der Treppe zurückgeht, die durch den Buchenwald hinauf zu Omas Haus führt. Die Hände hat er wieder in den Hosentaschen vergraben. Als plötzlich mein Handy brummt, zucke ich zusammen. Pia hat mir geantwortet.

Schön, dass ihr da seid!

Kurz darauf trifft die nächste Nachricht ein.

Hihi, dann habe ich die Wette gewonnen … J Ich hoffe, wir sehen uns noch.

Ich zögere, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. Schließlich schreibe ich. Wir sehen uns auf jeden Fall. Ich freue mich. Dass sie die Wette trotzdem verloren hat, behalte ich vorerst für mich.

2. Kapitel

Ich wünschte, ich könnte Daniel nachlaufen, um ihm zu sagen, dass ich will, und zwar auf der Stelle und bis dass der Tod uns scheidet. Aber nachdem er mit Murphy aus meinem Blickfeld verschwunden ist, bin ich auf Svantekahs geklettert. Und hier oben sitze ich nun seit einiger Zeit wie festgewachsen. Schon komisch, denke ich. Mein Vater und meine Mutter haben sich hier zum ersten Mal geküsst und Daniel mich vielleicht zum letzten Mal. Ich fühle tief in mich hinein. So ein Seitensprung kann ja bekanntlich auch eine zweite Chance für die Liebe bedeuten. Aber wir haben sie nicht genutzt. Stattdessen sind wir relativ schnell wieder in unsere alten Verhaltensmuster geschlittert. Zu viel Arbeit, zu wenig Miteinander, kaum noch Sex … Daniel hat recht, wir haben es versaut. Das hätte ich mir schon viel früher eingestehen müssen.

Die Sonne brennt heiß auf meine nackten Schultern. Man muss nicht Medizin studiert haben, um zu wissen, wie ungesund Sonnenbrand ist, aber ich kann mich nicht aufraffen, zurück zum Haus zu gehen. Ich fühle mich wie gelähmt. Gerade als ich überlege, ob ich meine Caprihose ausziehe, um damit die sicherlich bereits verbrannten Stellen zu schützen, sehe ich aus den Augenwinkeln eine zierliche Gestalt den Abhang hinunterkommen. Es ist Oma, wie ich kurz darauf feststelle. Von Weitem sieht sie aus wie ein junges Mädchen mit ihrer roten Schirmmütze, den hochgekrempelten Jeans und der kurzärmeligen Blümchenbluse. Leichtfüßig läuft sie über die Steine, so als würde sie jeden einzelnen kennen. Und das ist wahrscheinlich auch so. Immerhin lebt sie jetzt schon seit fast fünfzig Jahren hier. Sie winkt mir zu, als sie bemerkt, dass ich sie schon entdeckt habe. Ich winke zurück, klettere von meinem Sonnenplatz und gehe ihr entgegen.

»Das habe ich mir gedacht!« Meine Großmutter hält mir ein Handtuch hin. »Hier, leg das über deine Schultern.« Sie schüttelt den Kopf und reicht mir auch ihre Kappe. »Bist du eingeschlafen? Du bist ganz rot.«

»Ich habe die Zeit aus den Augen verloren. Wie spät ist es denn?«

»Nach halb drei, um Viertel vor zwölf bist du los. Das heißt, dass du fast drei Stunden der prallen Sonne ausgesetzt warst!«

»Ich war nicht die ganze Zeit hier unten. Vorher habe ich noch einen Spaziergang am Hochufer entlang gemacht, da war ich geschützt durch die Bäume.«

»Mag sein, du siehst aber trotzdem aus wie ein Krebs. Am besten machen wir dir zu Hause eine Quarkmaske.« Oma mustert mich skeptisch. »So unvernünftig kenne ich dich gar nicht. Wo ist denn Daniel? Müsste der nicht längst hier sein? Oder steckt er im Stau?«

»Er war schon da, ist aber gleich wieder gefahren.«

»Ein Notfall?«, fragt Oma.

Jetzt nicht wieder losheulen, denke ich. »Erzähl ich dir gleich.«

»Gut, dann lass uns erst einmal zusehen, dass wir dich aus der Sonne bekommen. Am besten gehen wir direkt durch den Wald.«

Omas Haus steht auf einer Anhöhe. Der normale Weg führt etwa dreihundertfünfzig Meter unten am Ufer entlang, bevor eine schmale Treppe durch den Buchenhain bis hoch zu ihrem Garten führt. Direkt durch den Wald bedeutet, mehr oder weniger nach oben zu klettern.

»Schaffst du das denn?«, frage ich. »Was machen deine Beine?«

»Pia hat also geplappert«, stellt Oma fest. »Aber es ist nichts Ernstes, in meinem Alter ist es doch normal, dass man mal Wasser in den Gliedmaßen hat. Es liegt wahrscheinlich an der Hitze. Davon mal ganz abgesehen, verläuft ein Trampelpfad fast parallel zum Ufer, dann geht es nur ein Stück schräg hoch bis zu den Treppenstufen.«

Meine Schwester hat mir erzählt, dass Oma schon seit Tagen über schmerzende, geschwollene Beine klagt. Pia lebt als einzige von uns drei Schwestern noch auf Rügen und bekommt dementsprechend am meisten mit. Jana ist letzten Oktober zum Studieren nach Greifswald gezogen und ich wohne seit einem Jahr in Berlin. Es hat mich also in unseren Geburtsort zurück verschlagen. »Ich würde mir das trotzdem gerne später mal anschauen, Oma.«

»Ja, ja, mach du mal, aber erst kümmern wir uns um deine Haut.«

Der Weg ist neu. Als ich Weihnachten hier war, gab es ihn noch nicht. Da bin ich mir ganz sicher.

Ich war tatsächlich über ein halbes Jahr lang nicht mehr hier, noch nicht mal Ostern habe ich es geschafft, denke ich, als ich hinter Oma den schmalen Trampelpfad entlanggehe. Sie ist immer noch erstaunlich flink, so wie früher schon. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass sie keinen Führerschein hat und deswegen immer zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist.

Etwa eine Viertelstunde später stehen wir vor dem Gartentor hinter dem Haus. Die Terrassentür zum Wohnzimmer steht sperrangelweit auf.

»Irgendwann räumt dir ein Einbrecher das ganze Haus leer«, sage ich.

Oma geht gar nicht darauf ein, pflückt eine Brombeere vom Gebüsch neben dem Gartentor und hält sie mir hin. »Probier mal, sie sind schon zuckersüß. Hier auf dem Hügel haben wir eben doch die meisten Sonnenstunden im Jahr. Unser Obst reift wesentlich schneller.«

»Lecker.« Ich lasse die herbsüße Frucht auf meiner Zunge zergehen. »Aber du musst nicht vom Thema ablenken. Warum schließt du denn nicht einfach ab, wenn du aus dem Haus gehst?«

»Bei mir gibt es nichts zu holen.«

Ich weiß, dass es keinen Sinn hat, mit Oma darüber zu diskutieren. Das Thema haben wir schon einige Male durchgekaut. Aber der Gedanke, dass sie mutterseelenallein hier oben auf dem Hügel wohnt, gefällt mir gar nicht, da kann sie noch so oft von den tollen Sonnenstunden schwärmen. Das nächste Haus ist drei Minuten zu Fuß entfernt. Omas Freundin Thea wohnt dort mit ihrem Mann Ludwig. Die beiden sind sehr nett, doch zu weit weg, falls doch mal etwas passieren sollte und Oma Hilfe holen muss. Aber immerhin fährt Ludwig Auto. Es gehört zu seinen Aufgaben, die beiden alten Damen regelmäßig zum Einkaufen zu fahren. Und ab und an springt auch mal Pia ein.

»Mach es mir zuliebe«, versuche ich es noch einmal. »Schließ ab, wenn du aus dem Haus gehst. Dann bist du wenigstens versichert, wenn doch mal jemand versucht, was zu holen. Und hör auf damit, den Schlüssel unter dem Blumenkübel zu deponieren. Da guckt jeder zuerst nach, wenn er danach sucht.«

»Na gut, wenn du dich dann wohler fühlst.« Oma tätschelt meinen Arm. »Aber jetzt gehst du kurz unter die lauwarme Dusche. Ich rühre in der Zeit den Quark an. Und dann erzählst du mir, was zwischen dir und Daniel los ist.«

Die Dusche hat gutgetan. Ich fühle mich erfrischt, aber ich ärgere mich darüber, dass ich so unvernünftig war und mich so dermaßen verbrannt habe. Mein Gesicht ist knallrot, und meine Schultern hat es fast noch schlimmer erwischt. Die Haut kribbelt und fühlt sich heiß an.

»Ich habe etwas Buttermilch in den Quark gerührt«, sagt Oma, als ich zu ihr in die Küche komme. Sie zieht einen Stuhl vom Tisch. »Setz dich am besten falsch herum drauf, mit dem Bauch zur Rückenlehne.« Sie reicht mir ein Haargummi. »Hier, damit nichts in den Quark hängt.«

Oma hat an alles gedacht. Ich binde mein nasses Haar zu einem Dutt und beobachte, wie sie die weiße Masse auf ein Geschirrhandtuch streicht.

»Ah, das tut gut«, entfährt es mir wohlig, als sie die Packung kurz darauf sanft auf meine Schultern drückt.

»Bleib so sitzen, ich schmiere noch etwas auf deinen Nacken. Im Gesicht kannst du es dann gleich selbst auftragen, wenn das Zeug hinten wieder runter ist. Das geht besser im Liegen.« Oma stellt mir ein großes Glas hausgemachten Eistees vor die Nase. »Und denk daran, genügend zu trinken.«

»Okay.« Ich leere das Glas in einem Zug. »Danke. Hast du vielleicht was Süßes da?« Etwas Nervennahrung wäre jetzt nicht schlecht.

»Marmelade und Honig. Soll ich dir ein Brot schmieren?«

»Ich dachte eigentlich eher an Schokolade oder vielleicht Eis.«

»Ich habe nichts im Haus, aber wir können nachher weiche Karamellbonbons machen, wenn du magst.«

»Oh ja, die habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gegessen!« Oma macht die perfekten Karamellbonbons. Sie sind herrlich süß, schön weich und klebrig, ohne Plombenzieher zu sein. Sie schmelzen auf der Zunge. Eine Prise Meersalz rundet den Geschmack ab.

»Gut, Sahne und Butter habe ich da. Aber jetzt zu Daniel. Habt ihr euch gestritten?« Oma setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber an den Tisch und sieht mich an.

»Nicht direkt. Daniel hat mir gerade einen Heiratsantrag gemacht. Aber ich habe ihn abgelehnt.«

»Ach so, ja, dann kann ich verstehen, dass er so überstürzt wieder abgereist ist.« Oma sieht kein bisschen überrascht aus.

»Ich bin noch nicht so weit«, erkläre ich.

»Hm«, macht sie und sieht mich mit ihren hellen blauen Augen an. »Und was ist der eigentliche Grund?«

Das ist typisch Oma, sie lässt sich so schnell nichts vormachen. Bisher habe ich mit niemandem über Daniels Seitensprung geredet. Ich habe ihm verziehen, das dachte ich wenigstens, und wollte, dass meine Familie ihm weiter ohne Vorbehalte gegenübertritt. Außerdem hatte ich keine Lust darauf, mir kluge Ratschläge diesbezüglich anzuhören oder gar bemitleidet zu werden. Also habe ich es für mich behalten. Vielleicht war das falsch. Wieder einmal muss ich an einen von Mamas guten Ratschlägen denken: Probleme muss man teilen, damit sie leichter werden.

»Daniel hat mich betrogen. Das ist knapp ein Jahr her. Mit einer Fünfundzwanzigjährigen, die frisch von der Uni als Assistenzärztin in der Klinik angefangen hat. Sie hat es mir brühwarm erzählt, nachdem Daniel die Sache beendet hatte. Ich habe gedacht, dass ich damit klarkomme. Aber ich kann es nicht vergessen.«

»Und warum hast du ihn nicht direkt in den Wind geschossen, nachdem du es erfahren hast?«, fragt Oma. »Ich hätte ihn sofort in hohem Bogen vor die Tür gesetzt.« Sie schüttelt den Kopf. »Männer! Die machen doch nichts als Ärger. Und hinterher jammern sie rum, wie leid es ihnen tut. So ein Hornochse!«

Ich kann gar nicht anders, ich muss lachen. Mit Omas kleinem Gefühlsausbruch habe ich nicht gerechnet.

Sie grinst mich an. »Ist doch wahr!« Dann wird sie plötzlich ernst. »Das tut mir leid für dich, Liebes. Und jetzt erzähl noch mal von Anfang an. Daniel hat dir einen Heiratsantrag gemacht. Und dann?«

Ich erzähle in allen Einzelheiten, was eben passiert ist. Und auch, was damals zwischen Daniel und der Assistenzärztin gelaufen ist. Oma war schon immer eine gute Zuhörerin. Sie bringt die Sachen auf den Punkt. »Es geht dir also nicht um Zeit, sondern Daniel ist, aus welchen Gründen auch immer, einfach nicht der Richtige für dich.«

»Wenn ich das nur wüsste! Ich glaube, dass irgendwann die Liebe auf der Strecke geblieben ist. Vermutlich schon bevor er mich betrogen hat. Sonst wäre das wahrscheinlich gar nicht passiert. Ich wünschte nur, es wäre mir bewusst geworden, bevor wir nach Berlin gezogen sind. Aber ich wollte einfach nur noch weg und einen Neuanfang. Eigentlich bin ich ja gerne mit Daniel zusammen. Viele Dinge funktionieren gut zwischen uns, und die letzten Jahre war ich ganz zufrieden.«

Oma legt ihren Kopf leicht schief und lächelt. Ihre Stimme klingt zuckersüß, als sie sagt: »Vieles funktioniert also, und du bist ganz zufrieden. Na dann … Klingt doch nach einer guten Grundlage für eine Ehe.«

Wenn ich Oma nicht besser kennen würde, würde ich glatt glauben, dass sie das wirklich ernst meint. »Wir waren beide beruflich sehr eingespannt«, erkläre ich. »Und dann der unterschiedliche Schichtdienst …« Ich seufze wehleidig. Meine Haut brennt, und eigentlich hatte ich mich auf zwei erholsame Wochen Urlaub und drei Tage mit meinem Freund gefreut. »Hätte ich doch einfach Ja sagen können. Daniel sah so traurig aus, als er gegangen ist.«

»Er wird darüber hinwegkommen.« Oma greift nach meiner Hand. Ihre fühlt sich angenehm kühl an. »Manche Menschen hinterlassen eine Lücke, andere machen Platz. Was davon trifft auf Daniel zu?«

»Wenn ich das nur wüsste!«

Oma lächelt, diesmal sieht es echt aus. »Fühlen, Liebes, nicht wissen. Hör auf dein Herz.«

»Wie war es bei dir und Opa, als er dir den Antrag gemacht hat? Wusstest, nein, hast du sofort gefühlt, dass er der Richtige ist?« Oma und Opa waren immerhin siebenunddreißig Jahre verheiratet, bevor Opa ganz plötzlich an Krebs gestorben ist. Zu dem Zeitpunkt war Oma erst fünfundfünfzig. Es gab keinen anderen Mann mehr in ihrem Leben. Opa hat also nicht Platz gemacht, er hat eine Lücke hinterlassen, die nie wieder gefüllt wurde.

»Ach herrje, das ist jetzt so lange her, das habe ich längst vergessen«, sagt Oma und schenkt mir noch einen Eistee ein. »Trinken ist wichtig bei Sonnenbrand.«

Ich greife schmunzelnd nach dem Glas. »Na klar, vergessen! Komm schon, erzähl doch mal.« Wie Mama und Papa sich kennengelernt und ineinander verliebt haben, weiß ich. Sie war Krankenschwester, Papa war Patient. Er hatte sich beim Fußballspielen das Sprunggelenk gebrochen und sich sofort in Mama verliebt, als sie bei ihm den Blutdruck gemessen hat. Drei Jahre später haben sie geheiratet. Da war Mama gerade mal einundzwanzig. Von Oma und Opa weiß ich jedoch kaum etwas. Nur, dass sie anscheinend eine ganz harmonische Ehe geführt haben.

»Damals waren die Zeiten noch anders. Die Mauer hat unser aller Leben verändert.« Ein Schatten huscht über Omas Gesicht, doch kurz darauf lächelt sie wieder. »Wir haben geheiratet, weil ich schwanger war. Das hört sich zwar im ersten Moment nicht sehr romantisch an, aber Karl war ein guter Mann. Die Liebe zwischen uns hat sich mit den Jahren entwickelt. Ich habe keinen Moment bereut.«

»Dann habt ihr wegen Mama geheiratet?«

Oma nickt. »Und jetzt habe ich drei wundervolle Enkeltöchter.«

Das ist mein Stichwort. »Pia und Jana wissen noch nichts von Daniels Affäre. Ich habe es bisher niemandem erzählt.«

»Ich halte dicht.« Oma steht auf. »Ich weiß, der Spruch ist abgedroschen, aber du weißt ja, andere Mütter haben auch schöne Söhne. Ich bin mir ganz sicher, dass du den Richtigen schon noch finden wirst.«

»Du gehst also auch davon aus, dass Daniel nicht der Richtige für mich ist?«

Oma lacht laut auf. »Nein, Liebes, den Schuh ziehe ich mir nicht an. Ich mag ihn, das weißt du. Aber du bist diejenige, die glücklich mit ihm sein sollte.«

»Stimmt.« Noch einmal seufze ich wehleidig auf.

»Das wird schon wieder. Jetzt komm erst mal zu dir und ruh dich aus.« Oma greift nach einem großen leeren Korb, der neben der Heizung unter dem Fenster steht. »Sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt noch mal rüber zu Thea. Lass uns heute Abend weiterreden.«

»Oh, dann grüß Thea bitte ganz lieb von mir. Was habt ihr denn vor?«

Oma zwinkert mir zu und sagt: »Das wird nicht verraten.«

Thea ist eine Expertin in Sachen Backen. Ich kenne niemanden, der so leckere Kuchen zaubern kann wie sie. Ihre Käsesahnetorte ist ein Gedicht! Ob die beiden vielleicht gemeinsam die Rührlöffel schwingen?

»Dann lass ich mich mal überraschen.«

Oma betrachtet mich eingehend. »Du solltest dir den Rücken abwaschen und dich danach vielleicht ein Stündchen hinlegen. Du siehst müde aus. Schlaf ist immer noch die beste Medizin. Leg ein Handtuch aufs Kopfkissen, dann kannst du dein Gesicht vorher mit dem Quark einschmieren.«

Oma hat recht. Ich fühle mich wie in einem anstrengenden Wettkampf, den ich schon verloren habe, von dem ich aber weiß, dass er noch nicht ganz beendet ist. Ein wenig Schlaf wird mir guttun. Ich gähne herzhaft und strecke mich. Dabei verrutscht das Handtuch auf meinen Schultern. Erst jetzt fällt mir auf, dass es mittlerweile warm geworden ist und nicht mehr kühlt. Ich habe mich wirklich ganz schön verbrannt. »Danke, Oma.«

Oma streicht mir über den Arm. »Wofür?« Ohne darauf zu antworten, gebe ich ihr noch ein Küsschen auf die Wange, bevor sie durch die Haustür verschwindet.

Ich steige die knarzenden Treppenstufen nach oben in das Dachgeschoss. Die achte, neunte und zehnte Stufe haben schon immer die lautesten Geräusche von sich gegeben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Als wir nach dem Tod unserer Eltern von Berlin zu Oma nach Rügen gezogen waren, ließ sie das komplette erste Geschoss und den Speicher umbauen. Ich bekam ein hübsches Zimmer mit Gaube unter dem Dach. Pia und Jana bezogen die Zimmer in der Etage darunter. Damit es morgens nicht in Chaos ausuferte, erhielten wir unser eigenes kleines Bad gegenüber von meinem Zimmer. Unsere Eltern konnte Oma nicht ersetzen, aber sie hat uns ein neues Zuhause gegeben. Und ich bin froh, dass ich jetzt hier bei ihr bin. Vor ein paar Jahren hat Oma mein Zimmer noch einmal renoviert, um es an Feriengäste vermieten zu können. Wenn es vergeben ist, schlafe ich in Pias oder Janas Zimmer. Eins ist in der Regel immer frei, und sehr oft bin ich ja nicht mehr hier. Trotzdem fühle ich mich in meinem immer noch am wohlsten. Von der Gaube aus kann man über die Ostsee bis nach Kap Arkona schauen. Und nachts kann man das Leuchtfeuer sehen.

Mein altes Eisenbett ist einem Doppelbett aus massivem Buchenholz mit bequemen Matratzen gewichen. Oma hat die Oberbetten mit blauweiß-gestreifter Bettwäsche bezogen. Sie riecht nach dem Waschmittel, das sie schon früher benutzt hat, wie eine frische Meeresbrise. Der Duft hat sich all die Jahre nicht verändert. Über dem Bett hängt ein großes abstraktes Bild in unterschiedlichen Blautönen. Es kommt gut zur Geltung hier auf der schneeweißen Wand. Pia hat es gemalt und mir zum Geburtstag geschenkt. Ich hätte es gerne mitgenommen, als ich mit Daniel nach Berlin gezogen bin, aber in unserer kleinen Wohnung war dafür kein Platz. Wir waren froh, dass wir so schnell eine Bleibe in Kliniknähe gefunden hatten, es sollte nur eine Übergangslösung sein. Spätestens nächstes Jahr wollten wir in eine größere Wohnung ziehen, vielleicht sogar in ein eigenes Haus, damit wir genügend Zimmer haben für unsere Kinder. Aber dazu wird es jetzt vielleicht nicht mehr kommen.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Daniel hat sich nicht mehr gemeldet. Warum sollte er auch? Schließlich bin ich diejenige, die hier eine Entscheidung zu treffen hat. Trotzdem ertappe ich mich dabei, dass ich mir wünsche, Daniel würde jeden Moment draußen vor dem Fenster stehen, um mir ein schräges Ständchen zu singen, in der Tasche einen Verlobungsring, notfalls auch einen aus dem Kaugummiautomaten. Ich würde mich auch über eine kleine Liebeserklärung in Form einer simplen Nachricht auf meinem Smartphone freuen. Ich liebe dich und warte auf dein Ja … Irgendwas. Ich schüttele unwillkürlich den Kopf. Ich bin nicht bereit, Daniel zu heiraten, aber loslassen kann ich ihn auch nicht. Ob Oma recht hat? Macht er Platz?

Kardiologie oder Gastroenterologie, Daniel für immer oder gar nicht mehr? Was ist nur los mit mir? Sonst habe ich doch auch keine Probleme damit, Entscheidungen zu treffen.

Ich schaue mir den Schnappschuss genauer an, den ich vorhin an meine Schwestern geschickt habe. Optisch könnten Daniel und ich fast als Geschwister durchgehen mit unserem dunklen Haar, wobei meins bis zu den Schultern fällt und ich regelmäßig mit einer Tönung in einem glänzenden Schokobraun noch etwas nachhelfe. Daniel ist nur drei Zentimeter größer als ich mit meinen ein Meter fünfundsiebzig. Ausstrahlung hat er dafür umso mehr. Er sieht ein bisschen aus wie Patrick Dempsey alias Derek Shepherd aus Grey’s Anatomy. Wut steigt in mir hoch. Seine doofe Affäre hat die Ähnlichkeit natürlich auch erkannt und ihn tatsächlich in der Klinik McDreamy genannt, und zwar so, dass es alle mitbekommen haben. Daniel war das noch nicht mal peinlich, im Gegenteil, er fühlte sich geschmeichelt.

Ich bin definitiv noch nicht über die Sache hinweg, sonst würde ich mich nicht mehr über die Vergangenheit ärgern. Noch einmal betrachte ich das Foto. Wir lächeln beide in die Kamera und sehen glücklich aus. Doch ich bin es nicht. Ich habe mich damit abgefunden, einfach nur zufrieden zu sein, wie Oma mir durch die Blume mitgeteilt hat. Aber ist das nicht normal nach vier Jahren Beziehung, wenn der Alltag Einzug gehalten hat?

Das Fenster steht auf Kipp. Ich öffne es ganz, lasse meinen Blick die Anhöhe hinunter bis zur Brandung schweifen – und dann über das Meer. Wie heißt es so schön? Manchmal weiß man erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Was, wenn es sich mit Daniel ähnlich verhält? Meine Gefühle gleichen einer Achterbahn. In einem Moment will ich ihn und schon im nächsten weiß ich, dass es nicht richtig wäre. Verärgert über mich selbst schalte ich mein Handy lautlos und lege es auf das Nachttischchen. Ich platziere ein Frotteetuch auf dem Kopfkissen, schmiere meine verbrannte Gesichtshaut dick mit Omas Quarkpaste ein und lege mich auf das Bett. Nur ein paar Hundert Meter von mir entfernt rollen die Wellen im stetigen Rhythmus sanft gegen das Ufer und ziehen sich wieder zurück. Das monotone Geräusch hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Er wirkt wie ein Schlaflied.

3. Kapitel

So tief und fest habe ich schon lange nicht mehr geschlafen, zumindest nicht nachmittags. Ich rekele mich noch ein wenig, da höre ich auch schon die Treppenstufen knarzen. Kurz darauf steckt Oma den Kopf zur Tür herein.

»Katharina, bist du wach?«

»Ja.« Ich blinzele ein paarmal, dann richte ich mich überrascht im Bett auf. »Wie siehst du denn aus?«

Oma strahlt über das ganze Gesicht, dann kommt sie zu mir und setzt sich auf die Bettkante. »Kurz!«

»Das sehe ich. Sieht gut aus.« Oma hat sich ihren Bob abschneiden lassen und trägt jetzt Pixie. Sie wuschelt sich durch das graue Haar. »Ist viel praktischer. Gut, wenn man eine Freundin als Nachbarin hat, die mal Friseurin war. Thea hat zwar die ganze Zeit beim Schneiden geschimpft, aber ich war meine Zotteln leid.«

»Du siehst toll aus, das kurze Haar betont dein schönes Gesicht.« Omas feine, fast anmutig wirkende Gesichtszüge habe ich schon immer bewundert. Die zierliche, hübsch geformte Nase passt perfekt zu den toll geschwungenen Lippen und den großen Augen. Auch heute noch ist sie eine schöne Frau. Sie erinnert mich immer ein wenig an Audrey Hepburn. Sogar in hochkrempelten Jeans und Gummistiefeln wirkt Oma elegant.

Oma greift nach einer meiner Haarsträhnen. »Quark«, sagt sie. »Vielleicht hättest du ihn doch nach dem Schlafen auftragen sollen.«

Ich fühle mit dem Handrücken meine Wange. Der Quark ist getrocknet und hat eine harte, bröselige Schicht gebildet. Trotzdem merke ich, dass die Haut darunter nicht mehr ganz so glüht. »Hat aber gutgetan. Ich wollte eh noch mal kurz unter die Dusche. Ich bin schon wieder ganz verschwitzt.«

»Es ist schwül geworden.« Oma schaut aus dem Fenster. »Die letzten Tage war es einfach zu heiß. Demnächst wird ordentlich was runterkommen.«

»Meinst du?«

»Auf meine alten Knochen ist immer Verlass. Spätestens morgen Abend entlädt der Himmel sich. Bestimmt bekommen wir ein kräftiges Gewitter.« Oma tätschelt mein Knie. »Aber ich gehe lieber mal wieder runter, sonst kochen die Kartoffeln über. Ich habe sie gerade aufgesetzt. Wir können essen, wenn du geduscht hast.«

»Wie spät ist denn?«, frage ich überrascht.

»Gleich halb sieben, Abendessenszeit. Du hast fast zweieinhalb Stunden geschlafen.«

Ich drehe die Brause heute schon zum zweiten Mal auf und lasse lauwarmes Wasser über meinen Körper laufen. Früher hat Oma oft geschimpft, weil Pia, Jana und ich für Omas Geschmack viel zu oft und zu lang geduscht haben. Manchmal waren gleichzeitig beide Badezimmer besetzt. Eine von uns lag unten in der Wanne, eine stand hier unter der Dusche – und die Dritte schimpfte, weil sie nicht zur Toilette konnte. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Hier war immer was los. Daniel hat recht, ich möchte gerne Kinder haben – wenn möglich, mindestens zwei. Aber warum plötzlich diese Hauruck-Aktion? Jetzt oder gar nicht, Dropje. Eine Weile hänge ich meinen Gedanken nach, bis Oma mir plötzlich wieder in den Sinn kommt. Sie wartet bestimmt schon mit dem Essen auf mich. Ich stelle das Wasser aus, steige aus der Dusche und trockne mich schnell ab. Die Haare wickle ich in ein Handtuch, um meinen Körper schlinge ich ein zweites. Gerade als ich rüber in mein Zimmer gehe, höre ich unten ein Scheppern und Klirren und kurz darauf einen dumpfen Aufschlag.

»Oma?«, rufe ich. Ich fühle instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmt. Ohne auf eine Antwort zu warten, laufe ich so schnell ich kann nach unten.

Oma liegt im Wohnzimmer vor dem Esstisch, sie bewegt sich nicht. Um sie herum verteilt entdecke ich Glas- und Porzellanscherben, Besteck und das Tablett, das sie anscheinend getragen hat, als sie gestürzt ist.

»Oma?«

Sie antwortet nicht. Mein Herz rast, und ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen, als ich barfuß durch die Scherben laufe und mich neben sie auf die Knie fallen lasse. Oma liegt auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht, von mir weg gewandt. »Oma, kannst du mich hören?« Ich kneife ihr fest in den Arm, aber sie reagiert nicht. Also drehe und strecke ich vorsichtig ihren Kopf und halte mein Ohr an ihren Mund. Sie atmet nicht.

Meine Hände suchen instinktiv den richtigen Punkt auf dem Brustkorb, um sofort mit der Herzdruckmassage zu beginnen, da fällt mir siedend heiß ein, dass ich allein bin und zuerst den Notruf absetzen muss. Ich sprinte in den Flur, wo das Telefon in der Aufladestation steckt.

112, die Nummer habe ich selbst noch nie gewählt. »Hallo, hier ist Katharina Kuhlmann, meine Großmutter Marianne Melchow hatte ein Herz-Kreislauf-Kollaps, sie hat keine Vitalwerte. Bitte schicken Sie sofort einen Rettungswagen und einen Notarzt. Ich bin selbst Ärztin und werde reanimieren, bis Sie eintreffen.« Während ich zurück zu Oma gehe, gebe ich die Adresse durch und sage schließlich: »Die Tür ist offen, es eilt!«

Ich funktioniere wie in Trance, als ich mit der Herzdruckmassage beginne und Oma beatme, mein Blick immer wieder auf die große Standuhr gerichtet. Zwei Minuten, drei … Wo bleiben die so lange? Jede Sekunde kommt mir wie eine Ewigkeit vor.

»Komm schon, Oma, atme, wir brauchen dich noch. Du hast dir doch nicht die Haare für Petrus kurz schneiden lassen. Du glaubst doch gar nicht an Gott. Also bleib hier. Du siehst toll aus. Pia und Jana werden begeistert sein …«

Vier Minuten, fünf … Habe ich die Adresse richtig durchgegeben? Was, wenn der Rettungswagen sich verfährt? Sechs Minuten, endlich höre ich in der Ferne eine Sirene, die immer näher kommt. Und dann wird auch schon die Haustür aufgestoßen. Genau in dem Moment macht es Knacks. »Scheiße«, fluche ich. Das war eine von Omas Rippen. »Hier! Im Wohnzimmer, den Flur entlang. Hier sind wir.«

»Katharina?« Eine Frau mit blondem Haar und Pferdeschwanz kniet sich neben mich. »Was ist passiert?«

Es ist die Notärztin. Ich kenne sie von früher, habe aber ihren Namen vergessen. »Meine Oma …« Ich schaue kurz zur Uhr. »Sie ist seit ungefähr acht Minuten bewusstlos und atmet nicht. Ich habe sofort mit der Reanimation begonnen. Eine Vorgeschichte ist mir nicht bekannt.«

»Okay, dann lass uns mal.« Die Ärztin schiebt mich sanft zur Seite.

»Ich habe ihr wahrscheinlich eine Rippe gebrochen.«

»Das kommt vor, besonders bei alten Menschen.«

»Ich weiß.« Aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen.

»Stefan, du übernimmst.«

Ich sehe zu, wie der Rettungssanitäter weiter Omas Brustkorb herunterdrückt, während die Ärztin das EKG mit dem Defibrillator anschließt. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Oma sieht so schmächtig, so verdammt verletzlich aus. Zwei weitere Sanitäter betreten den Raum, um zu helfen. Oma wird intubiert, ein Zugang am Handgelenk gelegt.

Die Ärztin sagt: »Irgendwas verbrennt hier gerade. Am besten gehst du mal nachschauen«, doch ich fühle mich nicht angesprochen. Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Patienten reanimiert habe, aber bisher musste ich noch nie bei einem Familienangehörigen lebensrettende Maßnahmen anwenden. Eine Welle der Angst überrollt mich. Und auf einmal fällt mir das Wasser in Omas Beinen ein, von dem Pia mir erzählt hat. Ich weiß doch, dass das auf eine Herzschwäche hindeuten kann. Warum habe ich nicht schon viel früher nach Oma geschaut? Zu meiner Angst gesellt sich ein schlechtes Gewissen. Oma liegt hier und atmet nicht mehr. Ich bin Ärztin, ich hätte es vielleicht verhindern können, wenn ich mich mehr gekümmert hätte, wenn ich aufmerksamer gewesen wäre. Schon einmal war ich schuld daran, dass meine Schwestern und ich geliebte Menschen verloren haben. Schließlich hätten meine Eltern ohne mich das Haus damals gar nicht verlassen. Und jetzt, wo ich endlich so weit bin, dass ich das medizinische Wissen habe, Oma zu helfen, habe ich einfach nichts bemerkt.

»Katharina, irgendetwas verbrennt hier!«, ruft die Ärztin laut und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Sie hat recht. Ein beißender Geruch zieht bis ins Wohnzimmer. Das ist mir bisher nicht aufgefallen. »Die Kartoffeln!«

Ich renne in die Küche und ziehe den Topf von der Herdplatte. Das Wasser ist verdampft, die Kartoffeln sind am Boden angebrannt und unten schon ganz schwarz. Am besten öffne ich das Fenster und stelle sie auf die Fensterbank, da kann der Rauch besser abziehen, schießt es mir durch den Kopf, und ich schnappe mir den Topf.

»Kammerflimmern«, höre ich die Stimme der Ärztin in dem Moment, in dem ich wieder ins Wohnzimmer komme. Der Defibrillator löst einen Schock aus, der Omas schmalen Körper zusammenzucken lässt – und mich auch. Kurz danach setzt der Rettungsassistent seine Herzdruckmassage fort. »Wir bringen sie in die Klinik«, sagt die Ärztin. »Wir brauchen das LUCAS.«

Eine der Rettungsassistenten rennt nach draußen, um das Thoraxkompressionssystem für die mechanische Reanimation zu holen. Ich schaue ihm hinterher und habe auf einmal das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Dabei bin ich doch auch Ärztin.

»Sie bluten«, sagt einer der anderen Sanitäter zu mir und deutet auf mein Knie. »Zeigen Sie mal her.«

»Das geht schon«, wiegele ich ab, mein Blick geht zu Oma. »Kümmern Sie sich lieber um meine Großmutter.

Die Notärztin schaut zu mir auf. »Wir sind heute zu fünft, weil wir einen Praktikanten dabeihaben. Lass Christian bitte deine Wunde versorgen, Katharina. Und dann ziehst du dir etwas an. So kannst du schlecht im Krankenhaus aufkreuzen.«

Ich schaue an mir hinunter. Da hat die Notärztin wohl recht. Ich trage nichts als ein Handtuch, das ich ständig mit einer Hand festhalten muss, weil sich der Knoten immer wieder löst.

»Okay, kann ich bei euch mitfahren? Ich glaube nicht, dass ich mich gerade selbst hinters Steuer setzen sollte.«

»Natürlich.«

Während der Rettungssanitäter mein blutendes Knie versorgt, beobachte ich den Monitor des EKGs. Oma hat immer noch Kammerflimmern. »Wir legen jetzt das LUCAS an. Geh – und zieh dir was an, Katharina!«, sagt die Ärztin forsch.

»Okay«, gebe ich zurück, aber ich kann mich nicht von Omas Anblick lösen und bleibe stehen. Sie ist noch jung, gerade mal dreiundsiebzig Jahre alt. Das ist viel zu früh!

»Katharina, los, geh!«

Ich sprinte die Treppe nach oben, schlüpfe in Shorts und T-Shirt, schnappe mir meine Handtasche und das Handy.

Oma liegt schon auf der Trage, als ich wieder ins Wohnzimmer komme. Das Reanimationsgerät hat die Herzdruckmassage übernommen. Jedes Mal, wenn die Maschine nach unten zur Brust fährt, spüre ich auch mein Herz. Ich gehe neben Oma her und halte ihre Hand, als sie zum Rettungswagen getragen wird.

»Sie können vorn bei mir mitfahren«, sagt einer der Rettungsassistenten. »Hinten ist kein Platz.«

»Aber … na gut, danke.«

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