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Ein Freund

Als Buch hier erhältlich:

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Ein Fremder. Ein Versprechen. Ein tödliches Spiel, dem du nicht entkommen kannst.

Weil die Polizei im Fall seiner Tochter nicht weiter kommt, ist Danny überrascht, als ein Fremder ihm Informationen anbietet. Im Gegenzug soll Danny seinem neuen Freund ebenfalls helfen. Er willigt ein, dabei ahnt er nicht, auf welch makaberes Spiel er sich eingelassen hat – denn der Freund nutzt Danny lediglich für seine eigenen Zwecke, für ein Spiel, das sein Leben nicht bloß verändern, sondern beenden wird ...


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904747
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Lynn und Pete. Mit denen die Geschichte begann.

Prolog

Hier war immer ihr Lieblingsplatz gewesen. So wie jede Fünfzehnjährige einen hat. Ein Ort, an dem man sich frei fühlt, sich mit Freunden trifft. Ein sicherer Ort.

Aber heute war es anders. Heute gab es hier nur sie, eine Handvoll Pillen und eine Flasche Wasser, um sie herunterzuspülen.

Der Lärm spielender Kinder ließ sie aufblicken. In einiger Entfernung sah sie zwei Knirpse, beide in Blau gekleidet, die fröhlich kreischend auf einem bunten Karussell herumturnten. Direkt neben ihnen schaukelte ein kleines Mädchen mit wehendem rotem Haar. Sie feuerte ihren Vater an, sie fester anzustoßen, und ihr seliges Lächeln verriet, dass auf der Welt gerade nichts anderes zählte.

Noch vor gar nicht langer Zeit war sie selbst so ein kleines Mädchen gewesen – sorgenfrei und glücklich. Und unschuldig. Sie kannte das Böse nur aus ihren Märchenbüchern, von den ernsten Warnungen ihrer Eltern und von Halloween. Das Böse trug einen Zauberhut; es war ein Fremder, der sie in der Menge an der Hand nehmen und wegführen würde, oder ein Unhold mit Maske – sein Mund verschmiert mit falschem Blut. Man wusste sofort, wann man schreien oder davonlaufen musste.

Aber jetzt kannte sie die Wahrheit.

Das Böse trägt kein schwarzes Gewand und winkt auch nicht aus der Dunkelheit unter dem Bett. Es gibt sich nicht zu erkennen. Das Böse kommt langsam, spricht ruhig und geduldig. Es ist wie ein Schatten, es ist eine Person, die vorgibt, freundlich zu sein, damit sie dich für immer zum Schweigen bringen kann.

Jetzt kannte sie das Böse. Und wegen ihr kannten es nun auch all die anderen Mädchen.

Sie warf sich die Tabletten ganz weit in den Rachen und setzte gleichzeitig die Wasserflasche an die Lippen, um sie hinunterzuspülen. Tränen traten ihr in die Augen und trübten ihren Blick. Bald würde das alles vorbei sein, zumindest für sie. Aber das Böse war nicht aus der Welt, der Schatten breitete sich in aller Stille weiter aus.

Er würde immer weitermachen.

Kapitel 1

Einen Monat später. Ein Hotel am Stadtrand von Dover.

Dienstag

Es war ein Dienstagabend und er saß auf demselben Barhocker wie so viele Abende zuvor. Wie hätte Danny Evans ahnen können, dass gerade heute sein Leben eine weitere dramatische Wendung nehmen würde? Das Pub hieß »The Duke Inn« – der Name nahm Bezug auf den Duke of Wellington, den berühmten britischen Heerführer in napoleonischer Zeit –, doch die Militärschule, die sich fast den Eingang mit dem Lokal teilte, hatte nichts mehr von dessen einstigem Glanz an sich. Obgleich ein separates Gebäude, versorgte das Pub auch ein benachbartes Hotel, in dem Danny ein Zimmer gebucht hatte. Das Duke Inn war nicht auf Gäste wie ihn ausgerichtet, da war er sich ziemlich sicher; es war eher ein Familienrestaurant, und er hätte sich auch als Schandfleck am Tresen empfinden können, wenn er nur einen Moment auf seine Umgebung geachtet hätte.

Aber jetzt war es spätabends. Die Familien waren bereits gegangen. Nur die Trinker saßen noch da. Ein weiteres Bier wurde vor Danny hingestellt, dazu ein Glas Schnaps, damit behauptete er seinen Platz unter den Trinkern.

Er kippte zunächst den Schnaps herunter – starken, dunklen Rum, der wie Feuer in seiner Kehle brannte. Als Nächstes nahm er einen tiefen Zug von seinem Bier und schmatzte mit den Lippen, während sich die Wärme des Rums in seiner Brust ausbreitete.

»Wer hat gewonnen?« Der Barhocker neben ihm scharrte über den Boden, dann ächzte er unter dem Gewicht eines Mannes, der darauf Platz nahm. Danny hielt seinen Blick weiter gesenkt und sah daher nur dicke Oberschenkel in grauer Anzughose und an den Füßen Schuhe aus hellbraunem Leder mit einem blauen Streifen in der Mitte, was an einen klassischen Bezug für Autositze erinnerte. Er hob den Blick zu dem Bildschirm über ihnen, denn er hatte sich aus alter Gewohnheit auf den Hocker vor dem Fernseher gesetzt. Das Fußballspiel hatte er aber nur als grünes Geflimmer und gelegentliche Satzfetzen von vertraut klingenden Kommentatoren wahrgenommen, so wie man ein Gespräch von alten Freunden im Wohnzimmer von der Küche oder vom Balkon aus mitbekommt.

»Keine Ahnung, Kumpel.« Für Danny waren das die ersten Worte nach langer Zeit, und beim Sprechen kitzelte die schwere Zunge seinen Gaumen.

»Ich kenne Sie!«, fuhr der Mann fort, plötzlich ganz lebhaft und erfreut. Danny hob ein Stück weit den Kopf, um mehr als die Oberschenkel seines Gegenübers zu sehen: eine graue Anzugjacke mit entsprechender Hose, darin ein Mann, etwa Ende vierzig. Das weiße Hemd war am Kragen offen und leicht zerknittert, als hätte er zuvor eine Krawatte getragen. Das Handgelenk schmückte eine teuer aussehende Uhr, und ihr Metallarmband und dazu passende Manschettenknöpfe glänzten im Licht, als der Mann sich mit den Fingern über seine wulstigen Lippen fuhr, die aus einem grau melierten Bart hervorstachen. Sein Gesicht war gebräunt, obgleich es Februar war.

»Kann ich mir nicht vorstellen, Kumpel«, erwiderte Danny.

»Evans, richtig? Danny Evans!«

Danny verzog das Gesicht. Inzwischen hasste er allein den Klang seines Namens, vor allem wenn es bedeutete, dass ihn jemand erkannt hatte. »Sie haben für Dover Athletics Fußball gespielt, sogar als Captain! Und dann waren Sie einige Spielzeiten lang auch beim FC Gillingham, stimmt’s? Hier in der Gegend sind Sie eine Legende.«

»Legende!« Danny schnaubte verächtlich. Er hatte sich von diesem Wort noch nie geschmeichelt gefühlt.

»Aber das stimmt doch, oder nicht?«

»Ich hab mal ganz leidlich gespielt. Jetzt allerdings nicht mehr.«

»Das ist wirklich sehr schade. Früher bin ich oft zum Crabble-Stadion gepilgert, ich und meine kleine Tochter. Sie waren ihr Lieblingsspieler, ein Innenverteidiger, an dem keiner vorbeikam. ›Das Raubtier‹ – so nannte man Sie doch, oder? Nachdem Ihnen jemand ein Stück Ohr abgebissen hat und Sie trotzdem einfach weitergespielt haben. Ich erinnere mich an die Bilder, Sie waren blutüberströmt.«

»Das ist schon lange her, und es war nur ein Spitzname.«

»Ein Spitzname! Dem machen Sie aber immer noch alle Ehre, oder? Wie wär’s, wenn ich Ihnen ein Bier ausgebe. Sozusagen als Dankeschön für damals.«

Danny winkte ab. »Nicht nötig. Ich bekam mein Gehalt, eine Menge Applaus, das war Dank genug …« Er streckte den Zeigefinger aus, legte ihn an sein Glas und betrachtete konzentriert, wie die Bläschen sprudelnd im Schaum aufstiegen. »Es waren die besten Tage meines Lebens«, murmelte er.

»Darauf möchte ich wetten. Könnte ich vielleicht schnell ein Foto von Ihnen machen? Ich möchte es meiner Tochter schicken. Sie wird mir nämlich kaum glauben, wenn ich ihr erzähle, wen ich getroffen habe.«

»Ich weiß nicht … Heute Abend sehe ich kaum aus wie ein Vorzeigeathlet. Aber ich schreibe gern für sie ein Autogramm auf irgendwas. Vielleicht habe ich auf meinem Zimmer auch noch ein Trikot.«

Diesmal winkte sein Gegenüber ab. »Nur keine Umstände. Ich nerve Sie, das sieht man deutlich. Ich dachte nicht, dass Sie noch hier in der Gegend sind. Ich meine, in Dover. Die meisten Spieler kommen heutzutage ja von überall her.«

»Ich habe selbst keine Ahnung, wo ich im Moment gerade bin, Kumpel.«

»Dann arbeiten Sie also immer noch für den Verein?«

»Ich mische wieder mit, ja. Mittlerweile vor allem als Trainer … Sie wissen schon.« Danny erkannte sich selbst nicht mehr. Seine Leidenschaft für den Fußball und das Fachsimpeln darüber war fast ganz erloschen. Obwohl sich sein ganzes Leben darum gedreht hatte, ließ ihn das plötzlich alles fast kalt. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie, und vor allem nicht, wie schnell es dazu gekommen war. Es machte ihm Angst.

»Hm, sicher passiert Ihnen das öfter, dass Leute wie ich Sie belästigen, wenn Sie in Ruhe Ihr Bierchen genießen wollen. Ich bin nicht mehr oft in der Gegend hier. Ein irrer Zufall, dass ich Sie hier getroffen habe.«

»Sicher. Eine gute Nacht noch.«

Der Barhocker ächzte wieder, und seine hölzernen Beine scharrten über den Boden, bis der Mann abgestiegen war. Und nur ein paar Augenblicke später sagten auch die Fußballkommentatoren im Fernsehen gute Nacht, und der Bildschirm wurde schwarz. Jetzt war nur das Personal hinter dem Tresen aktiv, das schon eifrig mit dem allabendlichen Aufräumritual beschäftigt war. Danny trank sein Bier in tiefen Zügen aus, bis ihm die Kehle brannte. Dabei schloss er die Augen, und augenblicklich spürte er, wie sich alles um ihn drehte. Es war höchste Zeit zu gehen.

Draußen im Nachthimmel fing sich selbst zu dieser späten Stunde noch der stetige Lärm des vorbeifahrenden Verkehrs. Die A20 führte direkt am Pub vorbei, die Fahrzeuge kamen von der Fährstation, die außer Sichtweite am Fuß des Hügels lag und hinter der sich die berühmten weißen Klippen von Dover erhoben. Zu seiner Linken befand sich eine Tankstelle, und die hellen Lichter des Vorplatzes vertieften die Schatten auf dem Weg zum Haupteingang des Hotels. Er überlegte, ob er sich eine Zigarette anstecken sollte – nur um sich die Kehle zu wärmen. Das Rauchen war eine neue Angewohnheit, und er könnte sie auch wieder aufgeben, wenn er sich dran erinnern könnte, warum er damit angefangen hatte.

»Hey!«, tönte es aus der Dunkelheit.

Danny drehte sich um und sah den Mann im Anzug, der neben ihm gesessen hatte. Er ging hinter ihm und wedelte mit einem Blatt Papier. Danny schob seine Zigarette wieder in die Packung zurück. Er klappte den Kragen seiner Jacke hoch und zog den Kopf ein. Es war eiskalt, und er mochte keine Kälte. Sein neuer Freund sollte merken, wie ungemütlich er es hier draußen fand.

»Ach, Sie wollten ja noch dieses Autogramm.« Danny stellte sich wie schutzsuchend in den Schatten eines Hauses.

»Ihr Autogramm ist es nicht, was ich von Ihnen will. Ich weiß, wer Sie sind.«

»Das haben Sie mir schon gesagt.«

»Ich meine damit nicht Danny Evans, den abgehalfterten Fußballer. Ich meine den, der Sie wirklich sind.«

»Was soll das?« Danny blickte sich um, als erwarte er, dass jeden Moment ein weiterer Angreifer aus dem Schatten treten würde. Dieses Gespräch bekam für ihn plötzlich eine ganz unerwartete Wendung.

»Ich weiß, warum Sie zurzeit in einem Hotel wohnen und sich jeden Abend bis zur Besinnungslosigkeit zuschütten. Ich weiß, dass Sie von Ihrer Frau, von Ihrer Familie wegmussten. Ich weiß, was passiert ist, Danny. Ich weiß Bescheid über Callie.«

Danny zog die bereits zu Fäusten geballten Hände aus seinen Jackentaschen und trat einen Schritt auf den Mann im Anzug zu. Der reagierte nicht darauf – weder wich er zurück, noch hob er zur Verteidigung die Hände. Danny schaffte es, seine Fäuste bei sich zu behalten. Es war schon vorgekommen, dass Leute ihn zu einer Prügelei provozieren wollten.

»Was soll das jetzt? Wollen Sie mich reizen, damit ich Ihnen eine reinhaue und nachher Schmerzensgeld zahlen muss? Sie können mich auf die Palme bringen, und ich scheuer Ihnen eine, aber Geld wird’s dafür nicht geben. Vielleicht ist danach Ihr Kiefer gebrochen, und wenn Sie Glück haben, kriegen Sie eine Schlagzeile im Lokalteil. Aber kaufen können Sie sich davon auch nichts.«

»Ich will Sie nicht provozieren, Mr. Evans. Ich will nur, dass Sie mir zuhören. Ich kann Ihnen helfen.«

»Wir haben doch geredet, dort drinnen, oder nicht? Sie hatten meine Aufmerksamkeit.«

»In solchen Lokalen rede ich nicht gerne, das ist nicht ratsam. Und ich wollte auch sichergehen, dass ich den richtigen Mann vor mir habe. Ich bin Privatermittler, ich wurde von jemandem wie Ihnen engagiert. Von jemandem, der dasselbe durchgemacht hat wie Sie und Ihre Familie. Ich habe Informationen, Danny, Antworten.«

»Antworten? Wovon reden Sie, Mann?«

»Ich weiß, was mit Callie passiert ist. Und ich weiß, warum Sie nicht darüber reden können, warum Sie jedem über den Mund fahren, der auch nur den Namen Ihrer Tochter erwähnt. Sie war nicht die Einzige, der das widerfahren ist. Es gab auch noch andere.«

Danny trat einen Schritt näher, sein Fuß scharrte über den Asphalt und kickte einen Stein weg. Diesmal zuckte der Mann im Anzug leicht zusammen, aber er wich noch immer nicht zurück.

»Ich kenne Sie nicht. Und ich traue zurzeit nicht einmal jemandem, den ich kenne. Ich schlage vor, Sie schleichen sich, bevor Sie diesen Kinnhaken abkriegen, den Sie offenbar erwarten.«

»Schon gut.« Der Mann hob beschwichtigend die Hände. »Sie haben ja recht, Sie kennen mich nicht.«

»Und Sie haben auch keine Ahnung, wer ich wirklich bin. Glauben Sie nicht, was Sie lesen oder hören. Das ist alles Mist.«

»Privatermittler wie ich glauben nur das, was sie selbst herausfinden. Und deswegen bin ich hier. Denken Sie darüber nach, Mr. Evans.«

Danny wollte über gar nichts nachdenken. Nicht jetzt. So schnell er konnte, ging er davon. Er trat aus dem Schatten heraus und steuerte jetzt ein neues Ziel an. Die Tankstelle war die ganze Nacht geöffnet und verkaufte Alkohol. Er warf einen Blick zurück, um sicherzugehen, dass sein neuer Freund ihm nicht folgte. Als er aus dem Laden wieder herauskam, war der Mann verschwunden.

Kapitel 2

Mittwoch

Wenn Danny am Abend zuvor getrunken hatte, war der nächste Morgen immer eine Verlängerung der Nacht. Der benebelte Kopf erinnerte ihn schon beim Aufwachen daran, doch er wusste, das ging vorbei. Die Schwäche in seinen Muskeln würde allerdings anhalten und über den Tag eher noch schlimmer werden. Abends fühlte er sich dann ausgebrannt und wie erschlagen. An diesem Morgen strengten ihn schon die paar Schritte zum Badezimmer an. Beim plötzlichen Surren des Abluftventilators zuckte er nervös zusammen. Er ließ sich auf den Toilettensitz fallen und pinkelte im Sitzen, zu müde, es im Stehen zu tun. Als er fertig war und heraustrat, sah er einen weißen Umschlag auf dem Boden vor seiner Zimmertür liegen, anscheinend hatte ihn jemand durch den Spalt hindurchgeschoben.

Das DIN A4 große Kuvert war unbeschriftet. Es fühlte sich so leicht an, als sei es leer. Doch nach dem Öffnen zog er ein einzelnes Blatt Papier heraus. Die Schrift darauf war krakelig, kaum lesbar:

Vielleicht habe ich gestern Abend nicht die richtigen Worte gefunden. Ich wollte nur reden, helfen. Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen den Termin für ein weiteres Treffen zu nennen.

Sie sollten wissen, dass ich normalerweise nicht ohne Honorar arbeite. Aber in diesem Fall ist das anders. Ich weiß, wie sehr Sie und Ihre Familie gelitten haben.

Die späte Uhrzeit für das Treffen tut mir leid, aber Sie werden den Grund dafür verstehen, wenn Sie dort sind. Die Antworten, die ich erwähnte, ich habe sie. Aber für mich haben sie keinen Nutzen.

Ort: The Old Mill Development, CT17 OAX. Heute Abend, 22 Uhr. Folgen Sie dem Licht.

»Folgen Sie dem Licht!« Danny schnaubte verächtlich. »Und Gott sprach, es werde Licht, was?« Er drehte den Brief um, aber die Rückseite war leer. Er öffnete die Zimmertür und trat hinaus in einen langen, gesichtslosen Korridor. Sein Blick folgte dem gemusterten Teppichboden bis zu einer Brandschutztür. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, es war keiner da. Das Kuvert konnte jederzeit unter der Tür hindurchgeschoben worden sein. Gestern Nacht hatte er zuletzt auf dem Bett sitzend den Rum direkt aus der Flasche hinuntergestürzt, bevor er in einen besinnungslosen Schlaf gefallen war.

Der Vibrationsalarm seines Handys ließ ihn einmal mehr zusammenzucken. Auf dem Display leuchtete der Name MARTY JOHNSON auf, sein Agent. Marty rief immer vorher an, um ihn an ihre Verabredungen zum Frühstück zu erinnern. Danny ging nicht ran. Das würde Marty um diese Uhrzeit auch nicht von ihm erwarten. Stattdessen warf er das Handy mitten auf das zerwühlte Bett, dann ging er unter die Dusche.

»Mein Gott, Danny, deine Frau hat zwar versucht, mich vorzuwarnen, aber du bist ja noch schlimmer dran, als sie gesagt hat.«

»Du hast mit Sharon gesprochen?« Danny starrte Marty entgeistert an und ließ sein Messer klirrend auf den Teller fallen. Sein Toast war erst zur Hälfte mit Butter bestrichen, aber das war auch schon egal.

»Natürlich. Du gehst ja nicht mehr ans Telefon.«

»Was hat sie gesagt?«

»Dass du in einem Hotel wohnst. Dass du zu viel trinkst und es dort todsicher so eine elende Spelunke von einer Hotelbar gibt, die zu deinem neuen Lebensstil passt. Sie wollte auch von mir erfahren, wo du abgestiegen bist, aber ich habe ihr klar gesagt, ich weiß es nicht.«

Danny ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das Duke Inn diente zugleich als Raum für ihr Frühstücksbuffet. Der Alkohol war jetzt zwar hinter Rollos verborgen, aber von ihrem Tisch aus blickte er direkt zu jenem Barhocker, auf den er sich allabendlich setzte. Bei Tageslicht wirkte das Lokal noch schäbiger. Die abgenutzten Teppichstellen auf dem Weg zu den Toiletten waren nicht zu übersehen, auch nicht die schludrig gemalerte Wand in verblassendem Orange sowie die Kamin-Attrappe mit den angestaubten Kiefernzapfen. Seine Frau hatte recht, wie immer.

»Ich musste irgendwo hingehen, wo sie mich nicht finden kann. Nur eine Zeit lang.«

»Du kannst nicht auf Dauer hierbleiben.«

»Nichts ist auf Dauer, Marty. Das hat mich das letzte Jahr definitiv gelehrt.«

Marty grinste. Er war erst seit Kurzem Dannys Fußball-Agent und höchstwahrscheinlich auch sein letzter. Danny hatte schon einige verschlissen, manche von ihnen hatten viel größere Spieler vertreten, als er je einer gewesen war. Dennoch war Marty vom selben Typ wie sie alle. Er hatte dieselbe sündteure Uhr am Handgelenk, das Lacoste-Motiv prangte auf einem strahlend weißen Polohemd und ebenso auf den Chinos, deren eng geschnittene Beine hinabführten zu Sneakers ohne Socken. Er trug einen unglaublich gepflegten Dreitagebart und war zugleich ein Vertreter der Herrendutt-Fraktion, was perfekt zu dem BMW-Coupé zu passen schien, das er draußen geparkt hatte. Die Uhr stotterte er in monatlichen Raten ab, den Wagen ebenso, und zusammen ergab das einen beängstigenden Betrag, sodass sich Marty andererseits in London keine Wohnung leisten konnte, wie er es gerne täte. Dafür müsste er Spieler aus größeren Clubs unter Vertrag haben. Diese Tatsache wurde zwischen ihnen beiden nie ausgesprochen, aber Danny glaubte nicht, dass Marty noch lange an ihm festhalten würde. Er begann, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.

Danny hatte das Fußballspielen immer bis zur Besessenheit betrieben und in seinem Sport nie etwas Negatives gesehen. Bis jetzt, wo er am Ende seiner Karriere stand, ohne einen echten Plan B zu haben.

»Sie macht sich Sorgen um dich.« Marty drückte sich ganz vorsichtig aus, als wolle er sich für eine scharfe Reaktion wappnen.

Danny lehnte sich zurück, schob seinen Teller mit dem Toast endgültig beiseite und widmete sich ganz seinem starken Kaffee. »Wie verquer ist das denn? Erst wirft man jemanden wie ein Stück Scheiße aus dem Haus und erzählt dann allen Leuten, dass man sich Sorgen um denjenigen macht!«

»Die Sache ist etwas komplizierter.«

»Du bist mein Agent, Marty, nicht ihrer.«

Marty hob entschuldigend seine Hände, in der einen hielt er ein Glas Orangensaft. »Ich ergreife für niemanden Partei, so gut solltest du mich inzwischen kennen. Ich will nur, dass du dich wieder um den Fußball kümmerst. Das ist ein wichtiges Jahr für dich. Dieser Trainer-Job bei Dover Athletics, er war dir ganz sicher, alles war unterschrieben, abgenickt, alle waren hocherfreut. Aber allmählich wird man im Vorstand etwas unruhig. Die machen sich auch Sorgen um dich.«

»Sorgen? Die wissen doch, dass ich diesen Job schaffe!«

»Sie wissen, dass du alles schaffst, wenn du dafür brennst. Und wenn du nüchtern bist.«

Danny unterdrückte eine bissige Bemerkung. »Den Trainer-Job …«, überlegte er stattdessen laut.

»Ja, den Trainer-Job. Und das in einem Club, wo du einiges an Ansehen genießt, wo du geachtet bist, wo du Fehler machen kannst, und sie geben dir trotzdem Zeit … Du trainierst die Junioren, und wenn du gute Ergebnisse aufweisen kannst, wer weiß, auf einmal bekommst du Angebote im Vereinsmanagement. Das predige ich dir seit Langem, darin könnte für dich eine echte Zukunft liegen. Außerdem kriegst du ein Gehalt und …«

»Gehalt! Wenn man das so nennen kann!«

»Gut, es ist nicht so viel wie in der Premier League, aber wenn du dich auf der unteren Ebene beweisen kannst, dann geht es nur noch steil nach oben. Und als Cheftrainer oder Manager in der Football League würdest du sehr gut verdienen – vielen Dank für deine Bemühungen, Marty! Und wenn du sogar einen Vertrag in der Championship League ergatterst, dann bist du ein gemachter Mann, ob du den Posten perfekt ausfüllst oder nicht. Vertrau mir, und ich werde schon dafür sorgen.«

»Warum sollte man mir einen Job bei einem Championship Club anbieten?«

»Das wird man natürlich nicht – zumindest nicht gleich am Anfang. Aber aus diesem Grund sollst du ja auch jetzt erst mal dein Leben wieder in Ordnung bringen, deine Trainerscheine machen, dich in dieser Rolle etablieren und genau das tun, was du am besten kannst. Du bist doch clever, Danny. Du kennst den Fußball in- und auswendig, das Gemauschel hinter den Kulissen, um die Spieler zu kriegen, die du brauchst, und diese dann dazu zu bringen, das zu tun, was du willst. Die Spieler hören auf dich, du warst in jeder Mannschaft, in der du gespielt hast, der Kapitän. Das ist kein Zufall, und es passiert selten. Immerhin nennen dich hier immer noch alle Das Raubtier

»Danach fühle ich mich nicht gerade.«

»Das sehe ich. Ist ja nicht das erste Mal, dass es Spieler gegen Ende ihrer Karriere so heftig erwischt. Sie sehen auf einmal keine Zukunft mehr für sich und fühlen sich ziemlich verloren. Und auch, was dein Privatleben anbelangt … Da geht es ein bisschen … nun ja … drunter und drüber. Aber ich glaube, es gibt eine Lösung für alle deine Probleme: Bring dein Leben wieder in Ordnung, hör auf zu trinken, und sei wieder der Danny Evans, der ein Match dirigieren konnte, ohne den Mittelkreis zu verlassen. Dann wird sich mit der Zeit schon alles wieder regeln.«

In Danny stieg plötzlich eine Wut auf, die er nicht unterdrücken konnte. »›Dann wird sich alles wieder regeln!‹ Wie soll sich denn das ›alles wieder regeln‹ …? Ich hatte ein Leben, Marty, eine Familie, oder hast du das alles schon vergessen? Da wird sich nicht einfach alles wieder regeln, mitnichten. Es könnte eher alles noch schlimmer werden. Viel schlimmer.«

Marty setzte diese gönnerhafte Miene auf, wie immer, wenn er jemandem gut zureden wollte. Er konnte sein Mitgefühl nie richtig zum Ausdruck bringen, und man sah ihm stets an, wie viel Anstrengung es ihn kostete. »Du weißt ja nicht, was als Nächstes geschehen wird. Callie liegt zwar jetzt noch im Koma, aber vielleicht ist das morgen schon anders. Sagen die Ärzte nicht, es könnte jederzeit eine große Veränderung eintreten? Und dann kannst du genau ab da wieder mit deinem alten Leben weitermachen. Sieh dich doch nur mal unvoreingenommen an, Danny. Du bist etwas Besonderes, selbst wenn du eine solche Fahne hast, als hättest du gestern Nacht versucht, so viel zu trinken, bis dieses ganz Besondere an dir verschwunden ist. Aber ich sehe es immer noch!«

»Es gibt keine Garantie, dass Callie wieder ganz gesund wird, wenn sie aus dem Koma erwacht; das verspricht uns keiner. Vielleicht wird sie nie mehr …« Danny konnte seinen Satz nicht vollenden, er hatte diese Angst noch nie laut aussprechen können. Und das brauchte er ja auch nicht.

»Aber es besteht doch Hoffnung, oder?«

»Also hast du mich deshalb heute unbedingt treffen wollen. Um mich ein bisschen aufzumuntern?«

»Nein. Ich wollte nur sicherstellen, dass ich mich mit dir tatsächlich den Leuten bei Dover Athletics gegenübersetzen kann und dass sie uns dann ernst nehmen. Dort wartet ein guter Job auf dich. Das Gespräch wird noch diese Woche stattfinden. Du wirst dort einen Trainervertrag unterschreiben. Der kann parallel zu einem weiteren Spielervertrag laufen, wenn sie dir noch ein Jahr Verlängerung anbieten. Aber du musst diese Gelegenheit ergreifen, Danny, okay? Das ist alles wie geschaffen für dich – sonst haben wir keine anderen Optionen mehr.«

»Das habe ich schon verstanden.« Danny seufzte. »Ich schätze es wirklich sehr, was du alles für mich tust. Ich weiß, du gibst dein Bestes.«

Marty lächelte. »Natürlich. Du bist mein liebster Kunde, und mich um dich zu kümmern ist mein Job.«

»So spricht ein wahrer Spieleragent.« Danny tat gerührt.

»Ich kann nicht anders.« Marty setzte wieder diese gönnerhafte Miene auf. »Machst du heute einen Besuch im Krankenhaus?«

»Ich gehe jeden Tag dorthin, Marty, das weißt du.«

»Sharon meinte, sie kommt auch.«

»Sie geht auch jeden Tag hin. Ja und?«

Marty schmatzte mit den Lippen. »Meinst du nicht, du solltest dich vorher noch duschen? Bevor du dort hingehst, meine ich.«

»Ich habe schon geduscht!«

Marty fuhr sich mit den Händen durchs Haar und zupfte an seinem Herrendutt. »Dann duschst du eben noch mal.«

Kapitel 3

Jedes Mal, wenn Danny durch das William Harvey Hospital ging, fühlte er sich genau wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Callie lag jetzt seit einem Monat hier, und seither hatte Danny denselben Weg so gut wie jeden Tag zurückgelegt. Heute ging er – wie immer – mit gesenktem Kopf durch dieselben endlosen, blank gebohnerten Korridore, auf denen sich die verschiedenfarbigen Kittel des Personals widerspiegelten, das in alle Richtungen eilte und dabei den schweren Geruch von Waschpulver und Desinfektionsmittel verbreitete. Die Intensivstation befand sich im zweiten Stock. Er nahm lieber die Treppe als den Lift, denn so konnte er die Nähe zu anderen vermeiden, obwohl er Martys Rat befolgt und ein zweites Mal geduscht hatte.

Und dann stand er vor Callie.

Auch seine Tochter kam ihm jedes Mal völlig unverändert vor. Dasselbe Bett in demselben Raum. Die Intensivstation hatte fünf Bereiche: Callie lag im dritten, im ersten Bett links, am weitesten entfernt von einem Fenster, das immer verschlossen war. Folglich war die Luft hier drin stickig und die Atmosphäre beklemmend. Callie befand sich auch immer in der gleichen Position: Sie lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, ausdruckslosem Gesicht, und man hörte stets dasselbe mechanische Zischen und Surren des Sauerstoffgeräts, das ihre Atmung unterstützte und dessen Schlauch zwischen ihren Lippen tief in ihren Rachen führte. Ein weiterer Schlauch verlief parallel dazu. Als Danny zum ersten Mal mit dem erschreckenden Anblick seiner Tochter konfrontiert gewesen war, hatte er eine Menge Fragen gestellt und erfahren, dass sie viel mehr brauchte als nur Unterstützung beim Atmen. Sie erhielt auch ständig ein Sedativum, das sie im künstlichen Koma hielt, ein Schmerzmittel sowie Medikamente zur Verringerung des Risikos langfristiger Leberschäden. Und als wäre das alles nicht schon beängstigend genug, führte mittlerweile noch eine Ernährungssonde durch ihre Nase, um ihr Handgelenk war eine Manschette gelegt, die ihren Blutdruck überwachte, und darüber hinaus hatte man sie in der Leiste an ein Dialysegerät angeschlossen. Die letzte körperfremde Installation war ein Katheter, der unter dem Bettzeug hervorhing und zu einem Urinbeutel führte. Man hatte Danny erklärt, dass er sich an ihren Anblick gewöhnen würde, aber jetzt nach einem Monat traf es ihn immer noch ins Mark, sie so zu sehen.

Als er ihre Hand ergriff, spürte er dieselbe kalte, klamme Berührung ihrer Haut.

»Hey«, grüßte Sharon, und er sprang auf. Ihre Stimme klang zwar müde und tonlos, war für ihn aber, selbst über das Bett hinweg, unverkennbar – kein Wunder nach fünfzehn Jahren Ehe. Leidgeprüft war eine passende Beschreibung für seine Frau, die er kürzlich zufällig vernommen hatte. Er konnte das kaum bestreiten. Sie beide hatten schwere Zeiten miteinander erlebt: außereheliche Affären, Süchte, Depression – alles seine. Doch sie hatten diese Prüfungen allesamt gemeinsam durchgestanden. Er hätte vielleicht gerade noch akzeptieren können, dass seine Ehe einmal scheitern würde und er aus dem Familienheim ausziehen musste. Dabei war er jedoch immer davon ausgegangen, dass er die Schuld am Anlass tragen würde und er diese Sache dann auch irgendwie wieder selbst in Ordnung bringen könnte. Stattdessen hatte sie etwas anderes auseinandergerissen. Jemand anderes. Der Fremde, der, von ihnen unbemerkt, ihre Tochter manipuliert und missbraucht hatte, der Unbekannte, der sie in eine so tiefe Verzweiflung gestürzt hatte, dass sie versucht hatte, sich mit einer Handvoll Tabletten das Leben zu nehmen: Schmerzstiller, die man nur auf ärztliches Rezept bekam. Er hatte das Wort nicht einmal laut aussprechen können. Die Ärzte hatten in ihrem Blut zusätzlich noch eine toxische Menge Paracetamol nachgewiesen. Sie deuteten an, dass Callie vielleicht als Erstes zu einer Überdosis von diesem starken Schmerzmittel gegriffen habe, aber dessen Wirkung lasse oft eine Zeit lang auf sich warten, und da habe sie vielleicht die Geduld verloren. Er konnte sich kaum vorstellen, was ein solches Gefühl der Verzweiflung in ihr ausgelöst haben könnte. Es hatte eine polizeiliche Untersuchung gegeben; Callie war ein Opfer von Cyber-Grooming, sie war von einem Pädophilen in einem Internet-Chatroom dazu erpresst worden, anzügliche Fotos zu schicken. Das alles war schon einige Woche vor ihrem Selbsttötungsversuch herausgekommen: Callie war nicht das einzige Opfer – einige ihrer Freundinnen waren ebenfalls mit hineingezogen worden. Es war natürlich eine schwere Zeit gewesen, aber er hatte keine Ahnung gehabt, wie schwer sie das alles getroffen haben musste. Seine lebensfrohe, beliebte, pfiffige Tochter – und jetzt lag sie hier. Und wurde von einer Reihe von Schläuchen am Leben erhalten.

Er hatte angenommen, die polizeilichen Ermittlungen würden verstärkt, als Callie notfallmäßig eingeliefert wurde, aber die Beamten hatten keine neuen Erkenntnisse zu bieten – nur immer mehr offene Fragen als Antworten. Vieles war weiterhin ungeklärt, und vor allem die Fahndung nach der Identität ihres Peinigers ging ins Leere; der Wunsch nach Gerechtigkeit blieb unerfüllt.

Danny ließ die Hand seiner Tochter nicht los, während er seine Frau begrüßte. »Ich dachte nicht, dass du schon so früh herkommen würdest«, meinte er.

Sharon hatte Kaffee mitgebracht, und das Logo auf den Bechern ließ darauf schließen, dass er aus dem Automaten unten am Eingang stammte.

»Na ja, ich habe heute jemand anderen gefunden, der mir die Fahrt zur Schule abnimmt, also dachte ich …«

»Was dachtest du?« Sharon hatte zwei Becher mitgebracht, und Danny schloss daraus, dass sie mit der Absicht hergekommen war, mit ihm zu reden – nach seinem wochenlangen Bemühen, genau das zu vermeiden.

»Marty hat mir erzählt, du würdest nach eurem Treffen herkommen, daher dachte ich, vermutlich würde ich dich um diese Zeit hier antreffen.« Sie stellte einen der Becher auf dem Tisch am Bettende ab und schob ihn ein Stück näher zu Danny hin.

»Ihr beiden habt in letzter Zeit viel miteinander geredet«, sagte Danny, und seine Frau reagierte darauf mit einem warnenden Blick.

»Wir machen uns beide Sorgen um dich.«

»Verschwende deine Energie nicht mit Sorgen um mich. Du brauchst deine ganze Kraft für Callie.«

Sharon war auf der anderen Seite des Betts stehen geblieben und ergriff jetzt die andere Hand ihrer Tochter. Er beobachtete sie, wie sie Callies Finger sanft geradestrich, als wollte sie etwas Leben in sie hineinmassieren.

»Fragst du dich manchmal, ob sie in ihrem Zustand träumt? Manchmal sieht man das in Filmen, nicht? … Dass Leute im Koma träumen. Das geht mir immer im Kopf herum, denn wenn Callie träumen kann, dann kann sie auch schlimme Träume haben … Klingt lächerlich, nicht?«

»Diese ganze Sache ist ein Albtraum.« Danny strich Callie sachte eine Haarsträhne aus der Stirn, die ihr über die Augen gefallen war. Sie war so ein hübsches Mädchen mit ihren zarten Gesichtszügen – und sie hatte dieses Strahlen in ihren Augen. Wie ihre Mutter.

»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, Danny, dass sie auch schlimme Träume hat. Ich möchte glauben, dass sie einfach nur schläft, sich ausruht, um dann gestärkt wieder aufzuwachen. Mir graut vor dem Gedanken, dass sie in ihrem Inneren schwere Kämpfe austragen muss.«

»Ich weiß.«

Sharons Lippen zuckten, als müsste sie gleich weinen, und Danny unterdrückte den Impuls, zu ihr hinüberzugehen und sie in den Arm zu nehmen. Doch dann wechselte sie schnell das Thema.

»Wie ist deine derzeitige Bleibe?«, fragte sie.

»Wie ein Hotelzimmer beim Zwischenstopp einer Fußballtour in Tschernobyl. Nur ohne die Kumpels.« Er lachte gezwungen, und auch Sharon brachte ein Lächeln zustande.

»Spielst du weiter in der Liga? Ist das dein Plan?«, fragte sie.

»Plan!«, fuhr Danny sie an und bereute es sofort. »Ich weiß noch nicht genau, was ich als Nächstes mache, noch nicht.«

»Marty sagte etwas von einem Job bei Dover Athletics. Klingt, als würdest du im Managementbereich unterkommen. Das wäre schön.«

»Ich habe da ein paar Optionen, ja. Muss aber ganz unten anfangen.«

»Wirst du das durchstehen?«

»Was meinst du damit?«, fuhr Danny sie an. Und wieder bereute er es. Sharon blieb ruhig, natürlich, es war immer er, der an die Decke ging.

»Du hast im Moment eine Menge am Hals«, erwiderte sie. »Wir beide. Ich kann mich auch nur mühsam auf irgendetwas konzentrieren, deshalb kann ich es dir nachfühlen.«

»Das schaff ich schon«, meinte Danny.

»Ich habe darüber nachgedacht, ob wir vielleicht zusammen einen Kredit aufnehmen könnten. So viel, dass du dir eine Anzahlung auf eine Wohnung leisten könntest. Dann würde dein Leben vielleicht ein bisschen beständiger werden, du könntest zur Ruhe kommen. Ich habe mich mal umgesehen, es gibt ein paar Orte, die dir vielleicht gefallen könnten. Ich kann dir die Links schicken …« Sie verstummte und sah ihn aufmerksam an, als warte sie auf seine Reaktion.

»Wohnungen? Klar, schick mir die Links. Kann ja nicht schaden, mal zu schauen.« Danny hatte keinesfalls vor, sich die anzusehen. So schäbig das Hotel auch war, wenn er eine Mietwohnung suchte, wäre das eine dauerhafte Lösung für ein Problem, von dem er gehofft hatte, es würde vorübergehen. Sharon schien sich etwas zu entspannen, vielleicht weil sie beide die Phase hinter sich gelassen hatten, in der sie einen erbitterten Streit erwartet hätte.

»Hat sich jemand bei dir gemeldet? Zu … zu den Ermittlungen?«, fragte Danny.

»Bei mir gemeldet? Die Polizei, meinst du? Nein, schon seit einer Weile nicht mehr.«

»Nicht die Polizei. Da war so ein Typ, er sagte, er sei Privatermittler. Hat mich im Hotel abgepasst.«

»Ein Privatermittler? Woher hast du denn Geld für einen …«

»Ich habe niemanden engagiert. Das hat nichts mit mir zu tun, nicht mal mit uns. Er wurde von jemandem angeheuert, unabhängig von uns, aber er meinte, er hätte Antworten für uns. Dazu, wer das Callie angetan hat …« Dannys Stimme erstarb. Das Ganze klang noch lächerlicher, wenn man darüber sprach.

»Es stand in den Lokalzeitungen, Danny, und überall in den sozialen Medien wurde dazu gepostet. Jeder meint, alles über uns zu wissen, genau wie früher. Das ist sicher wieder irgendein Gestörter, der meint, er habe etwas mit der Geschichte zu tun. Du hast ihm doch nicht etwa Geld gegeben, oder?«

»Nein. Er wollte kein Geld. Er meinte, er hätte Antworten. Mehr hat er nicht gesagt.«

»Das wird er schon noch … Geld verlangen, meine ich. Klingt für mich wie ein Betrüger. Für dich gibt es im Moment auf der ganzen Welt nichts Wertvolleres, als herauszufinden, wer uns – unserer Tochter – das angetan hat. Das kann sich doch jeder denken. Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren.«

»Das habe ich getan.«

»Wie sah er aus?«

»Das lässt sich schwer beschreiben. Älter als ich. Guter Anzug … Es war schon spät, ich ging gerade zurück in mein Hotel und war ein bisschen …«

»Betrunken?«

»Ich wollte sagen müde.«

»Aber eigentlich meintest du betrunken.«

»Ich bin erwachsen, Sharon. Ich darf mir ein Glas zum Abschalten gönnen, wenn sonst nichts los ist.«

»Du darfst tun, was immer du willst. Das war schon immer dein größtes Problem.« Nach einer Pause fuhr sie freundlicher fort: »Hör zu, ich will nicht streiten. Ich wollte nur schauen, ob du okay bist.«

»Ich muss unbedingt meinen Jungen sehen«, sagte Danny.

»Darüber haben wir doch gesprochen.«

»Du hast zu mir darüber gesprochen.«

»Damals warst du auch betrunken. Meinst du, ich will ein Gespräch auf Augenhöhe mit einem Betrunkenen über so etwas Wichtiges wie unseren Sohn?«

»Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Das Trinken schon. Es klingt so, als sei es gestern Nacht wieder vorgekommen, und deswegen hat wahrscheinlich dieser Typ im Anzug gedacht, er könnte sich an dich heranmachen. Er hat deine Schwäche gesehen und sie ausgenutzt.«

»Aber jetzt bin ich nicht betrunken. Nur keine Hemmungen, Sharon.«

»Du hast immer noch eine Mordsfahne.«

»Ich will nur meinen Sohn sehen. Vielleicht trinke ich ja deswegen, weil du mich vom Einzigen fernhältst, was mir noch geblieben ist. Hast du daran schon mal gedacht?«

»Ich muss an ihn denken. In diesem Gespräch darf es nur um Jamie gehen. Du hättest ihn sehen sollen, als du fortgegangen bist. Er hat dich seit frühester Kindheit vergöttert, ›Das Raubtier‹ vom Fußballplatz, der Lokalheld. Er hat fast jeden Augenblick seiner Kindheit mit einem Ball vor den Füßen und deinem Namen auf dem Rücken verbracht. Ich weiß wirklich nicht, was er inzwischen von dir hält. Aber er hat aufgehört, deine Fußballtrikots zu tragen, so viel weiß ich. Du hast ihn wirklich verletzt.«

»Er ist zwölf. Ich habe ihn im Stich gelassen, das weiß ich, aber ich bin immer noch sein Dad und kann es wiedergutmachen. Du kannst ihn nicht auf Dauer von mir fernhalten, das ist nicht fair. Lass mich nicht betteln, Sharon …«

»Ich will jetzt nicht darüber reden. Nicht vor Callie.«

»Vor Callie? Das ist das Beste, was du bisher gebracht hast. Und auch nicht das erste Mal, dass du sie benutzt, um mich mundtot zu machen, oder?« Dannys Kopf dröhnte, und seine Wut wuchs. Er hielt noch immer die Hand seiner Tochter in seiner, aber jetzt ließ er sie los. Er musste dringend raus an die frische Luft. Er hatte das Gefühl, hier drin zu ersticken.

»Jetzt willst du wieder weglaufen, nicht wahr, Danny?«

»Ich tue nur das, was mir meine Therapeutin gesagt hat. Meine Therapeutin. Die, zu der du mich geschickt hast.« Als er draußen auf dem Korridor war, taumelte er. In seinem Kopf hämmerte es, und es war noch ein weiter Weg bis nach draußen an die frische Luft. Er flüchtete in die Herrentoilette und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

»Verdammt!« Wassertropfen rannen von seinem Spiegelbild herab, das ihm entgegenschrie. Er wurde immer so wütend, wenn er in ihrer Nähe war. Und er wusste, warum. Er war nicht wütend auf sie, er war wütend auf sich selbst, weil er so erbärmlich war, weil er ihr so viele Argumente bot, die sie ihm zurück ins Gesicht schleudern konnte. Und er war wütend, dass er sich nicht unter Kontrolle hatte, dass er nichts dagegen tun konnte, was sie beide immer weiter auseinanderriss.

Danny Evans war noch nie der Typ Mann gewesen, der die Dinge einfach tatenlos hinnahm.

Kapitel 4

21 Uhr 20. Die letzten Familien verließen das Lokal, und das Duke Inn war einmal mehr fest in der Hand der Loser, der Verlorenen. Der Trinker.

»Noch eins?«, fragte die leutselige Stimme des Barmanns. Er trug ein ungebügeltes Hemd und hatte strähniges langes Haar, das im Licht fettig glänzte und von einem schwarzen Stirnband zurückgehalten wurde. Danny bemerkte unwillkürlich, dass der Mann hinter dem Tresen sich anders benahm, wenn er mit ihm redete, verglichen mit den Gästen, die als Familie zum Essen herkamen. Er behandelte ihn so, als wären sie beide Kumpels, verwandte Seelen, und nicht so wie jene anständigen anderen Leute mit gebügelten Hemden und Eigenheimen, in die sie zu vernünftiger Uhrzeit zurückkehrten. Zumindest hatte er offenbar endlich begriffen, dass er mit Small Talk nicht bei ihm landen konnte. Danny war nicht in einer Bar, um sich zu unterhalten, es ging ihm nicht einmal ums Trinken. Die Wahrheit war viel schlimmer: Er war dort, weil er sonst nirgends hingehen konnte.

Danny nickte.

»Einen Schnaps dazu?« Der Barmann tippte auf seine Uhr, um ihn darauf hinzuweisen, dass es Zeit für Last Orders, die letzte Bestellung, war – sie waren schließlich Kumpels, oder? Sie verstanden sich ohne Worte. Danny sollte ablehnen. Die Frage sollte eine Mahnung sein, sich mal umzusehen und zu erkennen, was aus ihm geworden war. Stattdessen nickte er nur. Der Barmann wandte sich um. Ein paar Minuten später stand ein frisches Pint vor ihm, daneben ein Glas dunkler Rum. Danny legte die Hand um das Bierglas, in dem die Bläschen aufstiegen. Plötzlich hatte er ein Déjà-vu. Gestern Abend hatte er auch genau so hier an der Bar gesessen, als ihn der Fremde angesprochen hatte.

»22 Uhr.« Die Worte kamen Danny fast unwillkürlich über die Lippen. Er richtete sich auf und ließ den Blick durchs Lokal schweifen, als erwarte er, dass der Anzug-Typ wieder auftauchen und ihm Antworten versprechen würde wie gestern. Stattdessen kam der Barmann schnurstracks zu ihm zurück.

»Wollten Sie noch etwas?«

»Tschuldigung … nein«, erwiderte Danny. Er sah auf die Uhr. Nach der Rückkehr vom Krankenhaus hatte er noch einmal die Nachricht durchgelesen und dann sogar den Postcode in eine Karten-App auf seinem Handy eingegeben. Die Karte hatte einen Ort angezeigt, den er ganz gut kannte, denn er lag in Laufweite des Crabble-Stadions und des Vereinsgeländes von Dover Athletics, seinem Arbeitsplatz. Die letzte Zeile der Nachricht las sich noch immer wie der Werbeslogan eines B-Movies: Folgen Sie dem Licht. Danny hatte daraufhin das Blatt Papier, so fest er konnte, zusammengeknüllt und in den Abfalleimer geworfen. Sharon hatte recht. Sie hatte immer recht. Zum Teil erklärte das, warum sie ihn so wütend machen konnte. Dieser Anzug-Typ war vermutlich eine Art Betrüger, der über ihn in der Zeitung gelesen oder im Internet recherchiert hatte. Er wollte sicher Geld von Danny und hatte einfach seine Forderung noch nicht gestellt. Niemand tat etwas kostenlos.

Aber sein Handy lag auf dem Bartresen, und als er es entsperrte, war die Karten-App immer noch geöffnet und zeigte den Postcode. Laut Handy befand er sich nur zwölf Minuten von dem Ort entfernt. Er dachte wieder an Sharon und dass sie immer recht hatte. Sie hatte sofort alles infrage gestellt, als er ihr von diesem Typ erzählt hatte. Aber was, wenn der wirklich einige Antworten hätte? Vielleicht hatte er bei einer anderen Ermittlung etwas herausgefunden und war einfach nur ein anständiger Kerl, der ihm unbedingt mitteilen wollte, was er wusste. Das mit dem Geld konnte ihm dann eigentlich egal sein. Wenn jemand anderes ihn engagiert hatte, wie er behauptete, dann hatte er ja bereits ein Honorar bekommen. Er hatte auch gesagt, er sei nicht hier aus der Gegend, also wenn er tatsächlich Antworten hatte, dann könnten diese Informationen mit ihm davonfahren, vielleicht für immer. Wie gern würde Danny seiner Frau zurückmelden können, dass er, ihren Rat missachtend, seine eigene Entscheidung gefällt und sich mit diesem Mann noch einmal getroffen hatte – und dass er jetzt tatsächlich mehr wusste. Und wie falsch sie diesmal gelegen hatte.

Danny machte sich bereit zum Gehen. Der Ort war nur zwölf Minuten entfernt. Wenn der Typ dort Geld von ihm verlangen sollte, konnte er ihm einfach sagen, er solle sich verpissen. Seine Frau brauchte das nie zu erfahren. Er war nicht so dumm, wie sie dachte.

Als er aufstand, blieb sein Hocker am Teppich hängen und fiel um, aber keiner machte sich die Mühe, zu Danny herzusehen. Er stellte den Hocker wieder auf, und als er sich vorbeugte, wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Auch schwankte er leicht, also sollte er auf keinen Fall mehr fahren. Er streckte die Hand nach dem Tresen aus und kippte das Glas Rum in einem Zug hinunter.

»One for the road«, murmelte er dabei und verließ das Pub. Die eisige frische Luft draußen schlug ihm entgegen und raubte ihm fast den Atem. Er schaffte es zu seinem Wagen und blieb dort noch ein paar Minuten im Dunkeln sitzen, um abzuwarten, ob ihn irgendjemand gesehen hatte. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine weitere Anzeige wegen Alkohol am Steuer, die Sharon seinem Sündenregister hinzufügen könnte. Sein vorheriges Fahrverbot war gerade aufgehoben worden, aber sie musste ständig darauf herumreiten und es ihm vorhalten. Schließlich waren es ja nur zwölf Minuten Fahrzeit. Er würde ganz vorsichtig fahren – sich dem Verkehr anpassen.

Er warf einen Blick auf das Armaturenbrett und versuchte, sich zu konzentrieren. Durch die Windschutzscheibe sah er den Verkehr fast pausenlos vorbeiströmen, meist waren es große Lkw, die Fahrt aufnahmen, wenn sie die Hafengegend hinter sich gelassen hatten. Danny startete seinen Mercedes und kroch langsam an den Fenstern des Duke Inn vorbei. Er hoffte, dass der Barmann nicht sonderlich darauf achtete, was die Gäste taten, nachdem sie aus dem Lokal getorkelt waren. An einer Kreuzung hielt er an und blickte nach rechts, wo in der Ferne das beleuchtete Dover Castle zu sehen war. Er war oft mit seiner Familie dort gewesen. Sharon, Jamie, Callie und er. Seiner intakten Familie. Eine lebhafte Erinnerung bahnte sich den Weg durch den Alkohol: Es war sonnig, sie saßen auf langen Holzbänken in der Burganlage und wohnten einem Ritterturnier bei. Zwischen den Runden war ein Hofnarr aufgetreten, um die mittelalterliche Atmosphäre noch zu unterstreichen, und hatte sich Danny zur Zielscheibe seiner Späße auserkoren. Sie hatten alle miteinander gelacht, und ihr Gelächter hatte im hellen Sonnenschein noch strahlender gewirkt. Es war eine seiner vielen Erinnerungen, in denen er Teil einer glücklichen Familie gewesen war. Das war erst letzten Sommer gewesen. Es erschien ihm eine Ewigkeit her.

Heftiges Hupen drang an sein Ohr.

Es riss ihn zurück in die kalte Februarnacht. In seinem Rückspiegel leuchteten viele Scheinwerfer auf. Er war in seine Gedankenwelt abgetaucht – so viel zur Anpassung an den Verkehr.

Er glitt auf dem Jubilee Way bergab, um der Lkw-Schlange zu entkommen. Der letzte Teil der Straße verlief auf Stelzen und bot einen guten Ausblick auf die berühmten weißen Klippen, und unter ihm erstreckte sich als chaotisches und quirliges Lichtermeer der Hafen von Dover. Das Meer ruhte wie eine dunkle Fläche dahinter, und nur manchmal durchbrach ein blinkendes Licht diesen Eindruck. Die Straße wand sich bis hinunter auf Meereshöhe, gesäumt von einer Reihe verschlafen wirkender Bed and Breakfasts, während sich zur Linken die hell beleuchtete, weiß gepflasterte Promenade hinzog. Bald ließ Danny das Meer hinter sich und fuhr in Richtung eines neu erschlossenen Stadtteils mit vielen Geschäften und Restaurants. Dieses Bauprojekt war zweifellos einer der Gründe dafür, dass die restliche Strecke durch ein ziemlich trostloses Viertel verlief, sobald er dem Einbahnstraßensystem folgte, das ihn durchs Stadtzentrum führte. Hier kam er vorbei an mit Brettern zugenagelten Geschäften, viele versuchten mit Schildern »Zu vermieten« auf sich aufmerksam zu machen, so wie ein verzweifelter Anhalter den Daumen in den Wind hält.

Die Papierfabrik Crabble lag auf der anderen Seite der Stadt. Einst galt sie als ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor von Dover, und das edle Papier der Marke »Conquerer« war weltweit bekannt gewesen, aber das war inzwischen Geschichte. Danny hatte die Fabrik als Kind einmal mit seiner Schulklasse besucht. Damals herrschten in den Hallen große Hitze und geschäftiger Lärm, und der Zellstoffbrei hatte einen sonderbaren, intensiven Duft verströmt, wie er ihn noch nie gerochen hatte. Jetzt entstanden auf den früher mit Lastwagen vollgestellten Fabrikhöfen, die auf ihre Ware warteten, neue Wohnsiedlungen, an denen noch immer gebaut wurde. Das ganze Gelände umfasste ein Bauprojekt, in das die alte Fabrik eingebunden war.

Als er dort ankam, lag der Fabrikhof in Dunkelheit. Ein Tor im Maschendrahtzaun war halb aufgeschoben, und eine dicke Kette hing bis auf den Boden. Nur ein hell erleuchtetes Fenster stach von fern aus der Dunkelheit hervor.

»Folgen Sie dem Licht«, murmelte Danny, während er zu dem Fenster hinüberspähte. Aus lauter Nervosität lachte er unwillkürlich auf.

Seine Autoscheinwerfer hatten zumindest noch schwaches Licht gegeben, doch als er den Wagen abschloss, vertiefte sich die Finsternis um ihn herum. Der Maschendraht des Tors wirkte in der Dunkelheit wie eine graue Platte, und als er hindurchtrat, machten seine Füße ein scharrendes Geräusch auf dem unebenen Boden. Das Tor führte zu einer Estrichfläche mit Randstein und Ablaufrinnen wie bei einer Zufahrt. Linker Hand lag die verfallene Ruine des alten Fabrikgebäudes, und zu seiner Rechten erhob sich eine Reihe neu gebauter Wohnhäuser, die dem ursprünglichen Fabrikgebäude stilistisch nachempfunden waren, und dennoch wirkten sie hier auf dem Gelände wie Eindringlinge. Die Zufahrt zu ihnen machte eine Biegung nach links und verschwand hinter der alten Fabrik. Die meisten der Häuser wirkten wie Gerippe, ihre Tür- und Fensteröffnungen wie leere Augenhöhlen und offene Münder. Ein Minibagger zur Rechten machte den Eindruck, als ruhe er sich von seinem Tagwerk aus. Er stand unter großen Strahlern, die nicht sehr stabil auf einem wackligen dreibeinigen Gestell angebracht waren, doch das Licht war ausgeschaltet. Das alles ergab keinen Sinn, aber er hatte schon oft gehört, dass diese Baustellen immer wieder von Metall- und Baumaschinendieben heimgesucht wurden.

Danny war froh, dass es zumindest dunkel war. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, und war nicht unglücklich darüber, im Schutz der Dunkelheit zu dem beleuchteten Fenster zu schleichen. Er wollte wenigstens einen Blick hineinwerfen, ob dort drinnen jemand war. Dann blieb noch genug Zeit, um zu entscheiden, dass sein Auftauchen Unsinn gewesen war, und einfach wieder zu verschwinden. Er wählte einen Weg links am Gebäude entlang, wo es am dunkelsten war. Der Boden war hier sehr holprig, und er stolperte über lose Erdbrocken und tappte in Schlaglöcher, denn seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt.

Als er sich dem Licht näherte, blieb er stehen. Er sah jetzt, dass es gar kein erleuchtetes Fenster war, sondern ein Eingang. Dieser Teil der Häuserreihe wirkte schon viel fertiger als der Rest. Die Innenwände schienen sogar gestrichen. Sie glänzten hell im Licht, sodass er blinzeln musste. Das Haus vor ihm hatte schon Fensterrahmen, und die Eingangstür stand weit offen.

»Hallo, Fremder im Anzug, der mir Antworten versprochen hat. Sind Sie da drin?« In Dannys Kopf pochte es, und der Kater setzte ein. Dennoch hatte er sich noch nie nüchterner gefühlt. Es war eine verrückte Situation, umso mehr, als er in die leere Diele hineinblickte und vor sich eine Holztreppe ohne Geländer sah. Auf dem Fußboden war frischer dunkelgrauer Estrich verlegt, und braune Stiefelabdrücke führten in alle Richtungen. Er entdeckte einen Pfeil, der mit gelber Kreide auf den Boden gemalt war. Daneben stand ein einzelnes Wort in Großbuchstaben:

DANNY.

Der Pfeil zeigte nach rechts. Er trat ins Haus.

»Hallo?« Er rief jetzt lauter, und seine Stimme hallte wider, als halte sie nichts oder niemand auf. »Das ist ganz und gar nicht komisch. Zeigen Sie sich endlich, oder ich gehe wieder.«

Keine Antwort. Die Eingangstür war mit leuchtend blauem Plastik geschützt, und ein abgerissenes Stück der Plane schlug im Wind gegen das Holz. Danny zuckte erschrocken zusammen und machte einen Satz zurück.

»Mach dich nicht lächerlich, Danny«, schalt er sich, aber sein Blick fiel wieder auf seinen Namen und den Pfeil am Boden. Er wies in Richtung einer weiß gestrichenen Tür ohne Griff. Er würde sie öffnen müssen, um zu wissen, was hier gespielt wurde. Er wusste, er konnte nicht von hier fortgehen, ohne herauszufinden, was dieser Witzbold hinter der Tür für ihn versteckt hatte. Er machte einen Schritt darauf zu, legte die Hand aufs Holz und hielt den Atem an, um zu lauschen: nichts.

Die Tür ging nach innen auf, und dahinter war es noch viel dunkler. Das Licht aus der Diele reichte nicht aus, um den großen Raum zu erhellen. Er konnte so weit sehen, um eine Schicht halb durchsichtiger Plastikfolien zu erkennen, die quer durch den Raum aufgehängt war. Er konnte auch einen dunklen Schemen dahinter ausmachen sowie Werkzeug oder irgendwelche anderen Gerätschaften. Mitten auf den Plastikplanen war ein Stück Papier befestigt, auf dem in Druckbuchstaben stand:

DANNY. DU MUSST RUHE BEWAHREN UND DAS DURCHLESEN.

Unter dem Text war ein weiterer Pfeil, er deutete in die untere rechte Ecke des Blattes zu einem Metallstuhl, der direkt vor der Folie stand. Auf dem Sitzkissen lag ein schwarzer Schnellhefter, und neben der Tür sah er einen Lichtschalter. Er betätigte ihn und musste wieder blinzeln, denn es war plötzlich sehr hell im Raum. Er trat auf den Stuhl zu, hielt aber abrupt inne, als er ein schwaches Geräusch vernahm. Die Richtung, aus der es kam, war schwer zu bestimmen, es hätte auch von draußen kommen können. Es klang wie ein Scharren, vielleicht bewegte sich etwas im Wind.

Er nahm den Schnellhefter zur Hand. Als er ihn aufklappte, fiel sein Blick auf die erste Seite mit zwei Worten, die seinen Puls so stark in die Höhe trieben, dass er das Blut an seinen Schläfen pochen spürte: CALLIE EVANS.

Er blätterte um. Als Nächstes folgte ein gedrucktes Dokument, ein Textausschnitt im Stil eines Berichts. Er überflog ihn und las dabei so schnell, dass er keinen Sinn erfassen konnte. Er musste sich konzentrieren, langsamer lesen und seinen Blick an den Anfang zurückzwingen, damit er den Inhalt verstehen konnte:

Callie Evans war das fünfte entdeckte Opfer und wird im Folgenden O5 genannt.

O5 wurde zu Anfang auf derselben Plattform wie die anderen kontaktiert – über eine direkte Nachricht auf einer Social-Media-App zum Austausch von Fotos. Auf dem Mobiltelefon des Täters fanden sich eine Reihe von Chats mit O5, bei denen diese App genutzt wurde.

Danny schlug die Hand vor den Mund, und sein Blick fiel zurück auf das Blatt Papier mit den Druckbuchstaben:

DANNY. DU MUSST RUHE BEWAHREN UND DAS DURCHLESEN.

Dahinter registrierte er eine Bewegung. Dieser dunkle Schemen. Auch ein Geräusch war wieder zu hören, und diesmal bestand kein Zweifel, wo es herkam. Danny ließ den geöffneten Ordner auf den Stuhl sinken.

»Hallo?«, rief er. Seine Angst war verschwunden, und in seiner Stimme schwang Wut mit. »Was zum Teufel ist das?« Er fuhr mit der Hand über die Plastikplane vor ihm. Er bemerkte zwei Reißverschlüsse, die wohl die Bahnen zusammenhielten, um den Raum und was sich darin befand abzutrennen. Der dunkle Umriss bewegte sich erneut, aber so wenig, dass er daran zweifelte, was er sah. Dann hörte er wieder etwas – es klang wie ein ersticktes Stöhnen. Er zog einen der Reißverschlüsse ganz nach oben auf, bis er eine Kurve zur Seite beschrieb. Die Plastikfolie teilte sich und eröffnete ihm den Blick auf weit aufgerissene Augen, die ihn anstarrten. Wieder hörte er dieses erstickte Stöhnen. Es klang jetzt drängender, ein Mensch versuchte sich verständlich zu machen, konnte aber keine Wörter artikulieren. Ein abgeschnittener Flintenlauf, der ihm zwischen den Zähnen steckte, verhinderte das.

»Mein Gott! SCHEISSE!« Danny zuckte zurück und geriet ins Taumeln. Er blickte wild um sich, als erwartete er, dass sich weitere Türen öffnen, dass Leute hereinstürmen und ihm eine Erklärung zurufen oder gar, dass ein paar Kumpels laut lachend mit einer Kamera auf ihn losspringen würden. Sie hatten ihn an der Nase herumgeführt, so viel war sicher. Er würde dennoch wütend sein – stinkwütend. Aber zugleich auch erleichtert.

Aber niemand stürmte herein.

Er starrte auf die Szene vor ihm. Das Stück Plastikfolie, das er mit dem Reißverschluss geöffnet hatte, hing hinunter auf den Boden, und der Mann dahinter wirkte wie in einem Spinnennetz aufgehängt. Nur die Zehenspitzen berührten den Boden, während seine Hände stramm hinter seinem Rücken gefesselt waren. Um seinen Brustkorb und die Hüften waren Seile gewickelt, sie drückten sein Gewicht nach unten und hielten den Körper nach vorn geneigt. Ein weiteres Seil verlief unter seinem Kinn und zog seinen Kopf nach oben, sodass sie beide einander anstarrten. Je eine schwere Hantel hing ihm von den Schultern, um seinen Kopf in dieser Stellung zu halten. Die Flinte war auf einem dreibeinigen Gestell angebracht, ähnlich jenem, das er draußen als Ständer für den Scheinwerfer gesehen hatte. Beides sah ziemlich behelfsmäßig aus. Der abgeschnittene Flintenlauf steckte tief in seinem Mund, eingeklemmt zwischen der oberen Zahnreihe und dem Unterkiefer, der so weit offen stand, dass das Tattoo, das sich von seiner Brust bis hinauf zum Hals erstreckte, ganz verzerrt war und von pulsierenden Adern durchzogen wurde. Es zeigte einen Vogel mit weit ausgebreiteten Flügeln – vielleicht einen Adler. Weitere gurgelnde Laute entrangen sich der Kehle des Mannes – das Einzige, wozu er fähig war.

Danny suchte mit dem Blick nach etwas, um die Qualen des Mannes zu beenden. Ein Messer, eine Axt, irgendetwas, womit er ihn losschneiden könnte. Dabei fiel sein Blick wieder auf das Blatt mit den Druckbuchstaben, das auf den Boden gefallen war.

DANNY. DU MUSST RUHE BEWAHREN UND DAS DURCHLESEN.

Er nahm den Schnellhefter wieder zur Hand und las weiter.

T1 kontaktierte zunächst O5. Wie bei früheren Anfragen gab sich T1 als jüngerer Mann aus und behauptete, sich für Fußball zu interessieren. Von Informationen, die O5 in den sozialen Netzwerken gepostet hatte, wusste er, dass zu ihren Interessen Fußball zählte. Bald war ein enger Kontakt hergestellt, und wie bereits zuvor sprach T1 bald sexuelle Themen an.

O5 widersetzte sich zunächst. Anscheinend benötigte T1 ziemlich lange, um O5 zu überzeugen, überhaupt Fotos zu schicken, und solche mit eindeutigem sexuellem Bezug folgten erst, als ihr von T1 Beispiele geschickt wurden, die O1, O3 und O4 geliefert hatten. Dieses Vorgehen zeigte T1 auch in anderen Fällen. Er versuchte, das Senden solcher Fotos als »normal« darzustellen, indem er sie als »Kunst« ausgab und behauptete, das sei etwas, das unter »Freunden so üblich sei«.

O5 schickte ein Foto, auf dem sie unbekleidet war. Auch danach folgte T1 dem zuvor angewandten Muster, und seine Nachrichten wurden drängender, bis er ein Bild erhielt, das seinen Bedürfnissen entsprach. An diesem Punkt drohte T1 sofort, dieses Foto mit anderen zu teilen, falls O5 seine weiteren Forderungen nicht erfüllte.

Danny war unten auf der Seite angekommen, und er schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken klarzubekommen. Er hatte diesen Bericht noch nie zuvor gesehen, und er hatte auch nichts dergleichen je von der Polizei gehört. Woher kam er? Alles, was sie wirklich wussten, war, was Callie ihnen erzählt hatte – sie war übers Internet erpresst worden, Fotos zu schicken, aber sie wusste nicht, von wem. Das war alles. Die Polizei hatte gesagt, auf ihrem Handy sei nichts mehr erhalten, das weiterhelfe. Callie hatte es auf Werkseinstellung zurückgesetzt – und laut der Polizei konnte man keine Daten wiederherstellen. Callie hatte ausgesagt, sie sei, als Teil der Drohungen, dazu angewiesen worden, alles zu löschen. Doch ein Privatermittler hatte vielleicht mehr herausfinden und Antworten bekommen können.

Danny richtete den Blick auf den Mann vor ihm. Er war so angespannt, dass er seine Zähne fest zusammenbiss, so als wäre er selbst gefesselt und nicht der Typ vor ihm. Erst nach einer Weile schaffte er es, zu sprechen.

»Sie wissen, was das ist?« Dannys Worte klangen heiser. Der Mann war jetzt still, und seine aufgerissenen Augen glänzten vor Tränen. »Ich glaube, ich weiß, was es ist. Und wenn ich recht habe, dann weiß ich wohl auch, wer Sie sind, warum Sie hier sind.«

Danny machte eine Geste mit dem Schnellhefter. »Heulen Sie deswegen? Wissen Sie, wer ich bin?« Er blätterte die Seite um und las weiter:

Wie alle anderen Opfer vor ihr schickte O5 immer anzüglichere Fotos, um den Forderungen von T1 nachzukommen. Die Drohungen nahmen zu, zum Beispiel gab T1 vor, die E-Mail-Adressen der Lehrer und zahlreicher Familienmitglieder von O5, darunter auch die ihrer Eltern, zu kennen.

Die Eltern sind Danny und Sharon EVANS, wohnhaft in 54 Prospekt Close, Lydden, Dover. Danny EVANS ist anscheinend eine lokale Berühmtheit als Fußballer bei Dover Athletics. T1 war sich dessen bewusst und deutete im Zuge seiner Drohungen mögliche Konsequenzen für Danny EVANS an.

Weitere verwendete Messenger-Dienste zeigen, dass O5 sich von ihrer Familie und ihren Freunden immer stärker abkapselte und sich ihnen nicht anvertraute. Ihre Verzweiflung brachte sie dazu, über Twitter Kontakt mit SOPHIE CUMMINGS aufzunehmen. Dieser Twitter-Account enthielt Nachrichten von einer weiblichen Person, die anfänglich ein ähnliches Problem beschrieb – nämlich dass sie erpresst wurde, anzügliche Nachrichten und Videos zu schicken. O5 und »Sophie Cummings« chatteten intensiv, und »Sophie Cummings« riet O5 davon ab, andere Personen ins Vertrauen zu ziehen. O5 und »Sophie Cummings« kannten sich außerhalb der sozialen Medien nicht.

Von »Sophie Cummings« ist inzwischen bekannt, dass es sich dabei um T1 mittels eines Fake-Profils handelte. Er wandte dabei dieselbe Methode an wie bei allen anderen Opfern.

Der letzte Austausch zwischen T1 (unter dem Namen Sophie Cummings) und O5 lautete folgendermaßen:

O5: Ich kann nicht mehr! Das muss ein Ende haben. Er will jetzt ein Video von mir. Und dass ich darin etwas wirklich Ekliges mache. Bitte, sag mir, was ich tun kann? Du meintest, er würde das Interesse verlieren und andere kontaktieren. Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe?!

SC: Ich weiß. Es tut mir so leid, dass ich falschlag … Er lässt mich auch nicht in Ruhe. Es gibt nur einen Ausweg für mich … für uns. Darüber haben wir schon gesprochen. Es wird so sein, als ob wir uns schlafen legen. Bring dich um, Callie.

Der Schnellhefter glitt Danny aus der Hand, und die Plastikhülle klatschte auf den harten Boden, sodass es von den Wänden widerhallte wie ein Knallkörper. Danny zuckte heftig zusammen. Er blickte darauf hinunter wie in Schockstarre, hinter seinen Augen hämmerte es, und mit jedem pochenden Pulsschlag schien sich der Nebel in seinen Gedanken noch weiter zu verdichten.

»Sie hätte doch mit mir reden können! Mit jedem von uns … Ich hatte keine Ahnung … Wir konnten es nicht wissen!« Er sah zu dem Mann ihm gegenüber, der ihn immer noch intensiv beobachtete. Dann reagierte er, indem er wegschaute, den Blickkontakt zum ersten Mal abbrach. Danny brauchte einen Moment, um sich zu fassen und seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Dann bückte er sich und hob den Schnellhefter auf, dabei ließ er den Mann vor ihm keinen Moment aus den Augen.

Auf der nächsten Seite standen nur zwei Wörter:

MARCUS OLSEN.

Er blätterte um und fand einen weiteren Bericht, im selben Stil geschrieben:

Marcus Olsen ist der Täter bei allen Opfern. Er wird ab jetzt als T1 bezeichnet.

Darunter befand sich ein Polizeifoto, unter dem »T1« stand. Es war ein Farbfoto und zeigte einen untersetzten Mann mit kurz geschorenem Haar und dünnen Lippen, umgeben von einem Stoppelbart. Er sah aus wie Mitte, Ende dreißig. Das Foto zeigte ihn mit nacktem Oberkörper, daher erkannte man das große Adler-Tattoo. Die Flügel breiteten sich über seine Brust aus, der Kopf des Vogels reichte bis zur Mitte seines Halses und endete direkt unterhalb seines Kinns. Die dünnen Lippen des Mannes waren zu einem anzüglichen Grinsen verzerrt, ein Arm war angewinkelt und ließ vermuten, dass er ihn in die Hüfte gestemmt hatte. Das Foto wirkte wie der Ausschnitt einer Webcam-Aufnahme, es war von dürftiger Qualität, aber dennoch gut genug, um ihn zu erkennen. Danny starrte in die grinsenden Augen auf dem Foto. Als er den Blick hob, sah er dieselben Augen vor sich. Doch diesmal lächelten sie nicht. Und diesmal wurden die dünnen Lippen auseinandergehalten durch den Lauf einer Flinte.

»Marcus Olsen.« Dannys Kehle war jetzt so trocken, dass es wehtat. Er beobachtete den Mann vor sich genau, als er dessen Namen sagte, und erkannte zweifellos eine Reaktion, soweit ihm das mit dem fixierten Kopf möglich war. Er zuckte, als versuchte er den Kopf zu schütteln, als sei das alles ein großer Irrtum.

Aber das glaubte Danny nicht. Keinen Augenblick lang.

Er blickte wieder in den Schnellhefter und las den weiteren Text jetzt laut vor, fast wie bei einem Vortrag.

»T1 ist ein zweifach verurteilter Pädophiler. Seine vormalige Straftat bestand im Besitz von pornografischen Abbildungen von Kindern, darunter solche des höchsten Schweregrades.« Danny hob den Blick, um den Augenkontakt wiederherzustellen. »Marcus Olsen, der Pädophile«, sagte er verächtlich. Dann las er weiter vor: »Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass er sich eine Zielperson aussuchte, die ihm Zugang zu einer Reihe weiterer Opfer eröffnete, ein Vorgehen, das dem gleicht, wie wir es bei O1 bis O5 erkennen konnten.« Danny machte eine Pause und fuhr dann fort: »Es gibt einen Zeitraum von vier Jahren zwischen der Haftentlassung von T1 nach seiner zweiten Verurteilung und seinem ersten Kontakt mit O1. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gab es weitere Straftaten in diesem Zeitraum. Marcus Olsens Vorgehen lässt auf einen Serien- und Intensivstraftäter schließen, dessen Auswirkung durch den sexuellen Missbrauch auf seine Opfer so gravierend ist, dass eine Reihe von ihnen sich das Leben nahm. Des Weiteren wird anhand seiner Manipulationen deutlich, besonders im Fall von O5, dass er dazu übergeht, sich seine Opfer aktiv für seine Taten gefügig zu machen, und anschließend versucht, sie zu zwingen, ihr eigenes Leben zu beenden, um damit die Spuren seiner Straftaten zu beseitigen.« Danny überflog den nächsten Satz und musste innehalten, um ihn ganz zu verstehen. Er schluckte ein paarmal, wollte ihn laut vorlesen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fixierte den gefesselten Mann vor sich, dann wandte er sich ab und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen die Worte hervor: »Im Fall von O5 ist erwiesen, dass T1 die Tabletten bereitstellte, die O5 bei ihrem Selbsttötungsversuch einnahm.«

Danny legte den Schnellhefter mit langsamen und bewussten Bewegungen auf den Stuhl zurück. Er spähte wieder um sich, dann hielt er den Atem an, solange er konnte. Er wollte einen Moment innehalten, nachdenken, aber auch lauschen, um sicher zu sein, dass er allein war. Sie hatten nie herausfinden können, woher Callie ihren Tablettencocktail gehabt hatte. Es gab Gesetze, um den Verkauf von Paracetamol in toxischen Mengen zu verhindern – eine Fünfzehnjährige sollte keine einzige Tablette davon kaufen dürfen. Die Polizei hatte dennoch Nachforschungen darüber angestellt, wo sie sie hergehabt haben könnte. Die Ärzte hatten die Wirkung der starken Schmerzstiller mit Gegenmitteln aufheben können, aber das Paracetamol hatte eine akute Leberschädigung verursacht, weswegen sie im künstlichen Koma gehalten werden musste. Das Beatmungsgerät hatte dann eine Lungenentzündung hervorgerufen, und sie hatten sie fast verloren. Er hatte sie fast verloren. Und das konnte immer noch passieren.

Im Moment hörte er nur den Mann ihm gegenüber, sein schweres und unregelmäßiges Luftholen in flachen Atemzügen, als sei er in Panik. Sie verursachten weitere Geräusche in seiner Kehle, vielleicht war es ein Stöhnen, was auch immer er zustande brachte.

»Seien Sie still!«, schrie Danny und richtete sich zu voller Größe auf. Der wütende Aufschrei reizte seine Kehle, und er musste ausspucken. Dabei trat er weiter vor, näher an Marcus Olsen heran, und zwang damit den Mann, ihm in die Augen zu sehen.

Der andere hielt nur für einen Moment stand, bevor er die Augen niederschlug. Danny folgte seinem Blick, und das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Ich hab nicht einmal gewusst, dass ich das getan habe.« Marcus Olsen starrte auf die Flinte, insbesondere dorthin, wo Dannys rechter Zeigefinger nun auf dem Abzug ruhte, während die linke Hand den verstümmelten Lauf umfasste, als wollte er ihn ruhig halten, und dabei Olsens Lippen ganz nahe kam. Danny konzentrierte sich auf das Gefühl des Abzugs an seinem Finger. Er hatte etwas Spiel, und er zog daran, bis er den Widerstand spürte. Auf einmal fühlte er sich gut, machtvoll. Dieser Mann war ihm ausgeliefert. Genauso wie es sein sollte.

»Sollen wir nachsehen, ob da noch etwas drinsteht? Vielleicht gibt es eine weitere Seite, auf der erklärt wird, dass das alles nur ein schrecklicher Irrtum war!« Danny benutzte seine linke Hand, um den Schnellhefter aufzuheben. Die nächste Seite war anders gestaltet. Darauf waren Screenshots von Chats abgebildet, an denen seine Tochter teilgenommen hatte. Callies Sätzen war diesmal ihr Name vorangestellt, und jedes Mal, wenn Danny ihren Namen las, zuckte er innerlich zusammen. Er musste einen Schritt zurücktreten und sich aufrichten, um atmen zu können, und dabei musste er die Waffe loslassen.

Der Chatverlauf machte die Verzweiflung seiner Tochter deutlich. Sie bat – flehte – darum, in Ruhe gelassen zu werden. Sie bat ihren Peiniger inständig, dass er die Fotos und die Videos, die sie geschickt hatte, nicht weiterverbreitete. Sie flehte darum, dass er ihren Eltern nichts sagte. Der Chat mit »Sophie Cummings« war ebenfalls wiedergegeben. Callies Verzweiflung wurde darin noch deutlicher. Sie äußerte sich darin offener; es war klar, dass sie dieser Person vertraute. Und warum hätte sie das nicht tun sollen? Sie glaubte daran, dass es eine Verbindung zwischen ihnen beiden gab – zwei Mädchen, die dasselbe Trauma durchlebten. Danny blätterte eine Seite weiter. Das nächste Blatt beinhaltete nur eine Chatsitzung: den letzten Austausch zwischen Callie und »Sophie Cummings«. Die letzte Antwort war mit gelbem Leuchtstift markiert:

Bring dich um, Callie.

Das Datum war der 3. Januar. Ein Tag, der auf immer in sein Gedächtnis eingebrannt sein würde. Der Tag, an dem seine fünfzehnjährige Tochter in aller Stille ein Taxi zu einem Park genommen hatte, den sie liebte und wo Danny sie als kleines Mädchen oft auf der Schaukel angeschubst hatte. Von diesem Tag an hatte sich ihrer aller Leben für immer verändert.

Danny hielt inne und richtete seinen Blick wieder auf den Mann, der dafür verantwortlich war. Nach all dieser Zeit – hier war er. Hilflos. Verletzlich. Danny musste eine Zeit lang alles ausgeblendet haben, denn er nahm plötzlich wahr, dass der Mann den Kopf schüttelte und stöhnte. Danny war sich sicher, dass er um Gnade bat, dass er darum flehte, verschont zu werden.

Genau so wie Callie es getan hatte.

Danny blätterte um zur letzten Seite des Schnellhefters. Dort stand eine Nachricht, die an ihn selbst gerichtet war. Er überflog sie, erfasste aber ihren Sinn nicht – nicht mehr. Den Schnellhefter schleuderte er von sich, und das Geräusch, als er auf dem Boden aufkam, war kaum hörbar, als hätte sich der Raum plötzlich mit Wasser gefüllt, um das Geräusch zu ersticken. Auch der Mann vor ihm war jetzt still und starrte Danny unverwandt an.

»Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?«, fragte Danny. »Callie … Sie ist meine Tochter. Ich sollte wütend sein.« Danny musste innehalten, er schluckte ein paarmal schwer, um seine Kehle zu befeuchten und weitersprechen zu können. »Einen Moment lang dachte ich, die Wut würde kommen, aber ich kann einfach nichts fühlen. Das geht mir schon seit einer ganzen Weile so. Es ist, als hätte Callie diese Fähigkeit mit sich genommen, in dem Moment, als sie auf dieser Bank zusammensank, war es verschwunden. Wenn sie nicht mehr aufwacht, werde ich es glaube ich auch nicht mehr tun. Ich spüre nur eines: Furcht. Ich fürchte mich jeden einzelnen Tag. Und dann fühle ich mich schuldig, das ist erdrückend, als wollte ich, dass sie nur für mich aufwacht, um meinetwillen. Und wissen Sie was, das ist wahr, denn ich will uns zurück, ich will wieder die Familie, die ich hatte … meine Familie.« Er schluckte wieder. »Sie war alles für mich. Aber jetzt ist es, als wäre eines der Glieder taub geworden, und wir warten einfach darauf, dass das Gefühl zurückkehrt und wir uns wieder bewegen können. Aber vielleicht kommt Callie nicht zurück. Nicht so, wie sie war, nie mehr. Daher müssen wir vielleicht einen Weg finden, um ohne sie weiterzugehen, und ich habe so große Angst, dass wir das nicht schaffen. Dass ich es nicht schaffe. Und vielleicht geht es hier genau darum.«

Danny trat einen Schritt vor, und durch seine Betäubung hindurch spürte er, wie der Schaft der Waffe gegen seine Brust stieß. Er bewegte seine rechte Hand und überwand das Spiel im Abzug – er nahm erneut bewusst wahr, wie es sich anfühlte, das Metall zurückzuziehen. »Vielleicht können wir so unseren Weg weitergehen.«

Der Mann gab wieder einen Laut von sich, den lautesten bisher, ein kehliges Stöhnen aus der Tiefe seines Rachens – flehend.

Danny betätigte den Abzug.

Kapitel 5

Donnerstag

6 Uhr 30. Kalt, frisch. Ein stahlblauer Himmel, der mit dem Eisblau des Meeres verschmilzt. Sanft plätschernde Wellen auf klackernden Kieseln. Der Schrei einer Möwe und der Geruch ihrer Beute. Überwältigende Sinneseindrücke – doch Danny Evans nahm nichts davon wahr.

»Morgen!«, grüßte ein Mann im Vorbeilaufen. Die Strandpromenade von Dover war eine beliebte Strecke bei Joggern, die versuchten, ihr Sportpensum noch vor der Arbeit zu erledigen. Auch Danny ging hier in der Off-Season laufen; er fühlte sich immer besser, wenn sein Tag mit einer Runde Joggen begann. Doch heute war alles anders. Er hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan, hatte nicht einmal versucht zu schlafen. Ständig musste er daran denken, was auf der letzten Seite des Schnellhefters gestanden hatte. Es waren Anweisungen für ihn gewesen und ein paar Worte dazu, was als Nächstes passieren würde. Bei ihm angekommen war jedoch nur eines: dass er den Ort des Geschehens verlassen sollte und man sich um alles Weitere kümmern würde. Kümmern? Er hatte keine Ahnung, was das genau bedeuten sollte, aber doch genügend Polizeiserien angeschaut, um es zumindest erahnen zu können: sauber machen, aufwischen, wegräumen. Die Leiche so entsorgen, damit sie nie gefunden würde. Die Leiche entsorgen!

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