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Ein Kinderarzt zum Küssen

Keera kann es kaum erwarten, Dr. Reid Adams wiederzutreffen. Natürlich nur, weil sich der Kinderarzt so liebevoll um die kranke Megan in ihrer Obhut kümmert – nicht weil sie ihn unwiderstehlich findet. Denn ein Single-Vater wie er passt nicht zu ihr als Karrierefrau!


  • Erscheinungstag: 30.08.2023
  • Seitenanzahl: 120
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745753523
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich komme ja schon!“ Keeras Stimme klang verschlafen und war viel zu leise, als dass man sie draußen vor der Tür hätte hören können. Doch das war ihr egal. Sie hatte schließlich frei. Endlich.

Wer mochte das mitten in der Nacht sein? Sie hatte keinen Rufdienst. Im Gegenteil. Noch einen letzten Termin morgen Vormittag, dann hatte sie die ganze nächste Woche Urlaub. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr. Essen, schlafen, lesen – das waren ihre Programmpunkte für diese kostbare Zeit. Sie war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass niemand sie störte.

Leider brachte der Job als Chefärztin der Herzchirurgie es mit sich, dass ihre Pläne nicht selten durchkreuzt wurden. Ein Paradebeispiel dafür war die Person, die in diesem Augenblick immer energischer an ihre Tür klopfte.

„Ist ja schon gut! Geben Sie mir eine Minute“, murrte sie und seufzte, als sie einen Blick auf die grüne Leuchtanzeige ihres Weckers warf. Zehn nach zwei Uhr morgens. Sie hatte also gerade erst eine knappe Stunde geschlafen.

Übernächtigt stand sie auf. Was mochte passiert sein? Als man sie das letzte Mal nachts aus dem Bett geholt hatte, war ein Jahrhundertsturm mit schweren Verwüstungen und vielen Verletzten der Grund gewesen.

„Das Krankenhaus hat die Alarmstufe drei ausgerufen, Dr. Murphy“, hatte man ihr damals am Telefon erklärt. „Wir wollten nicht, dass Sie bei diesem Wetter selbst mit ihrem Auto herkommen, deshalb holen wir Sie ab.“

Ja, das war eine denkwürdige Nacht gewesen.

Doch heute war alles ruhig. Kein Sturm in Sicht und auch sonst keine Katastrophen. Je wacher sie wurde, desto klarer konnte Keera denken. Im Stillen ging sie die Ursachen für den nächtlichen Besuch durch. Schlimmstenfalls hatte es einen Massenunfall gegeben, bestenfalls war es eine Notoperation. Aber warum hatte man sie nicht einfach angerufen?

„Ich sagte doch, dass ich komme!“, rief sie unwirsch und zog sich schnell ihren Morgenmantel über, bevor sie zur Tür ging. „Wer sind Sie?“, fragte sie vorsichtshalber, obwohl sie durch den Spion sah, dass ihr Besucher eine Uniform trug. „Zeigen Sie mir bitte Ihren Dienstausweis!“

„Ist gut, Miss Murphy“, antwortete der Mann von draußen.

Miss Murphy. Es war gleichgültig, dass sie mehrere Klassen übersprungen und ihr Studium in Rekordzeit absolviert hatte. Oder dass sie eine der besten Herzchirurginnen des Landes war. Sie wurde auf ihren Familienstand reduziert. Unverheiratet. Miss Murphy. Beruflich erfolgreich, doch im Privatleben gescheitert.

Trotzig warf Keera ihr langes rotes Haar zurück und sah wieder durch den Spion.

„Ich bin Officer Carla James“, stellte sich eine kleine rundliche Frau vor und streckte ihr den Dienstaufweis entgegen.

„Und ich bin Officer Brian Hutchinson“, fügte der Mann hinzu, den Keera zuerst gesehen hatte. „Würden Sie uns jetzt bitte reinlassen?“

„Geht es um einen medizinischen Notfall?“, fragte Keera, während sie zuerst die Sicherheitskette löste und dann das Bolzenschloss der Tür öffnete. Man konnte schließlich gar nicht vorsichtig genug sein, wenn man allein lebte.

„Nein, Ma’am. Darum geht es nicht“, erklärte Officer Hutchinson und trat ein. Wortlos hielt er Keera seinen Ausweis hin, und erst als sie zustimmend nickte, steckte er ihn wieder in seine Jackentasche. „Es tut mir sehr leid, aber wir sind in einer persönlichen Angelegenheit hier.“

Erleichtert atmete Keera auf. Sie hatte keine Familie und auch keine engen Freunde. Es musste sich um ein Missverständnis handeln. „Worum geht es denn?“

In diesem Augenblick bemerkte Keera, dass Officer James ein Kind auf dem Arm trug. „Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht …“ Brachten sie ihr einen Patienten? Aber das da war ein Kind. Vielleicht hatten sie sich in der Adresse geirrt. Ja, das musste es sein.

„Wir müssen Ihnen eine traurige Nachricht überbringen“, sagte Officer Hutchinson. „Ihr Mann und eine weitere, bislang nicht identifizierte Person sind heute Abend bei einem Verkehrsunfall auf der Mountain Canyon Road ums Leben gekommen. Ihre Tochter wurde beim Aufprall aus dem Fahrzeug geschleudert und ist unverletzt. Sie wurde im nächstgelegenen Krankenhaus untersucht. Außer einigen Kratzern hat sie nichts abbekommen. Natürlich hat sie einen Schock. Das vermute ich zumindest, denn sie spricht nicht. Aber der behandelnde Arzt sagte, sonst sei alles in Ordnung.“

„Das freut mich für die Kleine, aber hier liegt eine Fehlinformation vor. Ich bin nicht verheiratet.“ Keera trat einen Schritt zurück und lehnte sich an die Wand. „Geschieden. Keine Kinder.“

„Kevin Murphy“, fuhr Hutchinson unbeirrt fort. „Kevin Joseph Murphy. Laut den Papieren, die wir im Auto fanden, ist er Ihr Ehemann. Auch die Adresse stimmt …“

„Aber wir sind nicht mehr … Wir haben keine …“ Keera schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Kevin war tot? Ihre Ehe war alles andere als glücklich gewesen, und die Scheidung hatte sich zu einem wahren Rosenkrieg entwickelt, doch so ein Ende hatte sie ihm nicht gewünscht. „Sind Sie ganz sicher?“, fragte sie benommen.

„Ja, Ma’am. Er hatte seinen Pass dabei. Was seine Mitfahrerin betrifft, tappen wir allerdings noch im Dunkeln. Wir hatten gehofft …“

Keera musterte das kleine Mädchen, überlegte, weshalb sie es zu ihr gebracht hatten. War das etwa …? Ja, so musste es sein. Die Kleine war das Kind, das Kevin mit einer anderen Frau bekommen hatte, während er noch mit ihr verheiratet gewesen war.

„Vermutlich ist die Beifahrerin seine neue Ehefrau. Melanie, Melodie, irgendwie so etwas.“ Oder schon seine nächste oder übernächste Freundin. „Jetzt fällt es mir wieder ein. Melania. Das ist ihr Name.“ Keera war völlig durcheinander. Erst ganz allmählich begriff sie, was die Polizisten ihr gerade gesagt hatten. Kevin war tot. Genau wie seine Frau. Und ihr gemeinsames Kind …

„Ich bin nicht die Mutter!“

„Aber Sie sind in Mr. Murphys Unterlagen als seine Ehefrau und nächste Angehörige eingetragen. Deshalb dachten wir …“

„Sie haben falsch gedacht“, unterbrach Keera ihn. „Diese Information ist nicht mehr aktuell. Mein Exmann und ich wurden vor einigen Monaten geschieden. Er hat mich vor ein paar Tagen angerufen und mir gesagt, dass noch einige Papiere unterschrieben werden müssen. Vermutlich hatte er deshalb die alten Dokumente dabei. Und dieses Kind …“ Sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Es ist aus seiner zweiten … Beziehung.“ Eine Beziehung, die er genau wie seine Tochter lange geheim gehalten hatte.

„Dann haben wir jetzt ein Problem“, bemerkte Officer James. „Wir haben nämlich keine Unterkunft für die Kleine.“

Obwohl Keera letztlich von Kevins Vaterschaft erfahren hatte, war sie seiner Tochter nie begegnet. Und sie hatte auch nicht das Bedürfnis gehabt, sie zu sehen. Genauso wenig, wie sie sie im Augenblick in ihrem Haus haben wollte.

„Es wird ja wohl Pflegefamilien für solche Notfälle geben.“

Beide Polizisten schüttelten den Kopf.

„Was ist mit dem Jugendamt?“

„Das wäre dann wohl ich“, erklang eine muntere Stimme von draußen. „Ich bin Consuela Martinez, und ich bin vorübergehend für Megan zuständig.“ Eine kleine kräftige Frau drängte sich energisch in Keeras Flur. „Im Augenblick haben wir keine Unterbringungsmöglichkeit. Wir dachten ja, wir würden Megan hier bei ihrer Mutter abliefern.“

„Aber ich bin nicht ihre Mutter!“, stellte Keera erneut fest.

Consuela trat noch einen Schritt näher und stand nun direkt unter der Flurlampe, was ihren Teint ungesund gelb aussehen ließ. Ohne es zu wollen, wechselte Keera in den Arztmodus und ging in Gedanken die möglichen Ursachen für diese Gelbfärbung durch. Am Ende ihrer Ehe hatte Kevin behauptet, er habe sich immer vernachlässigt gefühlt, weil Keeras Hauptaufmerksamkeit stets der Medizin gegolten hatte. Sie hatte ihm nicht widersprochen, denn sie liebte ihren Beruf wirklich mehr, als sie Kevin geliebt hatte.

„Hören Sie, es muss doch Notfallpläne für solche Situationen geben“, beharrte Keera. „Wenn Kinder im Spiel sind, gibt es immer Vorschriften und Verfahrensanweisungen.“ Zumindest hoffte sie das.

„Sie haben natürlich recht. Normalerweise sind wir darauf vorbereitet. Aber im Augenblick leider nicht. Alle Pflegefamilien sind belegt“, bedauerte Consuela. „Vor morgen früh kann ich nicht bei den Nachbarbezirken anfragen, ob dort etwas frei ist. Vielleicht …“

„Nehmen Sie Flucloxacillin, Consuela?“, unterbrach Keera die Sozialarbeiterin abrupt, denn sie wollte nichts darüber hören, dass es für Megan keinen Ort zum Übernachten gab.

Consuela sah sie verwirrt an. Genau wie die beiden Polizeibeamten. „Ähm, ja, das mache ich. Ich hatte einen schweren Atemwegsinfekt. Warum fragen Sie?“

„Sie sollten gleich morgen früh Ihren Arzt anrufen und ihm sagen, dass bei Ihnen eine unerwünschte Nebenwirkung aufgetreten ist. Nichts Schlimmes, machen Sie sich keine Sorgen.“ Damit war das Problem von Megans Unterbringung allerdings nicht gelöst. „Tut mir leid, das ist eine Art Berufskrankheit. In meinem Job ist es sehr wichtig, auf alle Details zu achten. Manchmal schieße ich allerdings etwas über das Ziel hinaus.“

„Es ist gut, dass Sie so gewissenhaft sind, Frau Doktor“, lobte Officer Hutchinson. „Aber inzwischen ist es halb drei Uhr früh, und wir wissen immer noch nicht, was wir mit der Kleinen machen sollen.“

„Mit dem Kind meines Exmanns.“ Die Ironie dieser Situation traf Keera wie ein Schlag ins Gesicht. Dies hier war seine geheime Tochter. Erst an ihrem ersten Geburtstag hatte Kevin ihr gestanden, dass er Vater eines unehelichen Kindes war. Es folgten weitere schmerzliche Geständnisse. Er eröffnete ihr, dass er nicht nur die Mutter des Kindes liebte und mit ihr zusammenleben wollte, sondern dass er auch noch ihr gemeinsames Haus für seine neue, perfekte kleine Familie behalten wollte.

Doch das alles konnte sie der kleinen Megan natürlich nicht vorwerfen.

„Sind Sie ganz sicher, dass Sie wirklich keine Unterbringungsmöglichkeit für sie haben?“

„Das Waisenhaus“, sage Consuela. „Aber wenn es irgendwie geht, möchte ich das vermeiden. Vor allem für so kleine Kinder ist es nicht gut geeignet. Es ist eine sehr große Einrichtung mit vielen Kindern. Die Jüngeren kommen dort manchmal etwas zu kurz.“

„Es ist die für diesen Bezirk zuständige staatliche Fürsorgeeinrichtung“, fügte Officer James hinzu. „Falls Sie das Kind nicht bei sich aufnehmen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als sie dorthin zu bringen. Wir können nicht den Rest der Nacht hier herumstehen.“

„Natürlich nicht“, stimmte Keera zu und spürte, wie ihr Widerstand ins Wanken geriet. Sie bat ihre nächtlichen Besucher ins Wohnzimmer, und erst als Officer James mit dem Kind im Arm an ihr vorbeiging, erhaschte sie einen Blick auf die Tochter ihres Exmanns. Ihre Knie wurden weich, und sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

„Bitte legen Sie sie doch dort aufs Sofa. Ich werde mich neben sie setzen. Sie sollte jetzt nicht allein sein.“

Und erst recht sollte sie nicht in einer Fürsorgeeinrichtung sein. Kein Kind sollte jemals in solch einer Einrichtung sein.

Keera sah, dass Consuela vor dem Garderobenspiegel im Flur stehen geblieben war und besorgt ihr gelblich verfärbtes Gesicht betrachtete.

„Aber es ist nur für den Übergang“, betonte Keera. „Nur bis morgen früh. Wenn Sie bis dahin niemanden für sie gefunden haben, muss ich Megan in der Kindertagesstätte meiner Klinik abgeben. Bitte kümmern Sie sich so schnell wie möglich um eine gute Unterbringung. Ich komme nicht gut mit Kindern zurecht. Irgendwie habe ich keinen Draht zu ihnen – und sie nicht zu mir. Es ist also für alle Beteiligten das Beste, wenn sie nur so kurz wie möglich bei mir ist. Außerdem muss ich morgen arbeiten.“

Keera wusste, dass sie sich nicht sonderlich freundlich anhörte, dass ihre Worte sogar herzlos klangen. Aber wie zum Teufel sollte sie in so einer absurden Situation sonst reagieren? Sie hatte sich immerhin gerade bereit erklärt, das Kind, dessen Existenz für das endgültige Ende ihrer Ehe verantwortlich war, bei sich aufzunehmen.

„Also, bevor Sie gehen, wüsste ich gern noch, ob Megan irgendwelche Allergien hat.“ Kevin war allergisch gegen Schalentiere gewesen. „Oder sonstige Erkrankungen“, fügte sie hinzu.

Consuela, die sich endlich von ihrem Spiegelbild losgerissen hatte, schüttelte den Kopf. „Ihr Kinderarzt heißt Reid Adams. Er hat seine Praxis in einem kleinen Ort in Tennessee, in Sugar Creek. Das ist ungefähr zwei Stunden westlich von hier. Leider konnten wir ihn noch nicht erreichen. Er ist in einem Ferienlager.“

„Ferienlager?“, wiederholte Keera erstaunt.

„Ja, für Kinder, die an Leukämie erkrankt waren. Er ist der verantwortliche Arzt dort.“ Consuela nahm Officer James das kleine Mädchen ab und legte es aufs Sofa. „Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Murphy. Megan ist ein liebes Kind. Sehr ruhig. Sie wird keine Probleme machen.“

Nein, Keeras Probleme lagen in der Vergangenheit. Und auch wenn die kleine Megan natürlich nichts dafürkonnte, war sie der lebende Beweis für das Scheitern einer Beziehung.

„Bis allerhöchstens morgen Mittag“, betonte Keera noch einmal. „Bitte finden Sie bis dahin eine Lösung.“

Zehn Minuten später war sie mit Megan allein. Sie setzte sich in einen Sessel neben dem Sofa und starrte das schlafende Kind an. Ein niedliches kleines Mädchen. Blondes Haar, genau wie Kevin. Vermutlich hatte sie auch seine leuchtend blauen Augen geerbt. Es war furchtbar, dass sie ihre Eltern verloren hatte. So etwas sollte kein Kind durchmachen müssen, dachte Keera mitfühlend.

„Wie gut, dass du noch so klein bist“, flüsterte sie ihr zu und machte es sich im Sessel bequem, um vielleicht noch ein bisschen zu schlafen. „Du bist so ein hübsches kleines Mädchen. Bestimmt wird alles wieder gut für dich.“

„Es tut mir leid, Frau Kollegin, aber ich kann Ihnen wirklich keine näheren Auskünfte geben.“

Reid Adams nahm sein Telefon in die andere Hand, warf den Ball mit Schwung über das Spielfeld und sah zu, wie eine Horde jauchzender Kinder ihm begeistert hinterherjagte. Egal, wie anstrengend es auch war – er liebte seine Wochen im Ferienlager. „Ich müsste mir ihre Akte ansehen, bevor ich etwas über ihren Gesundheitszustand sagen kann“, fuhr er fort. „Aber diese Woche bin ich nicht in meiner Praxis und …“

„Dann bitten Sie doch Ihre Vertretung, nachzusehen!“, unterbrach Keera ihn ungeduldig, entschuldigte sich jedoch sofort. „Tut mir leid, ich wollte nicht so grantig klingen, aber …“

„Nun, normalerweise sind Leute, die grantig klingen auch grantig.“ Reid versteckte sich hinter einem großen Baum, während er telefonierte, denn gerade kamen zwei kleine Mädchen in seine Richtung gerannt. Zwei kleine dunkeläugige Schönheiten mit schwarzen Haaren und dunklem Teint, die für ihn die wichtigsten Menschen auf der Welt waren. Seine beiden quirligen Töchter waren fünf und sieben Jahre alt. „Doch ich kann nachvollziehen, wie schwierig diese Situation für Sie ist“, sagte er, als die Mädchen weitergelaufen waren. „Gibt es keine Verwandten, die Megan aufnehmen könnten?“

„Nein. Eine ältere Tante hat es abgelehnt, Megan zu nehmen, und zwei Cousins der Mutter wurden von der Sozialarbeiterin als ungeeignet eingestuft. Offenbar werden gerade noch weitere entfernte Verwandte kontaktiert, aber wie es aussieht, bleibt die Kleine noch den ganzen Tag bei mir, und ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich über ihren Gesundheitszustand informiert wäre.“

Reid mochte die Stimme der Frau. Sie klang ein wenig heiser, aber nicht wie eine Kettenraucherin. Eher eine Art von verruchter Heiserkeit … Er räusperte sich energisch.

„Daddy“, rief die fünfjährige Allie triumphierend, nachdem sie ihn entdeckt hatte.

„Ich hab ihn zuerst gesehen!“, protestierte die siebenjährige Emmie.

„Stimmt ja gar nicht! Ich hab ihn gefunden!“ Besitzergreifend klammerte sich Allie an seinem Hosenbein fest.

„Ja, Allie hat mich gefunden“, erklärte Reid, bevor ein Streit zwischen den Schwestern ausbrechen konnte.

„Verzeihung“, meldete sich Keera wieder zu Wort. „Dr. Adams?“

„Tut mir leid“, lachte er. „Aber meine Töchter sind ziemlich hartnäckig, und sie akzeptieren kein Nein, wenn sie spielen wollen. Also, um noch einmal auf Megan Murphy zurückzukommen: Ich habe sie nur einmal gesehen, und soweit ich mich erinnere, gab es keine Besonderheiten. Aber unsere Praxis ist noch neu, und ich habe nicht alle Patientenakten im Kopf. Ich bedauere, Ihnen nicht besser helfen zu können. Wenn Sie möchten, rufe ich Beau Alexander oder seine Frau Deanna an. Sie vertreten mich gerade und könnten im Computer nachsehen, welche Informationen wir über Megan haben.“

Bevor Keera etwas sagen konnte, wandte Reid sich wieder seinen Töchtern zu. „Hey Kinder! Bleibt von dem Zaun da weg! Ihr wisst genau, dass ihr dort nicht spielen dürft. Wer am Zaun erwischt wird, muss zum Abendbrot Brokkoli essen!“

„Sie bestrafen die Kinder mit Gemüse?“, fragte Keera amüsiert. „Sollten Sie nicht eher versuchen, ihnen den Brokkoli schmackhaft zu machen?“

„Sicher. Aber die allermeisten Kinder hassen Brokkoli, und das nutze ich zu meinem Vorteil aus. Aber keine Sorge, bis zum Ende der Ferien haben sie Brokkoli in so vielen leckeren Varianten kennengelernt, dass er zu ihrem Lieblingsessen gehört. Nur zur Information, roher Brokkoli mit Knoblauch-Dip ist einfach köstlich.“

„Sie scheinen so eine Art Kinderflüsterer zu sein, Dr. Adams.“

„Unsinn. Ich bin nur ein alleinerziehender Vater, der auf die Ernährung seiner Töchter achtet. Und was uns schmeckt, wird meistens auch hier im Ferienlager gern gegessen. Wie auch immer … Angelica, Rodney! Zieht eure Schuhe und Strümpfe aus, bevor ihr in den Bach geht. Beide Strümpfe, Rodney!“

„Hören Sie, es ist nett, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Dr. Adams, aber …“

„Reid. Bitte nennen Sie mich Reid.“

„Reid, es tut mir leid, dass ich mich ungeduldig angehört habe, aber ich bin etwas gestresst. Ich habe kein Händchen für Kinder. Genau genommen weiß ich nicht einmal, ob ich sie besonders mag. Und ganz sicher möchte ich nicht länger als nötig für ein Kind verantwortlich sein. Ich hatte gehofft … Ach, im Grunde weiß ich gar nicht, was ich gehofft hatte. Sie haben offensichtlich alle Hände voll zu tun mit den Kindern in Ihrem Ferienlager, also lasse ich Sie jetzt besser in Ruhe. Aber würden Sie mir noch eine letzte Frage beantworten, bevor ich auflege?“

„Sogar zwei, falls sie kurz sind.“ Es widerstrebte ihm, das Gespräch zu beenden. Keera Murphy hörte sich nett an, auch wenn er es unverständlich fand, dass sie Kinder nicht mochte. „Also, fragen Sie!“

„Megan ist zwei Jahre alt, aber sie braucht noch Windeln. Heute Morgen war sie in der Kindertagesstätte bei mir im Krankenhaus, und die Erzieherinnen sagten mir, sie habe keinerlei Anstalten gemacht, zur Toilette zu gehen.“

„Spricht sie?“

„Nein. Aber das könnte am Schock liegen.“

„Ich gehe davon aus, dass sie nach dem Unfall gründlich untersucht wurde.“

„Natürlich.“

„Dann reagiert sie vermutlich nur auf die ungewohnte Situation. Sobald sie sich beruhigt hat, wird sie bestimmt keine Windeln mehr brauchen. Doch selbst für den Fall, dass sie noch nicht zuverlässig trocken ist, wäre das auch vollkommen normal. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo dabei. Falls Sie noch weitere Fragen haben, können Sie mich gerne …“ Reid duckte sich, um die große rote Wasserbombe abzuwehren, die Emmie gerade in seine Richtung geworfen hatte. Dabei fiel ihm sein Telefon ins Gras. Als er es aufhob, um das Gespräch fortzusetzen, hatte Keera Murphy bereits aufgelegt.

„Wer war das, Daddy“, erkundigte sich Allie neugierig.

„Eine Kollegin.“

„Auch eine Kinderärztin?“

„Nein, mein Schatz. Eine andere Art von Ärztin. Erinnerst du dich daran, dass wir kürzlich über Operationen gesprochen haben?“

„Du meinst, wenn man Leute aufschneidet, um in sie reingucken zu können?“

Reid lachte. „Ja, ganz genau. Sie ist eine Chirurgin. Also eine von denen, die Leute aufschneiden.“

In Gedanken ging er noch einmal die Unterhaltung mit Keera durch. Sie hatte angespannt geklungen. Genau genommen sogar ziemlich gestresst. Doch trotzdem …

Dieser kurze Augenblick der Unaufmerksamkeit reichte, und Reid Adams bekam eine perfekt platzierte Wasserbombe vor die Brust.

Wie von einem Schuss getroffen, sank er zu Boden, wo fünf oder sechs Kinder sich auf ihn stürzten und ihn mit weiteren Wasserbomben attackierten.

„Das ist nicht fair!“, rief er lachend, doch sein Protest war nur halbherzig. Diese ausgelassenen Aktionen waren das Beste am Ferienlager. Es war schön zu erleben, wie Kinder, die wegen ihrer Krebserkrankung normalerweise in Watte gepackt wurden, fröhlich herumtoben und endlich Kinder sein durften.

Was würde Dr. Keera Murphy dazu sagen? Würde sie in seinem Feriencamp auch Spaß haben? Wieso mochte sie keine Kinder? Und warum um alles in der Welt dachte er überhaupt noch an sie?

„Ich weiß selbst, was ich gesagt habe, Dr. Murphy, und ich habe jemanden gefunden, der sie heute Abend oder morgen früh nehmen würde, falls wir bis dahin immer noch keine Angehörigen gefunden haben. Aber Mrs. Blanchard nimmt eigentlich nur Kinder, die schon trocken sind, sodass ich mir nicht sicher bin, ob Megan dort genügend Aufmerksamkeit bekommt.“ Consuela sah sich interessiert um.

Sie saßen im Wartezimmer der Kindertagesstätte, einem sehr gemütlichen Raum mit leuchtend gelb und orange gestrichenen Wänden. Keera war erst zum zweiten Mal hier. Ihr erster Besuch war am Morgen gewesen, als sie Megan der sehr kompetenten Leiterin Dolores Anderson übergeben hatte.

„Das hört sich nicht sehr vielversprechend an“, bemerkte Keera.

„Stimmt.“ Consuela seufzte. „Möglicherweise sollten wir Megan vorübergehend in einer Kinderklinik unterbringen.“

„Wie bitte? Sie wollen sie in ein Krankenhaus einweisen, nur weil sie noch nicht zur Toilette geht?“

Das kam nicht infrage. Auch wenn Keera nicht sonderlich viel an dem Kind lag, war sie doch kein hartherziger Kerkermeister, der Kinder einsperren ließ, nur weil sie nicht so funktionierten, wie die Erwachsenen es erwarteten. Megan brauchte Zuwendung und keine Isolation. „Ich schlage vor, Sie versuchen weiterhin, einen geeigneten Platz für Megan zu finden. Und bis Sie etwas gefunden haben, bleibt die Kleine bei mir“, sagte sie darum.

„Danke, Dr. Murphy. Ich werde tun, was ich kann.“

Die Sozialarbeiterin wich ihrem Blick aus. Kein Wunder. Keera hätte sich an Consuelas Stelle genauso verhalten. Leider hatte Consuela die Problematik noch nicht ganz verstanden. Heute war es ein Kinderspiel gewesen, auf Megan aufzupassen, denn das Mädchen war fast den ganzen Tag in der Kindertagesstätte gewesen.

Doch wie sollte es morgen werden? Ihr Urlaub fing morgen an, sodass sie ganz allein mit Megan sein würde. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihren riesigen Stapel Fachzeitschriften endlich in Ruhe durchzulesen. Ein Kleinkind war in ihren Urlaubsplänen nicht vorgekommen.

„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Consuela. Aber ich habe die staatliche Fürsorge am eigenen Leib erfahren. Für eine Adoption war ich schon zu alt, als das Jugendamt meine Fürsorge übernahm, und so war ich insgesamt in neun verschiedenen Pflegefamilien und in drei Heimen. Für ein Kind ist es furchtbar, von einer Unterbringung an die nächste weitergereicht zu werden, ohne jemals irgendwo wirklich zu Hause zu sein.“

Keera schloss kurz die Augen, um die schmerzhaften Erinnerungen zurückzudrängen. „Megan hat schon genug Schreckliches erlebt“, sagte sie dann nachdrücklich. Auch wenn sie Kevin am Ende ihrer Ehe wirklich verabscheut hatte, wusste Keera, dass er ein guter Vater gewesen war. Bestimmt war er völlig vernarrt in seine süße kleine Tochter gewesen. Megan hatte es nicht verdient, in eine kalte, unpersönliche Umgebung abgeschoben zu werden.

„Es ist nicht immer schrecklich, Dr. Murphy“, widersprach Consuela. „Wir haben viele liebevolle Pflegefamilien, und auch das Personal in den Einrichtungen ist erstklassig.“

„Natürlich. Ich wollte Ihnen keinen Vorwurf machen. Und ich bewundere Menschen, die sich für diese Aufgabe entscheiden. Trotzdem denke ich, dass Megan im Augenblick mehr Aufmerksamkeit braucht, als sie in einer staatlichen Einrichtung bekommen kann.“

Wieso hatte Kevin keine Vorkehrungen für diese Situation getroffen? Nun musste seine kleine Tochter für seine Nachlässigkeit bezahlen.

Consuela setzte sich auf. „Es tut mir leid, dass Sie eine so traurige Kindheit hatten, Frau Doktor, und ich verstehe Ihre Bedenken durchaus, aber wie gesagt, ich kann nicht mehr für Megan tun. Da es keine Verwandten gibt, die sie nehmen wollen oder können, muss ich eine andere Lösung finden. Bis wir eine passende Pflegefamilie gefunden haben, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als sie vorübergehend in einer Kinderklinik oder in einem Kinderheim unterzubringen. Dieser Plan gefällt mir auch nicht besonders gut, aber ich sehe keine andere Lösung, wenn Megan wirklich nicht bei Ihnen bleiben kann.“

„Na gut …“, meinte Keera resigniert. Ihr Widerstand war gebrochen, denn sie sah sich selbst in dem kleinen verlassenen Mädchen. Die eigene Vergangenheit ließ sich nun einmal nur schwer abschütteln. „Sie kann ein paar Tage bei mir bleiben. Aber das heißt nicht, dass ich das Sorgerecht für sie übernehme oder so etwas. Es ist nur vorübergehend, bis Sie den optimalen Platz für sie gefunden haben.“

„Das werde ich“, versprach Consuela erleichtert.

„Gut. Ich muss jetzt los. Zum Supermarkt, um etwas zu essen für Megan zu kaufen. Und wir brauchen auch etwas zum Anziehen und Spielzeug …“

Sie würde tun, was getan werden musste. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Kleine sollte auf keinen Fall in ein Kinderheim. Keera schauderte bei dem Gedanken an diese dunklen kalten Orte. Entschlossen nahm sie Megan auf den Arm und machte sich auf den Weg zum Parkplatz.

„Megan, hattest du einen schönen Tag?“, erkundigte sie sich, während sie mit ihr durch die Krankenhausflure eilte. „Gab es schöne Spielsachen in der Kindertagesstätte? Und hast du schon ein paar Freunde gefunden?“

Statt zu antworten, legte Megan ihr kleines Köpfchen an Keeras Schulter und seufzte.

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