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Ein Marshal zum Verlieben

hier erhältlich:

Feiern Sie die schönste Zeit des Jahres mit der Nr. 1-New York Times-Bestsellerautorin Linda Lael Miller!

Die junge Witwe Dara Rose Nolan hat nur einen Wunsch: Sie will ihr Zuhause und ihre geliebten Kinder nicht verlieren! Verzweifelt fragt sie sich, wie es weitergehen soll. Da kommt der neue, attraktive Marshal Clay McKettrick nach Blue River, und mit ihm kehrt in Daras Herzen die Hoffnung auf ein Weihnachtswunder zurück …


  • Erscheinungstag: 10.12.2014
  • Aus der Serie: Die Mc Kettricks
  • Bandnummer: 11
  • Seitenanzahl: 220
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955764005
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Lael Miller

Ein Marshal zum Verlieben

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Sabine Schlimm

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MIRA Taschenbuch ®

MIRA ® Taschenbücher

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg;

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 für dieses eBook bei MIRA Taschenbuch ®

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Lawman’s Christmas

Copyright © 2011 by Linda Lael Miller

erschienen bei Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Gestaltung: fredebold & partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher & soiron, Köln

Titelabbildungen: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Redaktion: Mareike Müller

ISBN eBook 978-3-95576-400-5

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eBook-Herstellung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Anfang Dezember 1914

Wäre Clay McKettrick nicht schon durch das ohrenbetäubende Kreischen von Stahl auf Stahl aus seinem unruhigen Schlaf gerissen worden, dann hätte ihn spätestens der folgende Ruck aufgeweckt. Als der Zug abrupt zum Stehen kam, wäre Clay beinahe auf den gegenüberliegenden Sitz geschleudert worden.

Ungehalten setzte er sich auf, fuhr sich durchs Haar und versuchte, durchs Fenster etwas zu erkennen. Blue River, Texas: sein neues Zuhause. Dabei war er mehr als nur irgendein Neuankömmling. Als künftiger Marshal trug er ab jetzt die Verantwortung für die Sicherheit der Stadt und ihrer Bewohner.

Allerdings konnte er in diesem Augenblick kaum etwas von seiner neuen Wirkungsstätte erkennen, da der Rauch der Lokomotive ihm die Sicht nahm. Nicht, dass das schlimm gewesen wäre: Der Anblick der Stadt war ihm gleichgültig. Ein paar Monate zuvor hatte er ihr bereits einen kurzen Besuch abgestattet und dabei alles gesehen, was es zu sehen gab – was noch nicht einmal an einem strahlenden Sommertag sonderlich viel gewesen war. Nun streckte der Winter seine eisigen Finger nach Blue River aus, sodass die holprigen Straßen und heruntergekommenen Fassaden der Häuser vermutlich ein noch trostloseres Bild boten. Clays Großvater Angus hatte immer behauptet, in dieser Gegend von Texas schneie es Staub und Sandflöhe.

Seufzend stand Clay auf, um seinen schwarzen Hut mit der runden Krempe und den abgetragenen Staubmantel von der Hutablage zu nehmen. Dabei gestattete er sich, noch einmal bedauernd an all das zu denken, was er hinter sich gelassen hatte, um hier am Ende der Welt mit eigenen Händen etwas Neues aufzubauen.

Zurückgelassen hatte er eine Menge – nicht zuletzt eine Frau. Außerdem seine Familie, den weitverzweigten McKettrick-Clan, zu dem außer seiner Mutter Chloe und seinem Vater Jeb auch seine beiden älteren Schwestern gehörten. Mittelpunkt des Familienlebens war die Triple-M-Ranch, ein blühender Betrieb mit jeder Menge Land, gutem Wasser und saftigen Weiden.

Ihm kam bruchstückhaft ein Bibelvers in den Sinn „… und das Vieh auf tausend Hügeln”.

Auf tausend Hügel kam die Triple-M-Ranch zwar trotz ihrer Größe bei Weitem nicht, Vieh allerdings gab es wirklich reichlich. Und Clays Großvater Angus McKettrick mochte zwar Hügel und Land als Leihgabe des Allmächtigen betrachten, aber alles andere gehörte in seinen Augen zweifellos ihm, seinen vier Söhnen und seiner Tochter Katie: Rinder, Menschen, Bodenschätze und Holz.

Clay zog den langen Mantel an und setzte sich den Hut auf. Das Pistolenhalfter mitsamt Waffe hatte er in den Koffer im Gepäckabteil gepackt, und sein gescheckter Wallach Outlaw reiste allein im Viehwaggon.

Der einzige andere Passagier war eine knochige Frau mit strengen Gesichtszügen, die keinerlei Neigung zeigte, sich mit einem Fremden zu unterhalten. Auf dem Schoß hielt sie die größte Bibel, die Clay jemals gesehen hatte. Sie schien bereit, sich in die apokalyptischen Drohungen und Heilsversprechen der Heiligen Schrift zu versenken, sobald sie Sündiges auch nur von fern erschnupperte. Der Schaffner, ein nervöser kleiner Mann mit blatternarbigem Gesicht, hatte Clay anvertraut, dass sie den langen Weg aus Cincinnati nach Texas gekommen war, um hier die Heiden zu bekehren.

Am liebsten hätte Clay sich bei ihr erkundigt, ob in Cincinnati die Heiden knapp geworden waren. Doch Erschöpfung und Heimweh nach der Ranch und seiner Familie wogen schwerer als die Belustigung, die ihm dieser Gedanke bereitete. Daher beließ er es dabei, seiner Mitreisenden zum Abschied respektvoll zuzunicken. Vermutlich hatte sie in Cincinnati bereits alle Ungläubigen bekehrt und war nun hergekommen, weil sie als Nächstes dem Teufel den Staat abringen wollte. Ich persönlich würde auf die Siegeschancen des Leibhaftigen keinen Pfifferling geben, dachte Clay, während er die Tür öffnete.

Ein eisiger Wind blies Clay entgegen, und winzige Schneeflocken wirbelten in der Luft herum. Auf dem Bahnsteig wartete der Stadtrat darauf, den neuen Marshal in Empfang zu nehmen. Alle drei Mitglieder trugen zur Feier des Tages Sonntagsanzüge.

Bürgermeister Wilson Ponder ergriff das Wort. Seine Stimme dröhnte über den Bahnsteig. „Willkommen in Blue River, Mr McKettrick.” Er war ein beleibter, reizbar wirkender älterer Mann mit weißen Koteletten und hervorstehenden Zähnen, die sich unabhängig von seinem Kiefer zu bewegen schienen.

Clay, der mit Ende zwanzig zu den jüngsten Mitgliedern des McKettrick-Clans gehörte, war es nicht gewohnt, mit „Mister” angesprochen zu werden. Zu Hause rief man ihn gewöhnlich: „Hey, du da!” Aber die neue Erfahrung gefiel ihm. „Nennen Sie mich ruhig Clay”, sagte er.

Während er den Männern die Hände schüttelte, hievte der Schaffner seinen Koffer aus dem Gepäckabteil auf den Bahnsteig. Mit einem Blick auf seine Taschenuhr bemerkte er: „Sie laden wohl jetzt besser Ihr Pferd ab, falls Sie nicht wollen, dass es nach Fort Worth weiterreist. Der Zug fährt in fünf Minuten ab.” Sein Tonfall verriet die Art von Diensteifer, wie sie typisch ist für kleine Männer, die selbst triefnass kaum fünfzig Kilo auf die Waage bringen.

Clay nickte nur. Vermutlich sehnte sich Outlaw nach frischer Luft und Bewegung. Immerhin war der Wallach seit der Abfahrt von Flagstaff in einem rollenden Stall eingesperrt gewesen.

Zum Abschied tippte sich Clay an die Hutkrempe und versprach den Mitgliedern des Begrüßungskomitees, sich später noch ausführlicher mit ihnen zu unterhalten. Er überquerte den bescheidenen Bahnsteig, stieg ein paar Stufen hinab und schritt durch Asche und Rauchfetzen auf den Viehwaggon zu. Nachdem er die schwere Rampe herabgelassen hatte, kletterte er in das Dunkel des Wagens mit seinem durchdringenden Pferdegeruch.

Outlaw bedachte ihn mit einem leisen Wiehern. Lächelnd tätschelte Clay ihm den langen Hals, bevor er seinen Sattel und das übrige Zaumzeug ergriff und aus dem Waggon warf. Sobald alles draußen war, löste er den Knoten an Outlaws Halfter und führte das Pferd zur Rampe. Viele andere Pferde hätten sich gegen das Unbekannte gesträubt, Outlaw jedoch folgte seinem Herrn willig. Er und Clay gingen seit über zehn Jahren zusammen durch dick und dünn, und sie vertrauten einander bedingungslos.

Ohne Schwierigkeiten bewältigte Outlaw den Abstieg über die Eisenrampe. Sobald ihm der frische Wind mit den ersten Schneeflocken entgegenwehte, blinzelte er kurz, bis sich seine ungewöhnlich blauen Augen an das Licht des Nachmittags gewöhnt hatten. Eigentlich hatte Clay vorgehabt, den Wallach unangebunden stehen zu lassen, während er selbst die Rampe zurückschob. Aber noch bevor er sich umdrehen konnte, kam ein kleines Mädchen um die Ecke des Lagergebäudes gerannt und fasste mit geübtem Griff nach Outlaws Halfter.

Sie konnte kaum älter sein als sieben, aber selbst dafür wirkte sie klein. Ihr abgewetztes Kattunkleidchen, das braune Hütchen und der Mantel waren zwar sauber, hatten aber schon deutlich bessere Tage gesehen. Unter dem Hut war eine blonde Korkenzieherlocke hervorgeschlüpft und lag auf der Stirn des Mädchens, das Clay mit dem Selbstbewusstsein eines gewieften Cowboys anlächelte.

„Ich heiße Miss Edrina Nolan”, verkündete sie. „Sind Sie der neue Marshal?”

Belustigt legte Clay die Hand an die Hutkrempe, um die Kleine ordnungsgemäß zu begrüßen. „Ja. Clay McKettrick mein Name.”

Edrina streckte ihm die freie Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr McKettrick.”

„Gleichfalls”, entgegnete er lachend. Dass dieses Mädchen dermaßen entspannt mit einem Tier umging, das es um ein Vielfaches überragte, überraschte ihn nicht. Schließlich waren er und seine Cousins auf der Triple-M-Ranch ebenfalls mit Pferden aufgewachsen. Trotzdem beeindruckte ihn Edrinas Gelassenheit.

„Ich halte Ihr Pferd schon”, erklärte sie. „Helfen Sie lieber dem Mann von der Bahn mit der Rampe, sonst tut er sich noch weh.”

Clay wandte den Kopf. Und tatsächlich: Dieser Hänfling von einem Schaffner mühte sich nach Kräften mit der schweren rostfleckigen Eisenplatte ab, damit der Zug weiterfahren konnte. Schnell eilte er ihm zu Hilfe, damit der Mann sich keinen Leistenbruch oder gar einen Herzschlag holte. Für sein Mitanpacken erntete er jedoch keineswegs Dank, sondern lediglich einen ungehaltenen Blick.

Doch Clay scherte sich herzlich wenig um die Befindlichkeiten des Schaffners. Er wandte sich dem Mädchen zu, um Outlaw wieder in Empfang zu nehmen.

Inzwischen saß Edrina auf dem Pferderücken. Das verschlissene Kleid bauschte sich um ihre Beine, und im schneedurchtanzten Licht der Nachmittagssonne wirkte sie wie eines dieser engelhaften Kinder, die auf Kalendern, Valentinskarten und Kekspackungen abgebildet waren.

„Hey, warte mal!” Unwillkürlich griff er nach dem Halfter. Wie Edrina es auf Outlaws Rücken geschafft hatte, war ihm schleierhaft – schließlich hatte er den Wallach noch nicht satteln können. Vielleicht war sie wirklich ein kleiner Engel, der die kleinen Flügelchen unter dem dünnen schwarzen Mantel verbarg?

Vorn am Bahnsteig blies der Ingenieur zur Abfahrt des Zuges. Bei dem schrillen Geräusch fuhr Outlaw zwar zusammen, aber er stieg nicht. Gott sei es gedankt!

„Hey”, wiederholte Clay beruhigend, aber fest. Erst dann bemerkte er den Baumstumpf auf der anderen Seite des Pferds. Edrina musste hinaufgeklettert sein, damit sie sich von dort aus auf Outlaws Rücken hochgezogen haben konnte.

Sie alle – Mann, Pferd und Engelchen – warteten, bis der Zug davongetuckert war und der Lärm sich ein wenig gelegt hatte.

Edrina strahlte Clay von ihrem hohen Sitz aus an. „Mama sagt, jetzt, wo Sie da sind, müssen wir ins Armenhaus”, verkündete sie.

„Ach, tatsächlich?”, entgegnete Clay gelassen. Er fasste das Kind um die Taille, hob es von Outlaws Rücken und stellte es sorgsam auf die eigenen Füße. Dann machte er sich daran, sein Pferd zu satteln. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie das Begrüßungskomitee des Stadtrats den Bahnsteig verließ.

Edrina nickte lächelnd auf Clays eher rhetorisch gemeinte Frage, und die Korkenzieherlocke auf ihrer Stirn hüpfte dabei auf und ab. „Mein Papa war früher mal der Marshal hier”, erklärte sie Clay sachlich, „doch dann ist er in den Armen einer gefallenen Frau gestorben, in einem Zimmer über dem Bitter Gulch Saloon. Und seitdem sitzen wir auf dem Trockenen.”

Überrascht blinzelte Clay. Wie hatte er Edrina Nolan nur für ein Kind halten können? Sie war viel älter, als sie aussah – mindestens zehn.

„Aha.” Er räusperte sich. „Das ist natürlich traurig. Dass dein Dad gestorben ist, meine ich.” Natürlich kannte er die Geschichte vom Tod seines Vorgängers, denn sie war ihm bei seinem ersten Besuch in Blue River brühwarm erzählt worden. Dennoch fand er es erstaunlich, dass auch Edrina darüber Bescheid wusste.

Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete kritisch, wie er Outlaw den reichlich abgeschabten Sattel auf den Rücken legte und den Gurt durch die Schnalle fädelte. „Können Sie schießen? So richtig mit ‘nem Gewehr und so?”, erkundigte sie sich.

Clay nickte. Warum saß die Kleine nicht in der Schule? Hatte ihre Mutter eine Ahnung davon, dass sie hier wild herumlief und auf die Pferde fremder Leute stieg, wenn diese kurz nicht hinschauten?

Und wo zum Teufel hatte ein Kind ihres Alters gelernt, so zu reiten?

„Gut”, antwortete Edrina mit einem Seufzer der Erleichterung. Sie hielt immer noch die Arme verschränkt. „Denn Papa konnte man mit Waffen einfach nicht trauen. Einmal hat er eine Pistole geputzt, weil er draußen ein paar Kaninchen für einen Eintopf jagen wollte. Und dann ist die Knarre losgegangen und hat ein Riesenloch in den Boden geschossen. Mama hat einen Sessel drüber gestellt, angeblich, damit meine Schwester Harriet und ich nicht durchfallen und unter dem Haus zwischen den ganzen Spinnweben und Mäusen landen. Doch ich glaube, sie wollte nur nicht, dass die Leute merken, was Papa getan hat. Schließlich kann sogar Harriet aufpassen, dass sie nicht durch ein Loch fällt. Und sie ist erst fünf.”

Clay musste ein Grinsen unterdrücken. Er zog den Gurt fester, damit der Sattel unter seinem Gewicht nicht ins Rutschen geriet, setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich auf Outlaws Rücken. Zum Abschied tippte er mit dem Finger an die Hutkrempe. „Bis bald, du kleine Quasselstrippe”, grüßte er freundlich.

„Was ist mit Ihrem Koffer?”, fragte Edrina. „Wollen Sie den etwa hier auf dem Bahnsteig stehen lassen?”

„Ich komme später vorbei, um ihn abzuholen”, erklärte Clay. Gleichzeitig fragte er sich, weshalb er dem Kind überhaupt Rede und Antwort stand. „Dieses Pferd und ich, wir müssen uns jetzt erst mal ein bisschen die Beine vertreten.”

„Ich könnte Ihnen zeigen, wo wir wohnen”, beharrte Edrina. Sie hüpfte neben Outlaw her, als Clay im Schritt losritt. „Na ja, wo Sie wohl ab jetzt wohnen.”

„Vielleicht gehst du jetzt mal besser nach Hause”, erwiderte Clay. „Deine Mama macht sich sicher schon Sorgen.”

„Nee”, entgegnete Edrina. „Mama ist nicht besorgt. Sie denkt ja, ich bin in der Schule.”

Wieder musste Clay sich ein Grinsen verkneifen. Inzwischen waren sie über einen grasbewachsenen kleinen Hang zu der Straße gelangt, die in einer Kurve um das Lagergebäude herum und in den Ort hineinführte. Die Mitglieder des Stadtrats watschelten nur ein paar Schritte vor ihnen den schmalen Gehsteig aus Brettern entlang, immer einer hinter dem anderen, wie drei schwarze Enten mit Zylindern.

„Und warum genau bist du nicht in der Schule?”, erkundigte sich Clay freundlich, während er zum Schutz gegen den rasiermesserscharfen Wind und die eisigen Schneeflocken die Schultern hochzog.

Edrina verkroch sich fröstelnd tiefer in ihren Mantel. Es war das einzige Anzeichen, dass sie überhaupt etwas vom Wetter bemerkte. Unterdessen Miss Edrina Nolan noch über ihre Antwort nachdachte, lenkte Clay sein Pferd auf ihre andere Seite, um sie so wenigstens ein bisschen vor dem beißenden Wind zu schützen.

„Ich weiß schon alles, was sie mir in der Schule beibringen können”, erklärte sie schließlich im Brustton der Überzeugung. „Und noch mehr.”

Da ihn niemand um seine Meinung gebeten hatte, lachte Clay leise, enthielt sich aber eines Kommentars.

Die ersten Ausläufer von Blue River sahen keineswegs beeindruckender aus, als er sie in Erinnerung hatte – auf der einen Straßenseite stand ein Mietstall, auf der anderen ein verlassener Saloon, umgeben von hüfthohem, verdorrtem Gras. Von dem einzigen schmalen Fenster des Saloons waren nur ein paar schmutzige Glasscherben im Rahmen stecken geblieben, und das Schild über der Tür mit der Aufschrift „Last Hope: Saloon und Glücksspiel” hing an einem einzelnen rostigen Nagel. Clay konnte die durch Wind und Wetter verblichenen Buchstaben nur noch mit Mühe entziffern.

„Du solltest bei diesem Wetter wirklich nicht draußen rumlaufen”, ermahnte er Edrina, die immer noch mit Outlaw Schritt hielt, allerdings die Straße den brüchigen Brettern des Gehsteigs vorzog. „Es ist viel zu kalt dafür.”

„Mir gefällt’s”, antwortete sie. „Die Kälte ist so erfrischend, finden Sie nicht auch? Man wird richtig wach davon.”

Je weiter sie in den Ort hineinkamen, desto weniger schäbig wirkten die Häuser, auch wenn die meisten dringend einen frischen Anstrich gebraucht hätten. Die Türen waren fest geschlossen, aber aus den Schornsteinen kräuselte sich Rauch. Auf der Straße sah Clay nur wenige Menschen. Dafür tauchten hinter dem einen oder anderen Fenster neugierige Gesichter auf, sowie er vorbeiritt.

Er schlug den Kragen hoch, um sich gegen den stärker werdenden Wind zu schützen. „Erfrischend” fand er nicht ganz den richtigen Ausdruck für diese Kälte, und wach war er längst, seit er nicht mehr im Zug saß, sondern endlich wieder auf einem Pferderücken. Außerdem war er hungrig und sehnte sich nach einem Bad, einer Rasur – und nach zehn bis zwölf Stunden Schlaf. Wenn er sich doch erst in einem Bett ausstrecken könnte, statt den harten Sattel unter sich zu spüren!

„Na gut, vielleicht zeigst du mir doch lieber gleich, wo du wohnst”, bemerkte er nach längerem Schweigen. So würde die Kleine immerhin nach Hause gehen, wo sie hingehörte. Gleichzeitig konnte er sicherstellen, dass sie dort auch eintraf. Und dann brauchte er sich keine weiteren Gedanken um sie zu machen.

Edrina zeigte nach vorn. Dort lagen ein Gemischtwarenladen, ein Telegrafen- und Telefonbüro, das bescheidene Gefängnis, dem er selbst bald vorstehen würde, und hinter einem Lattenzaun, der einmal weiß gewesen sein mochte, eine winzige weiße Kirche. „Da drüben, eine Straße weiter.” Dabei bog sie unauffällig zur Seite ab, als hätte sie vor, im nächsten Moment zwischen den umstehenden Häusern zu verschwinden. „Also, wo wir wohnen. Das Haus mit dem Apfelbaum im Hof und einem Hühnerstall dahinter.”

Clay brachte Outlaw mit einem kaum wahrnehmbaren Anziehen der Zügel zum Halten. „Hiergeblieben”, befahl er ruhig, da Edrina sich davonmachen wollte.

Sie verharrte wie festgefroren und drehte sich langsam zu ihm um. Der Blick aus ihren großen blauen Augen wirkte resigniert. „Sie erzählen Mama bestimmt, dass ich nicht in der Schule war, oder?” Es hörte sich an, als hätte sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden.

„Das ist deine Aufgabe, nicht meine.”

Überrascht zwinkerte Edrina, und in ihrer Miene spiegelten sich kurz hintereinander Verwirrung, Hoffnung und schließlich Verzweiflung. „Sie ist furchtbar sauer, wenn sie es rauskriegt. Mama legt viel Wert auf Bildung.”

„Das tun die meisten vernünftigen Menschen”, erwiderte Clay. Dabei musste er sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszulachen. Edrina war zwar kaum ihren Babyschuhen entwachsen, aber sie saß zu Pferd wie ein Komantschenkrieger – davon hatte er sich am Bahnhof mit eigenen Augen überzeugen können – und trat mit einer solchen Würde auf, dass man darüber ihre geringe Größe, ihr Alter und ihre abgetragenen Kleider fast vergaß. „Vielleicht hörst du von nun an besser auf deine Mama. Sie will schließlich nur dein Bestes.”

Da stieß Edrina einen theatralischen Seufzer aus, der aus der Tiefe ihres kleinen Wesens zu kommen schien. „Wahrscheinlich erzählt Miss Krenshaw meiner Mama sowieso, dass ich nach der Pause nicht wiedergekommen bin. Ist also egal, ob Sie es für sich behalten.”

Bei Miss Krenshaw handelte es sich offensichtlich um die Lehrerin.

Das Klappern von Outlaws Hufeisen hallte hohl und einsam auf der ungepflasterten Straße wider. Hin und wieder wich das Pferd einem Schlagloch aus, auf dessen Oberfläche etwas Grünes schwamm.

„Raus kommt es bestimmt, so oder so”, pflichtete Clay ihr bei. Er musste an die Gesichter hinter all den Fenstern denken.

„Kruzifix noch mal!”, rief Edrina ehrlich angewidert aus. „Ich habe wirklich keine Ahnung, warum sich die Leute nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und mich in Ruhe lassen.”

Dieser Ausbruch entlockte Clay einen erstickten Laut, den er, so gut es ging, mit einem Hüsteln überspielte. „Wie alt bist du eigentlich?”, fragte er. Die Antwort darauf interessierte ihn inzwischen brennend.

„Sechs”, antwortete Edrina.

Er hätte schwören können, sie wäre mindestens zehn oder sogar elf und für ihr Alter ein wenig kurz geraten. „Dann gehst du also in die erste Klasse?”

„In die zweite”, verbesserte Edrina, die immer noch neben dem Pferd herrannte. „Als ich im September eingeschult worden bin, konnte ich schon lesen, und die Zahlen kannte ich auch. Deshalb hat Miss Krenshaw mich die erste Klasse überspringen lassen. Eigentlich hat sie sogar vorgeschlagen, dass ich gleich in die dritte komme, doch Mama war dagegen. Sie fand, ich brauche Zeit, um ein Kind zu sein. Als ob mir überhaupt etwas anderes übrig bleiben würde!” Es klang ziemlich entrüstet.

Diesmal neigte Clay den Kopf zur Seite, um sein Lachen zu verbergen. „Du wirst schneller erwachsen, als du glaubst”, sagte er. „Wenn man mich fragt, dann sehe ich das genauso wie deine Mama.”

„Aber man hat Sie ja nicht gefragt”, bemerkte Edrina scharfsinnig, allerdings nicht unfreundlich.

„Stimmt”, antwortete Clay.

Eine Pause trat ein, während sie erst an der kleinen weißen Kirche und dem Friedhof daneben vorbeikamen. Hier lag vermutlich der verstorbene Marshal Parnell Nolan begraben. Als sie die Straßenecke erreichten, lief Edrina voraus, und Clay folgte auf Outlaw gemächlichen Schrittes.

Bei seinem letzten Kurzbesuch in Blue River hatte sich Clay nicht für das Haus interessiert, das ihm als Dienstwohnung des Marshals zugesagt worden war. Er hatte lediglich die Besitzurkunde für zweitausend Morgen unkultivierten Landes unterzeichnet und von dem Haus und dem Stall geträumt, die er dort bauen wollte. Er würde Vieh und Pferde kaufen, Brunnen graben und Zäune errichten. Natürlich hätte er auch auf der Triple-M-Ranch den Frühling abwarten und bis dahin das gewohnte Leben weiterführen können. Doch das hatten weder seine Ungeduld noch sein Stolz zugelassen.

Außerdem neigte er von Natur aus nicht zum Müßiggang. Um also nicht bis zum Frühjahr Däumchen drehen zu müssen, hatte er das Angebot der Stadt über ein lächerliches Gehalt und einen Stern für den Mantelaufschlag angenommen. Er konnte mit den Pflichten eines Marshals die Zeit überbrücken, bis die Stadtväter irgendwo einen Dummen auftrieben, der den Job auf Dauer übernahm.

„Da ist es”, sagte Edrina. In ihrer Stimme lag ein trauriger Unterton, der Clay einen Stich versetzte.

Clay warf einen Blick auf das heruntergekommene Gebäude, das der Stadtrat als „Cottage” bezeichnet hatte. Er selbst hätte es eher Baracke genannt. Aber viel Zeit für eine eingehende Betrachtung blieb ihm nicht, denn in diesem Augenblick kam eine der hübschesten Frauen, die er je gesehen hatte, wie von einer Pistole geschossen aus der Haustür und stürmte auf sie zu. Hühner stoben gackernd beiseite.

Ihr Haar hatte die Farbe von hellem Cider. Sie trug es im Nacken zusammengesteckt, doch um ihr Gesicht bauschte es sich, wie es der Mode entsprach. Er kannte diese Frisur von seinen Schwestern und Cousinen zu Hause in Arizona. Ihre Augen mochten blau sein, möglicherweise aber auch grün. Im Moment aber sprühten sie Funken wie ein Brandeisen beim jährlichen Fohlenbrennen.

Nachdem die Frau bei der rostig in den Angeln hängenden Pforte in dem kaputten Zaun angekommen war, blieb sie abrupt stehen und starrte Clay wütend an.

Er fühlte sich, als hätte Zeus in diesem Augenblick einen seiner Blitze nach ihm geworfen und er hätte ihn mit beiden Händen aufgefangen, anstatt wie jeder kluge Mann einfach beiseitezutreten.

Der Blick der Frau glitt zu dem kleinen Mädchen. „Edrina Louise Nolan, was soll ich mit dir bloß anfangen?” Beim Sprechen sah er ihre geraden weißen Zähne. Außerdem bemerkte Clay fast beiläufig ihre schöne Haut, die glatt war und einen warmen, pfirsichartigen Ton hatte.

„Vielleicht mich in die dritte Klasse gehen lassen?”, äußerte Edrina mutig.

Clay musste lachen, aber ein vernichtendes Funkeln seitens der Frau brachte ihn schnell zum Schweigen. Dennoch hielt er ihrem Blick stand. Ihn einzuschüchtern gelang so leicht niemandem, auch wenn ihm klar war, dass sie es darauf angelegt hatte.

Die Frau hob das Kinn, wandte sich allerdings sofort wieder ihrer Tochter zu. Sie streckte einen Arm aus – sie trug ebenso wie Edrina ein Kattunkleid – und zeigte auf die Baracke. „Das reicht, junges Fräulein. Schluss mit dem Unsinn.” Aus ihren Worten sprach neben Ärger auch Fürsorglichkeit, wie Clay erleichtert erkannte. Sie öffnete das knarrende Törchen. „Rein mit dir, aber sofort. Du kannst schon einmal über dein ungezogenes Benehmen nachdenken.”

Edrina zögerte gerade lange genug, um Clay, der immer noch im Sattel saß, einen Hilfe suchenden Blick zuzuwerfen. Offenbar hoffte sie, er würde sich einmischen.

Dazu hatte er natürlich überhaupt kein Recht. Trotzdem verspürte er Gewissensbisse dem kleinen Mädchen gegenüber. Wider besseres Wissen schwang er sich vom Pferd, nahm den Hut ab und hielt ihn in einer Hand, während er sich mit der anderen durchs Haar fuhr.

„Tu, was deine Mama sagt”, meinte er zu Edrina. Doch aus seinem Mund klang es eher nach Vorschlag als nach Befehl.

Ihre höchst attraktive Mutter musterte ihn erneut, diesmal allerdings ein wenig bekümmert. Aber schon im nächsten Moment straffte sie den Rücken. Sie erinnerte Clay an einen kleinen Vogel, der sein verblichenes Federkleid aufplusterte. „Sie sind es, oder?”, fragte sie. „Sie sind der neue Marshal.”

„Ja, Ma’am”, antwortete Clay respektvoll, obwohl ihm eher zum Jubeln zumute war. „Ich bin der neue Marshal. Und Sie sind?”

„Dara Rose Nolan. Mrs Nolan für Sie. Sofern Sie überhaupt einen Grund haben, mich anzusprechen, was ich bezweifle.”

Damit machte sie auf dem – sehr abgelaufenen – Absatz kehrt und ging zu dem sogenannten Cottage zurück. Das Dach des Gebäudes sah aus, als wolle es jeden Moment einsacken, die Wassertonne leckte, doch jedes Fenster war blitzblank geputzt.

Edrina und ein weiteres kleines Mädchen – zweifellos Harriet – sprangen zur Seite, sowie ihre Mutter auf sie zukam, und verschwanden im Haus.

Clay verfolgte anerkennend, wie Parnell Nolans Witwe zum Haus eilte, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Die Hühner, die friedlich nach Würmern gepickt hatten, flatterten ihr verstört gackernd zum zweiten Mal aus dem Weg. Dann knallte sie die Tür zu.

Clay lächelte, setzte den Hut auf und schwang sich wieder aufs Pferd.

Bisher hatte ihm vor den langen und vermutlich müßigen Monaten gegraut, die vor ihm lagen. Er hatte nichts als Einsamkeit und Langeweile vor sich gesehen, denn in Blue River, das wusste er, wurden höchst selten Verbrechen verübt. Das war der Hauptgrund dafür, dass die Stadtverwaltung es nicht besonders eilig gehabt hatte, die Stelle von Parnell Nolan wieder zu besetzen.

Clay lenkte Outlaw aus der Stadt hinaus aufs offene Land. Er hatte vor, einen Höhenrücken entlangzureiten, von dem aus man einen weiten Blick in alle Richtungen hatte. Nach der Begegnung mit Mrs Nolan ahnte er, dass der Winter doch nicht so langweilig werden dürfte.

Im Innern des Hauses holte Dara Rose tief Luft und seufzte lang und laut.

Sie hatte der Ankunft des neuen Marshals alles andere als freudig entgegengesehen, schließlich entstanden ihr daraus nur Probleme. Allerdings hatte sie auch nicht geahnt, dass sie dermaßen die Fassung verlieren und sich ihm gegenüber so unhöflich verhalten würde. Auch wenn sie arm war, legte Dara Rose großen Wert auf gutes Benehmen und besonnenes Auftreten. Schließlich musste sie ihren Kindern ein gutes Beispiel geben.

Wie mochte sie wohl auf Clay McKettrick gewirkt haben, als sie aus dem Haus gestürmt war und dabei die Hühner halb zu Tode erschreckt hatte? Sie schloss kurz die Augen und seufzte erneut.

Edrina und Harriet saßen auf dem großen Schaukelstuhl neben dem Holzofen und beobachteten ihre Mutter. Edrina war klug genug, den Mund zu halten, und Harriet hatte sich neben sie gequetscht, ihre Lumpenpuppe Molly fest unter den kleinen Arm geklemmt.

Einen Moment lang war nichts zu hören als das bedeutungsschwere Ticken der Pendeluhr an der Wand. Vor den Fenstern wirbelte der Wind, als suchte er nach einer Ritze, um hereinzukommen. Dara Rose musste ein Zittern unterdrücken.

„Was machen wir jetzt, Mama?”, fragte Edrina endlich. Normalerweise war sie ein gutes Kind, hilfsbereit und vernünftig. Aber ihre Neugier und Rastlosigkeit ließen sich mitunter nicht so leicht bändigen, und deshalb geriet sie immer wieder auf Abwege.

Dara Rose schaute zu dem Bild ihres verstorbenen Mannes Parnell Nolan hoch, das in einem ovalen Rahmen an der Wand hing. Verzweiflung stieg in ihr hoch und schnürte ihr die Kehle zu. Ungeachtet seines skandalösen Todes vermisste sie ihn. Sie vermisste seine verlässliche Anwesenheit, seine ruhige Art und seinen wachen Geist.

Angestrengt bemühte sie sich, die Tränen zurückzudrängen, die ihr in letzter Zeit so häufig in die Augen schossen. „Ich weiß es nicht genau”, musste sie zugeben. „Aber macht euch keine Sorgen, mir fällt schon etwas ein.”

Beruhigend legte Edrina ihrer jüngeren Schwester den Arm um die Schultern. Harriet hatte den Daumen in den Mund gesteckt. Ihre Mutter machte sie nicht darauf aufmerksam, obwohl ihr das Daumenlutschen Sorgen bereitete. Eigentlich hatte Harriet diese Gewohnheit schon als Dreijährige aufgegeben, aber nach Parnells Tod vor fast einem Jahr hatte sie wieder damit angefangen. Der Grund war nicht schwer zu erraten – die Ärmste fühlte sich verunsichert und ängstlich.

Ihrer Mutter ging es nicht viel anders, doch das durfte sie sich selbstverständlich nicht anmerken lassen. Bürgermeister Ponder und die anderen Stadträte hatten ihr und den Kindern betont großzügig erlaubt, fürs Erste weiter in ihrem Häuschen zu wohnen – unter der Bedingung, dass sie auszogen, sobald ein neuer Marshal Parnells Stelle antrat.

„Mach dir keine Sorgen”, erklärte Edrina ihrer Schwester und drückte sie fester an sich. „Mama fällt immer etwas ein.”

Bisher war es Dara Rose gelungen, das Vertrauen ihrer Kinder nicht zu enttäuschen. Sie hatte im eigenen Garten Gemüse angebaut, damit sie Essen auf dem Tisch hatten. Sie hatte Näharbeiten übernommen, war den Hausfrauen von Blue River bei der großen Wäsche zur Hand gegangen und hatte hin und wieder sogar in den Geschäften an der Hauptstraße geputzt. Doch bei allem Fleiß sahen ihre Verdienste besorgniserregend mager aus. Ohne das Haus drohte ihnen bittere Armut.

Natürlich gab es auch andere Möglichkeiten – gab es die nicht immer? Aber diese Aussichten wirkten kaum weniger düster. Sie konnte im Bitter Gulch Saloon als Bardame anfangen und mit etwas Glück vielleicht sogar genug verdienen, um ihre Kinder irgendwo in der Nähe in Kost und Logis zu geben. So könnte sie sie immerhin von Zeit zu Zeit sehen. Aber wie lange würde es wohl dauern, bis die Kleinen herausfanden, womit ihre Mutter ihr Geld verdiente – bevor sie anfingen, sie zu verachten? Ein Jahr? Zwei Jahre? Drei?

Die zweite Möglichkeit erschien ihr nur unwesentlich erträglicher. Ezra Maddox hatte ihr angeboten, als Köchin und Haushälterin auf seiner entlegenen Ranch zu arbeiten. Allerdings hatte er deutlich gemacht, dass sie ihre Töchter nicht mitbringen konnte. Er hatte ihr sogar geradeheraus empfohlen, Edrina und Harriet ins Waisenhaus zu bringen oder sie auf einer Farm in Dienst zu geben, wo sie sich ihren Lebensunterhalt verdienten. Seiner Meinung nach stärkte das den Charakter.

Bei seinem letzten Besuch am vergangenen Sonntag nach dem Gottesdienst hatte er genau hier in ihrer Stube gestanden und ihr in Aussicht gestellt, sie sogar zu heiraten, wenn sie sich als Haushälterin bewähre. Sie hatte ihm deutlich angesehen, wie großherzig ihm sein eigenes Angebot vorkam. Allerdings lief ihr schon bei dem bloßen Gedanken ein kalter Schauder über den Rücken.

Was für eine Unverschämtheit! Ezra Maddox erwartete allen Ernstes, dass sie ihre Töchter der Obhut von Fremden überließ und den Rest ihres Lebens damit zubrachte, seine Socken zu stopfen und ihm die Mahlzeiten zu kochen. Dafür bot er ihr Kost, Logis und ein äußerst mageres Gehalt. Und wenn sie sich „bewährte”, wie er es ausdrückte, musste sie darüber hinaus auch noch mit ihm das Bett teilen und auf das geringe Gehalt verzichten.

Als allerletzten Ausweg konnte Dara Rose noch aus dem Einmachglas in ihrer winzigen Küche das bescheidene Ersparte nehmen, Zugfahrkarten kaufen und mit ihren Kindern nach San Antonio, Dallas oder Houston ziehen. Vielleicht fand sie dort ehrliche Arbeit und eine Unterkunft.

Und wenn nicht? Die Zeiten waren hart. Ihr Notgroschen würde nicht lange reichen. Und was dann?

Es war höchste Zeit, sich solche Gedanken aus dem Kopf zu schlagen und lieber etwas Vernünftiges zu tun, sonst ließ sie sich noch von den unerfreulichen Zukunftsaussichten lähmen. Entschlossen lief Dara Rose in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten.

Im vergangenen Herbst hatte ihr jemand das Hinterviertel eines Hirschs geschenkt. Sie hatte das Fleisch in Streifen geschnitten und sorgfältig in Gläsern eingeweckt. Aus dem Garten waren ihr immer noch grüne Bohnen, Mais und Möhren geblieben, von den Obstbäumen hinter der Kirche hatten sie Äpfel und Birnen geerntet, und im Sommer hatte sie mit den Kindern Beeren gesammelt und in Körben und Blechdosen nach Hause gebracht. Dank der Hühner waren immer ausreichend Eier im Haus, und ein paar davon konnte sie sogar verkaufen, wenn sie sie nicht beim Krämer gegen Zucker, Mehl und andere Notwendigkeiten eintauschte. Hin und wieder kaufte sie sogar Tee, aber das war ein großer Luxus geworden.

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