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Ein Riss im Stoff des Lebens

Als Buch hier erhältlich:

Mit unbestechlicher Ehrlichkeit erzählt Verena Stefan von ihren Erfahrungen, begleitet von Wut und Traurigkeit, aber auch von Liebe und Humor.

Vierzehn Jahre lang kämpfte Verena Stefan, nachdem sie 2002 die Diagnose Krebs erhielt. Fast so lange schrieb sie auch über ihre Erfahrungen nicht nur mit der Krankheit, sondern auch als Schweizerin in Kanada, über ihre Beziehung zur Natur und ihr Leben als Autorin, Feministin und Lesbe. Entstanden ist ein literarisches Memoir.
Reflexionen auf der physischen, psychologischen und spirituellen Ebene: »Ein Riss im Stoff des Lebens« ist ein literarischer, manchmal sogar lyrischer Text. Mit ihrem letzten Buch spricht Verena Stefan LeserInnen an, die selbst vom Krebs betroffen sind oder andere unterstützen möchten, die mit der Krankheit leben müssen. Sie nimmt auch die sozialen, politischen und philosophischen Komponenten der Erkrankung in den Blick.
  • Erscheinungstag: 15.03.2021
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312012077
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Ich verstand nicht mehr, was vor sich ging, und wie das, was vor sich ging, mit mir zu tun hatte, und ob ich es noch mein Leben nennen konnte.

Dionne Brand

Du, Krebs

Du bist es also, Krebs. Du bist immer noch da. Du willst fressen. Du bist nicht nur hungrig, du bist gefräßig. Du suchst dir einen Wirtskörper, von dem du dich nährst, einen warmen, lebendigen Körper. Genauer gesagt meinen Körper. Du bist nicht etwas oder jemand, der von außen an mir nagt. Du bist kein Körper, du brauchst einen Körper. Dein Angriff kommt von innen.

Diese überwältigende Tatsachenlage ist schwer zu schlucken. Dabei wollte ich sie nie schlucken. Sprache ist verräterisch.

Ich schreibe das hier im November 2016. Die Welt, in der wir leben, wird von skrupellosen, gierigen, gefräßigen Staatsmännern und -frauen beherrscht, die nichts anderes im Sinn zu haben scheinen, als sich Mutter Erde und das Leben auf ihr einzuverleiben und zu vernichten.

2002 erhielt ich die Diagnose Brustkrebs. Vierzehn Jahre Leben mit Krebs und seinen Tatsachen, verborgenen Tatsachen, Behandlungen. Mittlerweile bin ich Expertin auf dem Gebiet. Je besser ich die verschiedenen Phasen der Krankheit und der herkömmlichen Behandlungsmethoden verstehe, desto besser weiß ich auch, dass Patientinnen und die Menschen, die sie begleiten, viel Übung brauchen, um mit dem fertigzuwerden, was ihnen die Schulmedizin sagt, und welche alternativen Ansätze und spirituellen Heilmethoden noch hinzugezogen werden sollen.

Auf Deutsch sprechen wir bei Metastasierung interessanterweise von einer »Tochtergeschwulst« – das muss wohl bedeuten, dass der ursprüngliche Tumor eine Mutter ist. Das würde heißen, dass Krebs im Allgemeinen als weiblich angesehen wird. Entstammt diese Sichtweise einer Fruchtbarkeits-Idee? Die Primär-Mutter-Geschwulst wird als fruchtbar angesehen, weil sie viele Töchter gebiert. Wird sie als renitentes weibliches Wesen für ihr unkontrolliertes Zellwachstum verurteilt?

Metastasierter Brustkrebs hat meine Lunge, Leber, Risse, Spalten und Brüche in meiner Wirbelsäule und mein Gehirn besiedelt.

Krebs braucht einen Körper, von dem er sich nähren kann. Dieser Körper hat Geschichten zu erzählen.

Krebs. Auf Deutsch bezeichnen wir mit diesem Wort auch Krustentiere. Für mich klingt es noch schrecklicher als cancer. Im Berner Dialekt meiner Mutter klingt es noch fürchterlicher: Chräbs. Das Wort ist befrachtet mit Erinnerungen an den Darmkrebs meiner Großmutter mütterlicherseits und das Lymphom meiner Mutter. Im Verlauf einer Krankheit entfalten sich Geschichten in Muskeln, Knochen, Faszien, Blutgefäßen, Herz, in Gehirn und Organen, auf der Hautoberfläche, auf inwendigen Geweben, auf Armen und Beinen, in Gelenken, Sehnen, Zehen und Fingern.

Diese Körpergeschichten entfalten sich in linearer Zeit, in konkreten Körperteilen. Etwas kann kaputtgehen, außer Kontrolle geraten, sich zerdehnen, verfärben, bluten oder verbrennen.

Dem folgten Schmerz, ein Pflaster, Pusten, ein Termin mit einer Krankenschwester, einem Heiler, einer Ärztin, die Einwilligung in diese oder jene Behandlung und dann schließlich Besserung und Genesung oder auch nicht.

Man will es hinter sich bringen, die Störung loswerden, zum Alltag zurückkehren, seine Kräfte wiedergewinnen.

Im langen Verlauf der medizinischen Behandlungen bewahrt der Körper eine Menge verschiedener Erinnerungen: an die Folgeerscheinungen der Eingriffe, Verständnisse oder Missverständnisse im Gespräch mit den Ärzten, an das Gefühl, mit seinem Bedürfnis nach Unterstützung und Fürsorge ernstgenommen oder im Gegenteil missachtet, verletzt, unmenschlich oder ungerecht behandelt zu werden.

Parallel zur körperlichen Ebene gehen noch andere Geschichten vor sich. Auf energetischer Ebene ist man vielleicht bereit, Neues aufzunehmen.

Jemand dreht sich zu dir um, sieht dir in die Augen und sagt: Ich habe eine deutsche Osteopathin kennengelernt, ich mache Qi Gong bei X oder Y, ich kennen jemanden, der sich selbst von Knochenkrebs geheilt hat, es gibt eine Gruppe von Heilern, die sich jede Woche treffen und medizinisches Qi Gong und andere Heiltechniken praktizieren. Eure Blicke treffen sich. Ein Lächeln, und in dem Lächeln liegt der Anfang einer neuen Körpergeschichte.

Um welche Methode oder welchen Ansatz es im Einzelnen geht, spielt dabei keine Rolle. Sobald du eine Heilmethode findest, die für dich am besten geeignet ist, die wirklich auf deine Bedürfnisse eingeht und zu deiner derzeitigen Aufnahmefähigkeit passt, wird sich energetisch etwas ändern, wenn du dich für diese Technik oder Methode öffnest. In diesem Augenblick wird sie dir guttun und dir helfen, weiterzukommen und den nächsten heilsamen Schritt zu machen.

Mit dreizehn erkrankte ich an einem rheumatischen Fieber, von dem mein Herz angegriffen wurde. Zwei Monate lang musste ich zu Hause das Bett hüten. Als ich wieder mit dem Klavierunterricht weitermachen konnte, schlug mein Klavierlehrer vor, ich solle Unterricht bei seiner Frau nehmen. Sie war Zen-Buddhistin und bot eine Mischung aus Körperarbeit, Massage, Atmen und Meditation im Sitzen, Stehen und Gehen an. In ihr lernte ich meine zweite spirituelle Mentorin kennen; der erste war mein Klavierlehrer. Das war im Jahr 1961.

In der oben bereits erwähnten Gruppe von Heilerinnen und Heilern sagte jemand irgendwann »EFT« und »Klopfen«. Ich hatte keine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Ein paar Monate später erwähnte ein Bekannter, er habe an einem EFT-Workshop in Montreal teilgenommen. Diesmal machte es Klick. Ich begann mit EFT (Emotional Freedom Technique). Endlich nahm alles eine klare Gestalt an. Die Grundlage war durch das Schreiben und die Energiearbeit, die ich im Laufe der letzten fünfzig Jahre mit Unterbrechungen immer wieder gemacht hatte, gelegt worden.

Ein kurzer Blick auf die Tatsachen

Im Sommer 2002 wurden ein Tumor in meiner linken Brust und vierzehn Lymphknoten entfernt. Vier davon waren befallen. Ich machte drei Runden Chemotherapie, verweigerte die Bestrahlung, schluckte aber die Anti-Östrogentabletten.

2006. Vier Jahre später war der Brustkrebs wieder da, ein winziger, wenige Millimeter kleiner Tumor. Er wuchs in der Narbe meiner ersten Operation. Ich ließ ihn entfernen und entschied mich wieder gegen die empfohlene Strahlentherapie.

Eine Computertomografie in jenem Sommer zeigte Knötchen in beiden Lungenflügeln.

Bei jeder neuen Hiobsbotschaft durchlebte ich den Schock der ersten Diagnose erneut, dann verdrängte ich das Ganze und machte mit meinem gewohnten Leben weiter: Schreiben, einen anderen Körper, einen Text, erschaffen.

Die Onkologin riet zu einer Biopsie oder noch besser einer Operation, um herauszufinden, ob die Lungenknötchen Brustkrebsmetastasen waren.

Ich weigerte mich. Ich war überzeugt, keinen weiteren Krebs im Körper zu haben. Ich wollte nicht noch eine Operation mit Vollnarkose und neuem Narbengewebe. Stattdessen ging ich in die Lukasklinik in der Schweiz und unterzog mich einer aus der anthroposophischen Medizin stammenden Mistelbehandlung.

Auf Computertomographien in den folgenden Jahren war zu sehen, dass die Knötchen in beiden Lungenflügeln zwar außerordentlich langsam, aber dennoch beständig wuchsen. Zu diesem Zeitpunkt war mir bekannt, dass Brustkrebs streuen und Lunge, Leber und Knochen befallen kann. Ich hatte herausgefunden, dass die afroamerikanische, lesbische Dichterin Audre Lorde dank Misteltherapie trotz Lebermetastasen noch zehn Jahre weitergelebt hatte. Von ihren Onkologen war sie aufgegeben worden.

Ab 2006 wurde meine Krankheit aufgrund der Tochtergeschwülste in der Lunge als »Krebs mit Fernmetastasen« bezeichnet. Half es mir, dass ich von dieser Klassifikation nichts ahnte und deswegen auch nicht so darüber dachte? Wahrscheinlich. Zwischen 2006 und 2012 schrieb und veröffentlichte ich zwei Bücher. Ich machte weiter mit den Mistelinjektionen.

2012 verspürte ich ungewohnte Schmerzen im Rücken. Mit einem Mal tat mir der Rücken nicht nur bei der Gartenarbeit weh, sondern auch, wenn ich mich nachts im Bett umdrehte. Der Knochen-Scan zeigte eine Metastase zwischen den Rückenwirbeln T4-T5, ungefähr zwischen den Schulterblättern, auf der Höhe des Herz-Chakras. Wieder ein Schock, der mich in die ungeliebte Realität katapultierte. Meine Wirbelsäule stand auf dem Spiel, meine Fähigkeit, in der Senkrechten zu bleiben, stark, unabhängig zu sein, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Onkologin empfahl Herceptin – Infusionen mit einem monoklonalen Antikörper, der die HER2-Rezeptoren bestimmter Tumore angreift.

Im Frühjahr 2013 wurden die Schmerzen in meiner Wirbelsäule schlimmer. Die Onkologin erklärte, die Schmerzen rührten daher, dass die Wirbel 40 Prozent an Höhe verloren hätten. Sie überwies mich an die Schmerzklinik für Krebskranke, wo ich einen Termin mit einem Chirurgen hatte, der eine Vertebroplastie durchführen würde. Bei diesem Eingriff werden die beschädigten Rückenwirbel mit heißem »Knochenzement« gefüllt und dadurch stabilisiert. Auch Osteoporose wird oft mit Vertebroplastie behandelt, um die Schmerzen zu lindern.

Bis März 2014, als ich nach Europa fliegen wollte, um meinen neuen Roman in der Schweiz und Deutschland vorzustellen, war ich schmerzfrei.

Bei einer Routineuntersuchung zeigte sich eine neue Metastase am untersten Halswirbel. Ich musste meine Lesereise absagen und stattdessen fünf Bestrahlungen über mich ergehen lassen.

Im Mai 2014 verschob sich meine Realität wieder komplett. Multiple Metastasen hatten sich zusammengetan und starrten mich mit ihren grotesken Grimassen zu Boden.

2012 – 2013 Rennen

Er rannte durch die Wüste; er rannte durch die Berge; er rannte durch die Salzpfannen; er rannte durch die Riedbänke; er rannte durch den Eukalyptus; er rannte durch den Spinifex; er rannte, bis seine Vorderfüße wehtaten.

Er musste!

Rudyard Kipling Das Lied des alten Kängurumannes

 

Gestern habe ich es wieder getan. Ich musste. Morgens riefen mich die Baumwipfel. Ihre Äste schwanken hoch über den Häusern, auf die ich aus meinem Fenster blicke. Sie rufen mich: Komm raus! Wir bieten dir Rinde, wir bieten dir Blätter, Wind und zwischen den Zweigen blauen Himmel.

Ich verlasse das Haus.

Vor etlichen Jahren ging meine Freundin Andrée jeden Morgen im Park joggen. Auch ihr japanischer Nachbar lief durch den Park, aber er bewegte sich nicht wie ein Läufer. Er machte alle möglichen Bewegungen, unter denen sie sich nichts vorstellen konnte. Wochenlang lief sie ihm lautlos hinterher und versuchte herauszufinden, was er da wohl trieb. Eines Morgens drehte er sich um und sagte: »Es geht ums Atmen, verstehen Sie?«

Andrée ist Tänzerin und unterrichtet Körperarbeit. Sie sprach mich an, ob wir nicht vielleicht zusammen ein Workshopkonzept entwickeln wollten, mit gemeinsamen Schreib- und Bewegungsübungen. Wir nannten das Ganze MoveWrite! und begannen mit den ersten Sessions, anfangs zu zweit, dann zu viert.

Das Motto, das ich der ersten Session voranstellte, war das oben erwähnte Rudyard-Kipling-Zitat über das Rennen. Die hier zum Ausdruck gebrachte Leidenschaft, wenn nicht sogar Besessenheit vom Laufen sprach mich sehr an. Als kleines Mädchen schoss ich beim Kurzstreckenlauf wie ein Pfeil los. Ich war eine echte Sprinterin und liebte es, über die Aschenbahn zu fliegen. Ich liebte es, in der kürzest möglichen Zeit alles zu geben und zu spüren, wie mich das Leben herrlich heiß und funkensprühend durchströmte. Das Leben hatte die Form einer Glitzerkugel – wenn ich rannte, war ich diese Kugel. Schnell zu sein, war für mich das Größte.

Dauerlauf, Durchhalten, Disziplin hingegen fand ich schrecklich.

Beim Sprinten weitete sich die Welt in alle Richtungen. Lunge, Beine und Arme, Herz und Atem wurden eins, wenn ich mit einer Mischung aus überschäumender Energie und Leidenschaft dahinraste. Ich gab alles, und bekam genauso viel, angereichert mit Euphorie und Schweiß, zurück.

Die Lust am Rennen war mir mein Leben lang eine treue Begleiterin. Mit dem allmählichen Verfall meines Körpers wurde das Rennen für mich unmöglich, ja sogar gefährlich. Je mehr der Körper sich auflöste, desto größer wurde die vom Körpergedächtnis genährte Sehnsucht nach dem Rennen. Und irgendwann verwandelte sich das Rennen in Text.

Ich blicke hinauf in die alten Pappeln. Im Winter lassen sie zwischen ihren nackten Ästen mehr Platz für den Himmel. Sie sind so groß, dass es mir im Nacken wehtut, an ihnen hochzuschauen.

»Meine Lunge ist keine Aschenbahn mehr«, sage ich zu ihnen. An sonnigen Wintertagen gehe ich mittags in den Park.

»Wie gern würde ich rennen, bis es in meiner Lunge brennt. Das Herz setzt die Grenzen, die Muskeln und Lunge auch. Ich wäre das ganze Zeug darin so gerne los. Wenn ich nur wie ein Kaninchen durch die Müllhaufen hopsen könnte.«

Die Bäume hören mir zu.

»Es war einmal eine Dame respektierlichen Alters, die geriet an einen wildfremden Ort«, sage ich, während ich eine Pappel umrunde, mich mit dem Rücken daran reibe oder die Hände an die raue Rinde lege.

Vor einem Jahr musste ich ein paar Nächte im Krankenhaus verbringen und wurde in die Abteilung für Patienten mit kurzer Verweildauer gesteckt. In dem Zimmer, in dem ich lag, befanden sich vier Betten, und vier in dem dahinter. Es gab keine Tür zwischen dem Zimmer und der Schwesternstation.

In dem Bett rechts neben mir lag eine alte Dame.

»Fünfundneunzig!«, antwortete sie jedes Mal stolz, wenn ihr Gedächtnis und ihre Orientierungsfähigkeit getestet wurden.

»Wann haben Sie Geburtstag?«

»Im Januar.«

»Savez-vous dans quel pays vous êtes? Quelle province? Quelle année? Votre date de naissance?«

»Le vingt-et-un janvier, c’est bientôt! J’aurai quatre-vingt-quinze ans! Warum muss ich das alles beantworten? Wenn ich nur noch zwei Tage habe.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich bin fast hundert! Und ich sterbe bald, in zwei Tagen.«

»Zahlen beeindrucken mich überhaupt nicht, Madam«, erwiderte die Sozialarbeiterin. »Viele Leute werden hundert, das ist gar nicht schwer. Welcher Feiertag ist demnächst?«

»Weihnachten!«, antwortete die alte Dame, die diese Frage offensichtlich als Beleidigung empfand.

»In welcher Stadt sind wir? Wissen Sie, wo Sie hier sind?« Die Sozialarbeiterin blickte auf ihre Liste, den gezückten Bleistift in der Hand, um die nächste Frage abzuhaken.

»Im Gefängnis«, antwortete die alte Dame, »ich bin im Gefängnis.«

»Nein, wir befinden uns hier im Krankenhaus«, wurde sie von der Sozialarbeiterin verbessert. »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

»Ich will nach Hause.«

»Sie sind gestürzt«, erklärte die Sozialarbeiterin. »Wissen Sie das nicht mehr?«

»Ich will nach Hause.«

»Wissen Sie, in welchem Stockwerk wir uns hier befinden?«

Die Sozialarbeiterin ging eine Frage nach der anderen auf ihrem Bogen durch.

»Ich bin im Gefängnis«, wiederholte die alte Dame.

»Nein, das sind Sie nicht, Sie sind im Krankenhaus.«

»Aber ich kann nicht nach Hause gehen, ich werde hier festgehalten!« Und erzürnt: »Mir geht es nicht gut! Ich bin verrückt! Ich kann nicht nach Hause!«

Ich wusste auch nicht, in welchem Stockwerk wir uns befanden. Würden sie mich für immer hierbehalten oder rausschmeißen, wenn ich die Frage nicht beantworten konnte?

Am Nachmittag kam ihr Mann zu Besuch, ein freundlicher Herr ihres Alters, um ihr das Neueste aus der Familie zu berichten.

»Die Kinder kommen zu Weihnachten; sie wollen in Mont-Tremblant Skifahren gehen. Du weißt ja noch, wer Cecil ist, stimmt’s?«

»Natürlich weiß ich, wer Cecil ist«, antwortete sie. »Wo ist er?«

»Weihnachten kommt er uns besuchen«, wiederholte ihr Mann. So unterhielten sich die beiden noch eine ganze Weile in einem freundlichen und vertrauten Tonfall. Im Gespräch mit ihrem Mann schien ihr Kopf klarer zu sein, weil Stimme und Körpersprache vertrautes Gelände signalisierten.

Eine Physiotherapeutin erschien, um die Mobilität der alten Dame zu testen. Selbst mit Rollator konnte sie nur sehr schlecht gehen. Sie schwankte auf schrecklich dünnen Beinen und schaffte es kaum, einen Fuß gefahrlos vor den anderen zu setzen. Wie lang lag sie schon im Bett, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ein wenig mit ihr herumzulaufen? Und nun musste sie auf einmal den Test bestehen, der darüber entschied, ob sie heimkehren durfte oder nicht.

»Ich will nach Hause!«, verkündete sie jedem, der in ihre Nähe kam.

»Sie können aber nicht nach Hause!«, wurde sie von einem Arzt angeraunzt, der an ihrem Bett vorbeiging. »Sie kommen auf die Geriatrie!« Das alles im Gehen, ohne sie dabei auch nur anzusehen.

Ich zog einen Stuhl an ihr Bett und setzte mich zu ihr. Ihre Augen waren verschleiert wie bei einem Wesen, dessen wissender Blick vor langer Zeit hinter einer trüben Schicht verschwunden war.

Mit einem Mal entlud sich eine Wut auf mich, die sich lange in ihr angestaut zu haben schien:

»Es ist genau wie beim letzten Mal! Du warst nicht da, und jetzt machst du es schon wieder!«, platzte es aus ihr heraus. »Du bist genau wie die anderen«, fügte sie nach einer Weile hinzu, »du erzählst mir immer die gleichen Sachen.«

»Das stimmt überhaupt nicht!«, gab ich zurück. »Ich verstehe sehr gut, warum Sie nach Hause wollen. Es ist nicht schön hier im Krankenhaus.«

Sie dachte eine Weile über das von mir Gesagte nach und gab dann zum Besten: »Warum ertragen wir diese miserable Situation, wenn wir doch etwas daran ändern könnten?«

Mitten in der Nacht sagte sie auf einmal laut und deutlich: »Mais avez-vous contesté ou rejeté vos parentes?«

Am nächsten Morgen wurde sie in die Geriatrie verlegt. Niemand hatte ihr vorher Bescheid gesagt, nicht einmal ihr Mann.

Zu meiner Linken liegt ein junger Haitianer, mit dem ich mir ein Telefon teilen muss. Wenn ich nicht die Vorhänge auf allen Seiten zuziehe, was ich als sehr bedrückend empfinde, kann ich ihn von meinem Bett aus sehen. Er telefoniert die ganze Zeit, läuft mit offen hängendem Krankenhauskittel durchs Zimmer und stellt seinen nur halb bedeckten Unterleib zur Schau, wenn er auf dem Bett liegt. Der schwarze Pfleger ermahnt ihn immer wieder: »Du musst dich ordentlich bedecken!« Der Haitianer tut so, als würde er gehorchen, aber kurz darauf liegt er wieder halbnackt da. Wenn er auf die Toilette geht, lässt er die Tür offen. Er verströmt eine beunruhigend provozierende, rebellische Energie. Ich benutze lieber das zweite Badezimmer auf der anderen Seite des Zimmers.

Ich muss an die vielen Male zwischen 1999 und 2002 denken, bei denen ich Autorin und Malerin Mary Meigs nach ihrem Schlaganfall ins Krankenhaus begleitet habe. Als ich herausfand, dass es in Montreal üblich ist, ein und dasselbe Zimmer mit Männern und Frauen zu belegen, war ich entsetzt. Welcher Wahnwitzige ist nur auf die Idee gekommen, dass das etwas mit Fortschritt und Gleichberechtigung zu tun haben könnte? Ich weiß noch genau, wie leidenschaftlich ich damals hoffte, dass ich niemals in die Situation geraten würde, in einem solchen Krankenzimmer liegen zu müssen.

Marys Demut beeindruckte mich. Sie hätte ein Privatzimmer verlangen können, das Geld dafür hatte sie. Stattdessen lag sie in einem Vierbettzimmer, passte sich vollkommen an und ließ die Situation mit stoischer Geduld über sich ergehen. Eine der Patientinnen in ihrem Zimmer, eine übergewichtige Mittfünfzigerin, litt an schwerer Verstopfung. Als ich Mary einmal besuchen kam, wurde ich Zeugin, wie eine Krankenschwester ihr ein Zäpfchen in den After steckte. Die Patientin lag auf der Seite und klammerte sich verzweifelt an der Taille ihres Mannes fest.

Dann wurde sie von der Schwester und ihrem Mann auf die Toilette gehievt. Der Mann setzte sich auf ihr Bett und unterhielt sich durch die offene Toilettentür mit seiner Frau: »Es kommt bald raus, mach dir keine Sorgen, wart’ ab und hab’ Geduld, dann kommt es schon raus«, und immer so weiter, in einer grotesken, berührenden Beschwörung der Kräfte der Unterwelt.


Vierzehn Jahre später lande ich wegen einer bakteriellen Infektion selbst auf der Kurzzeitstation.

Am 17. Dezember 2012 fuhr ich von unserem Wochenendhaus nach Montreal. Am Morgen danach hatte ich einen Termin bei meiner Onkologin.

Eine Woche zuvor hatte ein Chirurg unterhalb meines rechten Schlüsselbeins einen Portkatheter eingesetzt. Über diesen Port wird ein Zugang zum Blutgefäßsystem hergestellt und die Chemotherapie verabreicht. Damit wird das Herumstochern in den Armvenen auf der Suche nach einer, die noch funktioniert, überflüssig. Das Risiko, dass eine Armvene birst, weil ein Tropfen hochgiftiger Chemikalien danebengegangen ist, wird vermieden.

Auf der Fahrt in die Stadt hatte ich schon einen unangenehmen Druck rund um den Port verspürt. Als ich bei mir zu Hause ankam, war klar, was mir der Druck zu sagen hatte: Die Haut rund um das Implantat war brüllend heiß und empfindlich gerötet.

Innerlich zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn ich an den Augenblick dachte, in dem der Chirurg den Port unter meiner Haut eingepflanzt hatte. Schon als ich den Mann zum ersten Mal sah, hatte ich ein ungutes Gefühl. Er grüßte niemanden und lächelte nicht. Er legte mir eine Einverständniserklärung hin, forderte mich zur Unterschrift auf und entfernte sich in Richtung Operationssaal. Unterwürfig eilten ihm die Schwestern und Assistenten hinterher. Während des Eingriffs stellte er eine Metallschale auf meinem Bauch ab und warf die benutzten Instrumente mit lautem Klirren hinein. Dann musste er eine Vene durchstoßen. Das tat weh.

»Hatten Sie Chemotherapie?«, fragte er. »Die Vene ist beschädigt.« Es klang vorwurfsvoll, als sei ich schuld daran, dass die Vene von den bisherigen Chemotherapien in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Ich antwortete hinter einem blauen Stück Papier, das mein Gesicht von allen anderen im Raum trennte. Eine Krankenschwester, die sich mir sogar mit Namen vorgestellt hatte, steckte den Kopf unter mein Papierzelt und witzelte: »Fast wie Wintercamping!«, um die angespannte Atmosphäre, die den Chirurgen umgab, ein wenig aufzulockern. Seine genervte Stimme erinnerte mich an den allerersten Onkologen, den ich vor zwölf Jahren gehabt hatte. »Haben Sie die Pille genommen?«, fragte er mich mit derselben vorwurfsvollen Stimme, als sei ich selbst Schuld daran, dass ich Brustkrebs bekommen hatte.

»Wie lang hält der Port?«, fragte ich.

»Der übersteht tausend Injektionen«, antwortete der Chirurg. Tausend Injektionen, das ist eine lange Zeit.

Zeit kann man auf viele verschiedene Arten messen. In einem Dokumentarfilm hatte ich gesehen, wie eine Inuitfrau singend über das Eis ging. Die Länge der Strophen sagte ihr, wie weit sie gekommen war. Bei einer Rate von zwei Infusionen pro Monat, vierundzwanzig im Jahr, würden sehr viele Jahre vergehen, bis tausend Injektionen voll waren.

Als der Chirurg mit dem Eingriff fertig war, riss er abrupt das blaue Papierlaken weg, und ich lag, abgesehen von Unterhose und Strümpfen, vor aller Augen nackt da. Ein langer Augenblick verging, bis jemand Mitleid mit mir hatte und mir einen Krankenhauskittel reichte, damit ich meine Blöße bedecken konnte. Der Chirurg hatte sich bereits abgewandt und war gegangen.

Ich war die Einzige, die sich schämte, aber nicht die Einzige, der die Situation peinlich war. Als ich in die Augen der um den Operationstisch Stehenden sah, alle in blauen Kitteln mit Kopfbedeckung und Mundschutz, spürte ich ein betretenes Schweigen. Hastig half mir eine Krankenschwester beim Aufstehen und instruierte mich, meinen rechten Arm in regelmäßigen Abständen über dem Kopf kreisen zu lassen.

Die Helferin, die mich zurück zur Umkleide brachte, wo ich mich wieder anziehen durfte, empfahl mir, zwei Tylenol zu schlucken, wenn die Betäubung nachließ.


Als ich am 17. Dezember 2012 die Entzündung rund um den Port sah, war mir klar, dass ich an diesem Montagnachmittag um fünfzehn Uhr keine andere Wahl als die Krankenhaus-Ambulanz hatte.

Ich rief Lise an. Seit ich weggefahren war, hatte es unaufhörlich geschneit; es sollte noch die ganze Nacht weiterschneien, sagte Lise. Sie würde warten müssen, bis das Schneeräumfahrzeug gekommen war und den Schnee aus der Einfahrt geschoben hatte.


Die erste Nacht verbrachte ich in der Notaufnahme auf einer Liege. Um elf Uhr abends war klar, dass es sich um eine bakterielle Infektion handelte und ich über Nacht und bis zum nächsten Tag und möglicherweise noch länger bleiben musste. Die Cafeteria war geschlossen; zum Glück kamen Ginette und Renée und brachten mir etwas zu essen. Vor zehn Jahren hatte ich mit gerade diagnostiziertem Brustkrebs zitternd bei ihnen in der Montrealer Küche gesessen. Es fiel mir leicht, ihre Hilfe anzunehmen. Damals wusste ich noch nicht, dass die beiden immer für alle Verwandten und Freundinnen da waren. In den letzten zehn Jahren haben sie drei enge Freundinnen bis zum Krebstod begleitet.

Als ich die Nacht auf einer Liege in der Notaufnahme verbringen musste, über mir der laufende Fernseher, fand ich Trost im Gedanken an die hohen Pappeln im Park. Wie gern wäre ich jetzt dort spazieren gegangen und hätte meine Entzündung von Schnee und kalter Luft kühlen lassen.

Am zweiten Tag im Krankenhaus rollten mich Pfleger von einem Stockwerk zum nächsten, überall wurden Untersuchungen durchgeführt. Bei einer Untersuchung wurde eine Flüssigkeitsprobe direkt aus dem Port entnommen.

Engel erscheinen in vielerlei Gestalt.

Der Radiologe, von dem die Untersuchung durchgeführt wurde, sah meinen Vornamen und fragte, woher ich stamme.

Schweiz, sagte ich, und er setzte das Gespräch umgehend auf Schwyzerdütsch fort; er selbst kam aus der Stadt Solothurn, wo jedes Jahr ein Literaturfestival stattfindet. Als ich in die geruhsame Melodie meiner Muttersprache wechselte, ging mein Atem sofort tiefer und entspannter. Die Zeit verging in einem gemächlicheren Fluss. Aufgrund unserer gemeinsamen Herkunft verstanden wir uns, als ich mich über die unhaltbaren Zustände in der überfüllten Notaufnahme beschwerte, die langen Wartezeiten, die verdreckten Toiletten mit den übervollen Mülleimern und den Urinspritzern auf der Klobrille.

»Sie haben Recht«, erwiderte er. »Ab und an gehe ich hin und sage: Hört zu, Leute, so geht das nicht. Andererseits weiß ich natürlich auch, dass die Krankenschwestern und Ärzte sehr lange Schichten haben und unter schwierigen Umständen arbeiten. Natürlich würde das in der Schweiz ganz anders aussehen, und man müsste auch nicht zwölf Stunden oder mehr warten, bis man drankommt. Andererseits zahlt meine Mutter zum Beispiel über sechshundert Franken pro Monat für ihre Krankenversicherung. Und hier ist alles kostenlos, und die Leute erscheinen in der Notaufnahme, als ob sie zum Walmart gehen würden.«

Die Onkologin organisierte ein echtes Bett auf der Kurzzeitstation für mich. Ich schlief wie ein Stein. Weil ich kein Halstuch dabeihatte, bedeckte ich die Augen mit einer blauen Schlafmaske. Am Morgen erwachte ich von der liebevollen Stimme einer großen Schwarzen, die auf mich wie eine indigene Australierin wirkte. Sie scherzte mit mir, während sie Blutdruck und Temperatur maß.

»Die ganze Nacht lang habe ich mich gefragt, was für ein Gesicht sich wohl hinter dieser Maske versteckt.« Diesen Singsang wiederholte sie immer wieder, mehr zu sich selbst als zu mir, als sänge sie mir ein Aufwachlied.

Lise war komplett eingeschneit. Fast ein Meter Schnee war gefallen, und es schneite immer noch. Der Schneepflug würde erst kommen, wenn der Schneesturm vorbei war.


Mir wurden zwei Mal täglich intravenös Antibiotika verabreicht. Die Entzündung ging zurück, aber nur sehr langsam. Die Haut rund um den Port sah krank, deformiert und rot aus. Die Onkologin bestand darauf, dass die angesetzte Chemotherapie trotz meiner misslichen Lage durchgeführt wurde. Als die Schwestern die Entzündung sahen, sagte eine von ihnen: »Da wird der Chirurg aber enttäuscht sein.«

»Was meinen Sie, was für eine Enttäuschung das für mich ist!«, erwiderte ich fassungslos. Ich wollte, dass der Port herausgenommen wurde, obwohl mir davor graute, den Chirurgen wiederzusehen.

Wir trafen in einem eiskalten Sprechzimmer aufeinander. Er hielt drei Schritte Abstand von mir und starrte aus sicherer Entfernung mit verschränkten Armen auf die entzündete Stelle. Er begrüßte mich nicht. Er sah mir nicht ins Gesicht. Das pochende Rot des geschwollenen Gewebes schrie durch den Raum. Sich schon abwendend sagte er: »Der muss raus« und ging davon.

Ich musste ihm zustimmen. Nichts wollte ich lieber, als die kleine, runde Irritation unter meiner Haut entfernen zu lassen. Ein Pfleger schob mich im Rollstuhl in den Teil des Krankenhauses, in dem auch nachmittags noch Eingriffe durchgeführt wurden, und dort in ein kleines Sprechzimmer.

»Springen Sie auf den Tisch«, sagte der Chirurg.

Ich weiß noch, dass ich verzweifelt die Hand des zu meiner Linken stehenden Pflegers drückte. Ich muss ihm während der gesamten Prozedur die Fingernägel in den Handteller gebohrt haben.

An mehr erinnere ich mich nicht, nur an Wut, an heiße Tränen der Wut. Wahrscheinlich war es das gleiche Spiel wie immer: orangefarbenes Desinfektionsmittel rund um den Port, örtliche Betäubung durch Vereisung, ein Schnitt.

Ewig, wie es schien, wurde an mir herumgerissen. Kling klang klong!, knallte das Besteck in die Schale auf meinem Bauch. Und damit war der Arzt verschwunden.

Der Pfleger half mir auf und schob mich zur Anmeldung. Ich bat die Sekretärin, auf meiner Krankenstation anzurufen, damit ein anderer Helfer kam und mich dorthin zurückbrachte. Zum Laufen war es zu weit, und an den Weg erinnerte ich mich auch nicht mehr. Wo war ich?

In Tränen aufgelöst war ich, ich konnte nichts dagegen tun. Mir war klar, dass mein Verhalten inakzeptabel war. Zähne zusammenbeißen und keine Verletzlichkeit zeigen. Seine Rolle spielen. So lief das hier. Ich benahm mich wie jemand aus den vieux pays, wie eine echte Europäerin. Zu meiner Verwunderung sah ich meine Onkologin hinter einem anderen Empfangsschalter. Sie warf mir einen beunruhigten Blick aus dem Augenwinkel zu. Der Chirurg ging an ihr vorbei, sie lachten und plauderten angeregt miteinander.

Meine Ärztin kam nicht zu mir herüber und fragte, wie es mir ging. Ich warf einen Blick auf die Klientel dieser Klinik. Alle waren elegant gekleidet, sorgfältig geschminkt und sahen aus wie Privatpatienten. Un air blasé, abweisend, gleichgültig. Hier wurde nicht geweint, o nein. Kein Mitleid. Die Sekretärin war offensichtlich verärgert, als ich sie zum zweiten Mal bat, auf meiner Station anzurufen. »Die haben niemanden«, schnappte sie. Nach einer weiteren halben Stunde Wartezeit benutzte ich den Rollstuhl als Gehhilfe und bat einen Helfer, mir den Weg zu beschreiben. Vom Chirurgen keine Spur. Meine Onkologin verließ ihren Tisch, kam zu mir und sagte, es tue ihr leid, dass es bei mir mit dem Port nicht geklappt habe.

Ich schrieb keinen Protestbrief an den Vertrauensbeauftragten, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte, und machte auch keinen Termin mit dem Ombudsmann. Beim nächsten Termin mit meiner Onkologin erwähnte ich, dass ich das vorhatte. Sie hielt die Luft an und musterte mich schockiert. Ich wartete. Sie fragte nicht: »Was ist denn eigentlich vorgefallen?«

Ist das Schlimmste erst einmal überstanden, sorgt man dafür, dass du ständig beschäftigt bist, mit der Weiterbehandlung oder den Nebenwirkungen, du bist müde, um nicht zu sagen erschöpft, und du willst zu deinem wahren Leben zurückkehren und dich mit inspirierenden Menschen treffen. Du willst endlich den Faden wiederaufnehmen und da weiterschreiben, wo du unterbrochen wurdest. Du schreibst darüber, wie lang dir diese deprimierende Erfahrung noch in den Knochen gesessen hat.

Am Donnerstag kam Lise endlich aus der zugeschneiten Einfahrt heraus und konnte mich besuchen. Sie saß an meinem Krankenbett, regte sich fürchterlich auf und fühlte sich machtlos. Wenigstens konnten wir uns gegenseitig trösten. Bis Samstag musste ich noch bleiben.

Am Vortag hatte ich die Erlaubnis bekommen, kurz zu entfliehen und ein paar Sachen von daheim zu holen. In meiner Wohnung war das Licht an und die Heizung voll aufgedreht. Ich packte ein paar Kleider zusammen, checkte meine Mail, transferierte das Manuskript meines Romans auf den kleinen Laptop, brachte den stinkenden Müll nach unten und ging zurück zur Bushaltestelle. Ich war froh, ein bisschen an der frischen Luft zu sein.

Den ganzen Abend lang konnte ich meinen Text überarbeiten und fühlte mich nicht mehr ganz so verloren.

Ich arbeitete immer noch an dem Roman über meinen Großvater. Während des Ersten Weltkriegs hatte er als Stabsarzt in einem Lazarett in Zagreb, Kroatien, gedient. Ich recherchierte den Stand des medizinischen Wissens zur damaligen Zeit. Vorrangig war die aseptische Wundbehandlung, lernte ich aus diversen Berichten von Feldlazaretten an der Front.


Ich drehte das Gesicht Richtung rechter Schulter und blickte zum ersten Mal nach unten, als die Krankenschwester den Verband abnahm. Unter meinem rechten Schlüsselbein klaffte eine offene Wunde. Sie sah aus wie das Loch einer Gewehrkugel. Mit einer sterilen Schere zog die Schwester endlos lange Stücke Verbandsmull heraus und schob danach dieselbe Menge wieder herein. Mir drehte sich der Magen um. Ich hatte noch nie etwas, das wie eine Schussverletzung aussah, aus nächster Nähe betrachtet, und erst recht nicht in meinem eigenen Körper, auch nicht in meinem früheren Beruf als Krankengymnastin. Die Wunde sollte sich langsam von innen heraus selbstständig schließen. Das würde ungefähr vier Wochen dauern, erklärte mir die Schwester.

Nach meiner Entlassung musste der Verband täglich gewechselt werden. Damals konnte ich noch schnell gehen, sogar laufen. Damit meine ich nicht rennen wie eine Läuferin. Meine Arme und Beine wagten die notwendigen Bewegungen und schossen aus meinem Rumpf wie wild wuchernde Zweige – als würden sie Wasser durchpflügen.

Der Januar 2013 war bitter kalt. Morgens waren es zwanzig bis fünfundzwanzig Grad unter null. Die auf die Straße geworfenen Weihnachtsbäume rollten im eisigen Wind, wenn ich die zwanzig Minuten von meiner Wohnung zur Ambulanz an der Avenue Mt-Royal, Ecke St-Laurent, ging. Obwohl die gleißende Wintersonne auf mich herabschien, ließ ich mir immer ein heißes Bad ein und kroch dann ins Bett, sobald ich zu Hause war.

Die Krankenschwestern in der Ambulanz hatten jedes Mal ein Lächeln für mich und versorgten die Wunde ausgezeichnet; genau wie im Krankenhaus sind sie die tragende Säule und die Seele der Krankenversorgung. Sie waren es gewöhnt, sich auf ihr Wissen und ihre Erfahrung zu verlassen. Vielen von ihnen hatten schon dans le grand Nord oder weit weg in Afrika gearbeitet.

Voller Staunen sah ich mit an, wie meine Wunde tatsächlich verheilte. Tag um Tag wurden die Mullstücke kürzer. Mein Körper wusste, was zu tun war. Der Tag kam, an dem die Ränder der bisherigen Wunde sanft aufeinandertrafen und sich schlossen. Une trés belle plaie, lobte mich eine Schwester. Im Lauf seines Lebens bekommt man die überraschendsten Komplimente.

Doch wie unglaublich gern würde ich noch einmal lossprinten! Wie ich mir wünschte, in meiner Lunge wäre noch einmal so viel Platz.

In meinem Körper ist die Erinnerung ans Rennen noch lebendig. Er sehnt sich danach, unter Einsatz aller Muskeln in vollem Tempo über eine Wiese zu rennen. Sonnenlicht tröpfelt zwischen Blättern hindurch; es kündet mir von blauem Himmel und Wasserflächen. Zwischen den Bäumen beginne ich damit, mit Armen und Beinen in alle möglichen Richtungen zu rudern; beim Gehen recke und dehne ich mich, beuge mich, flattere mit den Armen.

Warum diese miserable Situation ertragen, wenn wir doch etwas daran ändern könnten?

Ich wünschte, wir könnten zwischen Menschen und Vierbeinern herumschwimmen wie die Fische. Es gäbe kein Zischen, Knurren oder Bellen, kein Wort, kein Lächeln. Schwimmend bewegten wir uns im selben Element, als wären wir Fische. Es gäbe nur Farben und Sonnenstrahlen, die durch die dünne Wasserschicht eindringen, von der unsere Welten getrennt werden. Die Fische mit ihren leuchtenden Farben schwimmen ganz nah heran, voller Neugier, so stelle ich es mir zumindest vor, sie schwimmen im Kreis um uns herum, neben unserem Körper her. Fische müssen sich bewegen, damit das Wasser durch ihre Kiemen strömt und sie mit Sauerstoff versorgt. Sie müssen sich bewegen, sonst sterben sie.

Eines Tages wird jemand anfangen, mir im Park zu folgen, weil er herausfinden will, was ich für seltsame Bewegungen mache. Eines Morgens werde ich mich umdrehen und sagen: »Am Wichtigsten ist das, wonach der Körper sich sehnt, verstehen Sie?«

2014 Eindrücke

As I was moving ahead,

occasionally I saw brief glimpses of beauty.

Jonas Mekas

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