×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Eine Fingerkuppe Freiheit«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Eine Fingerkuppe Freiheit« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Eine Fingerkuppe Freiheit

Als Buch hier erhältlich:

"… der Junge wird Euch mit seinen sieben Jahren die Fantasie lehren wie ein Michelangelo die Farbe…"

Paris 1821, am Institut National des Jeunes Aveugles, Frankreichs nationaler Blindenanstalt: Es ist die „Nachtschrift“ eines gewissen Charles Barbier, die den blinden Louis Braille in tiefes Grübeln versetzt. Fasziniert streicht der Junge mit den Fingerkuppen über die erhabenen Zeichen und stellt sich die eine Frage: Ist diese Schrift, die ursprünglich als Geheimschrift für das Militär ersonnen war, etwa das Vehikel in die Freiheit? Und siehe da – nach anfänglichen Schwierigkeiten gelangt er zu sechs einfachen erhabenen Punkten. Sie sind – so wird ihm bewusst – der Schlüssel zu all dem Wissen, das in den Büchern der Sehenden schlummert und nach dem er unendlich dürstet.

Ein atmosphärischer Roman über das Leben eines beeindruckenden Mannes, dessen Erfindung so vielen die Welt eröffnet: Louis Braille.


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005521

Leseprobe

Für Evi

KAPITEL 1

Der Psalm des Palluy

»Ihr müsst den Jungen in Eure Klasse aufnehmen, Monsieur Bécheret. Ich verbürge mich für den kleinen Kerl, hört Ihr?« Im Hintergrund lärmte es. Gäule wieherten, Pferdegeschirre rasselten, Wagenräder knarzten durch die engen Gassen. »Wir dürfen es nicht zulassen, dass das Kind wie ein Stallhase stumpf dahinvegetiert.«

Abbé Palluy hatte am Rande der pfingsttäglichen Feierlichkeiten die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sich mit einem Stück Zwiebelkuchen still und leise dem Dorfschullehrer von der Seite genähert. Der junge Mann mit den dunkelbraunen Haaren und dem dreieckigen Gesicht war erst unlängst an die Schule berufen worden und saß unter den lichten Walnüssen. Antoine Bécheret schob das Weinglas, das vor ihm stand, an den Rand des Tisches, strich sich über das Wams und ließ sich nachschenken. Eine Pfeife klemmte zwischen seinen breiten Schneidezähnen. Er paffte ein gequetschtes »Bonjour« durch den blaugrauen Tabakdunst und erklärte Palluy segelohrig, dass er nichts gegen den jungen Braille habe, allein, es fehle ihm an der notwendigen Fantasie, wie Louis sich unter all den anderen Kindern zurechtfinden solle, woraufhin Jacques Palluy milde in sich hineinlächelte.

Der ehemalige Benediktinermönch war unter den Leuten für seine Geduld bekannt. Er hatte ein gütiges Wesen. Seine Seele glich einem Orgelpsalm. Ihn aus der Ruhe zu bringen war also nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, verkörperte der Besitzer dreier Bienenkörbe doch die Ruhe selbst. Er hatte sich etwas in den Kopf gesetzt, hatte einen Weg eingeschlagen und war von diesem Weg nicht mehr abzubringen. Wahrhaftig! Und so stand er also inmitten allen Getümmels gravitätisch, wie ein dickschädliger Ochse, vor Bécheret, mit beiden Hufen auf dem Boden der Schöpfung, und wippte mit dem bulligen Oberkörper im Takt der Musik, die hinter ihnen aufspielte. Vom allgegenwärtigen Summen des irdischen Daseins erfüllt, blickte Jacques Palluy salbungsvoll zur Seite und gluckste angesichts dessen, was sich seinen beiden Augenbällen darbot. Die bunte Ausgelassenheit, der Frohsinn seiner Gemeinde machte dem leidenschaftlichen Boule-Spieler Laune, und er fragte sich sanftmütig, wer von seinen Schäfchen nach dem Fest wohl zu ihm in den knarrenden Beichtstuhl stiege und sich, vom schlechten Gewissen geplagt, seiner Verfehlungen zu entledigen suchte.

Frauen und Mädchen drehten sich lustig in einer Quadrille. Röcke und Haarbänder flogen durch die laue Luft, Augen und Schuhe blitzten frevelhaft schön, und die Männer lachten breitbeinig, wie sie es immer taten, wenn sie beisammensaßen und die Spielkarten auf den Tisch warfen, eine Pik Zehn, einen König, das Ass, voilà, und der Sack war zugeschnürt. Ein kleines Mädchen lächelte ihm zu. Es war eine wahre Wonne. Palluy ging das Herz auf. Das ganze Dorf schien auf den Beinen. Der Abbé streckte seinen Nasenmuskel genießerisch aus. Ob ihn die Soutane von all den Verführungen an jenem Nachmittag im Mai 1816 abhielte? Wohl kaum! Er schaute sich um, blickte zu den Ständen und Buden, die, einem Rosenkranz gleich, aneinandergereiht standen und wo die Händler jetzt ihre Waren lautstark feilboten. Es roch nach Pomaden, Seifen und Puder, Würsten, geräuchertem Schinken, Pasteten, Bratäpfeln, den ersten frischen Kräutern und natürlich nach den typischen Käsen und Bries der Region. Man aß, man trank, man tauschte sich über den neuesten bescheidenen Tratsch aus dem bischöflichen Meaux aus, debattierte, politisierte, scherzte laut lachend miteinander und nahm ein gepflegtes Bad in der Menge. Niemand von den Anwesenden hätte an jenem Nachmittag vermutet, dass sich hier an diesem Punkt, in diesem unbedeutsamen Flecken namens Coupvray mit seinen 453 Seelen, 35 Kilometer östlich von Paris im Département Seine-et-Marne gelegen, die Weichen der Welt auf eigentümliche Weise stellen sollten, und zwar auf eine Art, dass es die Menschen später, trotz und gerade wegen ihrer sehenden Augen, aller fühlbaren Unzulänglichkeit überführte und verblüffte.

»Greift zu, Leute!« Eine weiße Kochmütze erschien zwischen den Köpfen vor dem Portal von Saint-Pierre. Marie Raymond ging, oh, là, là, von Tisch zu Tisch, pausbackig, die runden Hüften blau beschürzt, ein noch warmes Backblech in Händen haltend, darauf eine deftige Quiche.

Ein verbranntes Zwiebelringlein aussortierend, bemerkte der Abbé auf Antoine Bécherets Feststellung hinsichtlich des kleinen Braille mit sonorem Bass: »Oh, das mag wohl sein, dass es Euch an der notwendigen Fantasie mangelt. Da geht es Euch nicht viel anders als mir.« Jacques Palluy schleckte sich über die Lippen. »Aber glaubt mir, Monsieur, der Junge wird Euch mit seinen sieben Jahren die Fantasie lehren wie ein Michelangelo die Farbe, und wenn nicht er, dann der liebe Gott höchstpersönlich! Meint Ihr nicht auch?« Der Abbé wandelte in Gedanken zwischen den unverrückbaren, harten Holzbänken in Bécherets lichtdurchflutetem Klassenzimmer und sah Louis bereits spitzbübisch zwischen Locken, Zöpfen und dichten Haarschöpfen sitzen. Die Vorstellung gefiel ihm, während er so auf einem Kuchenrandstück herumkaute und Jean Bertrand mit einem Ziegenbock an ihm und Bécheret vorbeispazieren sah, dem schrillen Hufeisengebimmel vom benachbarten Viehmarkt folgend. Wollte Bertrand das gute Stück etwa veräußern? Sei’s drum! Palluy wandte sich dem Dorfschullehrer wieder zu. »Wie denkt Ihr also darüber, Monsieur?«

Bécheret rollte die Pupillen wie Monde um einen fernen Stern. Er schluckte, stieß die Luft aus, den mümmelnden Palluy vor sich, und wusste nicht, wie er sich aus der vertrackten Angelegenheit ziehen sollte. Jacques Palluys bässerne Beharrlichkeit setzte ihm zu, so musste er sich selbst eingestehen, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Noch einmal nahm er also Anlauf, schob seinen stattlichen Eckzahn nach vorne und formulierte seine höflichen Bedenken gegenüber Palluys ungewöhnlichem Vorstoß, ein blindes Kind beschulen zu wollen.

»Wie stellt Ihr Euch das vor, Abbé? Er wird dem Stoff nicht folgen können! Er ist des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Wie soll der Junge denn etwas in seinen Kopf bekommen ohne Schiefertafel?« Bécherets Stimme flirrte angestrengt. Er nippte verunsichert an dem Viertel Roten, hob die Augenbrauen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Da macht Euch mal keine Sorgen.« Palluy blieb hartnäckig und setzte nach, das Kuchengäbelchen weihevoll zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. Er beschwichtigte den Zweifler vor dem Herrn mit den Worten: »Der Junge verfügt über ein erstaunliches Gedächtnis. Ich habe ihn nunmehr über zwölf Monate auf seine Verständigkeit hin beobachtet und sehe keinen Grund, warum er mit seinen sieben Jahren nicht wie andere Kinder eine Schule besuchen sollte. Louis ist alles andere als dumm!« Palluy hob die buschigen Augenbrauen amüsiert. »Im Gegenteil, der Kleine scheint mir weit schlauer zu sein als manch andere Seele in Coupvray.«

»Soso!«, erwiderte Antoine Bécheret ungläubig, während Jean Bertrand wieder an ihnen vorbeispazierte, dieses Mal mit einem braun gescheckten Kälbchen, das seine Mutter bei der Geburt verloren hatte und ängstlich dahinstakste, unsicher, welchen Fuß es zuerst auf die blanke Erde setzen sollte. Es ging ihm offensichtlich nicht anders als den Menschen.

»Salut!« – des Abbés freundlicher Gruß. Bertrand nickte mundfaul und verlor sich zwischen all dem Gebrabbel in der Menge. Palluy schwang das silberne Kuchengäbelchen indes wie eine Forke und ditschte es mit den vier Zinken rhythmisch auf seinen mittlerweile fast leeren Teller, so als wollte er seine Auffassung in das unschuldige Porzellan klöppeln.

»Ich mache Euch einen Vorschlag.« Palluy rammte die Zinken des Gäbelchens beherzt in den letzten Rest seines Zwiebelkuchens, wo es stecken blieb.

Bécheret schaute erwartungsvoll unter seiner Hutkrempe hervor. »Und der wäre?« Der Abbé sah das riesige Fragezeichen, das über dem kantigen Lehrerschädel kreiste, und holte aus.

»Nun ja, Louis nimmt regelmäßig am Unterricht teil, während ich mich weiterhin um ihn kümmere und zusehe, dass der Junge dem Lernfortschritt seiner Altersgenossen folgen kann. Es ist ein Experiment, ich gebe es zu. Sollte der Bursche partout hinterherhängen, was ich bezweifle, so werden wir eine andere Lösung finden. Das verspreche ich Euch.« Bécheret verzog die Mundwinkel. »Und wie kommt er in die Schule?«

»Das lasst ruhig meine Sorge sein! Was haltet Ihr von unserer formidablen Idee, werter Freund?«

Antoine Bécheret zögerte offensichtlich noch. Zu Recht, wie er fand, denn Louis wäre nun einmal das einzige blinde Kind in seinem Unterricht. Was geschähe, wenn die Schulbehörde davon erführe. Schließlich hatte er die Stelle in Coupvray erst vor ein paar Monaten angetreten. Er befand sich noch in der Probezeit. Jacques Palluy hatte leicht reden. Einem Sack Flöhe die Bergpredigt beizubringen war weitaus einfacher, als eine Schulklasse im Zaum zu halten. Anders gesagt, er saß lieber selbst oben auf dem Ochsenkarren, als dass er sich zum Gespött der Kinder und der Leute machte. Was also tun? Er atmete tief ein, er atmete noch tiefer aus. Er nahm einen Schluck Rotwein und dann noch einen und fasste dann, entgegen all seiner Vorbehalte, einen mutigen Entschluss.

»Also gut. Es sei!« Bécheret verblies den letzten Tabakrest und schaute Palluy geradewegs über die ausglühende Pfeife in die Augen. Der wiederum reichte dem über sich selbst verdutzten Lehrer seine starke Hand.

»Ihr werdet es nicht bereuen, mein Sohn!«

Und so kam es dann also doch noch, dass, nachdem Antoine Bécheret die Waffen gestreckt hatte, Louis den steilen Schulberg fortan in Begleitung eines benachbarten Jungen erklimmen sollte.

KAPITEL 2

Die süße Erkenntnis

»Monsieur!« Louis zeigte auf. »Das frische Heu riecht manchmal wie ein Bonbon! Wie kann das sein?« Die umsitzenden Kinder verdrehten die Augen und lachten ob der abstrusen Frage.

»Ruhe, ihr Rasselbande!« Bécherets kräftige Stimme tönte bis zur letzten Bank und wieder zurück. »Ich lasse euch heute sonst pünktlich gehen, nicht eher als bis es zwölf Uhr läutet!« Er stand vor dem Kartenständer. Die Klasse parierte. Zwar hatte man den Monsieur noch nicht wirklich böse erlebt, wollte es aber auch nicht unbedingt in dieser Sekunde darauf ankommen lassen. Sie hatten verstanden. Alle hatten sie verstanden, auch Maurice Lasalle, der das fleißigste Mundwerk von ihnen allen besaß und der jetzt, lammfromm, mit einer selbst gebauten Wurfmaschine in der Hosentasche abwartete, was passierte.

Den Knirpsen standen die Münder offen. »Also, bitte schön!« Antoine blickte zu Louis, der sich von seinem Sitzplatz erhoben hatte. Der Junge wiederholte seine Frage leise in die Klasse. Bécheret runzelte die hohe Stirn. Was meinte er bloß damit? Das Heu ein Bonbon? Die Worte, matt glänzend, erschienen auf Antoines innerer Schiefertafel. Wollte Louis ihn hier im Unterricht etwa vorführen? Wohl kaum! Die Frage war ernst gemeint, wie so oft von ihm. Zwar etwas unerwartet, aber ganz zweifellos aufrichtig. Letzte Woche noch hatte Louis seinen Lehrer nach dem Wind gefragt und ihn in Verlegenheit gebracht. Woher der Wind denn komme und wie es möglich sei, dass dieser die Menschen mal sanft, mal stürmisch in den Arm nehme, dazu noch eine Stimme habe. So also, dachte sich Antoine. Dieses Mal also das Heu. Der Junge war ein Buch, und Antoine Bécheret blätterte darin. Er schaute den Knaben an. Louis hielt den Kopf schräg, die Augen geschlossen, wie er es immer tat, wenn ihn eine Sache intensiv beschäftigte. Die Hände des Siebenjährigen wirbelten aufgeregt über den Tisch.

»Nun ja.« Antoine erhob sich von seinem Stuhl am Pult. Die offene Rechenfibel auf der Ellenbeuge, feilte sich der junge Lehrer eine halb gare Antwort zurecht. Das Heu rieche nach Heu, so wie es nun halt rieche. Blumig, würzig, manchmal auch bitter-grün. Letzteres hätte Antoine besser nicht gesagt. Wieder lachten die Kinder, dieses Mal über ihn, und wieder bat er mit kräftiger Stimme um Ruhe.

»Das Stroh riecht gelb!«, rief Adeline daraufhin durch das Klassenzimmer. Die Kinder schrien, gackerten hysterisch und reckten die Arme nach oben zur Decke. Tumult machte sich breit.

»Gelb, gelb, gelb«, schallte es im Chor durch die Reihen.

»Silentium!«

Trampeln. Unzählige Schuhsohlen stampften auf. Der Holzboden erzitterte. Antoine Bécheret schloss die Augen, wähnte sich für einen kurzen Moment von den Auswüchsen der Revolution gepackt. Schwenkte ein Kind da etwa eine Fahne? Nein, zum Glück nicht! Herrgott, er tat, was er in solchen Fällen immer tat. Er nahm die schwere Messingglocke vom Katheder und bimmelte der Lausebande mit markerweichendem Geläut Respekt ein, bis es allseits still um ihn herum wurde, die Kinder sich die Ohren, bereits halb taub, zuhielten und er mit dem Unterricht fortfahren konnte, nicht eher endend, als bis er die Hausaufgabe verlesen hatte, eine schwierige Rechenaufgabe. In all dem Treiben sah er zu Louis und fragte sich, ob er dem blond gelockten Knaben wirklich böse sein sollte. Aber er konnte es nicht. Sich dem kindlichen Witz und dem freundlichen Wesen des Jungen zu entziehen war unmöglich. Palluy hätte ihn ohnehin dafür auf Knien in den Beichtstuhl gezerrt und ihm drei Rosenkränze abverlangt.

So aber sah sich der gute Antoine Bécheret auf Louis’ engelhafte Frage hin mit einer Heugabel bewaffnet die frisch gemähten Wiesen von Coupvray abschreiten, um des vermeintlichen Bonbondufts gewahr zu werden. Das Bild erstand in seinem gequälten Hirn als sittsame Landschaftsmalerei.

An einem Sonntagmorgen würde er diesen Duft, dem Louis in seiner kindlichen Wahrnehmung eine Bonbon-Note angedichtet hatte, endlich finden. Die Entdeckung wäre dem puren Zufall geschuldet und käme einem goldgerahmten Wunder gleich. Ein zarter Westwind striche über das noch grünbraune Heu und hätte ihn, Antoine Bécheret, den Zweifler vor dem Herrn, in eine zauberhafte Karamellwolke gestürzt. Überwältigt von seinen Gefühlen, stakste er über den leichten Heuteppich, stocherte mit der Gabel darin herum und saugte diesen einen süßen, eben diesen von Louis auserkorenen, wattigen Bonbonduft mit aufgeblähten Nüstern tief in sich hinein, und zwar so lange, bis er, glückselig wie ein junges Kalb, zwischen den Zäunen wild umhergaloppierte. Er machte einen unbeschwerten Satz nach vorn, schlug einen Haken und drehte sich um die eigene Achse. Ach, welch heilsames Heu, welch heiliges Hirngespunst, so dachte er bei sich, fasste unwillkürlich nach all der Schönheit und warf sie bündelweise über sich aus. Was tat er da nur unter der heißen Sonne im August? Er schnaufte, er keuchte, er stöhnte. Ungestüm war es ihm zumute, ekstatisch und wild. Sein Leib vibrierte. Die ganze Welt um ihn herum vibrierte. Das Heu, der Duft, die Halme. Sie nahmen kein Ende. Alles raste dahin, flog durch die Luft, schwebte, fiel ihm zu und schrie ihn an.

Palluy tauchte plötzlich auf, ein klappriges Leiterwägelchen hinter sich dreinziehend. Der Abbé blieb stehen und schaute vom Rand der Weide zu Bécheret hinüber, der sich offenbar einer Leibesertüchtigung hingab. Der Abbé winkte mit ausladenden Bewegungen. »Salut, Monsieur Antoine!«

Bécheret hielt inne und hob die Hand zum Gruß.

»Schönes Wetter, nicht wahr!?« Palluy ließ das Leiterwägelchen zurück und kam dem Schulmeister auf halbem Weg entgegen. »Ich sehe, Ihr genießt die Natur!«, so Palluy erfreut. Er blickte auf die Heubüschel in Bécherets Händen, wohl ahnend, dass Louis den Schulmeister in Verlegenheit gebracht haben musste.

»Wie macht sich unser aller Liebling, Monsieur?«

»Oh, wunderbar, bis auf das Lesen und Schreiben, Abbé!« Antoine klaubte sich die letzten Heureste aus dem Haar und schüttelte die Rockschöße. Blicke kreuzten sich.

Palluy verbarg ein Grinsen und tat so, als sähe er das interessante Durcheinander nicht. »Es geht Euch also auch so. Der Junge stellt einen vor immer neue Phänomene, nicht wahr?« Bécheret biss sich auf die Unterlippe. Er hörte die Turmuhr aus der Ferne schlagen. »Stellen Sie sich vor«, so Palluy freudig erregt, »das kleine Genie hat mich doch tatsächlich danach befragt, wie unser Heu rieche, und ich wusste mir nicht anders zu helfen, als zu sagen, es rieche so fein wie eine Brioche mit einem guten Stück normannischer Butter.«

Hat er nicht, dachte Antoine Bécheret, legte die Heugabel pikiert zur Seite und schluckte. Liefe ihm vor Appetit nicht selbst das Wasser im Munde zusammen, er hätte aus der Haut fahren mögen, gemessen an der Tatsache, dass er dem Schelm von einem Abbé auf den Leim gegangen war. Palluy hatte dem Jungen also die Flausen in den Kopf gesetzt.

»Soso! Normannische Butter also«, erwiderte Bécheret trocken und winkte ab. Woher der Abbé diese denn beziehe. Er selbst hole die gelbe Sünde für gewöhnlich bei Jean Bertrand, am Rande des Dorfes. Etwas anderes könne er sich mit seinem schmalen Salär nicht leisten.

Oh, ein befreundeter Benediktinermönch habe ihm einmal von derlei Butter aus der Normandie erzählt, erklärte Palluy spitzmündig, die Lippen wie zum Kuss. Selbst habe er auch noch nicht davon gegessen. Sehr bedauerlich, wie er jetzt feststellte. Zu gerne hätte er einmal davon kosten wollen, den leichten Karamellgeschmack einer Brioche als tiefe Note. Er schnupperte hungrig und öffnete dann wieder die Augenlider. »Aber Ihr entschuldigt, ich muss weiter. Ein junges Brautpaar wartet auf meinen Segen in Saint-Pierre.«

Der bescheidene Diener Gottes lupfte den Hut, nickte dem düpierten Schulmeister freundlich zu und stahl sich mit seinem holprigen Ziehwägelchen lustig davon. Palluys flatternde Silhouette verschwand, eine Lärmspur hinter sich, langsam am Horizont. Antoine stand da und schaute erschlagen um sich. Zunächst noch gefasst, die goldbebauschten Birnenwolken am Himmel betrachtend, verlor er kurz darauf die Selbstbeherrschung und prustete, sich vor Lachen biegend, dem närrischen Abbé laut hinterher. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, ließ von dem Heu ab und rannte Palluy auf spillrigen Beinen nach. »Warten Sie, Abbé! Ich habe noch eine Frage!«

KAPITEL 3

Die stumme Schwarzschrift

Antoine Bécheret gähnte schläfrig zwischen den Kissen. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Wie spät war es wohl? Zwei, drei oder gar vier Uhr am Morgen? Deprimiert schlug er die klamme Bettdecke zur Seite. Noch war es stockfinster, draußen wie drinnen. Kein Hahn hatte gekräht. Das Bett knarrte, als er sich ausstreckte und vorsichtig nach der Kerze tastete. Er zündete sie an und starrte auf die flachen Zeiger der silbrigen Taschenuhr. Antoine seufzte in die Kammer. Es war kurz nach Mitternacht. Die Bommel seiner Schlafmütze fiel nach unten und kitzelte ihn sachte am Hals. Durstig schluckte er in dem fahlen Schein. Er horchte auf. Frösche quakten von fern. Das Licht der Flamme fiel auf sein verquollenes Gesicht. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, wovon ihm der Junge manchmal erzählte. Erst recht nicht, wenn er sich daran erinnerte, wie Louis ihm die vielen Dinge beschrieb und wie sie sich anfühlten, wenn der Junge sie mit seinen unschuldigen Händen berührte. Die Schlafmütze flog an die Wand. Ungelenkig, sich mit den Händen abstützend, rutschte der Schulmeister über die Bettkante in die Pantoffeln und stand auf. Er kramte nach seinem Tagebuch, fand es schließlich und las quer. Lose Eindrücke, die er hier in Coupvray seit seiner Ankunft zusammengetragen hatte, darunter auch die Episoden aus der Schule. Das Klassenzimmer sauste ihm durch die Seiten und mit ihm der kleine Sattlersohn …

Sie waren allein, Antoine und Louis. Die übrigen Kinder waren bereits nach Hause gegangen. Louis saß an seinem Platz und fuhr mit den Fingern über das dicke Papier. Antoine hatte seinem neuen Schüler das Wörterbuch aufgeschlagen. Der Lehrer fragte sich, was wohl grausamer sei, nicht mehr zu sehen oder nicht lesen und schreiben zu können.

»Im Anfang war das Wort, mein Junge!«, so Bécherets behutsamer Hinweis, doch Louis verstand ihn nicht. Er tastete sich durch die Seiten und suchte verzweifelt nach dem Wort und all der großen Herrlichkeit. Aber er fand keinen Anfang und kein Ende, kein Alpha und kein Omega, geschweige denn das Wort, von dem Bécheret zu sprechen meinte. Enttäuscht blätterte er in dem mächtigen Werk, aus dem die Erwachsenen ihre Weisheiten wie Zöpfe zogen und worüber sie einmütig kalfaterten. Amen. Das Wort! Wie sah es denn aus, das Wort? Hatte es ein Gesicht, etwa einen Verstand? Trug es Kleider und Schuhe?

»Es ist die Heilige Schrift unserer großartigen französischen Sprache, unsere Langue, die darin geschrieben steht, mein Sohn.« Bécherets Stimme nahm ob des gewichtigen Inhalts einen nicht minder gewichtigen Tonfall an. Er tätschelte Louis’ Schulter väterlich.

Unsere Langue, hatte er gesagt? Darin geschrieben steht? Soso! Was meinte der Lehrer damit bloß? Louis zögerte kurz, wiederholte Bécherets sakrosankte Anmerkung innerlich noch mehrere Male und schlug die nächste Seite auf. Der Junge verzog das Gesicht. Das Papier gab einen humorlosen Laut von sich. Unbeeindruckt glitten die Fingerkuppen des Jungen über die für ihn raue Oberfläche der Seiten. Doch sosehr er sich auch bemühte, er fühlte die Erhabenheit nicht, die dem Ganzen innewohnen sollte. Was für ein Firlefanz, sagte er sich. Dieses Wort hatte er als Ausdruck allen Unverständnisses von seiner Schwester aufgeschnappt, und es schien ihm, als träfe es angesichts dieser misslichen Lage wahrhaftig zu. Eigenartig! Wie ging dies alles nur zusammen, fragte der Junge sich nun ernsthaft. Er glitt über die stumme Schwarzschrift. Der liebe Gott war nicht anzufassen, und das Buch, aus dem die heilige Langue zu den Leuten sprach, war ebenso unfassbar. Wo war sie, diese Schrift, die alles ausmachte und bestimmte, und wie kam sie nur in das Wörterbuch hinein? Eine dichte Hohlheit machte sich breit, wie das gute Stück so dalag vor ihm und sich versteckte. Ungeduldig spürte er in seine Schuhe hinein, bewegte die großen Zehen nervös auf und ab und kam mit seinen 109 Zentimetern Körpergröße zu keinem für ihn befriedigenden Schluss.

»Darin stehen?« Ungläubig hob Louis den Kopf zu dem bedächtig dreinblickenden Schulmeister und fragte höflich: »Wie kann das alles sein, Monsieur? Wie passt die riesige Langue in dieses kleine Buch?«

»Was meinst du, mein Kind?« Bécherets Blick ruhte auf dem dicken Wälzer.

Ja, redete er denn gegen die Wand im Klassenzimmer? Noch einmal nahm der Junge also Anlauf und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Fürwahr eine schwierige Angelegenheit, fehlte ihm doch das Vokabular der Erwachsenen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, als wollte er größer erscheinen, und merkte aufgeregt an, dass er nicht verstehe, wie all die Vokabeln in diesem Buch stehen könnten. Man fühle ja überhaupt nichts. Er legte die Hand fragend auf den ledernen Einband und stieß einen lauten Seufzer aus. Louis’ Miene trübte sich ein. Er grämte sich. Der Inhalt des schweren Buches tat sich ihm einfach nicht auf. War er denn so dumm? Ihm war es, als stände er vor der verriegelten Kellertür, hinter der die Mutter die Vorräte für sie alle sorgsam in Regalen aufbewahrte. Rosinen, Schlehenmarmelade, den süßen Honig der Bienen, Nüsse, Mehl, Pastinaken, Getrocknetes oder Eingemachtes, Sirup und Säfte, eben all die feinen begehrenswerten Dinge, die von Monique Braille streng verwaltet wurden. Wenn es doch nur einen Schlüssel gäbe für diese dicke Tür!

Antoine Bécheret stand unbeholfen vor dem Jungen. Er legte die Hand auf das Kompendium, schloss die Augen und tat es seinem Schüler gleich. Er fühlte – der Junge hatte recht. Wie wahr! Da war nichts, abgesehen von ein paar borstigen Leinen- und Hanfpartikeln, die aus dem verleimten Papier heraustraten. Der heilige Geist der Langue hing lose in den Seiten. Entsetzlich! Ganz langsam wurde es ihm klar: Der Sattlersohn konnte, wenn überhaupt, so doch nur eine vage Vorstellung von den Buchstaben des Alphabets und deren Umrissen haben, schließlich war Louis noch vor der Einschulung vollständig erblindet. In der Tat. Louis kannte das Alphabet vom Hörensagen, so wie es ihm seine Eltern und Palluy vorgebetet hatten, nicht aber die wunderbare Gestalt der lateinischen Lettern. Er beherrschte die Laute. Mehr brauchte er im Prinzip erst einmal nicht, um sich zurechtzufinden, um sich verständlich zu machen. Doch um die Welt zu begreifen, um die göttliche Schöpfung zu erfahren, benötigte der Junge weit mehr als den Klang seiner Muttersprache, so dachte der junge Lehrer. Mitleidsvoll blickte Antoine auf die suchenden Hände des Jungen. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, als er Louis’ Finger über die für ihn seelenlosen Buchstabenkolonnen tasten sah.

»Wie sieht ein A aus, Louis?« Er beugte sich zu ihm hinunter und schaute dem Kleinen erschrocken ins Gesicht. »Kannst du ein ,A‘ schreiben, wenn ich dir die Tafel reiche?« Stille. Der Junge erstarrte vor Antoine, der seine triste Frage wiederholte, während er Louis hilflos die Schiefertafel und einen Griffel in die Hände legte. Der Siebenjährige begann zu stottern. Dann drückte er die Lippen aufeinander. Ängstlich schüttelte er den Kopf.

»Also nein?« Bécherets peinliche Nachfrage, die gleichsam eine Feststellung war. Louis schluchzte auf, presste ein gequältes Nicken aus sich heraus und fiel in sich zusammen, sein bleiches Gesicht verbergend.

Das Bild verblasste. Antoine Bécheret klappte das Tagebuch traurig zu. Recht demütig stellte er in jener Nacht die Milch auf den Ofen in der Küche und ließ sie schäumend überkochen. Er wischte, schabte und kratzte das klebrige Malheur von den heißen Eisenringen. Was für ein Kind, ging es ihm durch den Kopf, den zerschlissenen Putzlappen auswringend.

Louis sprühte förmlich in dem Bestreben, sich seine Umwelt anzueignen. Anders als die anderen Kinder interessierte sich der Junge auch für das noch so kleinste Detail in den Dingen. Nur die Sache mit dem Lesen und Schreiben wollte sich nicht finden. Wie auch? Bécheret schöpfte die Fettaugen von der Milch und goss sie erneut in den blechernen Topf. Anschließend nahm er sich ein Stück Brot und setzte sich an den Küchentisch. Er aß und dachte nach im Angesicht der tickenden Küchenuhr.

»Lass es gut sein, Antoine!«, sagte er sich nach einer Weile, bevor er aus den Pantoffeln zurück in sein Bett glitt, das spärliche Licht in der Kammer löschte und sich die Decke bis an sein spitzes Kinn zog.

Es währte nicht lange, und eine krumme Gestalt erstand vor seinem geistigen Auge. Träumte er? Zusammengekauert, die Beine schief, hockte diese Gestalt, ein armselig gekleideter Mensch, auf dem verwaisten Dorfplatz von Coupvray, die Augen mit einem schwarzen Tuch verbunden, einen Stock vor sich. Speichel tropfte von seinen aufgedunsenen Lippen, Narben entstellten sein Gesicht, Brandmale seine klumpigen Hände. Orientierungslos griff er um sich und tastete nach dem Holznapf neben sich. Seine Erscheinung war eine Bankrotterklärung an das Dasein, ja, ein zynisches Zerrbild der Schöpfung. Der Mensch sprach wirres Zeug, lallte die Worte ohne Zusammenhang in den blanken Tag. Die Blattern, so hatte man Antoine erzählt, hätten Serge das Augenlicht genommen und die fünfköpfige Familie des Tagelöhners in den finanziellen Ruin gestürzt. Die Rocards lebten seitdem von Almosen und von der kläglichen Bettelei ihres geschundenen Familienoberhaupts, ohne jegliche Aussicht darauf, dem Joch der Armut jemals zu entkommen. Wie ungerecht das Leben doch war!

Antoines Hirn glich einem Spinnrad. Trostlos rotierte es um Serge Rocard und auch um Louis. Der Schulmeister konnte es nicht zulassen, dass der Junge später einmal zum Bettler würde, und so rief er sich zwischen zwei schnellen Atemzügen mutig zu: Antoine, du musst dich deiner pädagogischen Verantwortung stellen! Hilf dem Jungen und erspare ihm das unglückselige Leben eines Serge Rocard!

Kaum gedacht, schraubte sich der nächste heiße Gedanke in sein Hirn. Es ließ ihm keine Ruhe.

Nervös klopfte er auf die Bettkante. Ob Palluy Bescheid wusste? Louis litt unzweifelhaft an der Tatsache, sein Wissen allein über das Hören aufnehmen zu müssen. Nicht dumm, wie er war, die quietschenden Griffel seiner Mitschüler in den Ohren, hatte der kleine Kerl seine Situation längst durchschaut, wenn auch unbewusst. Antoine fühlte das Dilemma, in dem er selbst steckte. Er grübelte ohne Unterlass. Gab es partout nichts auf dieser Welt, womit einem blinden Kind das Geheimnis der Schrift beizubringen sei? Schließlich hatte die Menschheit doch auch das Rad erfunden, den Pflug, einen Dreschflegel, gar nicht zu sprechen von all der herrlichen Mathematik und der Astronomie. Antoine dachte und dachte, wickelte einen Gedankenfaden nach dem anderen um sich. Es gab Schiffe, die Ozeane überquerten, Windmühlen, die das Korn zu Mehl vermahlten, und den unsäglichen Irrwitz von Kanonenkugeln. Las man gegenwärtig nicht auch von Überlegungen, sich wieder auszurüsten und zum Nordpol aufzubrechen, der Nordwest-Passage auf der Spur, fernab jeglicher Zivilisation, durch Eis und Schnee? Herrgott noch mal! Seit Tagen dachte er an nichts anderes mehr, Serge Rocards erdrückendes Schicksal vor Augen. Zweifellos ein Schicksal, welches der Mann mit vielen anderen Blinden teilte. Antoine wiederholte das Gedachte in einen Kissenzipfel, wo es ungehört zu verklingen schien.

KAPITEL 4

Sonett Nr. 6

Die Marquise Jeanne-Robertine d’Orvellier, eine Seele von Mensch, beschäftigte sich regelmäßig mit dem ihr allzu fürwitzig scheinenden Knaben. Sie fand Gefallen an ihm. Ja, durchaus, ein verwegener Philosoph sei er, weil er den wahren Kern der Dinge sehe. Dazu noch mit Manieren ausgestattet, wie sie nicht besser sein könnten. Sie hielt ihren Hut fest, der wegzuwehen drohte.

Autor