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Eiskaltes Vergessen

hier erhältlich:

Im Schnee wird eine Frau gefunden. Sie kann sich an nichts erinnern. Nicht einmal an ihren Namen ...

Wer bin ich? Diese Frage stellt sich die rothaarige Frau, seitdem sie im Tiefschnee der Rocky Mountains gefunden wurde. Sie hat keine Ahnung was passiert ist oder woher sie kommt. Nur dieses unterschwellige Gefühl, in Gefahr zu schweben, scheint vertraut. Ein Zettel in ihrer Tasche verrät ihren Namen: Hannah. Als John, der Mann der sie gerettet hat, sie in eine Unterkunft bringen will, versucht jemand, ihren Wagen einen Abhang hinunterzudrängen. Hannah weiß, wenn sie überleben will, muss sie herausfinden, wer sie wirklich ist. Ihre einzige Hoffnung ist John, der geschworen hat, sie zu beschützen …


  • Erscheinungstag: 10.12.2015
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495069
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Castillo

Eiskaltes Vergessen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ivonne Senn

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Hero to Hold

Copyright © 2001 by Linda Castillo

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock / Sergiy Trofimov / Rex Vokey / ratmaner

ISBN eBook 978-3-95649-506-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Dieses Mal würde er sie umbringen.

Das wusste sie. In ihrer Brust mischte sich blanke Angst mit einer seltsamen Fassungslosigkeit. Sie konnte nicht begreifen, wie es so weit kommen konnte, und sie ertrug den Gedanken nicht, dass alles, was sie in den letzten beiden Jahren miteinander durchgemacht hatten, seinen Höhepunkt in diesem einen grauenhaften Augenblick finden sollte.

Eisiger Wind schüttelte sie, als sie blindlings durch die Dunkelheit rannte. Scharfe Felsen und die gefrorene Erde schnitten in ihre nackten Füße, doch sie spürte den Schmerz kaum. Die herumwirbelnden Schneeflocken nahmen ihr die Sicht, dennoch umklammerte sie die Pistole fest und legte noch an Tempo zu. Beinahe hätte sie aufgrund der Dunkelheit und des Schneetreibens die Biegung der Straße nicht gesehen. Ihr Atem kondensierte weiß vor ihrem Mund, als sie sich ihrem Fluchtinstinkt hingab und ihren Körper bis an seine Grenzen trieb.

Scheinwerfer schnitten durch die Finsternis hinter ihr und ließen eine neue Welle der Panik in ihr aufwallen. Das Jaulen des Motors übertönte den pfeifenden Wind. Ihr Herz klopfte wild bis zum Hals. Ein Schrei lauerte in ihrer Kehle, doch sie wusste, dass sie ihre kostbare Energie besser nicht an etwas so Hoffnungsloses vergeuden sollte. Hier oben würde sie mitten in der Nacht niemand hören. Niemand würde sie retten. Wenn sie das hier überleben wollte, musste sie sich ganz auf sich allein verlassen.

Nur ärgerlich, dass ihr gerade die Ideen ausgingen.

Nur noch eine Kurve, dann hatte sie das Scheinwerferlicht eingeholt. Sie trennten nur wenige Meter, und sie hatte keine Chance, ihm zu entkommen. Angst und Adrenalin wüteten in ihr, während sie stolpernd am Straßenrand stoppte. Die kalte Luft brannte in ihren Lungen, als sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Hinter ihr tuckerte der Automotor im Leerlauf vor sich hin. Ihr wurde schwindelig, als sie einen Blick auf die tief abfallenden scharfen Felsen unter sich riskierte. Mit trommelndem Herzen drehte sie sich um und stellte sich ihrem Verfolger.

Sie dachte, sie hätte sich auf diese finale Konfrontation vorbereitet, aber der Anblick ihres Verfolgers entsetzte sie erneut. Sie fragte sich, ob sie den Mut aufbringen würde, es ein letztes Mal darauf ankommen zu lassen.

Sie hob die Waffe und versuchte vergeblich, das Zittern in ihren Händen zu unterdrücken. „Komm nicht näher.“

„Leg die Waffe weg, Engel.“

„Bleib mir vom Leib!“

„Das kann ich nicht.“ Er stieg aus und begann, auf sie zuzugehen. „Du lässt mir keine andere Wahl.“

Sie kämpfte darum, ruhig zu bleiben, und starrte auf seine dunkle Gestalt, die sich vor dem Licht der Scheinwerfer abhob. Plötzlich erkannte sie, dass niemand je die Wahrheit erfahren würde, sollte sie heute Nacht sterben.

„Stopp!“ Ihr Finger krümmte sich um den Abzug. „Ich drücke ab.“

„So viel Mumm hast du nicht.“ Er ging weiter auf sie zu, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

Sie drückte ab. Die Waffe explodierte, und der Rückstoß riss ihre Hand nach oben. Ihr eigener Schrei dröhnte in ihren Ohren.

Aber er zuckte nicht einmal. Ich habe ihn verfehlt, dachte sie, genau, wie er gesagt hatte. Er kannte sie zu gut, um zu wissen, dass sie keine Mörderin war.

Genau wie sie wusste, dass er einer war.

Mit rasendem Herzen nahm sie ihren letzten Mut zusammen und wendete sich der Schlucht zu. Es gab nur eine Möglichkeit, sich zu retten, und so sicher, wie er ihr immer näher kam, so sicher wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte, als das Undenkbare zu tun. Sie flüsterte ein Gebet und begann, den steilen Abhang hinunterzuklettern.

Sein Ruf erhob sich über das Tosen des Windes, doch sie konnte seine Worte nicht verstehen. Sie war gerade erst wenige Meter weit gekommen, als sich ein Stein unter ihren Füßen löste. Sie streckte die Hände aus und versuchte, ihren Sturz aufzufangen, aber da war nichts außer kalter Luft und eisbedecktem Gestein. Einen Moment später raste der Boden näher und traf sie wie eine große Faust. Sie überschlug sich. Der Schmerz bohrte sich tief in sie hinein, als Felsen und junge Bäume auf ihren Körper einschlugen.

Die Unausweichlichkeit des Todes hätte sie nicht schockieren sollen. Sie hatte gewusst, dass sie nicht unbeschadet aus dieser Situation herauskommen würde. Trotzdem rebellierte es in ihrem Kopf, dass sie ihr Leben auf diese Weise beenden sollte. Es gab noch so viel, was sie erledigen wollte, und so viele unerfüllte Träume.

Fragmente ihres Lebens zogen in brillanter Klarheit an ihrem inneren Auge vorbei. Orte, an denen sie einst gewesen war, und Menschen, die sie geliebt hatte, doch der Berg war erbarmungslos, und sie fiel den steilen Abhang immer weiter hinunter. Bald spürte sie nur noch die Dunkelheit und den bitteren Geschmack des Verrats. Mit der Zeit ließ der Schmerz nach. Die Finsternis umfing sie mit trüben Armen und dem Versprechen von Wärme und Wahrheit.

Und endlich war sie frei.

1. KAPITEL

„Ich habe etwas. Eine weibliche Person auf zwei Uhr. Sie ist auf den Beinen und bewegt sich.“

Rettungssanitäter John Maitland zog den Riemen seines Helmes fester gegen sein Kinn, trat an die offene Tür des Helikopters und blickte nach unten. Tatsächlich, gute zwanzig Meter unter ihm hockte eine Frau an der Bergseite an eine Felsnase gedrückt.

„Was zum Teufel macht sie hier oben?“, murmelte er vor sich hin.

„Sie wartet darauf, dass du dein Geschirr anlegst und deinen Hintern bewegst“, hörte er die Stimme des Piloten aus dem Cockpit.

„Bring mich noch ein bisschen näher ran, Flyboy“, rief John über das Dröhnen der Pratt-und-Whitney-Doppelmotoren der Bell 412 und das Rauschen des Windes hinweg. „Und zwar noch in dieser Woche, wenn es dir nichts ausmacht.“

„Nicht bei diesem Wind. Wir sind bereits bei vierzig Knoten mit Böen bis zu fünfundfünfzig“, erwiderte der Pilot – Tony „Flyboy“ Colorosa. Er sah ihn keck an. „Sag mir nicht, dass dir bei dieser leichten Brise keine Rettung aus zwanzig Metern Höhe gelingt.“

John erwiderte den Blick. „Du musst diese Sardinenbüchse nur fliegen, ich kümmere mich um die ernsten Angelegenheiten“, sagte er. Dann fügte er leise hinzu: „Der Wind könnte es ein wenig interessanter machen.“

„Die Zielperson steht. Kein sichtbares Trauma.“ Buzz Malone, der Teamleiter, senkte sein Fernglas. „Vergiss die Trage“, sagte er. „Wir gehen runter und holen sie so raus. Leg ihr ein Geschirr an, und wir ziehen euch beide zusammen hoch.“

„Was ist mit möglichen Rückenverletzungen?“, fragte John.

„Wenn wir sie nicht in den nächsten fünf Minuten hier hochkriegen, brechen wir ab. Es dauert zu lange, sie zu Fuß zu erreichen. Bis dahin ist sie an Unterkühlung gestorben. Also, such’s dir aus.“

John hasste die Vorstellung, eine mögliche Traumapatientin ohne Stabilisierung der Wirbelsäule zu bewegen, doch angesichts des Wetters, das im Anmarsch war, war eine schnelle Bergung die einzige Möglichkeit, um das Leben der Frau zu retten. Um mögliche Verletzungen würden sie sich später kümmern. „Roger“, sagte er.

Er ging in Richtung Tür, aber Buzz legte ihm die Hand auf die Schulter und hielt ihn zurück. „Wenn es nicht du wärst, der da jetzt runtergeht, hätte ich die Aktion längst abgebrochen.“

„Dann ist es ja gut, dass ich es bin.“ Er hatte den Absprungpunkt an der Tür erreicht und drehte sich zu seinem Kollegen um. Mit seinen Händen überprüfte er automatisch sein Geschirr. „Ich habe noch keine Rettung versaut, Buzz, und ich habe nicht vor, das heute zu ändern.“

„Achte auf die Bäume.“ Der Teamleiter hob beide Daumen. „Du hast einen Versuch, dann hole ich dich wieder rauf.“

John salutierte gespielt und sprang dann ins Nichts. Die kalte Luft traf ihn wie eiskalte Ohrfeigen. Das Rattern der Rotorblätter dröhnte in seinen Ohren, doch er liebte diese Gefühle, trotz der Gefahren, die ein Sprung an einem dünnen Seil aus einem fliegenden Helikopter mit sich brachte. Er kannte seine eigenen Fähigkeiten, die ihn vom sicheren Tod trennten.

Er machte sich keine Sorgen darüber, den Kontakt beim ersten Versuch zu verpassen. In den sechs Jahren, die er nun schon als Search-and-Rescue-Sanitäter arbeitete, war ihm noch keine Rettung misslungen. Außerdem flog niemand auf der Welt die Bell 412 besser als Flyboy. Und Buzz Malone schwang zwar gerne markige Reden, wenn es um die Sicherheit seiner Crew ging, aber John arbeitete schon lange genug mit dem älteren Mann zusammen, um zu wissen, dass das Team die Mission niemals abbrechen und die Frau sterben lassen würde.

Sechs Meter unterhalb des Helikopters begann der eisige Wind, ihn wie ein Jo-Jo hin und her zu schleudern. John war daran gewöhnt. Er bewahrte seinen Gleichgewichtssinn, indem er seinen Blick auf die zusammengekauerte Gestalt unter sich gerichtet hielt. Er fragte sich, wie sie nur dorthin gekommen war. Selbst aus der Ferne sah er an ihrer fehlenden Ausrüstung und an der Kleidung, dass sie keine Bergsteigerin war, die sich im Sturm verirrt hatte. Sie trug ja noch nicht einmal eine Winterjacke. Was zum Teufel tat eine Frau in bloßer Straßenkleidung mitten im Januar auf fast dreitausend Metern Höhe?

Ein Skilangläufer hatte vor einer Stunde gemeldet, dass er sie auf der steilen Seite des Berges gesehen hatte. Der Anruf vom Lake County Sheriff’s Department bei der Rocky Mountain Search and Rescue war vor zwanzig Minuten eingegangen. Innerhalb von nicht einmal vier Minuten war das Team abflugbereit.

John wusste nicht, wie lange die Frau schon dort draußen war, doch er ging davon aus, dass sie sich eine starke Unterkühlung zugezogen hatte. Wenn sie gestürzt war, dann wusste allein Gott, welche Verletzungen sie dabei erlitten hatte. Im Moment war jedoch das Wetter die größte Gefahr. John hatte keine andere Wahl, als die Frau zu bergen und ihre Verletzungen erst an Bord des Helikopters zu untersuchen.

Mit geübtem Blick maß er die Umgebung ab. Es gab keinen Hinweis auf ein Fahrzeug, also hatte er es nicht mit einem Unfalltrauma zu tun. Er konnte auch kein Wrack eines Schneemobils erkennen und auch kein Zelt. Es gab keine Anzeichen für andere Menschen.

Irgendetwas störte ihn an dieser Szenerie.

Doch die seltsamen Gedanken verschwanden sofort, als eine Böe heftig an dem Seil zerrte und ihn gefährlich nah an einen hervorstehenden Felsen schleuderte. „Kannst du den Heli ein bisschen ruhiger halten, Flyboy?“, fragte John über sein Helmmikrofon. „Natürlich nur, wenn es dir nicht zu viele Umstände macht.“

„Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht eingeschlafen bist“, erwiderte der Pilot.

John genoss den Adrenalinrausch, der mit der zusätzlichen Gefahr der starken Winde einherging, und konzentrierte sich darauf, schnell zum Boden zu gelangen. Das Terrain bestand hauptsächlich aus zerklüfteten Felsen und Eis. Zehn Meter entfernt erzitterten einige dürre Kiefern im Wind der Rotorblätter.

Johns Füße trafen hart auf dem Boden auf, aber er war darauf vorbereitet und federte den Aufprall mit gebeugten Knien ab. Dann zog er mit geübten Griffen das Ersatzgeschirr aus seinem Overall und ging vorsichtig auf die Zielperson zu. Er betete, dass Flyboy den Helikopter stabil genug halten würde und er nicht von seinen Füßen gerissen und gegen einen Felsen geschleudert oder durch die Äste der Bäume gezerrt würde. Auf einen gebrochenen Arm oder, Gott behüte, ein gebrochenes Genick konnte er gut verzichten.

Er nahm Blickkontakt mit der Frau auf, als er sich ihr näherte. Sie sah ihn aus ängstlich aufgerissenen Augen an, als sie beinahe panisch auf ihn zustolperte. Sie bewegte ihre vollen, farblosen Lippen, um zu sprechen, aber sie gab keinen Laut von sich. Er sah den Lebenswillen in seiner rohesten Form in den Tiefen ihrer Augen, und ein Gefühl der Eile packte ihn. Egal, was kommen würde, er würde diese Frau hier rausbringen.

Doch es war die Schönheit dieses Gesichts, die ihn beinahe innehalten ließ. Dunkle schöne Augen und ein fein geschwungener Kiefer dominierten ihre Züge ebenso wie die hohen Wangenknochen unter der hellen Haut, die von der Kälte gerötet war. Das wellige Haar hatte die Farbe eines Sonnenuntergangs in den Bergen und fiel ihr wild über die schmalen Schultern. Selbst so schmutzig und ramponiert, wie sie war, erkannte er, dass ihr Körper an genau den richtigen Stellen Rundungen aufwies. Ohne seine medizinische Ausbildung und den Hubschrauber, der bei vierzig Knoten Wind gut zwanzig Meter über ihnen schwebte, hätte er sich einen Moment genommen, um den Anblick zu genießen.

John kannte alle möglichen Arten von Verletzungen, vom ernsthaften Trauma nach einem Autounfall in den Bergen über den Touristen, der sie wegen eines läppischen Bienenstichs rief, bis hin zu dem Pfadfinder, der sich letzten Sommer bei einer Wanderung verlaufen hatte. Aber der Anblick dieser Zielperson traf ihn wie ein Schlag.

„Hey, Schönheit.“ Er ging auf sie zu und setzte sein bekanntes Grinsen auf, das ausdrückte, dass alles wieder gut werden würde. „Mein Name ist John, und ich bin Rettungssanitäter. Mein Team und ich werden Sie hier herausfliegen und ins nächste Krankenhaus bringen. Verstehen Sie das?“

Ihre Augen waren glasig, aber sie lebte. John nahm an, dass es Grund genug war, dankbar zu sein. Er hatte schon Patienten verloren, was ihm überhaupt nicht gefiel. Er hatte im Laufe der Jahre erfahren, dass er ein ganz schlechter Verlierer war, wenn der Tod schneller war als er. Das war ein Aspekt seiner Arbeit, den er sehr persönlich nahm.

Er erreichte sie gerade rechtzeitig, um sie davon abzuhalten, auf die gefrorene Erde zu sinken. Selbst durch seine dicken Handschuhe spürte er sie zittern. „Ganz ruhig“, sagte er. „Ich habe Sie. Sie sind in Sicherheit.“

„Bitte, nein“, stammelte sie. Überraschenderweise begann sie, sich in seinen Armen zu winden. „Lass mich in Ruhe, du Bastard.“

„Ganz ruhig.“

Die Waffe kam aus dem Nichts. Ein großes, hässliches Biest, das ihn mit einem Schuss töten konnte und direkt auf sein Gesicht gerichtet war. John ließ die Frau los und machte einen Satz zurück, wobei er lauthals fluchte. „Was zum Teufel tun Sie da?“

„Ich werde dich damit umbringen“, keuchte sie. „Das schwöre ich. Ich werde dich nicht damit durchkommen lassen.“

„Hey! Ich tue Ihnen nichts.“ Er hob die Hände über den Kopf und spürte eine schwelende Angst in seiner Brust. „Hören Sie, meine Hände sind oben, Rotschopf. Jetzt nehmen Sie diese verdammte Pistole runter, bevor noch jemand verletzt wird.“

Er wusste, dass die Unterkühlung zu mentaler Verwirrung führen konnte. Einer seiner Kumpel von der Küstenwache hatte ihm von einer Wasserrettung vor der Küste Alaskas erzählt, bei der sich das Opfer so gewehrt hatte, dass sie es nicht in den Rettungskäfig bekommen hatten. Der Mann war schließlich ertrunken.

Was in Gottes Namen machte diese Frau mit einer Pistole?

John wusste, dass er die Frau überwältigen konnte. Sie war zierlich und erschöpft und zutiefst unterkühlt. Er musste ihr einfach nur die Waffe entwenden, und da die Frau das verdammte Ding kaum noch halten konnte, würde das nicht allzu schwierig werden. Aber er war klug genug, die Situation ernst zu nehmen.

„Ganz ruhig, Rotschopf. Sie sind verletzt und verwirrt. Nehmen Sie die Waffe runter und lassen Sie sich von mir helfen.“

Sie schwankte. „Bleiben Sie weg. Bleiben Sie einfach weg.“

Er stürzte sich auf sie. Die Frau schrie auf und schlug nach ihm, aber sie war so schwach, dass John dem Schlag mit Leichtigkeit ausweichen konnte. Er griff nach der Waffe, doch bevor er sie fassen konnte, rutschte sie der Frau aus der Hand und fiel zehn Meter tief den Abhang hinunter.

„Was zum Teufel wollten Sie mit einer Waffe?“, fragte er und schüttelte die Frau ein wenig.

Sie blinzelte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. „Ich dachte, ich dachte … Richard …“

Seine Konzentration verließ ihn für einen Moment, als eine Woge feuchtes zimtfarbenes Haar über seinen Arm strich. Gleichzeitig stieg ihm der Duft von Akeleien in die Nase. Er betrachtete ihr Gesicht aus der Nähe. Ihre alabasterfarbene Haut war so rein wie frisch gefallener Schnee. Er zuckte zusammen, als er die violetten Prellungen an ihren Schläfen und den Schnitt an ihrem Kinn sah. Selbst ihre Nase war angeschlagen. Aber die darunterliegende Schönheit berührte ihn so, dass es John durch seinen Fliegeroverall hindurch bis auf die Knochen spürte.

Zu seinem Missfallen hatte sie die unglaublichsten braunen Augen, die er je gesehen hatte. „Wie heißen Sie?“, rief er über das Dröhnen des Windes und des Hubschraubermotors hinweg. Dabei beobachtete er sie genau, um zu sehen, wie klar sie noch im Kopf war.

„Ich …“ Sie runzelte die Stirn und blinzelte ihn dann an. „Ich, ich bin …“, stammelte sie.

Sie war blass und verwirrt und zeigte damit klare Anzeichen für eine Unterkühlung, so wie man sie bei diesen Wetterbedingungen erwarten konnte. Angesichts ihres geistigen Zustandes ging er davon aus, dass sie schon eine ganze Weile hier lag. Eine Jeans und ein Pullover waren kein ausreichender Schutz gegen Minusgrade und Windböen um die vierzig Knoten. Ihr Haar war feucht. Er schaute auf ihre Füße und fluchte. Sie trug nicht einmal Schuhe. Dann war mit ernsthaften Erfrierungen zu rechnen, was ihn daran erinnerte, sie so schnell wie möglich hier rauszuholen.

„Ist jemand bei Ihnen?“, fragte er.

Sie zuckte zurück, und er sah, wie neue Panik in ihren Augen aufblitzte. „Ich, ich weiß es nicht.“

„Kommen Sie, bleiben Sie bei mir.“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie fest an. „Sind Sie allein?“, drängte er. „Ich muss wissen, ob hier unten noch jemand ist, den ich in den Hubschrauber bringen muss.“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Sie blickte angespannt über ihre Schulter. „Ich glaube aber, ich bin allein.“

„Gut.“ Er stützte die Frau mit seinem linken Arm, während er mit der anderen Hand das Geschirr an ihr befestigte und dabei versuchte, nicht auf den eng anliegenden Pullover zu achten, der ihm im Moment vollkommen egal sein sollte. „Wie sind Sie hierhergekommen?“

„Er hat mich gejagt.“ Sie sah ihn erschrocken an. „Oh nein, oh Gott! Richard, bitte, ich …“

„Ganz ruhig“, sagte er. „Beruhigen Sie sich.“

„Ich lasse nicht zu“, stammelte sie.

„Schluss jetzt!“ John übermannte ein alarmierendes Gefühl. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein durchdrehendes Unfallopfer, mit dem er an einem dünnen Seil über einem unwirtlichen Terrain schwebte. „Sehen Sie mich an.“

Als sich ihre Blicke trafen, sah er die lebendige Angst in ihren Augen und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Irgendetwas oder irgendjemand hatte diese Frau zutiefst verängstigt. „Mein Name ist John. Ich bin nicht hier, um Ihnen wehzutun. Niemand wird Ihnen wehtun. Sie sind in Sicherheit. Haben Sie das verstanden?“

Ihre Lider flatterten, und ihre Augen schlossen sich. Im selben Moment gaben ihre Knie unter ihr nach. John fing die Frau gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie zu Boden fiel.

„Na super“, murmelte er. Er schob sie auf Armeslänge von sich, zurrte das Geschirr fest und verband es mit seinem, sodass ihr schlaffer Körper eng an seinen gepresst wurde. „Wir werden jetzt hinaufgezogen. Entspannen Sie sich einfach, und genießen Sie den Flug.“

Sie regte sich. „Ich spüre meine Hände nicht“, flüsterte sie. „Sie sind taub. Ich kann mich nicht festhalten.“

„Das müssen Sie auch nicht. Ich halte Sie fest.“ Er nahm ihre Hände in seine. Selbst durch seine dicken Handschuhe spürte er, wie sehr sie am ganzen Körper zitterte.

„Lassen Sie mich nicht los“, flüsterte sie.

Er legte ihre Hände an seine Brust und seine Arme um ihre Schultern. „Ich werde Sie nicht loslassen, versprochen.“

Dunkle schimmernde Augen sahen zu ihm auf. Er hatte vorgehabt, sie beruhigend anzulächeln – so wie die hundert anderen Zielobjekte zuvor. Aber die Kraft hinter ihrem Blick ließ ihn innehalten. Für einen Moment vergaß er den wirbelnden Schnee und das Rauschen des Windes um sich herum. John konzentrierte sich allein darauf, ihren Körper an seinem zu spüren und in die angstvollen, umwerfend schönen Augen zu sehen.

„Komm schon, Maitland. Machst du da unten ein Picknick oder was?“ Buzz’ Stimme knisterte mit der Finesse einer Kettensäge durch den Kopfhörer in seinem Helm. „Beeil dich.“

John schüttelte sich und zwang sich, sich auf seinen Job zu konzentrieren. Dann signalisierte er seinen Kollegen, dass sie ihn hochziehen konnten. Einen Augenblick später spannte sich das Seil. Die Frau keuchte, als sie von den Füßen gerissen wurden.

„Die verdammte Winde hat die Feinfühligkeit eines Gorillas“, grummelte er, um sie zu beruhigen. Er wusste, dass es keinen Menschen gab, der die Winde besser bedienen konnte als Buzz Malone.

Wieder schweiften Johns Gedanken zu der Frau, die eng an ihn gedrückt mit ihm zum Helikopter hinaufgezogen wurde, und zu der Wirkung, die diese Nähe auf seinen Körper hatte. Er versuchte, an den Tropf zu denken, den er ihr gleich legen würde, an die notwendigen Untersuchungen und an den Funkspruch, den er zum Lake County Hospital absetzen würde, aber die Tatsache, dass diese wunderschöne, verängstigte Frau so eng an ihn gepresst war und ihren Kopf an seiner Brust barg, störte seine Konzentration gewaltig. Sie klammerte sich förmlich an ihn, als wäre er ihre Rettungsleine. Selbst durch den dicken Stoff seines Fliegeroveralls konnte er ihre Kurven spüren. Diese Frau war so zierlich und weich. Sie war kurvig wie eine Bergstraße und zweifelsohne genauso gefährlich. Ihr Haar wehte ihm lose vor den Helm.

Er sollte nicht zugeben, wie gut es sich anfühlte, ihr so nahe zu sein. Immerhin war er Rettungssanitäter. Und sie eine Traumapatientin, die vor nicht einmal zwei Minuten eine Pistole auf ihn gerichtet hatte. Gott allein wusste, was für ein Mensch sie war.

Doch abgesehen davon wusste John, dass er selbst unter den besten Umständen der letzte Mann auf Erden war, der das Recht hatte, die Verletzlichkeit dieser Frau auszunutzen.

Er zwang seine ungewöhnliche Reaktion auf diese Frau nieder und konzentrierte sich wieder auf die vor ihm liegenden Aufgaben. Er musste die Frau in den Hubschrauber schaffen und untersuchen. Die Fahrt nach oben war schnell und turbulent. Der Wind wirbelte sie herum, aber die Frau sagte keinen Mucks. Als eine extrem starke Böe sie beide in Richtung der Helikopter-Kufen drückte, drehte sich John mitten im Flug herum und fing den Aufprall mit seinem Rücken ab.

„Wurde auch langsam Zeit, dass du auftauchst“, brummte Buzz Malone über das Dröhnen der Rotorblätter und den tosenden Wind hinweg. „Was haben wir?“

„Unterkühlung, vielleicht Erfrierungen, Prellungen, Brüche.“ Seine Kollegen zogen sie beide in den Hubschrauber. John sah die Frau in seinen Armen an und spürte eine aufwallende Lust. Na super. „Das haben Sie wie ein Profi gemacht“, sagte er zu ihr.

Ihre Blicke trafen sich. Trotz ihrer vorherigen Panik und ihren Verletzungen blitzte ein kleines Lächeln um ihre Mundwinkel auf. Es berührte ihn, wie es Worte nie gekonnt hätten. Einen Moment lang konnte er den Blick nicht abwenden. Gleichzeitig spürte er ein seltsames, völlig unbekanntes Gefühl in seiner Brust. Er wollte etwas Lockeres sagen, aber zum ersten Mal in seinem Leben verließ ihn sein Witz. Er fühlte sich, als hätte ihm gerade jemand mitten zwischen die Augen geschlagen. Er konnte nichts anderes tun, als diese Frau anzustarren und zu hoffen, dass seinen Kollegen nicht auffiel, dass er gerade seine Sprache verloren hatte.

„Willst du den ganzen Tag so dastehen oder lässt du mich sie jetzt endlich von dir abkoppeln, damit wir ihr einen Tropf legen können?“

Beim Klang von Buzz’ Stimme zuckte John zusammen. Zu spät bemerkte er, dass sich die Frau nicht länger aufrecht halten konnte und er sie einfach nur in den Armen hielt. Schnell löste er ihr Geschirr und übergab sie den beiden wartenden Männern.

„Was zum Teufel ist los, John? Bist du da draußen vom Blitz getroffen worden oder was?“, fragte Buzz.

„Muss der Felsen gewesen sein, gegen den Flyboy mich geschleudert hat“, murmelte er. Er wusste nicht, warum er so stark auf die Frau reagierte. Er war bereit, es auf seine lange vernachlässigte Libido zu schieben und trat entschlossen einen Schritt zurück. Er würde das alles vergessen.

Aber das konnte er nicht. Ebenso wenig konnte er das verdammte Gefühl abschütteln, dass er gerade sehr dünnes Eis betreten hatte und kurz davorstand, sich Hals über Kopf in etwas zu stürzen, dass ihm viel mehr rauben würde als nur seinen Atem.

Ihr Blick ließ ihn auch nicht los, als Buzz und der Assistenzarzt Pete Scully sie auf drei hochhoben und auf die Trage legten. Bewaffnet oder nicht, sie hatte immer noch die unglaublichsten Augen, die John je gesehen hatte. Sie wirkten wie weiche, ausdrucksstarke Seen von der Farbe teuren Cognacs, intelligent. Die Frau hatte ihn mit einer Mischung aus Erleichterung und Dankbarkeit angesehen – und mit der unmissverständlichen Erkenntnis, dass er ihr Leben gerettet hatte.

Natürlich schmeichelte das seinem Ego. Er kannte niemanden in seinem Job, der das nicht genoss. Er reagierte nun einmal auf sie, na und? Es war eine ganze Weile her, dass er mit einer Frau zusammen war. John war kein Draufgänger, er wusste um die Gefahren, wenn er sich zu eng band. Und er würde sich nicht von einem Paar wunderschöner Augen und von seidig-rotem Haar aus der Fassung bringen lassen.

Trotzdem, seine Reaktion auf sie störte ihn beinahe ebenso sehr wie die Tatsache, dass sie ihm da unten auf den Felsen den Kopf wegpusten wollte.

„Buzz.“

Buzz riss die Folie von einer Infusionsnadel. „Was ist?“, fragte sein Chef, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.

„Sie hatte eine Waffe.“

Buzz warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Was?“

„Ich sagte, sie hatte eine Waffe.“

„Das habe ich verstanden.“ Buzz sah die Frau verwirrt an. „Wo ist sie?“

„Sie hat sie fallen lassen.“

„Hat sie dich bedroht?“

John überlegte, ob er die ganze Wahrheit sagen sollte, aber Buzz war ein ehemaliger Polizist, und John vertraute auf sein Urteil. „Sie war total verängstigt und verwirrt.“

„Heilige Scheiße! Also hat sie dich bedroht, oder?“

„Sie dachte, ich wäre jemand anderes“, sagte er schnell. Er fühlte sich, als würde er sie hintergehen, was er hasste. Er schuldete ihr nichts. Nach allem, was er wusste, konnte sie auch eine Kriminelle sein.

„Wen hat sie erwartet, Jack the Ripper?“

„Sie hatte Todesangst.“

„So viel Angst, dass sie eine Waffe auf den Mann richtet, der versucht, ihr Leben zu retten?“

John schaute auf die blasse Frau hinunter, die auf der Trage lag. „Ich glaube nicht, dass sie vorhatte, sie zu benutzen.“

Buzz fluchte. Seine Miene war finster. „Öffne die Infusion, Scully“, befahl er angespannt. „Führen wir ihr ein wenig Flüssigkeit zu.“

Buzz begann mit einer Schere, ihren Pullover und ihre Jeans aufzuschneiden. Er zögerte einen Moment, als er die violetten Prellungen an ihren Armen und ihrer Kehle sah. „Verdammt!“

„Aber echt.“ Petes Kiefer zuckte, als er seinen Blick von dem blutunterlaufenen Körper der Frau zu Buzz wandern ließ.

John starrte auf die dunklen Flecken auf ihrem Hals. Sie waren wie ein perfekter Abdruck von den Fingern eines Mannes. Wut loderte in ihm auf. Übelkeit tobte in seinem Magen, als ihn die Erinnerungen an eine andere Frau heimsuchten. Eine Frau mit Angst in den Augen und Prellungen am Körper. John verspürte eine brennende Scham und tiefes Bedauern.

„Sieht aus, als hätte sie versucht, sich zu verteidigen“, sagte Pete.

Die Frau wollte sich aufsetzen. Ihre Augen waren auf die Schere gerichtet. „Bitte nicht!“

John wusste, dass Buzz in seinen vielen Jahren als Cop und später als Rettungssanitäter zu viel gesehen hatte, um sich von solchen Prellungen beunruhigen zu lassen. „Versuchen Sie, sich zu entspannen“, beruhigte Buzz sie. „Wir werden Sie gegen Ihre Unterkühlung behandeln. Dazu müssen Sie aus Ihrer feuchten Kleidung raus. Können Sie noch einen Moment für mich stillhalten?“

Unkontrolliert zitternd legte sie sich wieder zurück und presste die Augen zu. Doch John sah, wie angespannt sie war. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und biss die Zähne fest zusammen. Ihr gesamter Körper zitterte gewaltig. Er fragte sich, ob das von der Kälte kam oder von dem Grauen, dass sie unter den Händen von wem auch immer erlitten hatte. Der Gedanke machte ihn krank.

Als ihre schöne Haut in Sicht kam, wandte John den Blick ab. Er hatte im Laufe der Jahre genügend Patienten gesehen, die für die Notaufnahme vorbereitet wurden. Meistens musste man ihnen die Kleidung vom Leib schneiden, damit die Profis die Verletzungen versorgen konnten. In diesem Fall war es wichtig, die feuchte Kleidung abzunehmen, um ihre Unterkühlung zu behandeln. Ob bei Männern oder Frauen, sein ganzes Berufsleben lang hatte ihn diese Prozedur völlig kaltgelassen. Die Tatsache, dass es diesmal anders war, bereitete ihm Unbehagen. Es war eine verdammt unprofessionelle Reaktion für einen Mann, der sein Leben der Kunst gewidmet hatte, sich niemals emotional auf etwas einzulassen.

John folgte einer festen Regel, seit er mit siebzehn die Mietwohnung in Philadelphia verlassen und nie wieder zurückgeblickt hatte. Lass dich niemals auf etwas ein. Nicht auf einen Menschen in seiner Umgebung, nicht auf seine Patienten und erst recht nicht auf eine Frau. In den vergangenen dreizehn Jahren hatte er diese Regel nur einmal gebrochen und einen fürchterlichen Preis dafür gezahlt. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Aber warum klopfte dann jetzt sein Herz wie eine Trommel, als er sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und über ihre vom Wind verbrannten Wangen rollten?

John griff in den Arztkoffer, holte eine isolierte Decke heraus und faltete sie auseinander. Dann trat er an die Trage und legte ihr die Decke über. „Warum weinen Sie, meine Schöne?“

Ihr Blick klammerte sich an seinem fest. Ihre Lider wurden schwer. „Ich dachte, ich würde sterben.“

„Ich habe vergessen zu erwähnen, dass das niemals in Aussicht stand“, sagte er leichthin.

Sie schloss die Augen, doch um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. „Sie sind ziemlich herrisch.“

„Das liegt daran, dass ich hoffnungslos egoistisch bin.“

„Ich bin gewillt, das zu übersehen. Sie haben mir das Leben gerettet.“

Alarmiert bemerkte John, dass sie begann zu lallen. Er griff in das Regal über sich und öffnete ein Wärmepack. Dann drückte er es einmal, um es zu aktivieren, und legte es ihr auf den Bauch. „Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, Rotschopf, aber ich bin verdammt gut in meinem Job.“

„Und so bescheiden.“

Ihre Stimme war so leise, dass John sich ganz nah über sie beugen musste, um sie zu verstehen.

Buzz verzog das Gesicht. „Ihr Atem geht zu langsam. Sie hat aufgehört, zu zittern. Die Körpertemperatur liegt bei fünfunddreißig Grad. Noch sind ihre Pupillen nicht erweitert, aber ich will keine Arrhythmie riskieren. Wir müssen sie aktiv wärmen. Pete, führ ihr etwas Sauerstoff zu, okay?“

Bevor er wusste, was er tat, drückte John seine Finger an ihre Wangen und spürte, wie kalt ihre Haut war. „Bleib bei mir, Rotschopf. Komm schon, halt die Augen offen.“

Pete entfernte die Verpackung einer weiteren Infusionsnadel, während Buzz den Handrücken der Frau mit Alkohol reinigte. Sie zuckte nicht einmal, als die Nadel in ihre Vene glitt. Da er sah, dass Buzz und Pete die Situation unter Kontrolle hatten, stand John auf. Er wusste, es war dumm, aber er wollte sie nicht allein lassen.

Er schüttelte den Gedanken ab und machte sich auf den Weg zum Funkgerät, um sie im Krankenhaus anzumelden, doch seine Stimme verließ ihn. Er drehte sich zu der Unbekannten um, die ihn nun wieder schwach ansah.

„Danke, dass Sie mein Leben … gerettet haben“, flüsterte sie.

Sein Nacken wurde ganz heiß, und er öffnete den obersten Knopf seines Overalls. „Jetzt halten Sie aber auch Ihren Teil der Vereinbarung ein, Rotschopf.“

„Und was ist mein Teil der Vereinbarung?“

„Ich würde mich damit zufriedengeben, wenn Sie wach bleiben, bis wir im Krankenhaus ankommen. Meinen Sie, dass Sie das schaffen?“

„Willst du den ganzen Tag hier rumsitzen und sie mit großen Augen anglotzen, Maitland, oder gibst du jetzt endlich dem Krankenhaus unsere ungefähre Ankunftszeit durch?“

John sah seinen Teamleiter missmutig an, doch zum zweiten Mal an diesem Tag musste er feststellen, dass ihm kein kluger Kommentar einfiel. Er wusste, er würde sich später noch einiges anhören müssen. John, der Unberührbare, wurde angesichts einer hübschen Frau mit einer Flut an roten Haaren und unzweifelhaft großen Problemen plötzlich weich.

Er unterdrückte einen Fluch und ging zum Funkgerät, um das Lake County Hospital anzufunken. „Hier ist RMSAR Eagle zwei neun. Wir haben eine Unbekannte im Anflug. Ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt. Vermutlich Kopfverletzung. Mittlere Unterkühlung. Atmung langsam. Körpertemperatur fünfunddreißig Grad. Keine Anzeichen einer Arrhythmie. Eventuell Erfrierungen mit Gewebeschäden. Verschiedene oberflächliche Verletzungen. Wir brauchen eine CT. Ungefähre Ankunftszeit in zwölf Minuten.“

Während der Vermittler antwortete und ihm die Freigabe zur Landung erteilte, riskierte John einen Blick auf die rothaarige Schönheit auf der Trage. Er war nicht sicher, warum sie in ihm einen so starken Beschützerinstinkt weckte. Sie würde wieder gesund werden. Ihre Verwirrung würde sich legen, sobald es ihnen gelungen war, ihre Körpertemperatur wieder auf Normalmaß zu bringen. Ihre Finger und Zehen mochten vielleicht vom Frost etwas mitgenommen sein, aber keine ihrer Verletzungen wirkte lebensbedrohlich, wenn man von der Prellung an ihrem Hals absah.

Spätestens wenn sie am Krankenhaus ankamen, hätte er diesen männlichen Beschützerquatsch überwunden. Er schaute auf die Uhr. Noch elf Minuten.

Ja, in elf Minuten wäre alles wieder gut.

2. KAPITEL

Sie wurde von einer wunderbaren Wärme umgeben, so als ob sie in einer warmen Badewanne läge. Ihre Muskeln und Sehnen entspannten sich endlich. Der Nebel, der um ihr Gehirn waberte, dämpfte den Schmerz in ihrem Kopf und ihren Gliedern und das aggressive Pochen in ihren Händen und Füßen.

Sie war noch nie zuvor schwerelos in freier Luft geschwebt, doch es fühlte sich großartig an. Am meisten jedoch genoss sie in diesem Traum den Mann in dem orangefarbenen Fliegeroverall. Er hatte schwarzes, kurz geschnittenes Haar, elektrisierende blaue Augen und ein teuflisch attraktives Grinsen. Der Mann, der aus dem Himmel zu ihr gekommen war, um sie zu retten.

Wovor eigentlich?

Panik wallte wieder in ihr auf. Die Wärme verflog, und an ihre Stelle trat etwas Dunkles, das nach ihr griff. Ein grauenhaftes Gefühl legte sich über sie wie der Schatten eines riesigen Raubtieres, das zum Angriff bereit war. Sie fühlte sich bedroht und verfolgt, doch ihr Kopf schien nicht sagen zu können, von wem oder was.

Zufrieden darüber, in die schützende Wärme des Schlafes und zu ihrem Traum von dem Mann mit den lebhaften blauen Augen zurückkehren zu können, sank sie in die Dunkelheit zurück und ließ sich treiben.

„Aufwachen, Liebes! Sie haben Besuch.“

Eine fröhliche weibliche Stimme drang in ihre schöne Traumwelt ein. Sie öffnete die Augen. Grelles Licht stieß ihr entgegen und brachte einen Schmerz mit sich, der so mächtig war, dass ihr Blick verschwamm. Sie unterdrückte ein Stöhnen und hob die Hand, um ihre Augen abzudecken. Dabei sah sie, dass ihre Finger verbunden waren. Verwirrt blinzelte sie und senkte den Arm. Sie versuchte, sich auf die zwei verschwommenen Gestalten zu konzentrieren, die ein paar Schritte von ihrem Bett entfernt standen.

„Wo bin ich?“ Ihre Kehle fühlte sich so rau an, als sei sie zwei Mal über eine Käsereibe gezogen worden.

„Im Lake County Hospital“, sagte die weibliche Stimme. „Sie sind gestern Morgen hier eingeliefert worden. Wie fühlen Sie sich?“

Sie blinzelte, um den Nebel aus ihrem Gehirn zu vertreiben. Eine grauhaarige Frau mit gütigen Augen und schokoladenbrauner Haut trat in ihr Sichtfeld und lächelte sie an. „Ich bin Cora, Ihre Schwester. Lassen Sie mich schnell Ihren Puls fühlen, wenn Sie schon einmal wach sind.“

Eine Krankenschwester, dachte sie. Ein Blick auf den Monitor neben ihrem Bett bestätigte, dass sie im Krankenhaus war. Ein leichtes Gefühl der Verwirrung wirbelte durch ihren Kopf. Sie war im Krankenhaus. Im Krankenhaus?

Was zum Teufel hatte sie hier zu suchen?

Bevor sie die Frage stellen konnte, nahm die Schwester ihre Hand und legte einen Finger auf ihr Handgelenk. Erst da erinnerte sie sich wieder an den Besucher. Sie drehte den Kopf und blinzelte die Gestalt an, die an der Tür stand. Es war der Mann aus ihrem Traum, und er sah sie wie gefesselt an. Dabei grinste er lässig.

„Hey, Rotschopf. Wie läuft’s heute Morgen?“

Rotschopf? Ihr verwirrter Geist brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er mit ihr sprach. Sie versuchte zu antworten, doch ihr gelang nur ein Krächzen. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Hier läuft heute Morgen gar nichts.“ Sie hatte keine Kraft zu erwähnen, dass lediglich ihr Magen auf Hochtouren lief, sobald der Geruch von Eiern und Speck aus der Krankenhausküche in ihr Zimmer waberte.

„Tut mir leid, das zu hören. Aber Sie sehen gut aus.“

„Wenn ich so aussehe, wie ich mich fühle, lügen Sie.“

Trotz ihres pochenden Schädels und der verschwommenen Sicht bemerkte sie die Kraft, die hinter seinem Lächeln steckte. Er hatte den Fliegeroverall gegen eine ausgeblichene Jeans getauscht, die sich an seine schmalen Hüften und seine muskulösen Oberschenkel schmiegte. Dazu trug er ein offenes Flanellhemd über einem schwarzen T-Shirt, auf dem in weißen Lettern SANITÄTER stand und das sich eng über eine breite, muskulöse Brust spannte. Geschnürte Wanderstiefel verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der sich in der Natur sehr wohlfühlte. Aber es waren seine Augen, die ihren Blick so anzogen, dass sie ihn nicht abwenden konnte. Nie hatte sie blauere Augen gesehen. Es war ein Blau, das man nur in großer Höhe fand, mit einem Hauch von Eis und Winterdämmerung darin – und verdammt viel männlicher Attitüde. Sein schwarzes Haar war beinahe militärisch kurz geschnitten, dennoch wirkte der Mann nicht glatt. Nicht mit dem zarten Bartschatten auf seinem Kinn oder dem gefährlichen Grinsen und den perfekt geformten Lippen. Selbst in ihrem Zustand brauchte sie keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass er der wahr gewordene Traum einer jeder Frau war.

Guter Gott, er sah aber auch gut aus! Schade nur, dass sie im Augenblick nicht einmal aufstehen konnte, ohne sich auf seine Füße zu übergeben.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.

„Kopfschmerzen.“ Sie versuchte, zu schlucken, aber ihr Mund fühlte sich trocken und wund an. „Als ob ein Güterzug durch mein Gehirn saust.“

Die Krankenschwester ließ ihre Hand los und tätschelte sie dann mütterlich. „Kopfschmerzen sind bei einer Gehirnerschütterung ganz normal. Ich kann Ihnen etwas Paracetamol geben, wenn Sie mögen.“

Sie blinzelte die Frau verwirrt an. Gehirnerschütterung? Das erklärte wenigstens ihre Kopfschmerzen und die Übelkeit, die in ihrem Magen tobte. Aber wie hatte sie sich die zugezogen? Sie hob die Hände und musterte die Verbände. Warum waren ihre Finger bandagiert? Was hatte sie überhaupt in einem Krankenhaus zu suchen? Und wer zum Teufel war der attraktive Naturbursche, der da stand und sie ansah, als warte er darauf, dass sie ihm Antworten auf Fragen gab, auf die sie selber keine Antworten wusste?

„Wie heißen Sie, meine Liebe?“, fragte die Schwester.

Die Frage warf sie für einen Moment aus der Bahn. Natürlich kannte sie ihren Namen, doch dass sie sich nicht daran erinnerte, musste an der Gehirnerschütterung liegen, die ihren Geist vernebelte und sie so wirr fühlen ließ. In einer Minute würde er ihr schon wieder einfallen. Sie müsste nur die Augen schließen und sich ein wenig entspannen, damit sich ihr Gehirn beruhigen und sie entspannt nachdenken konnte.

„Wie ich heiße?“ Ihr Herz begann vor Angst zu rasen, als ihr langsam dämmerte, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie hieß. Ihr Herz klopfte im gleichen Takt wie der pochende Schmerz in ihrer Brust. Die nachfolgende Panik zwang sie, sich aufzusetzen, doch ein stechender Schmerz in ihrer linken Schläfe drückte sie wieder in die Kissen zurück.

Die Krankenschwester und der Mann traten gleichzeitig näher.

Sie versuchte, sich wieder hochzustemmen, aber der Schmerz in ihren Fingern hielt sie zurück. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie ernst ihre Verletzungen waren. Hatte sie etwa einen schrecklichen Unfall gehabt?

„Ganz ruhig, Liebes. Das ist nur die Gehirnerschütterung, die alles ein wenig durcheinanderbringt“, sagte die Schwester. „Versuchen Sie, sich zu entspannen. Dr. Morgan ist gerade noch auf Visite. Sie wird bald hier sein und mit Ihnen reden.“

Das war nicht das, was sie hören wollte, und nicht das, was sie hören musste. Ihre erste Aufgabe des Tages bestand darin, sich an ihren Namen zu erinnern. Wie konnte man nur seinen eigenen Namen vergessen?

„Ich weiß meinen Namen nicht.“ Ihre Worte steigerten die Angst in ihrem Inneren und übertrafen damit das brodelnde Grauen ihres blassen Albtraumes, das immer noch in ihrem Hinterkopf lauerte. „Mein Gott, ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich heiße!“ Sie sah von der Krankenschwester zu dem Mann und wieder zurück. „Wie kann das sein?“

Sie tauschten einen Blick, in dem sich Mitleid und Sorge spiegelten, was ihre wachsende Panik nicht gerade milderte. Die Ellbogen auf das Kissen hinter sich gestützt, kämpfte sie sich in eine sitzende Position hoch. „Wie bin ich hierhergekommen? Und was ist passiert?“ Sie hob ihre linke Hand und betrachte sie. Sie hatte ein wenig Angst zu fragen, warum sie verbunden war.

Ihr Blick glitt zu dem Mann. Er erwiderte ihn ruhig. Obwohl er ihre Frage nicht beantwortet hatte, war sie dankbar, dass er sie ruhig ansah, ohne den Blick sofort abzuwenden. Wenn es schlechte Nachrichten gab, so konnte sie doch wenigstens in seinen Augen sehen, dass er den Mut hatte, sie ihr geradeheraus mitzuteilen.

„Ich gehe mal Dr. Morgan suchen.“ Die Schwester tätschelte ihr Knie durch die Bettdecke. „Bleiben Sie ruhig liegen, ich bin gleich wieder zurück.“

Sie sah der Frau nach, wie sie das Zimmer verließ, und versuchte vergeblich die Angst zu ignorieren, die ihre Brust zusammenschnürte und ihren Atem beschleunigte.

„Ganz ruhig, Rotschopf, Ihr Blutdruck ist heute Morgen ein wenig hoch.“

Ihr Blick flog zu dem Mann. Langsam wurde ihr der Druck der automatischen Blutdruckmanschette bewusst, die sich um ihren linken Bizeps zusammenzog, und zum ersten Mal erkannte sie, wie nah sie dran war, eine Panikattacke zu bekommen. „Ich schätze, mein Blutdruck ist im Moment meine geringste Sorge“, murmelte sie.

„Warum lehnen Sie sich nicht zurück und atmen ein paar Mal tief durch?“

„Ich glaube nicht, dass das irgendeines meiner Probleme löst.“

„Es löst keine Probleme, aber es könnte Ihnen helfen, besser damit umzugehen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Auf drei. Tief einatmen. Bereit?“

Sie unterdrückte den Drang, ihre Augen ob der Sinnlosigkeit solcher Atemübungen zu verdrehen, wenn doch ihr gesamtes Leben nichts weiter war als ein schwarzes Loch, und atmete zitternd ein. Er tat es ihr gleich, und dann atmeten sie gemeinsam aus.

„Jetzt wissen wir zumindest, dass meine Lungen funktionieren.“ Aber noch während sie das sagte, spürte sie, wie die Panik langsam verebbte.

„Besser?“

„Ja. Unglücklicherweise wirkt es sich jedoch nicht auf mein Erinnerungsvermögen aus.“ Eine weitere Panikwelle drohte sie zu überwältigen, aber sie zwang Luft in ihre Lungen und kämpfte sie nieder. „Ich kann nicht glauben, dass das hier passiert.“

„Sie haben eine Gehirnerschütterung. Da ist es nicht ungewöhnlich, ein wenig desorientiert zu sein. Ihre Erinnerungen kommen schon zurück.“

Dessen war sie sich nicht so sicher, aber sie versuchte, nicht gegen etwas anzureden, was sie so verzweifelt glauben wollte. „Ich erinnere mich an Sie“, sagte sie. Ihr war es plötzlich sehr wichtig, sich wenigstens an irgendetwas zu erinnern.

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