×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Elementarwellen«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Elementarwellen« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Elementarwellen

»Rau und stürmisch trifft einen das Buch ins Mark.«

Raynor Winn, Autorin des Bestsellers »Der Salzpfad«

Zusammen mit ihrem Freund zieht Tamsin auf eine Insel der Äußeren Hebriden. Sie hat genug von der hektischen Großstadt London, sehnt sich nach Ruhe und wünscht sich eine Familie. Doch die Inselbewohner stehen den Neuankömmlingen feindlich gegenüber, vor allem Tamsin. Auch die ersehnte Schwangerschaft klappt nicht, ihr Freund betrügt sie und lässt sie allein und mittelos auf der Insel zurück.

Schritt für Schritt kämpft sich Tamsin zurück in ihr Leben und beginnt, aus der rauen Landschaft Kraft zu schöpfen. Sie schwimmt täglich im kalten Atlantik, renoviert ihr Haus und ernährt sich aus dem eigenen Garten. Der Feindseligkeit der Inselbewohner begegnet sie mit erodierender Widerstandskraft. Nie wieder möchte sie fort, die Insel wird zu ihrem existenziellen Zuhause.


»Eine mutige und kraftspendende Lektüre.«

Amy Liptrot, Autorin von »Nachtlichter«

»Eindrucksvoll und fühlbar. Eine Geschichte, die nach Meersalz schmeckt.«

The Sunday Times

»Eine Hymne auf die wilde Schönheit der Hebriden.«

Vogue UK


  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905997
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Cristall,
all die Flügel,
die Wildnis
und die klaren Gewässer

Kein Feuer wird mich verbrennen

Ni teintera teine mi

Noch die Sonne mich sengen

No mo ghrian a losgadh mi

Noch der Mond mich blenden

Cha leg a ’ghealch mo planadh

Noch das Wasser mich ertränken

Cha teid usage a bhathadh dhomh

»Brighids Herkunft«

Carmina Gadelica

1

Möwen

Wer in Oban ankommt, sieht als Allererstes das graue Meer

und eine schmale Bucht, die sich in den schützenden Arm des tief liegenden Hafens schmiegt. Aus der Ferne wirkt die See merkwürdig zäh, eine unförmige Wassermasse, rastlos und schwerfällig. Ein Schritt in Richtung der Fischerboote und der mächtig aufragenden Schiffe, und man riecht den gewellten, dunkel metallischen Ölfilm und den Diesel, der in sich kräuselnden Kanälen abfließt, die entstehen, wenn die Boote anlegen, an die Kais gezogen und dort sicher vertäut werden.

Das Geräusch der Wellen unterscheidet sich kaum vom Verkehrsrauschen in der City. Doch sobald man den Blick hebt und das Salz der frischen Luft schmeckt, wird einem klar, dass dieser Himmel anders als alles ist, was man zurückgelassen hat, schillernd und unbeständig. Wer darauf horcht, kann das Lachen der Möwen hören. Und jenseits davon den eindringlichen Ruf der Wildgänse, die sich in tiefer V-Formation auf ihren Weg machen.

Sich neu auszurichten und den richtigen Ort für sich zu finden ist ein außergewöhnlicher Moment. Seit Jahren hatte ich davon geträumt, auf einen rauen, weiten Horizont zu schauen – seit ich im Flur meiner Wohnung eine alte Karte von Schottland aufgehängt hatte. Sie erstreckte sich über eine komplette schmale Wand. Immer wenn ich an ihr vorüberging, streifte sie mein Blick und wurde aufgrund des Winkels jedes Mal in die Lücke zwischen den Landmassen geleitet. Es geschieht immer in diesem Transit, im Übergang von einem Ort zum nächsten, dass sich das Herz öffnet und alle Träume ihren Anfang nehmen. Ich drückte meine Nase gegen das dicke Papier, atmete seinen dumpfen Geruch ein, während mein Finger die zerklüfteten Küstenlinien der vielen verstreuten Hebrideninseln nachzeichnete, die sich im Minch, der Nordsee und dem Little Minch gegen die kräftigen Gezeiten des Atlantiks stemmten, bis hinauf zu den gewundenen Fjorden des Nordmeers. In diesen Momenten, mit geschlossenen Augen, verschwanden der lärmende Verkehr, die auf der Straße hallenden Rufe und meine türenknallenden Nachbarn in einer Böe kalter Gischt in den dicken, wirbelnden Kronen der Sturzwellen, die die salzige Luft durchnässten, während die Möwen mit ihrem klagenden Schrei den Himmel zerschnitten.

Forderten mich diese imposanten Vögel heraus, zumindest von einem wilderen Leben zu träumen, wenn ich ihnen schon nicht folgen konnte? Ich weiß nicht, was Möwen an sich haben, dass sie unseren Blick dazu einladen, sich vom Horizont zu lösen und nach einem Himmel dahinter Ausschau zu halten, der sich jenseits unserer unmittelbaren Umgebung erstreckt. Immer wenn ich ihre wehklagenden Schreie höre, verfängt sich mein Herz und wagt es, sich treiben zu lassen. Es ist, als würde sich etwas in meinem Innern losmachen, die feinen Bande und engmaschigen Netze entwirren, die einen an ein Leben binden, von dem man weiß, dass es zu eng ist. Manchmal erschrak ich, wenn ich die Augen öffnete und das zerknitterte Papier wahrnahm, fest an die Haut meiner Wange gepresst. Dann ging ich schnell zur Tür, riss sie auf und stand da, mit erhobenem Blick und angespannten Schultern, und schaute in den dünnen, blassblauen Himmel über den Autos und Bussen. Ich hörte die Möwen und sah sie weit in der Ferne schweben, versprengte weiße Lichtverwehungen, die hoch über der City kreisten. Mein Kompass, inmitten eines blauen Orbits, der sämtliche Kontinente und Orte umfasste, zog mich und führte mich geradewegs von Londons Zentrum nach Oban und zu ebendiesen wellenumtosten Inseln, die von ihrem rastlosen Meer umspült wurden.

Auf Obans regennasser Promenade zittert die Nadel.

»Also, was meinst du?«

»Hmm?«, frage ich und schlage den Jackenkragen hoch bis unter die Ohren.

»Hier.«

Als ich zu meinem Mann Rab schaue, wedelt er mit einer aufgeweichten Zeitung. Wir drängen uns in einem schmalen Hauseingang aneinander wie Frischvermählte, nur ist die Umklammerung eher der Not als unserem Verlangen geschuldet. Atemlos versuchen wir, Wind und Regen zu entkommen. Wir zittern in unseren viel zu dünnen Jacken, bis auf die Haut durchnässt, das kalte Gemäuer bietet kaum Schutz vor einem dieser sintflutartigen Wolkenbrüche, wie ihn das Obaner Wetterrepertoire, das werden wir schon bald lernen, regelmäßig zu bieten hat. Der Regen kommt wie aus dem Nichts, als hätte der Himmel mit einem Mal seine Schleusen geöffnet. Die ganze graue Promenade ist beherrscht von den Wassermassen, sie klatschen auf die schimmernden Gehsteige und spritzen von dort wieder hoch auf alles, was sich in ihrem Umkreis befindet. Ein beeindruckender Schauer und ein unerbittlicher Guss. Ich fühle, wie meine Zehen schrumpelig werden, blutleer und durchgefroren in meinen Schuhen.

Als der Wind Rab beinahe die Zeitung aus der Hand weht, rennen wir los, quer über die Straße in ein verrauchtes Gasthaus, in dem es durch und durch nach Torf riecht, wir lachen, unsere Jeans klatschnass. Als wir die Tür öffnen, stolpern wir in eine andere Zeit, eine andere Welt. Alles ist aus Holz, kuschelig warm, von kleinen Petroleumlampen erleuchtet. Als ich aus dem Fenster auf die Boote sehe, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass mich keine Familie, Verwandte oder Freunde an diesen Ort binden. Ein ungewohntes, seltsam befreiendes Gefühl. Der Himmel verdunkelt sich bereits, wird an seinen Rändern tiefblau, und so halten sich die Augen an das Licht und blinzeln, überrascht über die Erkenntnis, dass sie weit weg von zu Hause sind. Doch trotz der langen ermüdenden Fahrt bin ich aufgeregt, denn mir wird plötzlich klar, dass Schottland ein anderes, lebendiges Land ist, dass uns nun eine ganze Welt von den Zwängen unseres Londoner Daseins trennt. Manchmal kann sich das Leben beengt anfühlen, als trüge man einen Pullover, der im Laufe der Zeit zu klein geworden ist, in dem man sich nicht bewegen kann. Man will sich strecken und ihn abstreifen. Jahrelang hatte ich mir insgeheim gewünscht, den letzten Faden abzureißen. Und jetzt, noch immer kribbelig von dem kalten Wind, der sich draußen um mich gelegt hatte, fühle ich mich unerwartet wach und aufgekratzt. Veränderung ist frisch, messerscharf und vitalisierend. Man zittert vor Aufregung und Kälte.

»Also, was meinst du?«, fragt Rab noch einmal, eine halbe Stunde später, als uns an der Theke zwei Dram Whisky eingegossen werden, die im sanften Licht bernsteinfarben funkeln. Er legt die Hand um das stumpfe Glas.

»Ich glaube, ich könnte mich an das hier gewöhnen«, antworte ich mit glänzenden Augen. Nervös nehme ich einen Schluck von dem Whisky und spüre, wie mich seine Wärme durchflutet. Mit einem Mal kommt es mir gleichzeitig traumgleich und Furcht einflößend real vor, dass wir uns getraut haben, uns in ein anderes Leben aufzumachen. Mir ist immer noch kalt, die Jeans klebt mir an den Beinen, meine Haare sind nass, Wasser tropft in meine Augen.

»Hier, wirf da mal einen Blick drauf.« Rab reicht mir das Stück Zeitung. Es ist so dünn und feucht, dass es am Rand schon einreißt. Ich lege es hin und streiche die Seite vorsichtig glatt. An manchen Stellen ist die Druckerschwärze verlaufen. Und dann sehe ich es.

Die Annonce ist klein, darin ein briefmarkengroßes Foto von einem verfallenen, verwahrlosten Grundstück auf einer Insel. Seit Jahren träume ich von den Wellen und dem wilden Horizont, und da sind sie nun.

Sämtliche Details waren verschwommen, doch ich wusste, dass es eine dieser glücklichen Fügungen war, die ein Leben für immer verändern können. Dieser offene Himmel und das Cottage, die Anbauten und die darbenden Felder sprachen zu mir. Vielleicht war es die Aura stiller Verlassenheit, die mich augenblicklich anzog. Ich stellte mein Glas ab und spürte, wie sich etwas in mir löste.

Sag noch nichts, dachte ich und wünschte mir Rabs Schweigen. Mit angehaltenem Atem ballte ich meine Finger zu Fäusten. In meinem Herzen hatte ich keinen Zweifel. In meinem Kopf wusste ich, dass es perfekt war. Abgesehen von einem Haken: Es lag auf einer Insel. Und auf einer Insel zu leben, so hatten wir uns geschworen, war das eine, was wir niemals tun würden.

»Tja, das wäre perfekt, was?«, bricht Rab schließlich das Schweigen. Wir sehen einander an. Dann wenden wir den Blick ab. Wir beide wissen, was wir nicht aussprechen. Ich sage es zuerst, wiederhole unseren Schwur.

»Nicht auf einer Insel.« Ich verziehe das Gesicht. »Das ist zu abgeschieden. Unpraktisch, macht alles komplizierter, unmöglich, Arbeit zu finden. Und wie sollen wir uns dort integrieren? Kannst du dir vorstellen, auf einer Insel zu leben?« Mein Blick wandert zur Decke, und ich schüttle den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Eine Insel ist zu einsam.«

»Okay, also das Nächste.« Rab zuckt mit den Achseln und blättert um. Doch es gibt kein Nächstes, nichts, was unsere Neugier weckt.

Wir bleiben noch eine Weile in der Kneipe, ins Gespräch vertieft, schmieden Ideen. Als ich aus dem Fenster sehe, klart der Himmel auf. Dort draußen, in diesem Meer, liegen all diese Inseln. Und auf einer, ein wenig abseits von allen anderen, steht ein kleines verfallenes Gehöft leer, das nur darauf wartet, von jemandem geliebt zu werden, von jemandem gefunden zu werden, damit es endlich ein Zuhause werden kann. Ich versuche, nicht daran zu denken, doch es bahnt sich immer wieder den Weg zurück in meine Gedanken, wie um mich zu finden. Während ich die dunklen Wogen betrachte, weiß ich, dass irgendeine neue Richtung uns erwartet. Und auch wenn es keinen Sinn ergibt, fühlt es sich so an, als würden wir, genau wie die Gänse, einem wilderen Anblick oder dem Ruf unseres Herzens folgen, um irgendwie den Weg nach Hause einzuschlagen.

In London hatte ich glückliche Jahre verbracht. Ich lebte in Notting Hill in einer Erdgeschosswohnung, ein kleines Eisentor führte hinaus in den gemeinschaftlich genutzten Garten. Es war ein ruhiger Zufluchtsort im Herzen Westlondons, umgeben vom Trubel der kosmopolitischen Nachbarschaft. Das war Jahre, bevor der Film mit Julia Roberts und Hugh Grant herauskam, zu einer Zeit, als man sein Gemüse noch bar bezahlte und in einer braunen Papiertüte nach Hause trug, alle Straßenverkäufer mit Vornamen kannte und Zigaretten an der Kasse des Spielwarenladens Ecke Kensington Park Road bekam. Das Leben war wie eine Mandala-Kette, eine glitzernde, fragile Abfolge von Partys, ein rastloses, schnellfeuerartiges Auf-dem-Sprung-sein. Eine hoffnungsvolle Zeit, in der man von seiner wundervollen Zukunft träumte, während der Britpop einen wieder auf den Boden zurückholte.

Ich verstand einfach nicht, warum niemand sonst den Garten nutzte. Er war ruhig und wunderschön, nachts lag ich manchmal in Decken gewickelt da und sah hinauf zu den wenigen Sternen, während der Verkehr wellenartig aufkam und wieder abebbte. Auf unsere je eigene Weise blickten wir alle zum Horizont mit dem unruhigen Gefühl: jetzt oder nie. Jeder versuchte, es zu schaffen, in den Windschatten zu rutschen. In Wahrheit gelang es mir an den meisten Tagen mit Mühe und Not, am Ball zu bleiben, genau wie allen anderen, die ich kannte.

In den ersten Monaten lebte ich von Udon-Nudeln, Miso-Suppe, Reiskuchen und Caipirinhas, die so limettengesättigt waren, dass sie einem die Tränen in die Augen trieben. Und braunen 35-mm-Filmrollen. Fotoshootings führten mich über die BBC ins Verlagswesen und schließlich in die Werbung. Tag für Tag jagte ein Markenname den nächsten. Die Zeit verging. Meine Karriere nahm an Fahrt auf, als ich anfing, neue Business-Pitches zu leiten und regelmäßig für Shootings vor Ort in die USA zu reisen. Meine Arbeitszeit explodierte; selbst wenn ich hoch über den Wolken den Atlantik überquerte, war kein Ende in Sicht. Brauner Großstadtnebel heftete sich an die Skyline der City wie aufgequollene Anspannung.

Doch eines Tages kam mein Leben durch einen Unfall zu einem quietschenden Halt. Zwei Taxis krachten frontal ineinander, und in einem davon saß ich. Der Fahrer des anderen Wagens hatte mit Riesentempo eine rote Ampel ignoriert. Der Krankenwagen kam mit Blaulicht und raste mit mir ins nächste Krankenhaus, wo ich für ein Not-MRT in eine Metallröhre geschoben wurde. Die Schmerzen waren unerträglich. Ich konnte kaum laufen, schlafen oder im Bett liegen, an Stehen, Sitzen oder daran, ohne Schmerzensschreie den Kopf zu drehen, war gar nicht zu denken. Am Ende verabreichte man mir Morphium. Es war erleichternd, eine Atempause von den schrecklichen Schmerzen zu haben. Mein Kreuzbein war zertrümmert, ich hatte ein Schleudertrauma im Nacken und in der Brustwirbelsäule, ein durch den Aufprall nach vorn gekipptes Becken, ein gebrochenes und um neunzig Grad gedrehtes Steißbein und einen schweren Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule. Was der Körper aushalten und überstehen kann, ist unglaublich. Während des intensiven Reha-Aufenthalts zog ich Bilanz über mein Leben. Über Nacht hatte sich ein anderes Licht wie eine dunkle Linse über meine Existenz gelegt. Plötzlich war ich mir meiner eigenen Sterblichkeit bewusst, und es kam mir so vor, als würde ganz London auf einem Drahtseil zwischen Leben und Tod balancieren.

Als mein Körper wiederhergestellt war und ich mich erholt hatte, war mir klar, dass ich mich nach etwas anderem sehnte. Und dann lernte ich einen Mann kennen. Er war der Anstoß, von Notting Hill in eine größere Wohnung eine Meile weiter nördlich zu ziehen. Ich verliebte mich in Rab. Er hatte etwas Verschrobenes, Einzigartiges an sich. Er strahlte unwiderstehlichen, unbekümmerten Charme aus. Zwischen uns funkte es sofort. Unser neues, gemeinsames Zuhause lag in der Nähe eines Naturschutzgebietes, und so konnte ich immer die Möwen hören, ihren wilden Schrei, den ich so liebte. Die kleine Gemeinschaft des Viertels mit seinen winzigen Straßen machte einen fröhlichen, familienfreundlichen Eindruck und war anders als meine frühere Nachbarschaft. Eines Tages gewann ich auf dem Jahrmarkt einen Plastikbeutel voller Goldfische. Wir hatten gerade Besuch von Freunden und legten mit ihrer Hilfe im Garten einen kleinen Teich an. Ich fing an, davon zu träumen, eines Tages eine eigene Familie zu haben, und hoffte, dass ich trotz all der Verletzungen, die der Unfall mir zugefügt hatte, noch eigene Kinder haben könnte. Doch eines Sommers änderte sich alles.

Londoner Stadtviertel sind wechselhaft und können sich so schnell verändern wie der windige, tiefhängende Himmel. Von der vormals geselligen Nachbarschaft merkte man zu unserer Bestürzung zusehends weniger. Ein mutloses, verunsichertes, trostloses Gefühl hielt Einzug ins Viertel. Offenbar waren wir nicht die Einzigen, die dies bemerkten. Die Menschen auf der Straße gingen plötzlich schneller ihres Weges, mit geduckten Köpfen, und sahen einem kaum noch in die Augen, wenn man sich begegnete. Unser Menschsein ist ein verwundbarer, wachsamer Zustand. Über Nacht wurde unser Haus mit Graffiti vollgesprüht, Scheiben wurden eingeworfen. Jemand rief die Polizei. Doch nach einer Weile sprachen selbst die Beamten nicht mehr mit uns, als klar wurde, dass sie uns nicht helfen konnten. Wir hofften, das Ganze aussitzen zu können. Eines Tages, als ich gerade nach Hause kam und in den Garten ging, entfuhr mir ein Schrei: Die Pflanzen waren verwüstet, einige, die gerade blühten, waren mitsamt ihren Wurzeln ausgerissen worden. Unwillkürlich legte ich eine Hand auf meinen Mund und kämpfte mit den Tränen, als ich in unseren Teich blickte. Die Sprühdosen, die an den Wänden leer gesprüht worden waren, schwammen im Wasser. Daneben, versteckt im Schilf, trieben die farblosen, aufgedunsenen Körper unserer vormals hübschen glänzenden Fischchen. Auch in mir starb etwas an jenem Tag.

Ein Nachbar wurde überfallen, ein anderer verprügelt. Ich hörte auf, spazieren zu gehen. Es waren dunkle Wochen, in denen man angespannt an den Fingernägeln kaute. Stress ist unsichtbar, subtil und heimtückisch, er wächst mit der Zeit. Angst ist wie ein schwelendes Feuer. Es braucht nur einen Schrei, eine Sekunde der Furcht, damit die Flammen in der knisternden Glut auflodern.

Die Situation zermürbt mich monatelang, ich fange an, nachts atemlos aufzuwachen, mit klopfendem Herzen. Eines Tages werde ich schließlich Zeugin, wie ein Mann eine Frau aus einem Auto zerrt und versucht, sie zu treten, während sie am Boden liegt. Eine schöne Frau mit zarten Gesichtszügen, elegant gekleidet. Starr und sprachlos vor Schreck stehe ich tatenlos da, bis ich mich selbst schreien höre. Manchmal braucht es einen Moment, bis man auf Gewalt reagieren kann, die direkt vor den eigenen Augen passiert. Schockiert habe ich das Gefühl, zurück in eine Vergangenheit gesogen zu werden, an die ich mich nicht erinnern will, einen Stummfilm in Zeitlupe, in dem ein Kind zu Boden geworfen und festgehalten wird. Mein Schrei erlöst mich aus meiner Starre, er klingt ungewohnt, verstörend. Meine Stimme ist wild und wütend, sie dringt aus einem Ort in mir heraus, von dem ich nicht wusste, dass es ihn gibt.

»Runter von ihr!« Ich schreie, ziehe die Frau an den Armen in Richtung Haus. Der Mann zerrt an ihrer Jacke. Er ist groß, breitschultrig, hat eine laute, hasserfüllte Stimme. Ich habe Angst, dass er sich auf mich stürzen wird, als er mich weiter anbrüllt: »Halt deine verdammte Fresse, du blöde Schlampe.«

Ich höre nicht auf zu schreien, und wir vollführen weiter dieses wahnwitzige Tauziehen um die Frau. Niemand sonst ist auf der Straße, aber ich bin mir sicher, dass Leute an ihren Fenstern stehen. Ich bin verzweifelt, keiner kommt uns zu Hilfe, Autos fahren einfach an uns vorbei. Und dann sage ich: »Ich mache ein Foto von Ihnen«, und tue so, als würde ich mein Handy zücken, obwohl ich weiß, dass ich es zu Hause gelassen habe. Endlich springt der Mann ins Auto, schreit: »DU SCHEISSSCHLAMPE! Du bist die Nächste!« Dann tritt er aufs Gaspedal, auf der Straße bleiben dunkle Reifenspuren zurück.

Ich sehe ihm hinterher, ich heule und zittre. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, gleichzeitig so wütend und ängstlich zu sein, als würde man in zwei verschiedene Richtungen gezogen. Innerlich fühle ich mich immer noch erstarrt, doch durch meinen Körper pumpt das Adrenalin, und meine Stimme ist zu laut. Sie bricht, während ich wütend schluchze. Die Frau hört auf zu weinen, sieht mich zum ersten Mal an und sagt »Danke«. Und dann: »Kann ich kurz zu Ihnen reinkommen? Ich glaube, ich werde ohnmächtig.«

Als ich sie in die Wohnung gebracht habe, eile ich in die Küche, um ihr ein heißes Getränk zu machen. Wenn man unter Schock steht, braucht man etwas Heißes, Süßes in sich. Ich lasse sie im Wohnzimmer allein. Als sie eine Stunde später geht, gebe ich ihr meine Telefonnummer. »Ruf mich an, wenn du zu Hause bist, damit ich weiß, dass du in Sicherheit bist.« Sie ruft nicht an.

Später frage ich Rab: »Hey, hast du meinen Schlüssel gesehen? Ich finde ihn nirgendwo.« Ich bin überrascht, als das Taxiunternehmen anruft. »Wir haben Ihre Nummer von der Kundin. Sie hat gesagt, Sie würden die Fahrt bezahlen.«

»Warum hat sie das getan?«, fragt Rab.

Er sieht mich an und beantwortet seine Frage schließlich selbst: »Weil sie es konnte.«

Auch in dieser Nacht wache ich mit klopfendem Herzen auf. Als ich die Augen öffne, weiß ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich halte den Atem an, und da – ein Geräusch im Flur. Eine Sekunde später kommt ein Mann ins Zimmer und beugt sich über mich, während ich dort liege, starr vor Angst. Eine große, dunkle, breitschultrige Gestalt. Erst später habe ich das Gefühl, dass sie mir bekannt vorkommt. Ich öffne den Mund, um zu schreien. Doch ich bekomme keinen Ton heraus. Als würde man unter Wasser mit aller Kraft durch die Dunkelheit tauchen, man sieht schon die Oberfläche über sich, doch man weiß, die eigene Lunge wird luftleer sein, bevor man es schafft. Und dann, ganz plötzlich, schreie ich wirklich. Als würde ich wieder zu mir kommen, aus einem Traum erwachen. Doch der Albtraum ist noch nicht vorüber: Der Mann lehnt sich vor und kommt noch näher. Rab wacht auf.

»Hey, was soll das!«, schreit er und springt auf. Er steht da und brüllt und fuchtelt wild mit den Armen. Dann sehe ich, wie er dem Eindringling nackt hinterherrennt, Schritte poltern die Treppe hinunter und raus auf die Straße. Ich wickle mich ein und laufe ihm zitternd hinterher, doch er hat einige Minuten Vorsprung. Ich will nicht, dass Rab allein mit diesem Kerl zusammentrifft. Ich fühle mich in meinen eigenen vier Wänden nicht mehr sicher, und auch nirgendwo sonst.

Mit starrem Blick schauen wir einander an. Meine Hand bedeckt meinen Mund, ich fange wieder an zu zittern.

»Alles ist okay«, sagt er, »ich baue neue Schlösser ein.«

Ich denke an meine fröhlichen kleinen Fische.

»Ich kann nicht mehr«, sage ich.

Wir heirateten. Die Wochenenden verbrachten wir in der Nähe des Naturschutzgebietes, bei schreienden Möwen und am Mast klimpernden Segeln, die im Wind flatterten. Wir planten unseren Umzug an einen neuen Ort, wo wir Leben und Arbeit besser in Einklang bringen könnten, ein ruhigeres, sicheres Heim. Ich träumte von dem Ort, an dem ich eine Familie gründen könnte. Es hatte bereits Verluste und Enttäuschungen gegeben, und bald würde ich vierunddreißig werden.

2

Atlantik

Wenn man den London Westway Richtung Norden verlässt,

erreicht man nach kurzer Zeit ein lang gezogenes, urbanes Ödland aus rauchenden Industriegebäuden und tristen Asphaltvorhöfen, die von Neonlicht so aggressiv erhellt werden, dass das erste Leuchten der Morgendämmerung beinahe überstrahlt wird. Die Mantelmöwen über mir fliegen still über das Land, nur ab und an wehklagen sie. Ein trostloser verlorener Schrei. Ich stelle mir vor, dass ihnen etwas fehlt.

Wenn ich diese Strecke morgens auf dem Weg zur Arbeit in der Dunkelheit fahre, fühle ich mich nervös und rastlos. Tag für Tag zu schuften kann dazu führen, dass man sich alle möglichen Fragen stellt, die doch offenbleiben. Das geht so weit, dass man mit angespannten Schultern und ständig von neuer Angst erfüllt in den Himmel blickt, um dort Antworten zu finden.

Eines Tages treffen wir die Entscheidung, für ein paar Wochen einen Roadtrip hinauf nach Schottland zu machen und Orte zu erkunden, an denen wir eventuell leben möchten. Wir fahren mitten in der Nacht los, um Staus zu vermeiden und unseren ersten Tag nicht im Auto zu vergeuden. Wir wollen gegen Mittag ankommen. Wenn man sein Ziel erst einmal vor Augen hat, legt man bei den ersten zaghaften Begrünungen nicht mehr Halt ein. Man ist fokussiert auf die Straße und drückt das Gaspedal durch, immer Richtung Norden. Und die wilde Schönheit ist überwältigend – man fährt hinaus und durch die Dunkelheit in den Sonnenaufgang, schnurgerade wie der Krähenflug, und langsam öffnet sich der Himmel, hebt sich, und Licht fällt durch die aufgerissenen Wolken. Hier gibt es nur die Berge, Heideland und frische regnerische Windböen. Ein paar Stunden lang fällt der Horizont steil ab, schroff, wird von dem hektischen Hin und Her der Scheibenwischer und dem Dauerregen zerteilt, sodass man den Kopf in den Nacken legen muss, um seinen Rand zu sehen. Die lange Fahrt ist anstrengend, aber wir sind aufgekratzt.

Als ich aussteige, um mich ein wenig zu strecken, stockt mir der Atem. Über der Bucht fliegen Gänse wie ein Pfeil ins Herz des schwachen Lichts, eine schiefergraue Nieselböe genau dort, wo der Horizont ins Meer fällt. Die Luft in Schottland ist anders als der schale Londoner Mief. Mit tiefen Zügen fülle ich meine Lunge mit ihr, sie ist sauber, süß, kalt und feucht.

»Hier ist es herrlich«, sage ich zu Rab gewandt. Nur hört er mich nicht, der Wind zieht mir die Worte aus dem Mund und trägt sie fort. Es ist eine Erleichterung, nichts sagen zu müssen. Gegen die Elemente kann man nicht ankämpfen. Ich halte mein Gesicht in den Wind und atme.

Ein paar Tage später ist Oban im Regen menschenleer. Nur die Immobilienmaklerin ist noch da, um uns den Weg zu erklären. »So kurzfristig bekommen Sie Ihr Auto nicht mehr auf die Fähre, also machen Sie sich schon mal drauf gefasst, zu laufen«, verkündet sie uns.

»Also gehen wir von der Fähre und laufen die drei Meilen zu Fuß, und dann wartet dort jemand auf uns?«

Sie zuckt die Achseln. »Falls nicht, ist das auch egal. Die Tür ist offen. Erwarten Sie nicht allzu viel. Da hat seit fünf Jahren niemand mehr gewohnt.«

Als ich aufbrechen will, mustert sie mich einmal kühl von oben bis unten. »Sie sind nicht von hier. Wollen Sie sich das nicht noch mal überlegen, bevor Sie den ganzen Weg fahren? Machen Sie sich besser keine allzu großen Hoffnungen. Ist eine andere Welt dort draußen, nur Schafe und Bauern, ein kleiner Laden und ansonsten nichts als Wasser.«

»Das macht nichts«, sage ich. »Wir fahren hin.«

»Das Inselleben ist … anders. Ist nicht nach jedermanns Geschmack.« Diese Worte wirft sie mir hinterher, als die Tür hinter uns zuknallt.

Vielleicht hat sie recht, doch vielleicht wird es unser Stückchen Himmel sein. Eine winzige Felseninsel, abgeschnitten vom Rest der Welt. Ein einziger langer Horizont, freier Himmel und das wunderschöne blaue Meer. In meinem Herzen hoffe ich, dass es nach meinem Geschmack sein wird.

Es war ein grauer Märztag, der Himmel bleiern bedeckt, der Wind rau. Die Überfahrt war schwierig gewesen, der Skipper warnte uns, dass die Fähre für den Rückweg vielleicht ausfallen würde. Die Wettervorhersage war Wind gegen Tide, mit scharfen Windböen. Am Ende beschlossen wir, es zu riskieren. Falls nötig, dachten wir, würden wir in einem Bed & Breakfast übernachten. Wir wussten nicht, dass es auf der Insel nur ein einziges B & B gab, und das hatte im März geschlossen.

Tatsächlich war das Autodeck bereits voll, ein großes Landwirtschaftsfahrzeug voller Heuballen nahm drei der vier Plätze ein, zwei weitere Autos, die auf einen Platz gehofft hatten, wurden zurückgelassen, als sich die Rampe vom Steg hob.

Die Insel war keine fünfzehn Meilen lang, in der Breite brachte sie es noch nicht einmal auf eine halbe Meile, und hatte fast hundertzwanzig ständige und an die zehn zeitweise Bewohner. Der Skipper versicherte uns, dass die drei Meilen von der Fähre zum Grundstück hin und zurück, immer entlang einer einspurigen Straße mit tiefen Schlaglöchern, nicht länger als ein paar Stunden dauern würden. Eindringlich gab er uns auf den Weg mit, die letzte Fähre nicht zu verpassen. Es fühlte sich bedeutsam an, das hell erleuchtete Schiff über die Wellen und den engen Kanal Richtung Festland fortschwanken zu sehen, als wir uns auf den Weg machten.

»Ich nehme mal an, das hier ist die Hauptstraße«, sinnierte Rab und warf einen Blick über die Schulter. »Der Highway ins Hinterland.«

»Ich frage mich, wie hier die Rushhour läuft.« Ich lächelte und dachte an London. Es gab keine Möglichkeit, einander auszuweichen oder zu wenden. »Zu Fuß ist es definitiv besser.«

Ab und an machten wir einen Schritt auf den schlammbespritzten Abhang zu, wenn ein zerbeultes Auto oder ein rostiger alter Traktor an uns vorbeiratterte. Die Straße war so eng, dass man nicht umhinkam, einen Blick auf die Insassen zu werfen. Das Fahrzeug wurde dann langsamer, die Gesichter hinter den beschlagenen Scheiben musterten uns eingehend, bevor es wieder beschleunigte und weiterfuhr. Manchmal passierten wir zwei Autos, die kurzerhand mitten auf der Straße angehalten hatten. Heruntergekurbelte Scheiben, brummende Motoren. Zigaretten werden angezündet, Neuigkeiten ausgetauscht. Einmal wandert eine Flasche zwischen den Autos hin und her. In rhythmischem Singsang wird der Tag besprochen. Sämtliche Augenpaare starren neugierig, als wir vorbeikommen. Bei einer Gelegenheit meint jemand: »Neulinge.« Ich höre auf den Klang des Wortes, das wie Abfall auf die Straße geworfen wird. Ja, denke ich, aber hoffentlich nicht mehr lange. Ich merke mir den Tonfall. Eines Tages wird er sich hoffentlich verändert haben, wenn sie sich an uns gewöhnt und uns kennengelernt haben.

Der schneidende Wind fuhr in unsere Jacken, wir spürten ihn sogar durch die Handschuhe und filzgefütterten Mützen. Möwen sammelten sich an den vollgeregneten Futterkrippen für die Schafe, der Boden bedeckt von Binsen und altem verwehtem Heu. Auf den hohen Beinns und den Hügeln lag noch immer dicker Schnee, die steilen Kartäler glitzerten. Die erste Schneeschmelze hatte eingesetzt und nährte Wasserfälle, die von den Gipfeln donnerten.

Wir gingen von der Straße ab und fanden das kleine Cottage nach wenigen Minuten Fußweg. Ein holpriger Pfad führte uns den Hang hinunter, vorbei an einem uralten Scheunengemäuer, das noch seine ursprünglichen Strebebalken aufwies. Eine Tür hatte die Scheune nicht. Der Boden bestand aus glatten Pflastersteinen und Steinplatten, ihr einziger Inhalt waren über Jahrzehnte angesammelter Dreck, Stroh und leere Schwalbennester. Das unbewohnte Steincottage war heruntergekommen, seine Wände waren grau, feucht und in furchtbarem Zustand. An der Eingangstür gab es kein Schloss, sie ließ sich mit einem Stoß öffnen. Nachdem wir zögerlich angeklopft hatten, traten wir ein. Niemand war da. Von innen wirkte das Häuschen noch kleiner: vier leere Zimmer, dazwischen meterdicke Wände aus Natursteinen, die aus dem Boden ausgegraben worden waren. Man hörte keinen Verkehr, keine Nachbarn. Suchend wanderten unsere Blicke umher.

Was mich faszinierte, war die Stille, die über allem lag. Sie fühlte sich durchlässig an, als wäre der gesamte Himmel in sie hineingeflossen, bis es kaum noch Platz für anderes gab. Keine lauten Stimmen, keine Wurfgeschosse, die durch Scheiben krachten. Keine über ein Metallgitter klappernden Stöcke, keine vorbeidonnernden Busse. Im Innern des Cottage herrschte eine Stille wie kaltes, klares Wasser. Und ich wusste, dass es diese Stille war, nach der ich so lange gesucht hatte. Es spielte keine Rolle, dass es im Cottage kein fließend Wasser, keinen Strom und keine Abwasserrohre gab, und keine Farbe an den Wänden. Es spielte keine Rolle, dass es keine Heizung und keine Dämmung gab. Oder dass es drinnen genauso bitterkalt war wie draußen, bei nur einem einzigen Feuerrost an der Hinterwand eines der Zimmer. Es spielte keine Rolle, dass es ein Ort war, der seit fünf Jahren nicht mehr bewohnt und geliebt worden war, oder dass es im Dach Zeichen von Maus- und Rattenbefall und Vogelnestern gab.

Draußen stand ein alter undichter Wohnwagen, in dem wir schlafen würden – für wie viele Monate auch immer –, bis das Haus bewohnbar wäre. Am hinteren Ende des Hofes befand sich ein Loch, ein See mit Trinkwasser, wo wir Wasserkübel füllen konnten, um uns zu waschen. An die nördliche Giebelwand war eine unbeheizte Wellblechhütte angebaut worden, in der einstmals der Ablammungsgehilfe untergebracht worden war. Der Boden war dreckig, die Wände hatte jemand sorgfältig mit einigen Ausgaben der Oban Times aus den 1950ern tapeziert. Ich war gerührt davon, wie viel Mühe derjenige sich dabei gegeben hatte. Auf einer Holztruhe lag ein winziges Haushaltsbuch, in das jemand Shilling- und Pencebeträge notiert hatte. Neben der dünnen feuchten Matratze fand ich eine King-James-Bibel mit winziger Schrift und eine kleine Tilley-Lampe mit einem Docht aus Stoff. Als ich hinausging, sah ich nur noch Hügel und Berge.

»Was meinst du?«, fragt Rab mich auf dem Rückweg zur Fähre. Ich zögere nicht. Ich sehe ihn nur mit einem Lächeln an.

Sobald ich zwei Balken Netz auf meinem Handy habe, mache ich ein Kaufangebot. Sechs Wochen später ist der Hof auf der Insel, den man hier Croft nennt, unser Zuhause.

Am Tag des Umzugs stand ich überraschend allein an Deck, als die Fähre vom Festland ablegte, eine Furcht einflößende Herausforderung. Es hatte ein Problem gegeben. Das Heck unseres Umzugs-Lkw lag zu niedrig, um auf das altmodische Boot zu fahren, obwohl uns beim Kauf der Tickets sechs Wochen zuvor das Gegenteil versichert worden war. Der auf dem Kai zurückbleibende Rab hob angesichts dieser unerwarteten Wende resigniert die Hände.

»Keine Sorge, ich komme zu dir«, rief er. »Ich organisiere irgendwie ein Boot und setze über.«

»Wie?«, rief ich zurück. »Es gibt keine andere Fähre. Das hier ist die letzte für heute.«

»Keine Ahnung.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich mach das schon.«

Während der Himmel aufklarte, saß ich an Deck und sah Rab und dem Festland dabei zu, wie beide, ebenso wie mein früheres Leben, von mir wegdrifteten und in der Ferne verschwanden. Ich hatte kein Essen im Auto. Mein einziges Hab und Gut waren die Kleider, die ich am Leib trug, und meine betagte Katze in ihrem Korb, die mit großen Augen zusah, wie die Fähre über den Kanal ratterte und dabei starke Wellen aufwarf.

Von der Rampe hinunter- und die Insel hochzufahren war ein merkwürdiges Gefühl. Wir hatten diesen Tag bis ins letzte Detail gemeinsam durchgeplant, und nun war ich allein. Ich fand den Hof wieder und das Cottage, das in seiner eigenen wilden Schönheit dastand. Im Garten wucherten mittlerweile die Brombeersträucher, und der Pfad zum Haus war nun mit etlichen Wildblumen überwachsen: strahlender Eisenhut, Dotterblumen, Fingerhut, Sumpf-Schwertlilien und wilde Orchideen, so weit das Auge reichte.

Ich öffnete die Tür und seufzte erleichtert. Es war genauso, wie ich es in Erinnerung behalten hatte: ohne fließend Wasser und Strom, die Wände alles andere als lotrecht, Boden und Wände mit Schmutz überzogen und völlig verstaubt, ein bisschen wie ein großes Vogel- oder Mausnest. Aber das spielte keine Rolle. Ich war zu Hause. Bevor ich mich daranmachte, die Hinterlassenschaften mehrerer Wildtiergenerationen aufzufegen, die sich hier niedergelassen hatten, legte ich meine flachen Hände auf die dicken nackten Steinwände und flüsterte: »Ich bin jetzt da. Ich weiß nicht, wer du bist, und ich weiß, dass du mich nicht kennst. Aber ich weiß, dass wir uns verstehen werden. Ich bleibe hier. Du bist mein Zuhause.«

Hinterher machte ich draußen auf einem kleinen Rost mit ein paar Ästen ein Feuer und verbrannte den Kehricht. Ich hörte die Flammen knistern, die am Staub und Dreck meiner kleinen Opfergabe züngelten. Ich hielt mein Gesicht in den Wind und beobachtete den sich verdunkelnden Himmel, den immer heller strahlenden Abendstern, die Inseldämmerung, die sich zu einem strahlenden, vereinzelt verschleierten Nachthimmel wandelte. Ich horchte und spürte, wie sich der Hauch der Einsamkeit um mich legte. Und für ein paar Stunden füllte sich das, was ich als Stille wahrgenommen hatte, mit ungewohnten Geräuschen und Bewegungen der Wildnis – von Eulen, Fledermäusen, Bussarden und Gänsen, deren Rufe aus dem dunklen Himmel klangen. Es waren kostbare Momente, von unbegrenzten Möglichkeiten durchtränkt.

Ich werde den Tag niemals vergessen, an dem ich auf die Insel reiste, um mein neues Leben zu beginnen. Allein anzukommen, als Fremde, war einer dieser nervenaufreibenden Zufälle, deren Echo erst Jahre später widerhallt. Manchmal glaube ich, es war meine erste Prüfung, um meine Ängste zu überwinden und aufs Ungewisse zu vertrauen.

Ich ahnte damals nicht, dass jene ersten Jahre den Anbruch einer intensiveren, wilderen, mir alles abverlangenden Zeit markierten, die sich als Zerreißprobe für meinen Mut, meine Kraft und mein Durchhaltevermögen entpuppen würde. Sich weiterzuentwickeln ist nicht immer leicht, und manchmal muss man einem neuen Samen auf die Sprünge helfen, ja ihn sogar zu seinem Glück zwingen, damit er wächst und gedeiht.

3

Insel

Noch bevor ich die Augen öffne, weiß ich, dass es zu früh ist. Sachtes Mondlicht fällt durch die gesprungenen Scheiben des Wohnwagens, von denen einige halb geöffnet sind, Kondenswasser glänzt auf dem Glas. Eine leichte Brise strömt herein und lässt die Küchenhandtücher, die über einer Anglerschnur hängen, die wir an den dünnen Wänden festgemacht haben, schlaff flattern. Schlaftrunken blinzle ich und sehe das kleine Haus, das tief im offenen Feld steht, dahinter im Schatten die Berge. Ich sehe die wilden Gräser. Und plötzlich weiß ich wieder, wo ich bin.

»Da bist du ja«, flüstere ich. Mein Blick wandert über die Silhouette des Cottage. Seine niedrige Silhouette schimmert geisterhaft wie ein Irrlicht, das in der Dämmerung flackert. Ich liebe seinen Anblick, wenn es mit mir erwacht und auf den Sonnenaufgang wartet. Ich zähle die Tage, bis wir endlich einziehen können. In mir ist ein Verlangen, eine tiefe Sehnsucht, die ich für keinen anderen Ort jemals empfunden habe. Als wir das Cottage zum ersten Mal sahen, wirkte es so verlassen und ungeliebt. Mir ist es ein ungeheures Bedürfnis, dass es wieder geliebt und bewohnt wird, nach so vielen Jahren der Vernachlässigung, ohne Pflege, ganz allein. Ich will es zu einem Heim machen, mich an seine starken Wände anlehnen. Und eines Tages hoffe ich, sie mit trippelnden kleinen Füßen und hellem Gelächter zu füllen.

Über uns, an der Schwelle zur Unendlichkeit, erfüllt das glitzernde, verstreute Leuchten der Milchstraße den Nachthimmel. Strahlende Sternencluster und unzählige weiß schimmernde Lichter erhellen das Firmament. Ich habe schon gehört von diesem außerirdisch gelblichen Highland-Himmel, von den Lemon Skies, doch nichts hätte mich auf diesen bemerkenswerten Anblick vorbereiten können. Nie habe ich etwas Schöneres gesehen.

»Bist du wach?«, frage ich, als Rab sich neben mir regt.

Lange ist es still. Also bemühe ich mich, reglos dazuliegen. Ich beobachte seinen Körper beim Atmen und wünsche mir, er möge die Augen öffnen.

Es ist erstaunlich, was für einen Unterschied einige kurze Wochen ohne den Londoner Alltagsstress machen. Ich bemerke subtile Veränderungen an meinem Körper: Meine angespannte Haut wird wieder elastischer, die Sonne und die Meeresluft tun ihr gut. Meine salzverklebten Haare haben ein dunkles Rotgold angenommen. Wir werden kräftiger und schlanker. Seit Wochen habe ich mich nicht mehr geschminkt. Der kleine Taschenspiegel, den ich hastig irgendwo ganz unten in meine Reisetasche geschoben hatte, ist längst verschwunden. Am Ende höre ich auf, nach ihm zu suchen, und es fühlt sich merkwürdig befreiend an, alte Gewohnheiten loszulassen.

Von den rauen Steinwänden sind meine Hände mit weißen Flecken, Schnitten und Kratzern übersät. Wenn ich sie umdrehe, sehe ich meine rötlichen wunden Knöchel, das kommt vom vielen Scheuern des rauen spröden Putzes. Als wir mit dem Hausputz fertig sind, überziehen wir die wettergegerbten Wände mit strahlend weißer Farbe, die rissige Tür und die Fenster streiche ich himmelblau. Bei Sonnenaufgang spiegelt sich für kurze Zeit bläulicher Nebel in den Scheiben, bis die Lichtstrahlen unterhalb des Horizonts sinken und der Himmel wieder von der Dämmerung umhüllt ist. Bei Sonnenuntergang scheint sich das Firmament in einem Bronzefeuer von innen heraus in Vergessenheit brennen zu wollen. So verstreicht ein weiterer Tag. Wir machen kleine Fortschritte, doch es ist schon fast Mittsommer. Und nichts deutet darauf hin, dass die Hitzewelle nachlassen wird.

»Ich hätte nie gedacht, dass wir so was mal machen, und jetzt sind wir hier«, sinniert Rab häufig. Ich lächle schüchtern, während er sanft meine Hand umschließt, denn ich muss mich immer noch zwicken, wenn ich den Ring an meinem Finger sehe. Er ist wie ein kleiner Hoffnungsschimmer. Wir sind erst seit sechs Monaten verheiratet, und schon liegen sechs kurze Wochen, sechshundert Meilen und ein Meer zwischen uns und unserem alten Leben in London. Erstaunlich, wie erfüllt sich unser neues Leben anfühlt, obwohl es auf die absolute Notwendigkeit heruntergeschraubt ist. Wir besitzen nicht mehr als unsere zwei vollgestopften Reisetaschen, eine alte Vespa, einen Grill und einen kleinen Campingkocher. Manchmal muss ich darüber lachen, wie wenig wir wirklich brauchen. Aber manchmal macht sich ein Gefühl der Bedrohung in mir breit. Ich frage mich, ob dieses Land unsere Bedürfnisse abdecken kann. Ich hoffe, dass wir diese unverfälschte Einfachheit beibehalten können, unseren Glauben an uns selbst und unsere Entschlossenheit. Ich weiß, dass unser Leben nicht die ganze Zeit so reibungslos und unkompliziert ablaufen wird, so freigeistig und genügsam wir auch sein mögen. Mir ist bewusst, dass wir auf das Ende des Sommers vielleicht nicht ausreichend vorbereitet sind. Trotzdem bin ich froh, dass wir uns nicht von übermäßiger Vorsicht haben bremsen lassen. Ich sage mir, dass es an uns ist, ob das hier funktioniert oder nicht. Es ist wie ein Geschenk, als hätten wir absolut nichts zu verlieren.

Wir halten morgens noch immer Händchen unter der Decke. Eine ungewohnte Umgebung lässt einen die Dinge anders betrachten, mit frischen und offenen Augen. Man wird ruhig. Doch an manchen Tagen halte ich abrupt inne. Merkwürdig, was für einen Sog die Stille auf einen ausüben kann. Auch wenn die Gräser immer höher wachsen, wirkt der lang gezogene Horizont schnell bestürzend kahl. Hier fehlt es an den üblichen Ablenkungen, auf der Insel gibt es keine Geschäfte, nur ein kleines Postamt, in dem man auch ein paar Grundnahrungsmittel kaufen kann. Es gibt keine Restaurants, Hotels, Cafés oder Pubs, wo man Leute treffen könnte. Auch öffentliche Dienste sind nur begrenzt vorhanden. Es gibt eine kleine Grundschule, aber keinen Hausarzt und keine Polizeistation, nur eine Teilzeitkrankenschwester und eine freiwillige Feuerwehr. Keine weiteren Notfalldienste. Ab und an veranstaltet die Kirche Freizeitaktivitäten für die kleine Gemeinde, die Women’s Guild stellt Tee dafür bereit, doch angesichts einer alternden Bevölkerung werden die kargen Bänke nur von einigen wenigen Gläubigen besetzt. Eine einspurige Straße führt von Norden nach Süden, ab und an verläuft sich eine Abzweigung auf Kies und Geröll. Die Insel ist eine kleine umzingelte Landmasse, umgeben von einem den Gezeiten unterworfenen Meer, das von dem noch wilderen Atlantik genährt wird. Wo auch immer man steht, spürt man das kalte, beißend salzige Wasser auf der Haut und hört das Schreien der Möwen. Manchmal, wenn man über die wogenden Gräser aufs unruhige Meer hinausschaut, kann der Ausblick eigenartig überfordernd sein.

An manchen Tagen empfinde ich eine solche Leere, dass ich mich frage: »Wo sind denn alle?« Es ist schwer vorstellbar, dass hier tatsächlich nur eine Handvoll anderer Menschen leben. Die Straße ist wenig befahren, ab und zu mal ein Traktor oder ein verbeultes Auto. Während aus Tagen Wochen werden, ist es ganz natürlich, Ausschau nach Mitmenschen zu halten, mit denen man nähere Bekanntschaft schließen und den Himmel teilen kann. Um dazugehören zu können, braucht man Menschen und eine Gemeinschaft. Und, das spreche ich nicht laut aus, es braucht Akzeptanz. Wir sind viel rumgekommen, doch diese Insel fühlt sich abgeschiedener an als jeder andere Ort, an dem wir waren. Wenn ich die Hügel erkunde, spüre ich, dass mich eine ungekannte Freiheit durchströmt. Der Landschaft wohnt etwas Unverfälschtes, Belebendes inne. Wenn man keine andere Ablenkung hat, kommt man in der Natur zur Ruhe.

Im fahlen Morgenlicht und mit dem Schatten der Berge in unserem Rücken in einem heruntergekommenen Wohnwagen zu liegen, neben jemandem, den ich liebe und der sanft atmet, ist alles, was ich vom Leben will. Das Gefühl ist wild und befreiend. Rab glücklich zu sehen bringt mich dazu, mich leise zu bewegen. Was für eine Erleichterung, unser Leben wieder in geruhsamen Bahnen zu wissen. Nur dass an diesem Morgen etwas anders ist. Als ich mich aufsetze und den Kopf neige, um zu horchen, schaukelt der Wohnwagen plötzlich ein wenig. Ich höre seine trockene rostige Verkleidung schaben, in spitzen Splittern abbrechen.

Rab regt sich, er rollt sich auf die Seite und legt sich den Arm über die Augen, um sie vor dem Licht abzuschirmen. Ich schlüpfe aus dem Bett, wickle mich in eine weiche Wolldecke und drücke die Tür des Wohnwagens auf, um nach dem Rechten zu sehen. Beim ersten Schritt nach draußen kitzeln Blütenköpfe an meinen nackten Beinen, und das Gras glitzert, es schimmert in der Stille der sich weit erstreckenden Felder. Die frische Luft und das Sternenlicht legen sich kühl auf meine Haut.

Im Schatten regt sich etwas, begleitet von einem leisen Schnauben. Ein Rascheln trifft auf mein überraschtes Einatmen. Unsere Kühe sind samt Kälbchen vom Hof über die Felder zu uns spaziert. Kurz darauf steht Rab neben mir.

»Was geht denn hier vor sich?«

Wir sehen einander an. Und lachen. Die Situation ist herrlich absurd.

»Wir müssen wohl ein paar Pfähle besorgen und sie einzäunen«, seufzt Rab müde und fährt mit seiner Hand über die kaputte Wohnwagenverkleidung. »Und das Loch hier müssen wir flicken.«

»Pssst«, sage ich. »Nicht jetzt.«

Wir beide sprechen die Gedanken des anderen nicht aus: dass ab Herbst der Wind hindurchpfeifen wird.

»Sieh nur, sie sind einfach neugierig.« Ich strecke die Finger aus, um ihr glattes Sommerfell zu berühren. Dies ist unser erster wirklicher Kontakt mit den Kühen, seit wir sie auf dem Markt auf dem Festland gekauft haben. Rab dabei zuzusehen, wie er mit einem Handzeichen oder einem kurzen Kopfnicken in dem hektischen Auktionsring seine Gebote machte, war nervenaufreibend. Dicht gedrängt, die verschwitzten Körper gegen die niedrigen Gitter der Auktionsarena gepresst, standen wir da im grellen Licht, im feuchten Sägemehl, es stank nach Dung und Urin, Tore knallten, Kühe muhten ohrenbetäubend, als sie in den Ring aufgetrieben wurden. Unaufhörlich krakeelte eine Stimme durch den Lautsprecher, um die Verkäufe anzuheizen. Man konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Mir fiel auf, dass ich die einzige Frau in dem Gedränge um den Ring herum war, nur einige kleine Grüppchen von ihnen hockten weiter oben auf den harten Holzbänken. Hätte ich mich eigentlich dorthin, zu ihnen, setzen sollen?

Die Kühe haben volle zehn Tage gebraucht, um sich hier auf dem Hof einzugewöhnen. Ihr Atem ist warm und süß, erfüllt von dem kräuterreichen Sommergras und den winzigen Wildblumen. Ich versuche, mich nicht allzu hastig zu bewegen, während ihr sanfter Atem aus ihren feuchten Nüstern bläht, sie uns umsichtig wittern, langsam ihre Zungen herausstrecken, die Luft schmecken, und ihre Flanken vor in Zaum gehaltener Energie nervös zittern. Eine dunkle Kuh kommt vor, stupst mich sanft an und zieht sich aufgeregt wieder zurück. »Sie sind noch nicht an uns gewöhnt«, sage ich. »Aber bald werden sie es sein.« Und ich denke an die Schafe, die wir noch kaufen müssen und über deren Aufzucht und Pflege wir ebenso wenig wissen. Ich sage mir, dass es mit den Tieren wie mit allem im Leben ist: Es gibt immer ein erstes Mal.

»Wie ist unsere Familie derart angewachsen?«, frage ich, als Rab sich umdreht und mich zu sich zieht.

Ich sehne mich danach, rund zu sein wie der Vollmond am Himmel, zu warten, während die Jahreszeiten verstreichen. Ich schließe die Augen und wünsche mir etwas. Ein Kind, das ich in meinen Armen halten kann.

Manchmal wünschte ich, der Tag möge ewig so weitergehen. Dass diese Idylle niemals aufhört. Die Zeit verstreicht gemächlich wie die Bachforellen, die knapp unter der glatten Seeoberfläche hin und her gleiten. Ein einsamer Reiher flattert mit seinem kräftigen Körper aus dem Schilf auf. Die trockene Hitze macht uns träge. Und so zieht der Sommer mühelos vorüber wie die Schwalben, die Jagd auf Insekten machen, die mit ihrem Schnabel picken, bevor sie wieder zurück gen Himmel wirbeln.

Jeden Morgen schlüpfen wir in unsere Overalls, darunter tragen wir nichts. In dem kleinen Bach fülle ich ein paar Eimer Wasser und klatsche es gegen die Wände, reibe Jahre des Drecks, Verfalls und dicken Schlamms fort. Es ist ein mulmiges Gefühl, zu wissen, dass wir in ein Haus ziehen werden, das von unvorhergesehenen Schwierigkeiten heimgesucht worden ist, und dass der Besitzer nicht mehr imstande oder willens war, auf dem Hof zu bleiben, auf dem er oder sie zur Welt gekommen war. Unsere Ankunft bezeugt das Ende dieses Lebens, aus und vorbei, ein weiterer Stammhalter hat den Weg des Pragmatismus gewählt, statt sein Erbe zu bewahren, und uns sein Heim verkauft. Während ich drinnen schrubbe, höre ich, wie Rab draußen auf dem Dach herumklettert, alte Schindeln ausbessert und den dünnen metallenen First befestigt. Das Dach hat viele Lücken und Löcher, seine gesprungenen und wettergegerbten Schindeln hat das Moos aufgeweicht. Ich versuche, mir den uns unbekannten Winter vorzustellen, wenn der Meeresspiegel ansteigt und der Wind durch die Löcher pfeifen wird. Ich bin froh, dass unser Cottage so geduckt dasteht, seine Fassade unprätentiös, bodenständig. Ich erinnere mich an das Sprichwort über den zu hoch sprießenden Mohn, der rücksichtslos niedergemäht wird.

Wir eignen uns das Land um unser Haus herum an und entdecken Orte der Schönheit und des Verfalls. Die Wiesen sind von wilden Orchideen, Hunds-Veilchen, Schwertlilien, Scharbockskraut, strahlend blauem Männertreu und den ersten bleichen Glockenblumen überzogen. Doch man muss nur ein wenig tiefer graben und stößt unter diesem dünnen Überzug auf verwitterte Friedhöfe und abgesackte Aufschüttungen. Ein Haufen Steine verdeckt gewundene Hörner, einen zerschmetterten Kuhschädel, kaputte Flaschen und ein paar dünne weiße Knochen. Und ich beginne, mich zu fragen, was sonst noch vor uns verborgen bleibt.

Eines Tages beschließen wir, dass es längst an der Zeit ist, uns einen freien Tag zu nehmen. Da heute ein Rugbyspiel läuft und wir keinen Fernseher haben, setzt Rab mit der Fähre nach Oban über, um sich ein Pint und ein paar Stunden für sich allein zu gönnen. Seit Wochen hocken wir ununterbrochen aufeinander. Wir beide brauchen etwas Abstand. Ich habe keine Lust auf Oban und bleibe allein auf dem Hof zurück. Das Gras ist schon so hoch, dass ich meine, vor neugierigen Blicken geschützt zu sein, als ich mich in die Sonne lege – also ziehe ich T-Shirt und Jeans aus. Und dann denke ich, wenn nicht hier, wo dann, unter freiem Himmel auf der Wiese, wo sonst kann ich frei sein? Also ziehe ich alles aus. Die Sonne brennt heiß auf meinem Gesicht. Ich nicke ein, lausche den Vögeln und der leichten Brise.

Einige Zeit später werde ich plötzlich wach. Etwas ist anders. Mit einem Mal zwitschern die Vögel im Baum hinter mir nervös und fliegen auf. Sie sagen mir, dass ich nicht allein bin. Instinktiv greife ich nach meinen Sachen, dann erstarre ich. Zwei Männer kommen querfeldein auf mich zu, mit einigem Tempo, irgendwo zwischen Joggen und Rennen. Ich weiß, dass sie mich gesehen haben. Wie peinlich, denke ich, doch immerhin respektieren sie jetzt sicher meine Privatsphäre und schlagen eine andere Richtung ein. Doch das tun sie nicht. Weder ändern sie die Richtung, noch werden sie langsamer. Sie kommen direkt auf mich zu. Plötzlich werfe ich mir, so schnell es geht, die Klamotten über. Es ist kompliziert sich anzuziehen, ohne dabei aufzustehen und damit noch mehr von sich zu zeigen. Als sie beinahe über mir stehen, rolle ich mich weg, liege mit dem Rücken zu ihnen, während ich wütend den Hosenknopf zumache. Im nächsten Moment bauen sie sich über mir auf, während ich auf dem Rücken liege, sie werfen ihre Schatten über mich. Ich halte die Hand über meine Augen und blinzle gegen die Sonne. Doch mehr als zwei Schatten sehe ich nicht, die Sonne hinter ihnen strahlt mir direkt in die Augen.

»Wollten Sie nicht überraschen«, entschuldigt sich einer von ihnen.

Der andere lacht, lehnt sich vor, streckt mir seine Hand entgegen. »Sieh mal einer an, was haben wir denn da?«

Ich nehme seine Hand nicht. Stattdessen rolle ich mich auf die Seite und stehe schnellstmöglich auf. Ich bin durcheinander. Ich binde mir das Haar zu einem strengen Knoten und mache einen Schritt zurück, klopfe ungelenk einige Samen und Grashalme von mir ab, blicke von dem einen zu dem anderen. Dann schaue ich hinunter auf meine nackten Zehen.

Ich fühle mich ihnen unterlegen. Dabei stehe ich doch hier aufrecht mit beiden Beinen auf meinem eigenen Hof. Ich frage mich, ob es normal ist, dass andere über Felder spazieren, die ihnen gar nicht gehören, oder sieht man das hier nicht so eng?

Ich weiß nicht, warum, doch plötzlich entschuldige ich mich. Und werde noch verwirrter und wütender, denn ich fühle mich auf dem falschen Fuß erwischt, außerhalb meines Wohlfühlbereichs.

»Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen«, sage ich gequält.

Der zweite Mann lacht. »Aye, wir Sie schon.«

Ich werde rot, funkle ihn an, er zwinkert mir zu. Meine Wangen glühen, also sehe ich schnell weg.

»Beachten Sie ihn gar nicht.« Der erste Mann schubst den anderen ein wenig beiseite. Seine Augen sind klar und braun und spiegeln Scharfsinn und Gerissenheit wider. Ich fühle, wie sein Blick mich durchbohrt.

Ich bücke mich, um meine Sachen aufzusammeln: ein Buch, meine Turnschuhe. Die Männer rühren sich nicht.

»Aber was machen Sie?«, frage ich ungelenk. »Ich meine, was machen Sie hier?«

»Gute Frage. Was machen wir hier?« Er wendet sich seinem Freund zu. »Ich war wohl auf der Suche nach Ihnen.« Er zwinkert. »Aber das stimmt nicht ganz.« Er kichert und schüttelt den Kopf. »Ich hab wohl einen Sonnenstich.« Unverhohlen starrt er mich an. »Uns ist ein Vieh ausgebüxt. Wir sind auf der Suche nach einer Aue.«

Ich verschränke die Arme. Weiß nicht, ob ich ihm glauben soll. Die Geste fühlt sich halbherzig und kraftlos an, meine Worte kommen ungewohnt heftig aus mir heraus: »Ist ja komisch, die Felder hier sind nämlich leer. Hier sind keine Schafe, hier grasen nur Kühe.«

Und es stimmt. Kein Schaf weit und breit. Die Auktion, bei der wir unsere Herde ersteigern wollen, ist erst in ein paar Wochen.

»Hm, das mag ja sein, war aber eben noch anders.« Er grinst. »Man weiß nie, was sich hier so versteckt.«

Sprachlos sehe ich ihn an. In Momenten wie diesen wünsche ich mir, schlagfertig zu sein. Langsam lerne ich, dass man hier eine scharfe Zunge braucht, um sich nicht unterbuttern zu lassen und sein Revier zu verteidigen. Erfolglos suche ich nach einer passenden Antwort. Die richtigen Worte werden mir erst Stunden später einfallen, zu Hause.

»Entschuldigung, ich will nicht unhöflich sein«, sage ich, »aber hier sind keine Schafe. Und das hier ist mein Hof.«

Der erste Mann fixiert mich prompt mit seinem Blick und verschränkt langsam die Arme. »Tja, sehen Sie, genau da liegen Sie falsch«, sagt er leise.

Verwirrt sehe ich ihn an.

»Aye, meine Liebe, vergessen Sie nie, dass Sie auf Hectors Croft wohnen.«

Autor