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Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt

Als Buch hier erhältlich:

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Der Versuch einer Tochter, am Erbe der Mutter nicht zu ersticken

Als Marlen Hobrack sich daranmacht, den Nachlass ihrer Mutter zu bewältigen, winkt ihr kein Einfamilienhäuschen, keine hübsche Altbauwohnung. Sondern ein Berg von Schulden und Dingen, die am Lebensende einer Arbeiterin bleiben: Steppdecken, Vitaminpräparate, Putzmittel, Fotos. Wie in Chiffren hat sich ihre Mutter in sie eingeschrieben.

Analytisch und radikal ehrlich legt Marlen Hobrack die Tiefenschichten ihrer Mutter frei – auch in sich selbst – und stellt gesellschaftliche Fragen, die uns alle betreffen: Was verraten die Dinge, die Menschen horten, über das, was sie im Leben wirklich brauchen? Bewältigen Frauen ihre Traumata durch Konsumsucht? Wie schreibt sich das Trauma unserer Eltern durch ein Erbe in uns fort?

Dieses Buch ist ein doppelter Verrat. Ein Verrat an der Ikone der Mutter und an den Ikonen der Konsumgüter, die uns ein Leben lang begleiten – um uns nach unserem Tod auf gemeinste Weise bloßzustellen.


„Es ist ein unverschämter Text, da die Scham uns hier nur von der Erkenntnis an uns selbst abhalten würde. Unverschämt ist dieser Text, nicht, weil er schamlos agiert, sondern die eigene Scham darstellt, mutig einen Raum einnehmen lässt. Eine Verbeugung vor diesem Buch.“

Martin Piekar, Lyriker und Robert-Gernhardt-Preisträger 2024


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907588
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

EINLEITUNG

Dieses Buch ist Verrat. Es erzählt, was eine andere nicht erzählt wissen wollte. Es eignet sich eine Geschichte an, zwangsläufig. Es erzählt von Ausbeutung, der Ausbeutungsbeziehung zwischen einer Schreibenden und der Person, deren Geschichte sie sich aneignet. Die Sache wird nicht entschuldbar dadurch, dass die Schreibende eine Tochter ist. Ich bin eine Tochter; ich schreibe über meine Mutter.

Der Verrat an der eigenen Mutter ist voraussetzungsreich. Voraussetzung für den Verrat an meiner Mutter ist ihr Tod. Es gäbe keinen Anlass des Schreibens, wäre da nicht das Faktum ihres Todes, der Umstand auch, dass ich zur Erbin wurde, ihrer Alleinerbin. Weil die Dinge sind, wie sie sind, weil ich konfrontiert wurde mit dem, was von ihr bleibt, schreibe ich das hier auf. Nicht ohne den Anflug eines schlechten Gewissens, doch es zählt nicht. Ein Tod muss bewältigt werden. Das materielle Erbe, die Schätze und der Schutt, Hab und Gut, Schulden und Altlasten.

Heute erhalte ich Briefe, die mich im Briefkopf als Erbin ausweisen. An die Erbin von ____________ – und es folgt der Name meiner Mutter. Bis auf Weiteres, juristisch betrachtet wohl für den Rest meines Lebens, stehen wir in einem neuen Verhältnis zueinander: Ich bin verantwortlich für das, was sie nicht mehr tun kann. Rechnungen begleichen, eine Wohnung ausräumen, Dinge geordnet hinterlassen, sich mit einem gelebten Leben auseinandersetzen. Mit ihrem Erbe.

Jährlich werden in Deutschland bis zu 400 Milliarden Euro vererbt. Allerdings entfällt allein ein Drittel dieser Summe auf die oberen zwei Prozent der Bevölkerung, die unteren 15 Prozent erben gar nichts. So mancher erbt nur Schulden.

Der Status als Erbin bedeutet für mich zunächst, die offenen Rechnungen meiner Mutter zu begleichen, zu versuchen, einen Überblick über ihre Finanzen zu erhalten, eine finanzielle und emotionale Last zu stemmen. Am Ende des Prozesses winkt kein Einfamilienhäuschen, keine Altbauwohnung, kein Barvermögen, mit dem sich ein Urlaub bezahlen ließe. Aber das habe ich immer gewusst. Jeder Besuch ihrer Wohnung, die so über und über voll war mit den Dingen, die nach ihrem Tod beseitigt werden müssten, weckte in mir das Grauen: All das wird eines Tages dein sein. Wenn ich an die Situation dachte, die mich eines Tages zu einer Erbin machen würde, wenn ich darüber nachdachte, wie es wäre, wenn meine Mutter stürbe, so stellte ich mir reflexartig die Frage, wie hoch die Schulden wären, die ich erben würde, und wie hoch der Berg der Dinge, den ich beseitigen müsste.

Meine Mutter hortete. Diesem Horten wohnte ein Zwang inne, auch wenn es nie eskalierte – nicht in der Lebenszeit, die ihr vergönnt war. Spricht jemand von zwanghaftem Horten, erscheint oft ein Bild vor unserem geistigen Auge: Wir imaginieren eine »typische Messiewohnung«, eine über und über mit Müll verstopfte Bruchbude, krabbelndes Ungeziefer, eine Müllkippe. Eine Behausung, die den Namen nicht verdient.

Meine Mutter hortete, aber sie war kein Messie. Die Wohnung meiner Mutter war nicht vermüllt. Natürlich könnte man darüber streiten, ob etwa alte Zeitungen als »Müll« zu bezeichnen sind. Sicher sind sie Gegenstände, die entsorgt werden müssten, doch sind sie weder schmutzig noch eine Gesundheitsgefahr. Nein, meine Mutter hortete, was jedenfalls dem Prinzip nach sinnvoll war – auch wenn sich nicht jedem das Prinzip ihrer Sammlung erschloss. Vor allem aber kaufte meine Mutter. Sie kaufte und kaufte, bis die Masse der gekauften Dinge sie zu ersticken drohte. Sie kaufte, wenn man ihr nur lange genug versicherte, dass das gekaufte Produkt ein Schnäppchen sei; dann verlor sie Sinn und Verstand der Sachbearbeiterin, die sie einmal gewesen war. Der Kauf versprach einen kurzen Kick, einen Lichtblick in ihrem Alltag, obwohl sie, wenn die Waren bei ihr eintrafen, häufig bereits vergessen hatte, dass sie diese überhaupt bestellt hatte. Welcher verborgene Inhalt wartete wohl in den Kartons darauf, zum Vorschein gebracht zu werden? Nach ihrem Tod war ich es, die Dutzende Versandkartons öffnete, die sie in den Ecken ihrer Wohnung, auf den Schränken und im Keller verstaut hatte. Oder vor sich versteckt hatte?

Das letzte Hemd hat keine Taschen. Meiner Mutter diente das oft als Begründung, sich im Hier und Jetzt, der Gegenwart des Seins, vollständig zu verausgaben. Es war ihr Argument gegen den Geiz.

Die letzte Wohnung hat viele Taschen. Sie hat Beutel und Koffer und Truhen und Fächer und Schränke und Schubfächer, die übervoll sind.

Meine Mutter hortete Dinge, seit ich denken kann. Ob sie bereits davor hortete, weiß ich nicht. Ich halte es für unwahrscheinlich, genau genommen für ausgeschlossen (so, wie das Kind es überhaupt für ausgeschlossen hält, dass die Mutter vor der eigenen Existenz ein Leben, ein Dasein hatte). Denn bevor ich denken konnte – grob gesagt bis in die späten Achtziger –, hatte meine Mutter nicht viel besessen. In die Ehe war sie mit wenig Hab und Gut gekommen. Zu DDR-Zeiten hatte sie wenig angehäuft. Die DDR-Gesellschaft war keine Konsumgesellschaft, das fanden die meisten schlimm, für meine Mutter war es ein Vorteil: Die Dinge drängten sich ihr nicht auf.

Doch dann begann das Horten. Horten ist ein seltsames Wort. Ich denke dabei an einen Drachenhort, an ein Untier, das sich einen Schatz einverleibt, den es sich unrechtmäßig angeeignet hat. Ich habe mich immer gefragt, was so ein Drache mit all dem Gold anfangen will. Oder ist das der Kern des Drachenhorts: dass solch ein Hort keinen Zweck erfüllt, keinen Sinn ergibt? Er ist da um des Daseins willen.

Horten ist ein aktiver Begriff, schon deswegen will er nicht ganz zum Verhalten meiner Mutter passen. Das Verhalten meiner Mutter war nur zum Teil von dem Drang geprägt, Dinge zu konsumieren, zu akkumulieren, in ihren Besitz zu bringen, die weder schön noch im engeren Sinne brauchbar waren. Mindestens genauso wichtig, und nicht minder problematisch, war ihr Hang, die Dinge, die über sie kamen, die sie überkamen und überforderten, nicht wegzuwerfen. Das ist ein Unterschied. Das ist, wie der Fortgang dieses Textes zeigen wird, sogar ein fundamentaler Unterschied.

Meine Mutter spürte offensichtlich eine emotionale oder jedenfalls psychische Verbindung zu den Dingen, die sie kaufte und die sie für wichtig, notwendig und schön befunden hatte. Sie verspürte aber keinen Drang, jahrzehntealte Inkassobriefe zu besitzen und vor der Entsorgung zu retten. Ich will das nicht glauben. Dass die uralten Briefe samt Umschlägen, die bezahlten Rechnungen, Mahnungen und Inkassoschreiben trotzdem bis zum letzten Tag in ihrem Besitz blieben, kann nur einen Grund haben: dass ihre Entsorgung Anstrengung bedeutet hätte. Ihr fehlte die Kraft, den Akt der Entsorgung vorzunehmen. So landeten die Dinge an Orten und Unorten. In Truhen, Wäschekörben und Boxen. Sie lagen auf den Tischen oder in den Schubfächern ihrer Nachttische. Weil sie keinen Platz mehr hatte für die Dinge, kaufte sie Regale und Schränke, in denen die Dinge verschwanden. Dann wieder denke ich, dass es mehr Energie gekostet haben musste, die Dinge zu verramschen, in irgendwelche Aufbewahrungsboxen zu stopfen, als sie schlicht in den Müll zu werfen.

Verschieben, verdrängen, verdichten. Man muss gedanklich keinen großen Schritt machen, um bei Freud’schen Begriffen zu landen. Da fällt mir ein: What’s a Freudian slip? When you mean one thing and say your mother, uhm, another! Wer Mutter sagt, der offenbart zwangsläufig einen neurotischen Nukleus. Deshalb ist dieses Buch auch das: Arbeit an der Mutter. Es ist der Versuch, meine Mutter zu bergen, zu ihrem Kern vorzudringen, der in oder unter dem Hort verborgen ist.

*

Warum dieses Buch schreiben? Warum dieses Buch in dieser Form schreiben? Warum dieses Buch in dieser Form so rasch nach dem Tod meiner Mutter schreiben?

Eine Autorin, die ich sehr schätze und die ebenfalls den Verlust ihrer Mutter betrauert, wirft diese Frage auf. Sie formuliert die Frage vorsichtig, und doch ist der Vorwurf hinter den sorgsam gewählten Worten deutlich spürbar. Oder ist das nur mein Schuldgefühl, weil sie die Frage aufwirft, die ich mir selbst stelle, seit ich an dem Buch arbeite?

Die einfachste Antwort ist: Die Texte drängen danach, geschrieben zu werden. Was geschrieben wird und was nicht, ist weniger eine Frage des Wollens als der Notwendigkeit, die umso größer erscheint, weil sie nicht rational begründbar ist. Jede rationale Begründung ist nur nachgeschoben.

Der Stoff drängt sich auf und sucht nach einer Form. Ich halte es für einfältig anzunehmen, dass ein Memoir, eine Autobiografie oder ein Erfahrungsbericht ohne eine bewusst gewählte Form auskomme, ganz so, als schriebe sich das Erlebte von allein nieder, ohne Mitwirken des schreibenden, formenden Ichs.

»Die Kunst der Autobiographie fordert wie die Kunst der erzählenden Prosa den Verfasser auf, sich selbst als Figur in einer Geschichte zu gestalten, und diese Gestaltung verlangt eine durch Sprache vermittelte Form« 1 , schreibt Siri Hustvedt in einem Text, der durchaus Kritik am Genre des Memoirs übt. Die Kritik richtet sich gegen das Bekenntnishafte, die Selbstentblößung, die Überforderung durch die Intimität.

Noch ein Gedanke: Man muss schreiben, solange der Schock noch anhält.

Wie Salman Rushdie, der sein Buch Knife über das Messerattentat, das ihn beinahe das Leben kostete, keine zwei Jahre nach dem Ereignis veröffentlichte. Da beschreibt jemand, der kaum dem Tod von der Schippe gesprungen ist, seine Genesung mit den intimsten und schmerzlichsten Details.

Die Stimme im Buch klingt gefasst und reflektiert, wenig aufgerüttelt, kaum erschüttert. Ist das nur Rollenprosa? Oder Ausdruck der Natur des Schocks, der weitermachen lässt, immer weitermachen lässt. Und was anderes sollte der Autor machen, als zu schreiben?

*

Es vergingen nur wenige Tage zwischen dem Tod meiner Mutter und dem Beginn der Entrümpelung ihrer Wohnung. Eigentlich hatte ich bereits während ihrer Zeit im Krankenhaus das Chaos in ihrer Wohnung kurieren wollen: Wie wäre es denn, fragte ich meinen Sohn, wenn wir die Wohnung richtig schön aufräumten, sodass sie nach Behandlung und Reha in eine saubere, organisierte, vernünftige Wohnung zurückkehren könnte? Ein gesunder Körper lebt in einer gesunden Wohnung. Aber ich hätte gar nicht gewusst, wo ich anfangen sollte. Die Wohnung ängstigte mich. Mir fällt kein anderes Bild ein als das eines dunklen Wesens; ein Etwas, das ein Eigenleben hat und mich nicht unberührt lässt. Ein Etwas, das mich zu überfluten droht und auf mich übergreift, wenn ich nicht vorsichtig bin.

Während der Wochen auf der Intensivstation hegte ich, trotz der Schwere ihrer Erkrankung, Hoffnung auf ein Leben danach: nach dem Krankenhaus und nach dem Horten. Du musst dein Leben ändern, du musst ihr Leben ändern. Man habe auf der Station während der Coronazeit viel Schlimmeres gesehen, tröstete mich die Oberschwester. Der Oberarzt erklärte, die Dinge stünden auf Messers Schneide. Ich entschied, der Schwester glauben zu wollen. Ihre resolute mütterliche Art hatte mich überzeugt. Tatsächlich lag meine Mutter mit einer atypischen Form der Lungenentzündung, wie sie auch Coronapatienten erlebt hatten, auf der Intensivstation. Als die Ärzte nach vielen Tests endlich einen Pilz als Krankheitserreger identifizierten, war die Lunge meiner Mutter bereits zu schwer geschädigt. Ihr Körper, der in den letzten Jahren so viele Krankheiten durchlebt hatte, gab auf. Wir mussten sie aufgeben. Sie starb mit 69 Jahren.

Doch noch in den ersten Stunden nach ihrem Tod verschob sich, zunächst unmerklich, dann mit voller Wucht, die Last der Bewältigung ihres Todes auf die Last der Bewältigung ihrer nachgelassenen Dinge, die sich auf 70 Quadratmetern angesammelt hatten. Wie viele Container man damit füllen könnte?

*

Jeder Mensch hat Macken und Defekte. Das Horten ist nur eine dieser potenziellen Macken und bei Weitem nicht die schlimmste. Das Problem ist, dass die Macken und Defekte (oder nennen wir sie etwas wissenschaftlicher »Neurosen« und »psychische Probleme«) der Eltern zum Problem der Kinder werden. Sie überkommen uns. Was, wie ich glaube, die einzige Rechtfertigung für diesen Text gewordenen Verrat darstellt: dass ich mir nicht ausgesucht habe, welche Traumata, Defekte und neurotischen Nuklei über mich kommen würden. Dass die Auseinandersetzung mit all dem auch eine Angstbewältigung darstellt, doch darauf werde ich noch zu sprechen kommen.

Nicht nur der Hort selbst ist Teil des Erbgutes. Man nimmt heute an, dass die Erblichkeit des Zwangshortens sehr hoch ist, bei 50 Prozent liegt. 2 Wer weiß, welche Möglichkeiten in mir schlummern, wer weiß, ob es nur eines triftigen Grundes, einer kleinen Verletzung bedarf, um selbst so zu werden – wie – sie. Das Erbgut ist diese Angst: Wie viel meiner Mutter steckt in mir? Werde ich sein, wie meine Mutter gewesen ist?

I. VERDRÄNGEN

»Die Welt ist von Zeichen bedeckt, die man entziffern muss, und diese Zeichen, die Ähnlichkeiten und Affinitäten enthüllen, sind selbst nur Formen der Ähnlichkeit. Erkennen heißt also interpretieren: vom sichtbaren Zeichen zu dem dadurch Ausgedrückten gehen, das ohne das Zeichen stummes Wort, in den Dingen schlafend bliebe.« 3

Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (1974)

DIE HEILIGE MUTTER SCHROTTES

Ich beginne an diesem Buch zu schreiben, da ist meine Mutter gerade erst ein paar Tage tot. Noch ist Erkenntnis der Realität der Dinge nicht eingesickert, da präsentiert sich die Wohnung bereits als zu bewältigende Aufgabe. Wenn ich all das überstehen will – ihren Tod und die Trauer und das Aufräumen –, dann muss ich schreiben. Je länger der Text wird, den ich in diesen ersten Tagen schreibe, desto drängender wird die Frage, ob ich ihn eines Tages veröffentlichen kann. Schließlich muss man nicht für die Öffentlichkeit schreiben. Ich könnte ein Tagebuch schreiben.

Die Wahrheit ist: Ein veröffentlichter Text verlangt nach einer Form. Die Form erzwingt Arbeit. Es genügt nicht, ein paar Gedanken zu formulieren; sie müssen in die richtige Form gebracht werden. Sie müssen durchgearbeitet werden. Man kann nicht haltmachen, wo es wehtut. Öffentlichkeit ist Verpflichtung. Öffentlichkeit ist Resonanz. Damals veröffentliche ich einen Artikel für die Onlineausgabe einer großen Tageszeitung. Er ist noch ganz in Wut und Verzweiflung gefangen. Er ist noch nicht durchgearbeitet, bleibt beim Affekt. Einer meiner Leser wird später sagen, er lese sich Zeile für Zeile wie eine Katharsis.

Ich habe noch nie so viel Resonanz auf einen Text erhalten, doch die Resonanz ist radikal zweigeteilt. Ich erhalte unzählige freundliche, ermunternde Nachrichten und Texte, in denen mir für meinen Mut gedankt wird. Es gibt aber unter dem Artikel eine lange Liste von Kommentaren – so erzählt man mir –, die wenig nett sind. Ich habe mir angewöhnt, keine Kommentare zu meinen Texten zu lesen. Das mag so klingen, als wäre ich nicht kritikfähig. Es ist allerdings so, dass die Kritik häufig in recht ungehobelter Form daherkommt, also nicht sachlich ist, sondern als Ad-hominem-Angriff auftritt; ich entschied mich, keine Zeit und Energie auf diese Art der Kritik zu verwenden.

Offensichtlich empfinden einige Leser den Text als Verrat an meiner Mutter. Ja, meine Mutter wollte nicht, dass jemand sieht, wie sie lebt, und ich habe dieses Leben den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben. Ich habe sie bloßgestellt, die Vorhänge geöffnet, den schützenden Kokon zwischen ihr und der Außenwelt zerrissen. Doch ist es nicht das, was die Leser als Verrat empfinden. Sie finden ihre ganz persönliche Mutterillusion entzaubert: Da ist eine Frau, die zeit ihres Lebens arbeitet und Kinder großzieht, die ihrerseits ein gewöhnliches Mittelklasseleben mit Job und Familie führt. Sie müsste glücklich sein, aber sie ist es nicht. Tatsächlich ist sie so unglücklich und so allein mit ihrem Unglück, dass sie Unmengen von Unrat hortet, um den Schmerz über Einsamkeit und das Trauma des geprügelten Kindes, das sie einmal war, verdrängen zu können. Sie betäubt sich mit den kurzen Freuden des Konsums. Sie kapselt sich ab, sie spinnt sich einen Kokon. Sie wird diesem Kokon nicht als ein schöner Schmetterling entsteigen. Sie stirbt zu jung.

Dass sie schwer depressiv war und trotzdem weiterhin zur Arbeit ging, dass sie drei Kinder hatte und fünf Enkelkinder und sich trotzdem einsam fühlte, das zerstört den Mythos von der glücklichen Mutter und Großmutter, die all ihre Zufriedenheit aus dem Dasein der anderen schöpft. Es zerstört die Illusion, dass das Funktionieren, das rastlose Für-andere-da-Sein, Ausdruck oder gar Quelle tieferer Erfüllung sei. Es ist die große Entzauberung der symbolischen Mutter.

Im Grunde bestärkte mich die Empörung über meinen Artikel. Offensichtlich hatte ich an eine moralisch-sittliche Grenze gerührt. Ich hatte die Figur der Mutter beschmutzt. Machen wir uns nichts vor: In unserer Gesellschaft kann die Mutter es niemandem recht machen, sie ist zu viel oder zu wenig, zu fürsorglich oder zu sorglos, sie arbeitet zu viel oder zu wenig. Endet jedoch die aktive Phase des Mutterseins, sollen wir die Mutter verehren, als Heilige auf einen Sockel hieven; nun ist sie unantastbar, weil sie sich für uns aufgeopfert hat. Die Zuerkennung des Status der Heiligen soll sie rückwirkend entschädigen für Jahrzehnte der Prüfung. Ich mache bei dieser nachträglichen Verklärung nicht mit.

Lieber wäre es mir, man unterstützte die aktiv Fürsorgearbeit leistenden Mütter und Großmütter und erkennte in der Rückschau an, dass Mütter Fehler machen, weil sie Menschen sind. Weil sie das Produkt ihrer eigenen Herkunft und Erziehung sind. Daran ist nichts skandalös. Wer die Mutter als Ikone verehren will, nimmt ihr die Menschlichkeit.

Individualpsychologisch ist die Idealisierung der Mutter letztlich ein destruktiver Akt – auch wenn es verwundern mag. »Aus der Vorstellung, die Mutter möge perfekt und allesgewährend sein (nur um Haaresbreite entfernt von alleskontrollierend), spricht die Denkungsweise der Omnipotenz, die Unfähigkeit, die Mutter als unabhängig existierendes Subjekt zu erleben. Diese Idealisierung bezeugt ein Misslingen der Zerstörung; der Hass, der die Liebe weniger idealisiert, aber dafür authentischer gemacht hätte, durfte nicht herauskommen.« 4

Zerstörung meint hier, dass ein Kind beim Weggang der Mutter (in der Verlusterfahrung) eine grenzenlose Wut auf sie verspüren kann, die das Objekt zerstören könnte. Es erfährt allerdings, dass die Mutter intakt bleibt – das Kind besitzt nicht die Macht, die reale Mutter zu zerstören. So lernt es zu differenzieren zwischen dem innerpsychischen Vorgang der Wut auf das geliebte Objekt und dessen Unabhängigkeit – die Mutter ist ein unvollkommenes Subjekt, nicht nur ein Liebesobjekt. 5

Kein Mensch, der gelebt hat und sterblich ist, kann vollkommen sein. Das erinnert mich an den Trauerredner, der auf der Beerdigung meiner Mutter gesprochen hatte. Nachdem ich ihm erklärte, was für ein lieber Mensch meine Mutter gewesen sei, bat er mich um ein wenig Ehrlichkeit: Ich solle bitte bloß nicht so tun, als habe der Mensch keine Schattenseiten gehabt, und ihn beim letzten Abschied idealisieren. Wenn er Trauernde höre, die in der verstorbenen Mutter stets nur das perfekte, fürsorgende, aufopfernde Wesen sahen, dann empfinde er das als große Lüge.

Dasselbe gilt für die symbolische Mutter. Ihrer realen Machtlosigkeit unter den Bedingungen der männlichen Vorherrschaft 6 wird eine symbolische Aufwertung gegenübergestellt: Mag sie auch keine Unterstützung haben, mag sie sich auch aufreiben, wir verehren sie in ihrer Rolle. »In dem Maß, wie konkrete Formen mütterlicher Fürsorge und Anerkennung schwinden, wird der Verlust daher durch die symbolische Beschwörung der Mutterschaft repariert.« 7 Wobei repariert hier eher ein oberflächliches Kitten meint, ein notdürftiges Verkleben.

Meine Mutter wurde nie gehalten. Weder ihr Mann konnte ihr Halt geben noch ihre eigene Mutter oder ihre Geschwister. Niemand fühlte sich zuständig, wenn sie sich nicht zuständig fühlte. Notwendigerweise versetzte das ihre Kinder in die Situation, die Mutter halten zu müssen, sich für sie verantwortlich zu fühlen. Dass ihr andere Stützen fehlten, das ist nicht die Schuld meiner Mutter.

Meine Mutter wurde auch als Kind nie gehalten. Sie war meiner Großmutter Mittel zum Zweck, aber kein Liebesobjekt, auch kein unabhängiges Subjekt, das als solches anerkannt wurde.

Meine Mutter wusste das ganz instinktiv; wohl deshalb opferte sie sich für ihre Töchter und deren Kinder auf: Ihre Töchter sollten es besser haben als sie selbst. Mehr noch: Wenn sie bemerkte, dass Frauen in ihrem Umfeld mit der Säuglingspflege überfordert waren, dann half sie aus. Wusch Windeln, legte die Babys trocken, zeigte – sehr souverän –, wie ein Baby gut versorgt wird.

Nur die heilige Muttergottes kann für die, die an sie glauben, die alles erduldende, engelsgleiche Fürsorgegestalt sein. Maria wird am Ende mit der Himmelfahrt belohnt (vielleicht ein fairer Preis für eine ungewollte Teenagerschwangerschaft). Und die echten Mütter?

Ich weiß sehr wohl, dass dieses Buch meine Mutter über die Maßen verletzt und gekränkt hätte. Ich weiß, dass viele sagen werden, man solle die Toten ruhen lassen. Doch das ist der Punkt: Die Tote kann nicht ruhen, solange ihr Rätsel ungelöst bleibt.

DIE ARCHÄOLOGIE DES HORTES

So wie die Psychologie unterschiedliche Erklärungsansätze für das Phänomen des Hortens liefert, so will auch ich Erklärungen durchspielen. Auch eine umfassende Hermeneutik ihres Hortes mag das Verhalten meiner Mutter nicht restlos erklären können. Doch ihre Biografie macht vieles verständlich. Wer wie sie als Kind materielle Armut erlebte, neigt naturgemäß dazu, sich materiell auszustatten und für schlechte Zeiten vorzusorgen. Dinge zu kaufen und zu verschenken war immer schon Teil ihres Mutterseins, sie wollte keines unserer materiellen Bedürfnisse unerfüllt lassen. Ihr Problem war eher, zwischen unseren Wünschen und unseren Bedürfnissen zu unterscheiden. Zu oft verwechselte sie jede impulsive Bitte ihrer Kinder mit einer drängenden Notwendigkeit. Doch wie hätte sie die Unterscheidung treffen können, wo man ihr als Kind doch weder Bedürfnisse noch Wünsche erfüllt hatte? Weder das drängende, schmerzliche, basale wie fundamentale Bedürfnis nach Liebe und Fürsorge, Wärme und Geborgenheit. Noch die klitzekleinen materiellen Wünsche nach etwas Eigenem: einer eigenen Puppe, einem eigenen Kleid.

Das Horten und Sammeln als psychischer Akt: als Aneignen und Nicht-mehr-loslassen-Können.

Das Schreiben als eine Archäologie der Mutter. Schicht um Schicht freilegen und vordringen, zu ihrem Kern. Das Verborgene aufdecken und wiederfinden. Finden, was sie gebraucht hat, verstehen, was sie verdrängt hat.

Eine Archäologie, die den Tiefenschichten meiner Mutter nachforscht, nach ihren Beweggründen forscht und gräbt, noch bevor sie selbst begraben wurde. Ein Versuch, meine Mutter zu bewältigen.

Das Schreiben ist dem Horten nicht unähnlich. Man sammelt Ideen, Wörter, Geschichten. Man akkumuliert die Anekdoten der anderen, eignet sie sich an, vergräbt sie, holt sie wieder hervor. Man baut sich ein Haus, die eigenen Bücher werden zur Extension des eigenen Ichs, ganz so wie der Hort eine, wie ich glaube, Fortsetzung und Erweiterung des hortenden Subjekts ist. Und wohnt nicht beiden, den Büchern und den Horten, der grenzenlos narzisstische Wunsch inne, etwas, ein Teil des Selbst, möge den eigenen Tod überdauern und für die Nachwelt bestehen bleiben?

Immer schon war ich verwickelt und verwoben in die Geschichten, die meine Mutter mir wieder und wieder erzählte. Traumatische Szenen, die auf einer Analytikercouch hätten vorgebracht werden müssen, die sie stattdessen mit mir teilte, womit sie mich überforderte und in ihre Kindheitstraumata einhüllte, bis ich selbst das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, unter ihrem Ballast zu ersticken. Nicht nur epigenetisch kann sich das Trauma fortschreiben; es kann reproduziert werden in der Erzählung, durch die Anteilnahme der anderen.

Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas mit den Erzählungen meiner Mutter zu tun hat, aber Erzählungen über das Leid anderer betreffen mich physisch. Sie paralysieren mich. Zeitungs- und Buchtexte, die unerwartet explizit Gewalt an Kindern schildern, lassen mich nicht mehr los. Die Szenen, die Bilder und Geschichten verfolgen mich über Wochen und Monate. Sie bewirken obsessive Gedanken, eine Verpflichtung zum Mitleid und das Gefühl, verfolgt zu werden. Es sind die Geschichten und Gefühle meiner Mutter, die mich verfolgen.

Meine Mutter sagte einmal zu mir, sie habe sich immer vorgestellt, ich würde als Erwachsene Anwältin werden, weil ich so ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden habe. Vermutlich bin ich deswegen nicht Juristin geworden. Weil es selbst der Justiz nicht immer gelingt, Gerechtigkeit herzustellen, und was wäre schlimmer als die Erkenntnis, dass keine Instanz wahrhafte Gerechtigkeit herstellen kann?

Dieses Buch kann meiner Mutter nicht gerecht werden. Es ist Ungerechtigkeit und doch mein gutes Recht.

*

Einen Tag nach dem Tod meiner Mutter treffen meine Geschwister und ich uns in der Wohnung meiner Mutter. Wir halten den Atem an, weil uns plötzlich bewusst wird, welche Aufgabe da vor uns steht. Als das Entsetzen über die Menge der Dinge in die Köpfe und Körper meiner Geschwister einsickert – ich glaube, sie zunächst erstarren, dann in sich zusammensacken zu sehen –, ist ihre nur folgerichtige Reaktion die Abwehr.

»Vielleicht sollten wir einen Entrümpelungsservice engagieren«, schlage ich vor. »Das kostet«, sagt meine Schwester.

Wir würden Geld dafür zahlen müssen, die Dinge, die meine Mutter für sehr viel Geld erstanden hatte, zu entsorgen. Ich habe die Illusion, dass solch ein Entrümpelungsunternehmen vorsichtig das Nützliche vom Unnützen trennen und die nützlichen Dinge einer Zweitverwertung zuführen würde. Später macht mir meine Schwiegermutter klar, dass sie die Sachen schlicht in einen Container werfen werden. Die Vorstellung ertrage ich nicht.

Unterdessen googelt mein Bruder, wie man ein Erbe ausschlägt. Er liest uns einen Artikel vor, den er auf einer juristischen Ratgeberseite aufgetan hat. Ich erinnere mich daran, wie ich als Studentin eines dieser Ratgeberlexika erstellt habe, ohne juristisches Wissen und gegen ein Honorar von 0,1 Cent pro Wort. Vermutlich kursiert es noch immer im Netz. Mein Bruder liest vor: Wer das Erbe ausschlagen will, darf der Wohnung keine Gegenstände entnehmen. Im Grunde müssten wir die Tür hinter uns schließen und gehen. Ich schaue mich kurz in der Wohnung um. Ich sehe Bilder meiner Söhne, gerahmt und gut sichtbar in den Schränken platziert. Sie waren Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke. Mein ältester Sohn ist zu einem guten Teil auch in dieser Wohnung aufgewachsen. Er und ich haben ja die meiste Zeit über in Wohnungen gelebt, die nicht weit von der meiner Mutter entfernt lagen. Diese Dinge sind auch meine Dinge. Ein materielles Erbe, das unser geteiltes Leben symbolisiert. Ich habe einen Teil der Möbel gekauft, als meine Mutter kein Geld besaß, nicht einmal für ein paar Pressspanmöbel aus einem Billigmöbelhaus, obwohl sie mehr als 40 Stunden pro Woche arbeitete. Die Badezimmermöbel, einen Teil der Wohnzimmereinrichtung. Wir haben erst vier Jahre vor ihrem Tod eine neue Küche eingebaut. Ich kann mich von diesen Dingen nicht trennen.

Das bin ich ihr schuldig, das sind wir ihr schuldig. Ihre Dinge, ihr Leben geordnet abzuwickeln, die Wohnung zu übergeben, an den Vermieter, von dem sie sich seit Jahren drangsaliert gefühlt hatte, weil er permanent die Miete erhöhte und sie in Rechtsstreitigkeiten verwickelte. Zuletzt hatte er ihrer Wohnung einen Balkon anbauen lassen. Sie hasste ihn; den Balkon, meine ich. Sie hatte ihn partout nicht haben wollen, weil er Dreck und Scherereien verursacht hatte und sie sicher war, dass er sie den Blicken der Nachbarn in den umgebenden Häusern aussetzen würde. Nicht zuletzt hatte sie fremde Menschen in ihre Wohnung lassen müssen.

Natürlich könnte ich nun den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten werfen. Doch ich finde, dass ein Mensch mit Angehörigen, für die er sich aufopferte, es verdient, dass man sich nach seinem Tod der Hinterlassenschaften annimmt.

»Ich brauche nichts aus der Wohnung«, stellt mein Bruder fest, und meine Schwester pflichtet ihm bei. Damit ist die Sache für sie erledigt.

Noch ein Verrat.

Ich werfe einen Blick auf meinen erwachsenen Sohn. Er nickt mir zu. Ich weiß, dass er mir bei der Entrümpelung helfen wird. Er und ich gegen die Wohnung und die Last ihrer Hinterlassenschaften.

Trotzdem überkommt mich ein Unbehagen. Ich fühle mich so unwohl in der Wohnung, weil die Masse der Dinge ein konstantes Rauschen bildet, ein white noise, das immer und überall präsent ist. Invasiv wie ein Pilz, der sich ausbreitet; ein Rhizom der Dinge. Das Rhizom durchdringt auch mich. Wie kann man das erklären? Es ist ein Übergreifen, eine Überwältigung.

*

Als meine Geschwister die Wohnung verlassen haben, fällt mein Blick auf zwei kleine Beutel, die auf dem Flurschrank meiner Mutter liegen. Das Wort »Biohazard« steht in roten Lettern darauf geschrieben. Biologisches Risiko. Eine biologische Gefahr. Das beigefügte Formblatt aus dem Krankenhaus erklärt, was sich in den Beuteln verbirgt. Die letzten Dinge der Toten: eine Brille. Zwei Zahnprothesen. Mein Bruder hat sie aus dem Krankenhaus abgeholt.

Der Mensch sei Prothesengott, so heißt es bei Freud. Die Prothesen, die dem Menschen seine unzulänglichen organischen Fähigkeiten kompensieren, erheben ihn in einen gottgleichen Status. Sie kennzeichnen ein Kulturwesen, das biologische und physiologische Beschränkungen hinter sich lässt. Doch sogar Götter müssen sterben.

*

Horten.

horten (schwaches Verb)

Bedeutungen (2)

  • [wegen seiner Kostbarkeit, Knappheit] als Vorrat sammeln

  • für einen bestimmten Zweck sammeln
    Synonyme: anhäufen, ansammeln, aufhäufen, aufspeichern 8

Herkunft von:

Hort, der (Substantiv)

Goldschatz

  • mittelhochdeutsch, althochdeutsch hort, eigentlich = Bedecktes, Verborgenes

  • Stätte, an der etwas in besonderem Maße praktiziert wird
    Synonyme zu Hort: Bewahrung, Schonraum, Schutz, Schutzzone 9

Ist es nicht zauberhaft, wenn die Sprache immer schon weiß, was die Tiefenpsychologie erst mühsam aufdecken müsste? Dass der Hort nicht nur Verdecktes und Verborgenes ist, sondern ein Schutzraum?

Freies Assoziieren. Das ist ja die Methode der Psychoanalyse. Sagen, was einem in den Sinn kommt. Was mir in den Sinn kommt:

Der Hort ist Geborgenheit.

Der Hort schafft Distanz.

Der Hort symbolisiert Vergänglichkeit.

Der Hort ist imaginierte Unendlichkeit.

Der Hort ist Erinnerung.

Der Hort sichert das Vergessen.

Der Hort symbolisiert, was nicht symbolisiert werden kann.

Es handelt sich um Thesen, die widerstreiten, die unter sich, mit sich, gegen sich widersprüchlich sind – also nicht alle gleichermaßen Gültigkeit besitzen können. Oder sie sind allesamt zur selben Zeit gültig, aber nicht für dieselbe Person. Oder sie sind alle zur selben Zeit für dieselbe Person gültig. Ich – das sind ja immer auch viele.

*

In den ersten Tagen nach dem Tod meiner Mutter befinde ich mich in einem Schockzustand. Bisweilen hört man von Menschen, die sich aus Autowracks befreien, obgleich sie schwerstverletzt sind. Sie laufen weiter, der Schmerz ist betäubt, der Geist dissoziiert vom Körper, will leben. Erst wenn der akute Schock nachlässt, kehrt der Schmerz zurück. In den Tagen nach dem Tod meiner Mutter empfinde ich keinen Schmerz. Sicher, ich weine, als meine Mutter stirbt. Aber wir sagen eine geplante Gartenparty nicht ab, und ich bitte meinen Partner, niemandem von dem Tod meiner Mutter zu erzählen, damit ich noch einen normalen Abend, eine letzte Party haben könnte.

Wie ein Tanz am Abgrund. Ich bin keine sonderlich gesellige Person, im Gegenteil, ich meide Geselligkeiten und bin lieber allein, doch in diesen Tagen sehne ich mich danach, unter Menschen zu sein, besonders unter jenen, die nicht wissen, was passiert ist.

In der Zeit des Aufräumens und noch lange danach fühle ich mich wie amputiert. Es ist nicht der Verlust selbst, der die Leerstelle bildet, sondern die Unfähigkeit zu trauern. Ich warte auf die Trauer wie auf Godot; ich warte, und sie kommt nicht. Dass die Trauer nicht erscheint, mutet wie ein Defekt an. Welcher Mensch trauert nicht um seine Mutter?

Mich beschleicht ein furchtbarer Verdacht, wonach ich meine Mutter gar nicht wirklich geliebt habe, denn wenn ich sie wirklich geliebt hätte, würde ich trauern müssen, an der Trauer zugrunde gehen, Stunden und Tage und Wochen trauernd im Bett verbringen. Dass ich funktioniere und weitermache und laufe und laufe wie ein Duracell-Häschen mit schier endlos ergiebigen Batterien, das kommt mir verdächtig vor bis zu einem Grad, an dem ich mich selbst beschuldige: Womöglich war ich nie eine liebende Tochter, wahrscheinlich bin ich eiskalt und niederträchtig. So muss es sein.

ETWAS KOCHT ÜBER

In den letzten 18 Jahren ihres Lebens, meines Lebens, habe ich sehr viel damit gerungen, den richtigen Abstand, das rechte Maß an Nähe zu meiner Mutter zu etablieren. Viele Erwachsene klagen rückblickend über ein Zuwenig, über etwas, was ihre Eltern ihnen schuldig geblieben sind. Aber meine Mutter war immer ein Zuviel. Zu viel Nähe, zu viel Abhängigkeit. In ihrer Nähe sein zu können, ohne von ihr überschwemmt zu werden, bildete die eigentliche Schwierigkeit meines Verhältnisses zu ihr als Erwachsene. Als mein jüngster Sohn geboren wurde, besuchte sie uns oft ganze Wochenenden lang. Mein Partner war ganz begeistert von ihrer Einsatzbereitschaft, mit der sie sich beinahe unentbehrlich machte, denn sie übernahm einen Großteil der Care-Arbeit für meinen Sohn – sie spielte den lieben langen Tag geduldig mit ihm in seinem Zimmer. Sie grenzte sich sogar aktiv ab, um mit ihm allein sein zu können. Das hieß, dass wir frei wurden für all die anderen Dinge. Was konnte es Besseres geben?

Für mich bedeutete es eine doppelte Form der Überschwemmung, auf die ich im Laufe der Wochenenden mit wachsender Ungeduld, unterschwelliger Aggressivität und schließlich offener Wut oder Depression reagierte: Mit jeder Stunde senkte sich eine Schwere auf mich herab, das Gefühl zu ertrinken, auftauchen zu müssen, sie loswerden zu müssen. Wieso sollte man eine liebende Person »loswerden« wollen? Weil es ein Zuviel der Liebe gibt. Weil sich hinter ihrem Zuviel eine Abhängigkeit verbarg, die sich in Form des Versuches äußerte, mir Schuldgefühle einzureden.

»Wenn in drei Überkreuzungen von Ideen, die dem Subjekt kommen, ein und dasselbe Wort anzutreffen ist, werden Sie erkennen, dass genau dieses Wort und kein anderes wichtig ist.« 10

Überschwemmung, immer wieder Überschwemmung. Die Frau ist das Meer und die Welle und der Schlamm und die Flut. Diese Analogie entspringt den Männerfantasien, erklärt Klaus Theweleit in seinem psychoanalytischen Klassiker. 11

Nun bin ich, unschwer zu erkennen, kein Mann. Was ja noch nichts über meine Fantasien besagt.

Ich weiß, was ich ihr schulde. Oder besser: was ich ihr verdanke. Aber sie versetzte mich in die Situation, ihr die Liebe und Nähe geben zu müssen, die andere Erwachsene durch Partner und Freunde erfahren. Natürlich ist es wünschenswert, dass erwachsene Kinder eine gute Beziehung zu ihren Eltern pflegen. Aber man kann ihnen nicht Freunde und Bekannte, ein ganzes soziales Umfeld ersetzen.

Ich schuldete ihr keine Freundschaft und Nähe.

Ich liebte sie, sie liebte mich, und das hätte genügen müssen.

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