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Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken

Als Buch hier erhältlich:

»Ich wünsche mir, dass die Versorgung an erster Stelle steht und nicht die Fallpauschale.«

Nina Böhmer arbeitet in der Pflege, seit sie sechzehn ist. Ihr Beruf macht ihr großen Spaß. Eigentlich. Doch als sich während der Corona-Krise die ohnehin schlechten Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte noch mal verschärfen, platzt ihr der Kragen. Auf Facebook veröffentlicht sie eine Wutbotschaft, in der sie erklärt, warum sie viele Entscheidungen der Politik nicht nachvollziehen kann und warum sie es irgendwie als Hohn empfindet, wenn ihr auf einmal Applaus von Balkonen entgegenschallt. – Wo war der eigentlich vorher? Und wieso war er so schnell wieder vorbei?

Nina Böhmer nimmt uns mit an die Front ihres Berufsalltags und bringt es auf den Punkt: Profitabilität darf nicht der alleinige Maßstab unseres Gesundheitssystems sein. Es muss um die bestmögliche Behandlung der Patienten und zugleich um die Menschen gehen, die sich von Berufs wegen um Kranke und Pflegebedürftige kümmern. Es geht in ihrem Buch aber auch um Sexismus am Arbeitsplatz, um kaum haltbare Bedingungen während der Ausbildung, die Nonstop-Belastung im Alltag und Bürokratie im Job sowie um das Modell des ‚Leasings‘ von Pflegekräften.

Rebellisch, kritisch, wahr – ein Buch über die Unzulänglichkeiten der Politik, aber auch darüber, warum für Nina Böhmer ihr Job trotz allem der schönste der Welt ist.

»Im April, als auch Kliniken teilweise auf Kurzarbeit umschwenkten, setzte sie sich hin und schrieb. Herausgekommen ist eine 208 Seiten starke, kritische Abrechnung mit dem modernen Gesundheitssystem in Deutschland, verwoben mit der persönlichen Geschichte der Krankenpflegerin und immer mit dem Fokus auf die aktuelle Corona-Krise. Böhmer schreibt in klarer, verständlicher Sprache, teils sachlich, teils emotional, und spickt ihre Kritik immer wieder mit Studien oder auch praktischen Vorschlägen zum Thema. Es stehen zu wenig Corona-Tests für medizinisches Personal zur Verfügung? Wie wäre es zum Beispiel, auf dem Höhepunkt der Krise nicht Fußballprofis zu testen, sondern Ärzte und Pflegekräfte? Dieser Kunstgriff, immer wieder praktische Vorschläge einzuweben, lässt das Buch leichter wirken, als es der durchaus schwerwiegende Inhalt vermuten lässt, schließlich geht es im Wortsinn um Leben und Tod.« Neue Osnabrücker Zeitung


  • Erscheinungstag: 14.07.2020
  • Aus der Serie: Harper Collins Non Fiction
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950379
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1
MEINE WUTBOTSCHAFT

Im Dezember 2019 hörte ich zum ersten Mal von einer neuartigen Viruserkrankung in China, die hier bei uns zuerst gar nicht so richtig ernstgenommen wurde, aber sich bald in rasendem Tempo in der ganzen Welt ausbreitete. Für mich ist China unendlich weit weg. Ich käme nie auf die Idee, das Land zu besuchen, eben weil es gefühlte Lichtjahre entfernt liegt. Ich mag keine Langstreckenflüge, stundenlang dicht an dicht mit ein paar Hundert wildfremden Menschen in einem Flugzeug zu sitzen, ist echt nicht mein Ding. Ich, die Krankenschwester, habe dann immer die Sorge, krank zu werden, mich bei irgendeinem Passagier anzustecken. Hustet jemand in meiner Nähe, halte ich mir ganz schnell etwas vor meine Nase und meinen Mund und versuche, die Luft ungefähr eine Minute lang anzuhalten.

Ich habe mal gelesen, dass Meghan Markle, die Ehefrau von Prinz Harry, sich eine besondere, angeblich antiseptische Creme in die Nase schmiert, um sich vor Bakterien und Viren zu schützen, damit sie nicht so schnell krank wird, wenn sie im Flugzeug unterwegs ist. Die Creme hätte ich auch gerne, dachte ich, als ich den Artikel las, und versuchte, sie für mich zu besorgen. Aber vergeblich. Sie bleibt das Geheimnis von Meghan Markle.

Dass ich trotzdem viel Zeit in der Luft verbringe, liegt an Sam. Mein Freund ist Brite und lebt in England. Für ihn fliege ich mindestens einmal im Monat nach Bristol. Fernbeziehungen heißen schließlich nicht umsonst Fernbeziehungen. 2019 bin ich dreißig Mal geflogen, um mit Sam zusammen zu sein – nur ein einziges Mal war ich wirklich krank. Mein Immunsystem war eine Zeit lang nicht besonders gut. Irgendwann muss es besser geworden sein. Ich bin jedenfalls nicht mehr so anfällig wie früher.

Ich weiß nicht mehr, wann genau es losging, aber die Lage in China spitzte sich zu. Immer mehr Menschen infizierten sich mit dem Coronavirus, das nun offiziell SARS-CoV-2 genannt wurde. Bald sprach jeder darüber, die deutschen Medien waren voll davon. Man hörte von einem Arzt im chinesischen Wuhan, der vergeblich vor der neuen Lungenkrankheit Covid-19 – die 19 bezieht sich auf das Entdeckungsjahr 2019 – warnte und bald selbst daran starb. Später wurde er als Held gefeiert, weil er es gewagt hatte, seine Kritik an der chinesischen Regierung, alles zu vertuschen, öffentlich zu äußern. Man hörte Dinge wie, dass das Virus in einem Labor gezüchtet und mit Absicht auf die Menschheit losgelassen worden sei. Aber immer noch machte ich mir kaum Gedanken darüber, denn China war ja weiterhin weit weg.

Am 15. Februar kam Sam zu Besuch. Ich wartete auf dem Berliner Flughafen Schönefeld am Gate D auf ihn. Viele Leute standen um mich herum und ein Mann lief durch die Menge und hustete und hustete, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Immer wieder musste ich ihm ausweichen. Ich regte mich unglaublich über ihn auf, denn es ist – unabhängig von Corona – unanständig und unglaublich fahrlässig, sich so zu verhalten. Endlich erschien Sam, ich begrüßte ihn mit einem Kuss und einer Umarmung und erzählte ihm sofort von dem Kerl und seiner Husterei, über den ich mich immer noch ärgerte. Im gleichen Atemzug erzählte mir mein Freund, dass auf seiner Arbeit – er ist als Handwerker beim Militär beschäftigt – ein Soldat positiv auf das Coronavirus getestet worden war. Plötzlich war China nicht mehr ganz so weit weg. Ich fühlte mich sofort leicht unwohl und fragte Sam, ob er selbst irgendwelche Symptome hätte. Er lachte und sagte: Nein. Dort, wo er seinem Beruf nachgehe, seien vielleicht 10 000 Leute beschäftigt und er hätte zu dem Infizierten nie Kontakt gehabt. Also war das Ansteckungsrisiko minimal. Ich beruhigte mich und schob den Gedanken, mein Freund könnte das Coronavirus in sich tragen, schnell wieder weg. Zumal ich eh dachte, die ganze Sache mit der Corona-Gefahr sei übertrieben – aber im Hinterkopf blieb ein ungutes Gefühl.

Dieses ungute Gefühl galt nicht mir, denn ich glaube, ich würde ein Sars-Virus gut wegstecken. Vielmehr dachte ich an Sam, der an Asthma leidet, und das so stark, dass er oft Salbutamol, ein Spray, benutzen muss. Und ich erinnerte mich an ein Erlebnis, das mir noch immer in den Knochen steckte. Im Mai 2019 fuhren wir mit der Fähre von Frankreich nach England. Sam kränkelte schon am Morgen. Als wir abends in Brighton ankamen, bekam er kaum mehr Luft und ich machte mir große Sorgen. Er benutzte das Spray fast jede Minute, dennoch wirkte seine Atmung so angestrengt, dass ich am liebsten gleich mit ihm zu einem Arzt gefahren wäre. Wir mussten aber noch von Brighton nach Swindon fahren. Das sind zweieinhalb Stunden mit dem Auto. Obwohl ich noch nie in England am Steuer eines Autos gesessen hatte, bot ich ihm an zu fahren. Mein Freund lehnte ab und wurde sauer. Er wollte – aus Sorge um mich – unbedingt noch nach Swindon für den Fall, dass er ins Krankenhaus müsste. Dann könnte ich in seinem Haus bleiben, statt – so war seine Befürchtung – im teuren Brighton irgendwo unterkommen zu müssen.

Die Fahrt war der blanke Horror. Sams Atmung war so schlecht, dass ich ihm eine Prednisolon-Tablette, ein entzündungshemmendes und antiallergisch wirkendes Kortisonmittel, gab, weil das Spray allein nicht mehr half. Bis heute weiß ich nicht, wie er es geschafft hat, in diesem Zustand zweieinhalb Stunden Auto zu fahren – doch irgendwann kamen wir tatsächlich unfallfrei in Swindon an. Der Albtraum war damit aber leider noch nicht vorbei. In dem Moment, als Sam die Haustür von innen zuschloss, geriet er in Panik. Ich konnte es in seinem Gesicht sehen. Er schrie mich an, ich solle ihm helfen und ihm das Spray geben. Sam war so panisch, dass er mir nicht zuhörte und ich ihn nicht ansatzweise beruhigen konnte, weshalb auch ich ihn nun anbrüllte, er solle sich hinsetzen und ruhig atmen. Plötzlich liefen seine Lippen blau an und mir war klar, dass er tatsächlich keine Luft mehr bekam. Ich rief den Notarzt. Es dauerte nicht lange, bis der Krankenwagen da war, aber für mich zogen sich die paar Minuten wie Kaugummi dahin.

Zu den Rettungskräften gehörte eine Frau. Noch immer frage ich mich, welchen Job die Dame hatte, ob sie Ärztin oder Rettungsassistentin war. Sicher wusste ich jedoch: Ich mochte sie nicht besonders. Mein Freund erzählte ihr, ich sei Krankenschwester in Deutschland, doch besonders beeindruckt schien sie davon nicht, was für mich nichts Neues war. Sie entschied, Sam ins Krankenhaus zu bringen, denn all ihre Versuche, ihm mit Medikamenten und Sauerstoffgabe zu helfen, brachten nichts. Ich war unglaublich müde, da wir schon beinahe 24 Stunden ununterbrochen wach waren. Trotzdem wollte ich nicht schlafen, ich machte mir große Sorgen um Sam. Mehrere Pflegekräfte kümmerten sich um ihn.

Sams Sauerstoffsättigung betrug unter 90 Prozent. Normal sind 94 bis 99. Die Prozentzahl gibt den Hämoglobinanteil an, der mit Sauerstoff beladen ist. Hämoglobin ist im Blut dafür verantwortlich, den Sauerstoff in den roten Blutkörperchen zu binden. Jedem Organ, jedem Muskel, jeder Körperzelle muss Energie zugeführt werden, die der menschliche Körper aus Nährstoffen gewinnt. Damit er diese verwerten kann, bedarf es einer Art kontrollierter Verbrennung in den Zellen. Ist die Sauerstoffsättigung zu gering, funktioniert die Energiezufuhr nicht mehr richtig, was für einen Menschen gesundheitliche Schäden in unterschiedlichen Schweregraden zur Folge haben kann. Der schlimmste Fall ist der Hirntod.

Unter 90 ist also definitiv zu wenig und gefährlich. Sam bekam zusätzlichen Sauerstoff. Sie maßen seine Temperatur, er hatte Fieber. Die Pfleger gaben ihm Paracetamol, um seine Temperatur zu senken. Irgendjemand fragte uns, was genau passiert sei. Wir erzählten die ganze Geschichte. Mindestens noch fünf weitere Mal erklärten wir, wie der Tag gelaufen war. Mal hörte es sich ein Arzt an, dann wieder eine Schwester. Die Hoffnung, dass wir noch in der Nacht nach Hause könnten, war längst geplatzt. Insgesamt verbrachten wir fünfzehn Stunden in der Rettungsstelle. Sams Zustand war sehr kritisch. In diesen endlos langen fünfzehn Stunden hatte ich ständig Panik. Ich hatte Angst um Sam, es könnte noch schlimmer werden. Ich sah, wie sehr seine schlechte Atmung seinen Körper belastete und wie stark auch seine Psyche darunter litt. Ich weinte mehrmals und schlief dann doch ein paar Minuten mit meinem Kopf aufgestützt auf der Trage, auf der mein Liebster lag, weil ich ihn keine Sekunde allein lassen wollte. Er erhielt Sauerstoff, inhalierte Salbutamol und erhielt Prednisolon. In regelmäßigen Abständen erschienen Krankenschwestern und maßen alle Vitalzeichen, also Temperatur, Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung. Sam wurde geröntgt. Nichts Auffälliges. Endlich konnte er auf die normale Station verlegt werden.

Nachdem ich noch zwei oder drei Stunden bei meinem Freund am Bett verbracht hatte, fuhr ich müde und ausgelaugt zu ihm nach Hause. Schon am nächsten Tag wurde er entlassen, aber nicht, weil er schon wieder als gesund galt, sondern weil er drängelte. Er wollte gerne bei mir sein. Und ich bei ihm. Ich hatte Angst, meinen Freund in der Situation allein zu lassen, weil ich fürchtete, dass er noch einmal einen solch schweren Asthmaanfall bekommen könnte. Ich verschob meinen Flug und blieb einige Tage länger in England. Die Ärzte hatten einen viralen Atemwegsinfekt diagnostiziert, konnten aber nicht genau sagen, welchen. Sie gaben ihm Prednisolon mit, das er ausschleichen sollte, was bedeutet, die Dosis eines Medikaments schrittweise und über einen vom Arzt festgelegten Zeitraum zu reduzieren, bis man es nicht mehr braucht. Zudem erhielt Sam ein Kortison-Spray, das er nun täglich nehmen musste, sowie ein Antibiotikum. Ich wunderte mich, warum die Ärzte ein Antibiotikum bei einem viralen Infekt verordneten. Und frage mich bis heute, ob er damals nicht vielleicht schon Corona hatte.

Wenn ich das Gefühl habe, irgendeine Krankheit, die vielleicht schon in mir ist, bekämpfen zu müssen, nehme ich kolloidales Silber, das auch Silberwasser genannt wird. Es handelt sich um eine rein natürliche Substanz. Das Mittel war schon im 19. Jahrhundert als infektionshemmend bekannt und wurde noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet, bevor Antibiotika ihre Verbreitung fanden. Als ich am 26. Februar 2020 zu Sam nach England flog, griff ich mal wieder zum Silberwasser. Es ging mir nicht besonders gut, ich kränkelte ein bisschen, hatte Probleme mit meiner Lunge. Mir war, als würde ich Husten bekommen. Hinzu kamen Ohrenschmerzen, was bis dahin untypisch für mich war, weil mir die Ohren normalerweise nicht wehtun, wenn ich erkältet bin. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, ob ich richtig krank werden würde, und machte mit meinen Gedanken Sam verrückt, der genervt war von meinen ewigen Ankündigungen: »Ich glaube, ich werde krank.«

Ich weiß, das klingt seltsam, aber ich kann es nicht ändern. Seitdem ich Krankenschwester bin, glaube ich stets und ständig, ich könnte tausend verschiedene Krankheiten bekommen oder sogar schon haben. Als ich zu Sam aufbrach, dachte ich, wie blöd es wäre, gerade jetzt, ganz kurz vor meinem Geburtstag, krank zu werden, selbst wenn es nur eine leichte Erkältung wäre. Denn wir wollten ein paar Tage in den Urlaub nach Spanien fahren. Vorsorglich nahm ich unendlich viele Medikamente mit, falls wirklich etwas bei mir ausbrechen würde. Allerdings tue ich das ohnehin, wenn ich ins Ausland verreise.

Am Flughafen Berlin-Schönefeld hingen Plakate, auf denen vor dem Coronavirus gewarnt wurde. Auf ihnen stand die Empfehlung, sich die Hände zu waschen und überhaupt alle möglichen Hygienemaßnahmen einzuhalten. Wer Fieber und Husten hatte, sollte sich »umgehend« an das Flughafenpersonal oder besser gleich an den Flughafenarzt wenden. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt noch immer: Was für eine Überreaktion! Einige Passagiere trugen Mundschutz und ich guckte sie verwundert an, dachte nur: wie lächerlich. Mundschutz ist was für medizinisches Personal und nicht für Leute in der Öffentlichkeit.

Zwei Tage später flogen wir von England nach Malaga. Mir ging es immer noch nicht besser, ich hatte unglaubliche Ohrenschmerzen. Das Gefühl, einen Husten zu bekommen, wollte ebenfalls nicht verschwinden. Ich schob es auf meine Pollenallergie, die mich fast das ganze Jahr belastet. Außerdem bin ich Raucherin. Wobei ich die Tage zuvor keine einzige Zigarette geraucht hatte. Das mache ich nie, wenn ich das Gefühl habe, krank zu werden, um meinen Körper nicht zu provozieren.

Ich ging am Flughafen in Bristol auf Toilette und begegnete dort einer Frau, die jünger war als ich. Sie stand vor dem Spiegel, telefonierte und trug eine FFP2-Schutzmaske, die an und für sich bestmöglichen Schutz vor Ansteckung bieten, weshalb sie von medizinischem Personal getragen werden. Ich dachte zuerst nur: Oh, mein Gott, ist das dein Ernst? Ich war noch immer der Meinung, dass das völlig überzogen war. Doch dann dachte ich: Wenn du schon eine FFP2 trägst, dann doch bitte richtig. Ich musste innerlich lachen. Die Frau hatte die Maske nicht aufgefaltet, weshalb sie steif auf ihrem Gesicht lag und keinerlei Schutz bot. Ich schaute sie fassungslos an, nur ganz kurz, und verkniff mir ein entsetztes Kopfschütteln. Ich überlegte kurz, ob ich sie aufklären sollte, aber verzichtete darauf. Sollte sie ruhig in dem Glauben bleiben, geschützt zu sein. Der Glaube versetzt ja bekanntlich nicht nur Berge, sondern vertreibt auch böse Geister.

Wir verbrachten fünf Tage in Spanien. Ich hatte fast die ganze Zeit diese unglaublich ätzenden Ohrenschmerzen und fühlte mich auch generell nicht besonders gut. Sam träufelte mir dreimal täglich Tropfen in die Ohren. Das Hustengefühl verschwand von allein. Und am letzten Urlaubstag waren die Ohrenschmerzen fast weg. Wir kehrten nach England zurück, um gleich am nächsten Tag nach Berlin aufzubrechen. Sam spielt Schlagzeug bei »Peter and the Test Tube Babies«, einer in der Punkbewegung sehr bekannten Band, die 1978 gegründet wurde und zu den Veteranen der Szene gehört. 1978 war Sam noch nicht einmal auf der Welt. Er stieß erst 2016 zu der Gruppe. Kennengelernt haben wir uns über den Punkrock.

Am 6. März 2020 feierten »Peter and the Test Tube Babies« ihre Party anlässlich der Veröffentlichung des neuen Albums im Berliner Club Quasimodo. Ich verfolgte wie wohl jeder in jenen Tagen die Nachrichten und erfuhr, dass unter anderem ein Hotel in Teneriffa unter Quarantäne stand. Ich hoffte, dass es nicht den Sänger der Band erwischt hatte, der mit seiner Freundin Ferien auf der spanischen Insel gemacht hatte und unmittelbar danach nach Berlin zum Konzert fliegen wollte. Zum Glück war das Paar in einem anderen Hotel und konnte problemlos abreisen. Um die Zeit herum war Covid-19 in Deutschland längst ein riesiges Thema. Auch an jenem Abend im Quasimodo. Man tauschte sich untereinander über das »gefährliche Virus« aus. Doch niemand glaubte, dass es hier bei uns in Deutschland und Europa bald so schlimm werden könnte wie in China oder Italien, wo das Virus bereits tobte. Das Konzert fand statt, die Band stellte ihre neue Platte vor und wurde gefeiert. Nicht mal eine Woche später wäre die Party verboten worden. Es war das letzte Konzert, das Sam und ich für lange Zeit zusammen erleben sollten. Er flog am 8. März zurück nach Hause und weder mein Freund noch ich konnten damals ahnen, dass wir uns wochenlang nicht sehen würden.

Zu allem Überfluss wurde meine Mama krank. Sie fühlte sich sehr schlecht. Auch mich beschlich wieder das Gefühl, krank zu werden. Wir nahmen beide Silberwasser, was half. Derweil spitzte sich die Lage in Europa zu. Das Coronavirus hatte Italien fest im Griff, auch Spanien litt darunter, bald Großbritannien. Innerhalb von zwei Wochen nahm die Zahl der Infizierten in Deutschland stark zu. Und auf einmal wurden gefühlt tausend Maßnahmen und Einschränkungen des Alltagslebens von 80 Millionen Bundesbürgern beschlossen, stets mit der Ansage der Politik, die Bevölkerung zu schützen. Plötzlich hatte ich Angst, meinen für den 26. März gebuchten Flug nicht antreten zu können – und behielt recht. Die meisten EU-Staaten machten die Grenzen dicht, Menschen auf Facebook schrien nach noch mehr Einschränkungen und Bestrafungen bei Nichteinhaltung der Verhaltensregel, mindestens 1,5 Meter Abstand zueinander zu halten.

Ich konnte es nicht verstehen. Ich konnte nicht verstehen, warum sich ein Großteil der Menschen freiwillig in ihrer Freiheit einschränken ließ. Ich musste an meine Eltern denken, die in der DDR auf die Welt kamen und mir oft erzählten, wie es war, als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in einem Land zu leben, das 1990 von der Landkarte verschwand. Mein Papa war einer der wenigen Punks in der DDR. Er ist noch heute ein Punk. Ich kenne viele Geschichten von Unterdrückung, von Unterdrückung durch das System, und ich verspüre eine Abneigung dagegen, obwohl ich selbst erst kurz nach dem Mauerfall geboren wurde und die DDR nie leibhaftig erlebt habe. Wenn ich das Gefühl habe, dass Unrecht geschieht und die Demokratie in Gefahr gerät, werde ich wütend.

Deshalb beäugte ich kritisch, was unsere Regierung tat. Und ich wurde sauer, weil ich ständig auf Facebook Nachrichten über das Coronavirus angezeigt bekam. Jeder Artikel war irgendwie wie der andere. Und dazu noch das Gerede und Getue der Politiker, die immer mehr Maßnahmen verhängten und meine Reise zu Sam gefährdeten. Ich fühlte mich eingeengt und ich fand es unfassbar, wie Entscheidungen getroffen wurden, ohne anscheinend darüber wirklich nachzudenken, welche Auswirkungen sie auf die Menschen haben könnten, auf die Existenzen von Millionen Bundesbürgern. Für mich war plötzlich die Regierung von Angela Merkel eine viel größere Bedrohung als das Virus Covid-19.

Mich machte es zornig, dass mit dem Robert-Koch-Institut nur eine einzige wissenschaftliche Einrichtung zu Wort kam, dass man nicht den Rat anderer Virologen in politische Entscheidungen einbezog. Ich hätte mir eine Art Runden Tisch gewünscht, an dem mehrere Experten ihre Meinungen austauschten und dann Empfehlungen abgaben. Das ist, wie wenn man zum Orthopäden oder zum Zahnarzt geht und sofort mit sich machen lässt, was die Mediziner sagen. Man sollte nicht nur auf eine Meinung vertrauen. Ich habe Patienten betreut, die eine viel zu spät gestellte Krebsdiagnose erhielten. Sie hatten Beschwerden und gingen damit immer wieder nur zum Hausarzt, der aber nichts Gravierendes feststellen konnte. Dann gerieten sie zufällig an seine Vertretung, die sofort Alarm schlug und den Patienten an einen Onkologen verwies, der nur noch bedauern konnte, so nun kostbare Monate verloren zu haben. Monate, die über Leben und Tod entscheiden können.

Deshalb machte es mich stutzig, dass unsere Regierung Entscheidungen traf und sich dabei nur am Robert-Koch-Institut orientierte. Ich fragte mich, ob die Bundesregierung auch an die kleinen Unternehmen dachte, an die Selbstständigen oder die Studenten, die vielleicht ihre Miete nur zahlen könnten, wenn sie in einer Bar oder in einem Klub Geld verdienten. Oder an Musiker, Schauspieler und andere Künstler, die auf Auftritte angewiesen sind, weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdienen.

Ich war geladen bis zum Gehtnichtmehr und machte meinem Ärger auf Facebook Luft, allerdings erst einmal nicht öffentlich. Einige meiner Freunde konnten mich verstehen, andere waren völlig gegen mich und predigten die Informationen des Robert-Koch-Instituts als den einzig richtigen Weg. Dann kam eins nach dem anderen. Jens Spahn war der Meinung, alle Personaluntergrenzen aussetzen zu müssen. 1 Das hieß, dass notfalls noch weniger Pfleger und Krankenschwestern für einen Patienten zuständig sein sollten als ohnehin. Ein absoluter Witz! Es reicht ja schon so hinten und vorne nicht in den Krankenhäusern und Seniorenheimen.

Der Gesundheitsminister schrieb einen Brief an die Kliniken und Krankenkassen. Darin hieß es: »Wir sehen, dass sich Krankenhäuser im Bundesgebiet jederzeit ohne Vorankündigung mit einer kurzfristig nicht vorhersehbaren Erhöhung von Patientenzahlen, aber auch dem Ausfall von Pflegepersonal aufgrund eigener Infektionen bzw. Erkrankungen konfrontiert sehen können.« Spahn wollte damit verhindern, dass Stationen Patienten abweisen müssten, wenn dem Schlüssel zufolge zu wenig Kräfte auf Arbeit wären. Das mochte eine gute Absicht gewesen sein, aber wieder einmal zu Lasten der sowieso schon überlasteten Beschäftigten in den Krankenhäusern. Die Untergrenzen bei der Besetzung der Kliniken mal eben auf unbestimmte Zeit ohne Rücksicht auf Verluste auszusetzen, wie das der Herr Spahn vorgeschlagen hatte, bedeutete doch nur noch mehr Schufterei und noch mehr Überstunden, aber dafür noch weniger Zeit für jeden einzelnen Patienten. Was Spahn wie die Gesundheitsminister von CDU, CSU und FDP vor ihm nicht begriffen: Die Bekämpfung der Ausbreitung einer Pandemie erfordert mehr und nicht weniger Fachkräfte im Gesundheitswesen. Ich hoffe, das kapieren die nun endlich.

Ich war noch nie von Spahn begeistert, aber das schlug dem Fass den Boden aus. Der Mann ist gelernter Bankkaufmann, er hat keine einzige Minute in einem Krankenhaus als Pfleger oder sonst was gearbeitet und griff dann auf diese Weise ins Geschehen ein. Er sagte so viele Dinge, bei denen ich mir an den Kopf fasste. Und wie so oft in den vergangenen Jahren fragte ich mich, wie die Verteilung der Ministerposten in der Politik so abläuft. Denn anscheinend muss man ja nicht für die einzelnen Bereiche, die man betreut, geschult sein. Im normalen Arbeitsleben würde das dann so aussehen, dass ein Kfz-Mechaniker ins Krankenhaus geht und an einem Patienten eine Blinddarmoperation durchführt.

Je mehr sich die Corona-Krise verschärfte, desto größer wurde das Chaos in den Krankenhäusern. Keiner wusste irgendetwas, jede Minute kamen neue Anweisungen von einer Behörde ins Haus geflattert, die andere Maßnahmen aufhoben oder verschärften. Man wusste kaum noch, woran man war und was denn nun galt. Uns wurden Masken, Desinfektionsmittel und andere Schutzmaterialen geklaut. Ich stand vor einem Isolationszimmer – also dem Raum für Patienten mit besonders ansteckender und schwieriger Erkrankung – und fragte die Schwester der Station, wo die Masken und Kittel sind, die normalerweise vor dem Zimmer liegen und eigentlich auch vorhanden sein müssten. Der Patient, den ich betreuen musste, hatte irgendeinen Krankenhauskeim. Da gibt es einige: MRSA, EBV, 3MRGN und so weiter. Die meisten davon sind multiresistente Keime, oft im Krankenhaus erworben, gegen die Antibiotika nichts ausrichten können. Die Kollegin schaute mich an und sagte: »Wir haben kaum noch Materialien, uns wurde alles geklaut.« Ich konnte es nicht fassen und fragte sie: »Und jetzt?« Sie zuckte mit den Schultern und antwortete: »Du musst so reingehen. Oder schau mal in der Kanzel, ich glaube, da liegen noch welche.«

Die Kanzel ist das Arbeitszimmer der Krankenschwestern. Hier trifft man sich zu kurzen Beratungen, Absprachen und zur Übergabe der Schichten. Ich ging zur Kanzel und da waren tatsächlich noch einige Masken, ich schnappte mir eine und lief zurück zum Isolationszimmer, regte mich aber tierisch darüber auf und dachte nur: Wie fahrlässig, da jetzt nur mit Maske, aber ohne Kittel reinzugehen. Und ich dachte, mein Gott, wie krank muss man eigentlich sein, um in einer Klinik Masken und Desinfektionsmittel zu klauen?

In den nächsten Tagen arbeitete ich auf verschiedenen Stationen. Ich hatte Kontakt mit einem Patienten, bei dem der Verdacht auf Covid-19 bestand, weil seine Familie gerade aus Italien zurückgekehrt war. Keiner traute sich ins Zimmer. Die Kollegin, die das Essen austeilte, stellte das Tablett einfach vor die Tür. Auch die Reinigungskräfte mieden das Zimmer einfach.

Der Mann klingelte. Ich zog mir – mittlerweile gab es wieder welche – Kittel, Maske und Handschuhe an und betrat das Zimmer. Der Patient wirkte sehr einsam. Er drückte mir einen Zettel in die Hand. Er hatte einige Fragen notiert und bat mich, sich für ihn zu erkundigen, er fühlte sich allein gelassen und tat mir leid. Am meisten regte ihn auf, dass er schon drei Tage isoliert, aber noch immer nicht auf Corona getestet worden war.

Allgemein kann ich sagen, dass das medizinische Personal, egal auf welchen Stationen ich zu der Zeit im Einsatz war, das Thema »Corona« völlig übertrieben dargestellt fand, mich eingeschlossen. Die Medien machten keine Pause, man hörte und las überall nur noch von diesem einen Virus und ich hatte eine Dienstanfrage nach der anderen und sprang sogar ein, obwohl ich etwas kränkelte. Ich machte sechs Frühschichten am Stück und war ausgelaugt. Mich überforderte das Ganze, bald war mir alles zu viel. Ich regte mich über die Nachrichten auf, hatte zugleich große Angst, nicht zu Sam fliegen zu können, und erkundigte mich alle paar Minuten bei meinem Freund, wie die Lage in England sei. Ich hatte keinen Bammel vor Corona, sondern davor, Sam nicht ganz bald wiedersehen zu können.

Es folgte das Besuchsverbot für die Patienten, was mir sehr leidtat, aber andererseits war es dadurch auch ruhiger für uns. Denn ehrlich gesagt: Manchmal sind die Besucher in den Kliniken anstrengender als die Patienten selbst. Manche sind überaus penibel und haben Tausende Fragen, wollen, dass alles perfekt ist und ihre Angehörigen bestmöglich behandelt werden. Ich kann das alles verstehen, vermisse im Gegenzug dafür manchmal aber auch Verständnis für unsere Situation. Meinen Kollegen und mir fehlt es schlicht an der Zeit. Wir tun ja, was wir können – schon deshalb, weil wir aufpassen müssen: Denn einige Besucher beschweren sich, was ihr gutes Recht ist. Aber leider heißt es dann auch gleich immer, wir vernachlässigten Patienten – ein harter Vorwurf, der schmerzt, weil er nicht wahr ist. In mehr als einem Jahrzehnt in dem Job habe ich so etwas wie Vernachlässigung nicht erlebt.

Dann las ich von der Erklärung des Robert-Koch-Instituts, dass medizinisches Personal im Gegensatz zu allen anderen Erdbewohnern bei Verdacht auf das Coronavirus keine vierzehn Tage in Quarantäne müsse oder besser: sollte. Ich konnte es absolut nicht fassen. Und fragte mich, mit welcher Begründung? Zugleich kam in Deutschland die Diskussion auf, dass die Bezahlung der Pfleger und Krankenschwestern schlecht sei, obwohl ja gerade wir der Gefahr der Pandemie am meisten ausgesetzt waren. Auf einmal, so las ich, ging es Herrn Spahn darum, den Job aufzuwerten und dadurch attraktiver zu machen. 2 Auch diesen Quatsch hören meine Kollegen und ich nun schon seit Jahren.

Mir platzte der Kragen und ich verfasste, getrieben von meinem Zorn, im Eiltempo ein Statement für Facebook, in dem ich all meinen Ärger kundtat. Das war nicht der erste Post, den ich dieser Tage dazu verfasst hatte, weshalb ich vermutete, meine Freunde könnten schon genervt von mir sein. Aber es juckte mir in den Fingern, also dachte ich: Scheiß drauf, das muss ich loswerden. Ich schrieb den Text am Nachmittag des 23. März und klickte auf »posten«. Er lautete so:

»Fassen wir mal zusammen.

Erst sollen wir einen Mundschutz und Schutzkittel für mehrere Patienten benutzen.

Wir sollen weiterarbeiten, wenn wir Kontakt zu einem Corona-/Covid-19-Patienten hatten.

Dann werden Personaluntergrenzen ausgesetzt, für die lange gekämpft wurde. Das heißt, scheißegal, es könnte eine Pflegekraft 50 Patienten betreuen.

Dann sagt Herr Spahn, es geht gar nicht um die Bezahlung in dem Beruf, es ist nur wichtig, den Job attraktiver zu machen.

Und jetzt müssen wir nicht mehr in Quarantäne nach Kontakt, wir können schon früher zur Arbeit gerufen werden, sagt das RKI! Diejenigen, die hier empfehlen, dass am besten alle zu Hause bleiben sollen wegen dem gefährlichen Virus! Schämt euch, (ich meinte) diejenigen, die das RKI hoch in den Himmel heben!

In einem Beruf, der jahrelang unterbezahlt ist … wo alle am Limit arbeiten … wir sollen jetzt die Helden sein und werden so behandelt?

Eigentlich sollten genau jetzt alle Pflegekräfte ihren Job kündigen!

Ich bin richtig doll traurig und enttäuscht, ich fühle mich verarscht und ich kann es nicht fassen. Ich bin ernsthaft sprachlos.

Vielleicht kann man jetzt meine Posts verstehen … Ich bin sauer.

Und euer Klatschen könnt ihr euch sonst wohin stecken, ehrlich gesagt … Tut mir leid, es so zu sagen, aber wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt, wie viel wir wert sind, dann helft uns, für bessere Bedingungen zu kämpfen!«

Das Ding war: Ich hatte nicht gemerkt, dass die Einstellung auf »öffentlich« gestellt war. Stunden zuvor hatte ich einen Artikel des »Ärzteblatt« auf Facebook gepostet mit der Überschrift: »RKI lockert Quarantäne-Empfehlungen für medizinisches Personal.« Öffentlich hieß, dass jeder, der bei Facebook ist, meine Wutbotschaft sehen konnte. Ich dachte allerdings, dass sie kaum jemand lesen, geschweige denn, gut finden würde. Ich war auf Kritik gefasst, schon wegen meines Satzes, dass man sich den Applaus sonst wohin stecken könne.

Natürlich war der Beifall, der jeden Tag um 18 Uhr von den Balkonen schallte, freundlich gemeint. Das war mir klar. Aber genauso wusste ich, dass die Deutschen sich das nur bei den Nachbarländern abgeschaut hatten, wo die Situation schon tausend Mal schlimmer war als bei uns. Sich so etwas auszudenken, entspräche für mich irgendwie nicht der deutschen Mentalität. Wenige Tage später schrieb ich in einem Gastbeitrag für den Berliner »Tagesspiegel« über den Beifall von den Balkonen: »Ich weiß, er ist als nette Geste gemeint. Aber glaubt mir: Es verändert absolut nichts.« 3 Es mag sein, dass ich an der Stelle ungerecht bin: Aber ich empfand das Klatschen nicht als Ausdruck der Wertschätzung für unsere eigentliche Arbeit, sondern gegen etwas, was in Deutschland längst nicht so gravierend war wie in Italien, England oder Spanien: das Coronavirus. Der Beifall galt nicht Pflegern und Krankenschwestern, sondern sollte die eigene Angst vertreiben – das ist menschlich, hilft dem Klinikpersonal aber kein bisschen.

Nachdem mein Statement öffentlich war, erhielt ich einige Likes. Ein Freund teilte es, dann eine Freundin. Ich ging früh zu Bett, weil ich am nächsten Tag Frühdienst hatte. Ans Einschlafen war nicht zu denken. Mein Post war schon dreiundzwanzig Mal geteilt worden. Ich dachte: Boah, schon so oft. Mein Telefon stand nicht still, ständig kam irgendeine Benachrichtigung an. Da ich endlich schlafen wollte, schaltete ich das Handy aus.

Am nächsten Morgen hatte meine Botschaft mehr als einhundert Likes – und wieder dachte ich: Wow, so viele Likes. Die Benachrichtigungen hörten über den ganzen Tag nicht auf. Ständig poppte auf, dass dieser oder jener meinen Text geteilt oder gelikt hatte. Ich bekam Freundschaftsanfragen von vielen fremden Leuten. Mir wurde das alles schon zu viel, zumal ich ja arbeiten musste. Als ich nach dem Job daheim ankam, hatte ich etwa eintausend Likes und mein Beitrag war ebenfalls rund eintausend Mal geteilt worden. Ich konnte es nicht fassen. Ich konnte mich vor Nachrichten nicht retten, der Facebook-Messenger poppte ständig auf mit Anfragen aller Art. Ich las jede einzelne Nachricht und antwortete. Es waren überwiegend positive Nachrichten von Menschen aus ganz Deutschland.

Auf einmal trafen auch erste Anfragen von Medien ein. Ich bat meine Mama um Rat, ob ich mich weiter an die Öffentlichkeit wagen sollte. Ich war etwas überfordert, weil die Bitten um Interviews mehr und mehr wurden. Irgendwann schaute ich im Spam-Ordner nach. Ich fiel vom Glauben ab. Dort waren Tausende Nachrichten. Ich öffnete jede einzelne und brauchte Stunden, sie alle zu lesen. Ich beschloss, nicht allen Leuten zu antworten – es war einfach zu viel des Guten. Die Menschen erzählten mir ihre Geschichten und Erfahrungen in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen wie Pflegeheimen. Sie bedankten sich bei mir für meine klaren Worte. Aber es waren auch einige negative oder boshafte Nachrichten dabei. Letztere lasen sich ungefähr so: »Halt einfach dein Maul und geh arbeiten, schließlich hast du dir diesen Beruf ausgesucht.« Das prallte an mir ab. Gott sei Dank.

Inzwischen war mein Post mehrere Tausend Mal geteilt und gelikt worden – und ich hatte keine ruhige Minute mehr, bis ich endlich rausgefunden hatte, wie sich die Benachrichtigungsfunktion bei Facebook ausschalten ließ. Ich stellte mein Profil von öffentlich auf privat, versuchte aber gleichzeitig, ein wenig transparent zu bleiben, um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Ich versuchte, die ganzen Interviewanfragen zu managen, und sagte den Journalisten Gespräche zu, obwohl ich nicht gerne telefoniere. Aber persönliche Treffen gingen ja nun mal nicht. Ich bat darum, mir die Fragen vorab zu schicken und das fertige Interview absegnen zu dürfen, was in Deutschland, soweit ich nun weiß, gängige Praxis ist. Bis dahin hatte ich keinerlei Erfahrung im Umgang mit Medien. Ich war aufgeregt vor jedem einzelnen Telefonat. Die meisten Journalisten empfand ich jedoch als unglaublich freundlich. Ich hatte nur Probleme mit einer Volontärin des Axel Springer Verlags. Ich hatte ihr schon abgesagt, weil mir ihre Fragen missfielen. Aber sie ließ nicht locker und mailte mir einen Text, der einfach nur meinem Post entsprach. Ich schickte ihr einen Text von mir mit meinen Anliegen, aus dem sie keinen einzigen Satz benutzte. Der Axel Springer Verlag und seine »Bild«-Zeitung galten für so etwas ja als berühmt und berüchtigt. Dies erfuhr ich nun am eigenen Leib.

Dass mir die Journalistin auch noch unsympathisch war, machte die Lage keinesfalls besser. Sie antwortete nicht, als ich nachfragte, wo ihr Artikel veröffentlicht werden sollte. Ich bestand auch auf einige Änderungen in dem Artikel, die ihr nicht gefielen. Wir mailten hin und her. Schließlich rief ich an, denn ich mochte die Geheimniskrämerei nicht, wo der Artikel denn nun veröffentlicht werden sollte. Die Volontärin teilte mir mit, der Artikel werde online und sogar in der gedruckten Ausgabe der Boulevardzeitung »B.Z.« erscheinen. Ich dachte: Gott sei Dank, nicht in der »Bild«. Am Tag darauf war ich groß in der »B.Z.«, Print und online – auch in der digitalen Version der »Bild«.

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