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Ewiges Imperium. Wie das Römische Reich die westliche Welt prägt

Als Buch hier erhältlich:

Untergang. Welcher Untergang? – Über die Modernität eines alten Weltreichs

Das Römische Reich ist nie wirklich untergegangen. Bis heute ist sein Einfluss allgegenwärtig, jedes nachfolgende Imperium hat sich direkt oder indirekt als Erbe der alten Römer gesehen: Byzanz, das Heilige Römische Reich von Karl dem Großen, die K.-u.-k.-Monarchie oder das Deutsche Kaiserreich.

Der Mythos Rom zog sie alle in seinen Bann: Napoleon verehrte Caesar und ließ sich nicht zum König, sondern gleich zum Kaiser krönen. Die italienischen Faschisten träumten von der Wiedergeburt des Imperium Romanum, die Nazis vom großgermanischen Weltreich. Die Kommunisten um Luxemburg und Liebknecht eiferten Spartakus nach, während Mark Zuckerberg, Digitalherrscher des 21. Jahrhunderts, besessen ist von Kaiser Augustus. Und in der Populärkultur, ob Asterix, Ben Hur oder Gladiator, lebt das Römische Reich ohnehin munter weiter.

Der bekannte italienische Journalist Aldo Cazzullo rekonstruiert den Mythos des Imperiums: angefangen bei Aeneas über Republik und Kaiserzeit bis hin zu den Ideen und Insignien einer Supermacht, in der unsere heutige Kultur ihren Ursprung hat.

Dabei zeigt Cazzullo nicht nur, wie Rom auf unseren Straßen, in unseren Köpfen, Worten und Symbolen weiterlebt, sondern auch, wie eigentlich alles, was wir heute Westen nennen, nach Rom führt.


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006221

Leseprobe

Andere mögen Gebilde aus Erz wohl weicher gestalten,

Dünkt mich, und lebensvoller dem Marmor die Züge entringen,

Besser das Recht verfechten und mit dem Zirkel des Himmels

Bahnen berechnen und richtig den Aufgang der Sterne verkünden:

Du aber, Römer, gedenke die Völker der Welt zu beherrschen,

(Darin liegt deine Kunst), und schaffe Gesittung und Frieden,

Schone die Unterworfenen und ringe die Trotzigen nieder.

VERGIL, Aeneis 6, 847853

Es gab einen Traum von Rom;
er soll Wirklichkeit werden.

MAXIMUS DECIMUS MERIDIUS, Gladiator

EINFÜHRUNG

Das Römische Reich ist niemals untergegangen.

Es lebte weiter im Gedächtnis, in den Sprachen und Symbolen der Reiche, die nach ihm kamen. Es lebt aber auch in unseren Worten, Gebäuden und Gedanken fort – in unserer Art zu sprechen, zu bauen und zu denken hat sich vieles vom antiken Rom bewahrt. Und Christen sind wir nur deshalb, weil das Römische Reich christlich wurde.

Rom hat die Romane, Comics und Filme inspiriert, die wir als Kinder verschlungen haben, von Quo vadis? über Asterix bis hin zu Ben Hur – alles lange vor Gladiator. Dass ausgerechnet diese Epoche die nachfolgenden Generationen so sehr beeinflusst hat, liegt sicher nicht zuletzt daran, dass die Entstehung des römischen Kaiserreichs ungefähr mit einem anderen Ereignis zusammenfiel, das die Geschichte der Menschheit nachhaltig verändert hat: der Geburt Jesu Christi.

Auch die Kunst des antiken Rom ist niemals gänzlich verschwunden und taucht von der Renaissance (wörtlich: Wiedergeburt) bis zum Klassizismus und Historismus immer wieder auf. Ob im Florenz der Medici oder im Berlin der Hohenzollern, überall im Westen haben einige der größten Künstler so gebaut, gezeichnet, gemalt und gemeißelt wie die alten Römer – oder glaubten zumindest, sie täten es.

Jeder »Imperator« der Geschichte hat sich wie der neue Caesar gefühlt – und jeder Revolutionär der Geschichte hat sich wie der neue Spartacus gefühlt.

Alle Reiche, die auf das Imperium Romanum folgten, haben sich als Erben Roms betrachtet. Konstantinopel, das »Zweite Rom«, und das Byzantinische Reich. Moskau, das »Dritte Rom«. Das Fränkische Reich Karls des Großen mit seiner Erneuerung des Kaisertums im Westen. Das Heilige Römische Reich (deutscher Nation) vom 10. Jahrhundert bis zu seinem Untergang 1806. Das Kaisertum Österreich bzw. Österreich-Ungarn sowie das Deutsche Kaiserreich, die sich als dessen Nachfolger betrachteten.

Und nicht zu vergessen das britische Empire, das etwa das riesige Indien mit einer Handvoll Soldaten beherrschte, von denen die meisten auch noch Inder waren. Damit trat London in die Fußstapfen Roms, das die Barbaren an seinen Außengrenzen mit Armeen in Schach hielt, die von Barbaren befehligt wurden und aus Barbaren bestanden, die oftmals sogar ihr traditionelles Kriegsgeschrei beibehielten.

Napoleon verehrte Caesar so sehr, dass er ein Buch über ihn schrieb und nicht zum König, sondern zum Kaiser der Franzosen gekrönt werden wollte.

Das amerikanische Imperium baut wie das römische auf Bündnisse und Pakte mit anderen Völkern, um sie auf diese Weise militärisch und kulturell zu beeinflussen. Das ist oftmals weitaus effektiver als die Besetzung von Territorien, denn die wahre Macht liegt in der Herrschaft über die Köpfe und die Wirtschaft der Bewohner.

Nicht zufällig blicken heutige Digitalherrscher wie Mark Zuckerberg oder Elon Musk mit großem Interesse auf die römischen Caesaren. Denn auch sie herrschten über riesige Gemeinschaften aus Menschen, die einander niemals physisch begegneten, sich in unterschiedlichen Sprachen verständigten und zu unterschiedlichen Göttern beteten, aber unter demselben Kaiser geboren wurden, lebten und starben. Das konnte aber nur funktionieren, weil sie sich alle in denselben Gesichtern, Geschichten und Ideen wiederfanden.

Denn als Bürger des Imperium Romanum konnte man unabhängig von seiner Herkunft, seiner Hautfarbe oder seinem Glauben Römer werden, aber gleichzeitig Spanier, Gallier, Thraker, Syrer, Grieche, Ägypter oder Nubier bleiben. Dabei standen die Römer vor denselben Herausforderungen wie wir heute, denn auch sie hatten mit Migrationswellen und der Integration von Ausländern zu kämpfen. Außerdem führten sie beinahe ständig irgendwo gegen irgendjemanden Krieg. Eines ist jedoch wichtig: Die Römer waren zwar zutiefst von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt, aber keine Rassisten. Nun ja, außer vielleicht den Goten gegenüber, die sie als zu groß und zu blond verspotteten.

Was wir heute »den Westen« nennen, wurde auf den Fundamenten des Imperium Romanum errichtet.

Die Sprache der Politik und der Macht ist überall im Westen dieselbe wie in Rom vor 2000 Jahren. Diktator und Potentat sind aus dem Lateinischen entlehnte Worte, ebenso wie Klient und Patron, Patrizier und Plebejer, Kandidat und Jurist oder Prinz und Proletarier.

Der Name der Stadt Köln geht auf das lateinische colonia zurück. Die Suffragetten, die erstritten, dass Frauen wählen dürfen, sind nach suffragium, dem lateinischen Wort für Wahlrecht benannt. Palast leitet sich vom Palatin ab, einem der sieben Hügel Roms, auf dem sich die Residenz der römischen Kaiser befand. Der Begriff Faschismus geht auf die fasces, jene Rutenbündel zurück, die die Liktoren den hohen römischen Beamten als Symbol ihrer Macht vorantrugen. Sozialismus und Kommunismus haben ihren Ursprung in den lateinischen Begriffen societas und communio. Das Wort Präsident hat seine Existenz dem lateinischen praesidere (vorsitzen) zu verdanken. Die Freiwilligen, die nach den Plänen der CIA im Falle einer sowjetischen Invasion Italiens im Rahmen der Operation Gladio hinter den Linien Widerstand leisten sollten, wurden Gladiatoren genannt. Bis heute werden fleißig Filme über diese Stars der römischen Arenen gedreht.

Nach wie vor greifen Regierende gerne auf das Mittel der »Propaganda« zurück und versuchen einen »Konsens« zu erzielen oder sich beim Volk mit Hilfe von panem et circenses (Brot und Spielen) beliebt zu machen – ein Ausdruck, der von Juvenal, einem der großen römischen Satiriker, geprägt wurde.

Die Begriffe Kaiser und Zar gehen auf Caesar zurück, sodass sich jeder Herrscher mit diesem Titel als Nachfolger des eigentlichen Begründers des römischen Kaiserreichs fühlen konnte. In gewisser Weise gilt das auch für viele US-Präsidenten, die durchaus der Ansicht waren, dass den Vereinigten Staaten, ebenso wie den Römern, die »offensichtliche Bestimmung« zukomme, die Welt zu beherrschen. Und wie im Falle Roms ist auch das Machtsymbol Amerikas der Adler.

Es gibt aber auch noch eine andere Seite: Die Vereinigten Staaten verfügen, genau wie Frankreich, Spanien und Italien, über einen dem alten Rom nachempfundenen Senat, dessen Sitz das Kapitol ist.

Natürlich wird der römischen Herrschaft nicht immer und überall mit Nostalgie gedacht. Im 19. Jahrhundert errichteten Franzosen, Deutsche und Briten den Feinden Roms kolossale Statuen und machten sie zu Nationalhelden. Vercingetorix wird auf dem Gipfel des Mont Auxois geehrt, dem antiken Alesia, wo die Gallier ein letztes Mal verzweifelt Widerstand leisteten. Ein fast dreißig Meter hoher Arminius aus Eisen und Kupfer, bekannt als »Hermannsdenkmal«, erhebt sich über den Teutoburger Wald, wo der Cherusker und seine Verbündeten die Legionen des Augustus unter ihrem Kommandanten Varus niedermetzelten. Der rebellischen Königin Boudicca und ihren Töchtern schließlich wurde an der Westminster Bridge in London ein Denkmal gesetzt. Dennoch wären Franzosen, Deutsche und Engländer ohne Rom nicht das geworden, was sie heute sind.

Sogar die Sprache des Glaubens wurde in der ewigen Stadt geboren, denn Religion und Pontifex sind lateinische Wörter. Ähnlich verhält es sich mit der Sprache des Krieges: Armee, Militär oder General sind lateinischen Ursprungs, und Soldat kommt von solidarius, das jemanden meint, der Sold erhält. Sogar das Wort Familie verdanken wir den Römern. Allerdings waren römische Bräute bei der Hochzeit nicht weiß, sondern gelb gekleidet.

Aber wir haben nicht nur Wörter der Römer übernommen, sondern auch ihre Konzepte. Wer in den nachfolgenden Epochen über große Gebiete herrschte und Einfluss auf andere Völker nahm, orientierte sich dabei am Vorbild des Römischen Reiches, seinen Gesetzen, seinen Straßen und seinem Kalender. In den romanischen Sprachen sind die Namen der Tage (mit Ausnahme des Samstags, der über das Griechische aus dem Hebräischen stammt) und der Monate römischen Bezeichnungen entlehnt. Bis heute werden Menschen in Monaten geboren, die nach Julius Caesar (Juli) und Augustus (August) benannt sind. Den Römern verdanken wir die Kunst, zu teilen und zu herrschen, aber auch Fremde zu integrieren, Einwanderer willkommen zu heißen und zu Neubürgern zu machen. Hinzukommen der Respekt vor lokalen Gebräuchen und Gottheiten sowie die Verbindung von Zivilisation und Gerechtigkeit. Der Preis dafür waren allerdings Leid, Grausamkeit und Ströme von Blut, die durch die Straßen der Geschichte flossen.

Ein beachtlicher Teil dieses Blutes wurde von den ersten Christen vergossen. Sie waren Märtyrer, bekannten sich zu einem Glauben, der im Verborgenen Verbreitung fand und den Tod bedeuten konnte. Die römischen Kaiser gelten als grausame Christenverfolger, und einige von ihnen, wie Nero oder Diokletian, waren es tatsächlich. Gleichzeitig ist das Römische Reich aber auch dafür verantwortlich, dass das Christentum zur vorherrschenden Religion des Westens werden konnte. Entscheidende Figuren dabei waren Konstantin der Große, der das Christentum privilegierte, und seine Mutter Helena, die das wahre Kreuz Jesu ausfindig machen und nach Rom bringen ließ. Folge der konstantinischen Politik war eine nachhaltige Christianisierung des Römischen Reiches.

Die römische Geschichte ist aber nicht nur eine Geschichte militärischer und politischer Machtausübung, sondern auch moralischer und staatsbürgerlicher Werte. Es ist die Geschichte von Frauen und Männern, die bereit waren, sich für ihr Land, ihre Gemeinschaft und etwas zu opfern, das über sie selbst hinausging. Wir wissen nicht, ob Cloelia auf der Flucht vor dem Etruskerkönig Porsenna tatsächlich den Tiber durchschwamm, nur um sich anschließend zur Rettung des Friedens wieder freiwillig in Geiselhaft zu begeben. Ebenso wenig können wir sagen, ob Atilius Regulus wirklich, nur um sein Wort zu halten, nach Karthago zurückkehrte, obwohl er wusste, dass ihn dort ein grausamer Tod erwartete. Aber die alten Römer haben es zweifellos geglaubt.

Auch Republik ist ein lateinisches Wort. Und in Rom keimte das, was wir heute als unser System der parlamentarischen Demokratie kennen. Sicher, im antiken Griechenland gab es bereits Volksversammlungen. Aber erst Rom schuf ein kodifiziertes und dauerhaftes Wahlsystem mit Versammlungen, Wahlkampf, Kandidaten, Abstimmungen und Proklamationen. Zu Lebzeiten Ciceros wählte das Volk und nicht der Senat die Magistrate, das Volk und nicht der Senat beschloss die Gesetze. Die Plebs hatte ihre Vertreter, Rechte und Befugnisse, zu denen auch das Vetorecht gehörte – ein weiterer lateinischer Begriff, der Eingang in die universelle Sprache der Politik gefunden hat.

Republik, lateinisch res publica, bedeutet »öffentliche Sache« oder »Angelegenheit«. Mit anderen Worten, der Gedanke, dass der Staat allen gehört, wurde in Rom geboren. Und während für die Griechen die Stadt das Maß der Politik war, wurde es für die Römer bald die ganze Welt.

Natürlich war Rom niemals eine Demokratie im heutigen Sinne.

Frauen etwa blieben von allen politischen Aktivitäten ausgeschlossen. Allerdings genossen römische Frauen weit größere Freiheiten als ihre Geschlechtsgenossinnen in vielen anderen antiken Gesellschaften, wie etwa der griechischen. Römerinnen waren nicht auf das Haus beschränkt, sondern konnten Theater, Arenen und Bäder besuchen. Sie speisten mit den Männern und nahmen nicht den Namen ihres Ehemannes an. Sie konnten besitzen, kaufen und verkaufen – alles Rechte, die unseren Frauen seit gerade einmal einhundert Jahren zugestanden werden.

Auch Sklaven, von den Römern als servi (Diener) bezeichnet, war – wenig überraschend – die politische Teilhabe verwehrt. Manchmal wurden sie jedoch freigelassen und konnten dann überaus mächtig werden. Gelegentlich rebellierten die Sklaven allerdings. Der Spartakusaufstand etwa inspirierte ganze Generationen von Revolutionären. Spartakusbund nannte sich eine Vereinigung marxistischer Sozialisten am Ende des Deutschen Kaiserreichs. Ähnlich wie Spartacus nahmen auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht schließlich ein böses Ende. Aber es ist schon erstaunlich, dass es 1918 in Berlin Rebellen gab, die bereit waren, im Namen eines geheimnisvollen Sklaven zu kämpfen und zu sterben, der sich 2000 Jahre zuvor gegen seine Unterdrücker erhoben hatte.

Die Geschichte Roms erstreckt sich über zwölf Jahrhunderte, von der legendären Stadtgründung bis zum Untergang des Westreichs, und kann hier nicht vollständig erzählt werden. Andernfalls würde man das Ende eines Ireneo Funes riskieren, jener Figur aus der Erzählung Das unerbittliche Gedächtnis von Jorge Luis Borges. Funes ist mit einem unglaublichen Gedächtnis gesegnet – oder besser gesagt geschlagen. Denn er erinnert sich zwar an alles, weiß in Wirklichkeit aber nichts. Während er sich in Millionen unwichtiger Details verliert, bleibt ihm das Wesentliche verborgen. Es gibt jedoch Begebenheiten, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Etwa die Geschichten von Julius Caesar, einem der größten Männer, die je gelebt haben, seinem Erben Augustus, ihren Feinden Pompeius und Marcus Antonius, edlen Männern wie Cato und Cicero oder mächtigen Frauen wie Kleopatra und Livia. Dabei darf man nicht vergessen, dass Rom zwar herausragende Persönlichkeiten hervorgebracht hat, in erster Linie jedoch ein System war – eine politische Kultur, ein Militärapparat und ein mythisch wie literarisch aufgeladenes Konstrukt, das zugleich durch einen grausamen Realismus geprägt war.

Rom hat zahlreiche Spuren hinterlassen, bei denen es sich jedoch vor allem um Zeichen handelt. Die antiken Tempel der Stadt sind größtenteils zerstört – als einziger noch intakt ist das allen Göttern gewidmete Pantheon, in dem schließlich der eine Gott das Zepter übernahm. Von der einstigen Pracht des Forums sind nur noch bröckelnde Säulen und ein paar Ehrenbögen erhalten geblieben. Auf dem Titusbogen ist die Menora, der siebenarmige Leuchter dargestellt, der aus dem Tempel von Jerusalem geraubt wurde und schließlich wohl nach Byzanz gelangte. Das Kolosseum ist in gewisser Weise eine Enttäuschung. Es ist zwar das meistbesuchte Monument Italiens, aber im Inneren gibt es im Grunde – gar nichts. Es ist unfassbar, dass in seinem Rund niemals irgendwelche Veranstaltungen stattfinden – sieht man einmal von der Präsentation eines Buches über Francesco Totti ab, den ehemaligen Kapitän des Fußballclubs AS Roma. Kritiker warnen davor, dass eine Nutzung des Innenraums das Kolosseum wieder in eine Arena verwandeln würde. Aber genau das ist es nun einmal! Und es macht nur Sinn, wenn es auch so bleibt.

Denn der Unterschied zwischen römischen Überresten und den Ruinen anderer antiker Zivilisationen besteht doch gerade darin, dass die römischen noch lebendig sind. Die Pyramiden sind ebenfalls großartig, keine Frage, aber es sind tote Monumente einer toten Zivilisation. Die römische Zivilisation dagegen ist nicht tot – und das nicht nur, weil das Pantheon zu einer Kirche wurde, in der ein großer Künstler wie Raffael und der König, der das moderne Italien geschaffen hat, bestattet wurden.

Der Schlüssel zum Verständnis dieser zwölfhundertjährigen Geschichte liegt in dem, was davongeblieben ist. Deshalb müssen wir über die Gründe, Faktoren und Geschichten reden, deretwegen die römische Zivilisation nach wie vor lebendig ist. Wir Europäer, so unterschiedlich wir auch sein mögen, sind allesamt Erben Roms. Das sollten wir uns bewusst machen und dürfen ruhig stolz darauf sein.

Rom hat auch zahlreiche große Künstler, Maler, Bildhauer und Architekten hervorgebracht. Und nicht zu vergessen die römischen Dichter, die bei den Griechen in die Lehre gingen, sich das Gelernte zu eigen machten und es in Form ihrer Werke nicht nur in der gesamten bekannten Welt, sondern auch in unseren Köpfen verbreiteten.

Um zu verstehen, warum Rom immer noch Bestandteil unseres Lebens, ja unseres Innersten ist, müssen wir zurück an den Anfang, zu den Ursprüngen.

Und wie immer beginnt alles mit einer großen Reise, deren Ausgangspunkt in diesem Fall eine brennende Stadt an der heutigen türkischen Nordwestküste bildet. Es ist die Reise oder genauer gesagt die Flucht eines Helden, der mit Vater und Sohn aufbricht, um jenseits des Meeres eine neue Heimat zu finden. Es war der römische Dichter Vergil, der diese Geschichte viele Jahrhunderte später ersann und sie in seinem Werk wahr werden ließ.

1

AENEAS

Der Gründungsmythos

Manche Römer glaubten, sie stammten von Odysseus ab.

Sie beriefen sich dabei auf Mythen, in denen die Ursprünge Roms mit den »Nostoi«, den Heimfahrten der Helden aus der Ilias, in Verbindung gebracht werden, und erkannten im König von Ithaka den Stammvater der Stadt. Der römische Dichter Vergil sah das allerdings völlig anders – und die meisten folgten seiner Auffassung.

Die Römer mochten einfach nicht von einem Helden abstammen, der zwar den Krieg gewonnen hatte, aber auf eine eher feige Weise, durch List und Täuschung, anstatt durch reine Tapferkeit. Deshalb behandelt Vergil Odysseus in seiner Aeneis auch mit besonderer Verachtung. Und auch nicht Achilles, der andere herausragende Held Homers und größte Krieger aller Zeiten, faszinierte den Dichter, denn sein Epos sollte nicht den Krieg verherrlichen. Der wahre Triumph besteht aus seiner Sicht vielmehr darin, nach jahrelangen Konflikten den Frieden wiederhergestellt zu haben – eine Leistung, die er nicht zuletzt an seinem Kaiser, Augustus, bewundert.

Der Held, den sich die Römer als ihren Stammvater auserkoren haben, ist Aeneas, kein Sieger, sondern ein Besiegter, ein Mann, der aus seiner untergehenden Heimatstadt Troja flieht. Er hat unermessliches Leid erfahren und ist sich der Schrecken des Krieges nur allzu bewusst. Ungeachtet aller Mühen hält er an seinem Vorhaben fest und erreicht sein Ziel, indem er seiner Familie und seinem Volk eine neue Heimat erkämpft. Aeneas verkörpert für die Römer die Eigenschaften, die sie selbst am meisten schätzen, nämlich Aufrichtigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl.

Aeneas bestimmt sein Schicksal nicht selbst. Er ist ein Getriebener und tut nie, was er eigentlich tun möchte. Er würde gerne bleiben und für Troja kämpfen, wird aber zur Flucht genötigt. Er will die Frau, die er liebt, mitnehmen, muss sie aber zurücklassen. Er möchte bei seiner neuen Liebe bleiben, aber auch daraus wird nichts. Der Held trifft keine Wahl, denn das Schicksal hat ihn auserwählt, um die Voraussetzungen für Rom zu schaffen.

Aeneas ist nicht der Klügste oder Stärkste, aber der Ehrfürchtigste. Sein Beiname lautet nicht umsonst »Pius« also der Fromme oder Pflichtbewusste. Und die römischste aller Tugenden ist die pietas, das pflichtgerechte Verhalten gegenüber Göttern, Menschen, Ahnen und dem Vaterland. Pietas bedeutet, seine Pflicht zu erkennen und ihr nachzukommen, also Verantwortung zu übernehmen. Das deutsche Substantiv Verantwortung geht übrigens auf das Verb verantworten zurück, das ursprünglich vor Gericht antworten bzw. sich rechtfertigen bedeutet und als direkte Übersetzung des lateinischen respondere (Antwort geben), einem Wort aus der römischen Rechtssprache, gilt.

Es ist also kaum verwunderlich, dass in der bildenden Kunst die beliebteste Darstellung von Aeneas den Helden nicht als Sieger über die Italiker, sondern bei seiner Flucht aus Troja zeigt, mit seinem Sohn Iulus Ascanius an der Hand und seinem Vater Anchises auf den Schultern. Dieser hatte im Rausch damit geprahlt, dass Aphrodite die Mutter von Aeneas sei, wofür Zeus ihn zur Strafe lähmte und blendete.

Vergil, für viele einer der größten Dichter der Menschheitsgeschichte, schrieb die Aeneis am Ende einer besonders turbulenten Phase in der römischen Geschichte. Die Stadt hatte zwar schon andere kritische Momente überstanden, etwa als ihre Existenz von den Galliern oder Hannibal bedroht wurde, aber diesmal kam der Feind nicht von außen. Vergils Rom war das Ergebnis von zwanzig Jahren Bürgerkrieg, in denen Landsmann gegen Landsmann und manchmal sogar Bruder gegen Bruder kämpfte. Am Ende des Schlachtens hatten die Römer schließlich das zerstört, was ihnen am wichtigsten war, nämlich ihre Republik. An ihre Stelle trat eine andere Staats- und Regierungsform, zugleich der Beginn einer neuen Ära. Was sie einmal ausmachen würde, war zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht abzusehen.

Vergil deutet diese Notwendigkeit einer Wiedergeburt auf seine Weise und verfasst ein Epos über die römische Identität, mit dem er nicht nur den neuen Anführer unterstützen, sondern auch an den Nationalstolz der Bürger appellieren und ihre Einheit stärken will. Römer zu sein, ist für ihn zugleich Glück und Bestimmung. Deshalb rekonstruiert er die mythischen Ursprünge Roms – und der gens Iulia, der Sippe, aus der Augustus stammt –, berichtet von Aeneas’ Ankunft in Latium und verknüpft die Geschichte der Stadt mit dem größten Mythos der Antike, dem Kampf um Troja.

Eine verlorene und eine verschmähte Frau

Vergil verbindet die römische Tradition geschickt mit der griechischen, indem er seine Geschichte dort beginnen lässt, wo Homer aufhört. Die etwa 700 Jahre, die zwischen den beiden Dichtern liegen, entsprechen der Zeitspanne, die uns von Dante trennt, der Vergil bekanntlich verehrte und ihn auf der Reise durch Inferno und Fegefeuer zu seinem Führer erwählte.

Die Person Homer existierte womöglich gar nicht. Philologen in Alexandria vermuteten schon 200 Jahre vor Vergil, dass es sich bei Homer um einen »nom de plume«, also einen Kunstnamen handelte, hinter dem sich mehrere Personen verbergen, die zu unterschiedlichen Zeiten an der Entstehung von Ilias und Odyssee mitwirkten. Manche meinen, der Name selbst sei erfunden, und eine beliebte, aber wohl falsche Herleitung, wonach er »der nicht Sehende« bedeute, spielt vielleicht auf den Umstand an, dass Dichter und Seher in der griechischen Welt häufig Blinde waren, die mit ihrem geistigen Auge Dinge sahen, die Sehenden verborgen blieben.

Vergil dagegen ist eine historische Gestalt. Wir wissen, dass er am 15. Oktober 70 v. Chr. geboren wurde und am 21. September 19 v. Chr., also mit knapp einundfünfzig Jahren, gestorben ist. Das Grabepigramm, das an ihn erinnert, stammt wohl nicht aus seiner eigenen Feder, passt aber gut zu ihm: »Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc Parthenope; cecini pascua, rura, duces« – Mantua brachte mich hervor, Kalabrien (wozu damals auch sein Todesort Brindisi gehörte) raffte mich hinweg, nun birgt mich Neapel. Ich besang Weiden, Felder, Herrscher. Eine schlichtere und bescheidenere Zusammenfassung seines Lebens kann man sich kaum denken.

Vergil war einfacher Herkunft und eher schüchtern. Römischer Bürger wurde er erst als Jugendlicher, nachdem Caesar das Bürgerrecht auf seine Region ausgedehnt hatte. Er wollte Anwalt werden, gab dieses Vorhaben aber nach seiner ersten öffentlichen Rede auf, denn es fiel ihm schwer, vor Leuten zu sprechen. Zudem stotterte er, weswegen sein Freund und Dichterkollege Horaz ihn aufzog. Als Augustus einmal Vergil bat, ihm und seinen Höflingen aus der Aeneis vorzulesen, brachte er ihn damit in große Verlegenheit. Vergil muss ein liebenswerter Mensch gewesen sein.

Römer und Griechen pflegten ein ähnliches Verhältnis wie heute die Deutschen und Italiener: ein zwiespältiges. Die Römer liebten die Griechen mitsamt ihrer Dichtung, Kunst und Kultur, achteten sie aber nicht sonderlich, denn militärisch und politisch fühlten sie sich ihnen haushoch überlegen. Die Griechen hingegen bewunderten die militärischen und organisatorischen Fähigkeiten der Römer, betrachteten sie zugleich aber als Barbaren. Die römischen Autoren eiferten ihren Vorbildern, den griechischen Dichtern, nach, nahmen sie aber nicht blind zum Vorbild, sondern versuchten sie sogar noch zu übertrumpfen.

Vergil übernimmt Homers Figuren und lehnt sich an seine Verse an. In einer Art künstlerischem Wettstreit spielt er mit ihnen und ändert Inhalte teilweise ab, jedoch nicht aus Arroganz, sondern mit einer geradezu liebevollen Vertrautheit. Aeneas ist ganz anderes als die homerischen Helden. Er ist ein Leidender, der nicht den eigenen Ruhm, sondern das Heil seiner Gefährten in den Vordergrund stellt. Immer wieder ist er der Gnade und Ungnade von Mächten ausgeliefert, gegen die er nichts ausrichten kann. Das zeigt sich gleich zu Beginn der Aeneis.

Juno (Hera in der griechischen Mythologie) ist die erklärte Feindin der Trojaner, seit der trojanische Königssohn Paris den berühmten, der Schönsten bestimmten goldenen Apfel nicht ihr, sondern Venus (Aphrodite) überreichte. Sie entfesselt einen Sturm, der Aeneas’ Schiffe zum Kentern zu bringen droht. Doch Neptun (Poseidon), der Gott des Meeres, greift ein und sorgt dafür, dass die Trojaner an die nordafrikanische Küste getrieben werden. Hier erzählt Aeneas der karthagischen Königin Dido seine Geschichte, so wie Odysseus auf der Insel der Phäaken-Prinzessin Nausikaa und ihrer Familie von seinen Irrfahrten berichtet. Schon diese Rückblende ist erfunden.

Voller Abscheu erinnert Aeneas sich an die List mit dem hölzernen Pferd und die niederträchtige Art und Weise, mit der es Odysseus und den Achäern (oder Griechen) nach zehnjähriger Belagerung schließlich gelungen war, die Stadt einzunehmen. Er berichtet Dido, wie sich die Trojaner in ihrer Freude über das vermeintliche Ende des Krieges von Sinon, einem vermeintlichen griechischen Überläufer, täuschen ließen, der ihnen versicherte, das Pferd sei ein Sühnegeschenk für Minerva (Athene). Dabei gab es unter den Trojanern durchaus Stimmen, die davon abrieten, das Geschenk anzunehmen. Eine von ihnen war Kassandra, Tochter des Königs Priamos, die zwar die Gabe der Weissagung besaß, aber dazu verdammt war, dass ihr niemand glaubte. Als der Priester Laokoon, ein anderer Warner, zusammen mit seinen Söhnen von zwei Seeschlangen getötet wird, sehen die Trojaner darin ein Zeichen für den Willen der Götter und ziehen das Pferd in die Stadt.

Vergil hat uns ein eindringliches Zeugnis über die Schrecken des Krieges hinterlassen. Aeneas erinnert sich an den traumatischen Moment, als er in der bereits brennenden Stadt erwacht, und an den Schmerz, als er mitansehen muss, wie sein Volk abgeschlachtet und gedemütigt wird. Ob Kassandra, Andromache oder Priamos und seine Frauen, allesamt sind sie unschuldige Opfer, die vergeblich auf Rettung hoffen und den erbarmungslosen Griechen hilflos ausgeliefert sind. Die Verräterin Helena dagegen tut, als würde sie eine Schar Verehrerinnen des Gottes Bacchus beim Tanz anführen, aber in Wahrheit gibt sie mit der Fackel, die sie dabei schwenkt, den auf der Lauer liegenden griechischen Kriegern Signale.

Und Aeneas kann nicht das Geringste dagegen tun. Es ist ihm noch nicht einmal vergönnt, im Kampf für die Heimat zu sterben. Denn zuvor ist ihm Hektor im Traum erschienen, noch blutend und entstellt von der Schändung seines Leichnams durch Achill, und beauftragt ihn, die Penaten, die Schutzgötter Trojas, zu retten und nach Latium zu bringen. Das macht Aeneas zugleich zum Anführer der Überlebenden seines Volkes. Auf der Flucht bemerkt er, dass seine Frau Creusa fehlt, und will zurück in die brennende Stadt, um sie zu holen.

Doch Creusa ist bereits tot. Sie erscheint ihm als Schattenbild und teilt Aeneas mit, dass es ihr niemals bestimmt war, aus Troja zu entkommen, denn in der neuen Heimat erwarten Aeneas eine neue Frau und ein neues Königreich, das für ihn weniger eine Verheißung als vielmehr eine Weisung ist, der er folgen muss. Aber zunächst erwartet ihn noch eine weitere Prüfung.

Dido ist eine tragische Heldin, deren Schicksal es ist, von Aeneas verlassen zu werden, denn er kann nicht in Karthago bleiben. Eigentlich hatte die Königin geschworen, sich nie wieder mit einem Mann einzulassen, doch auf Betreiben von Venus und Juno verliebt Dido sich in Aeneas – die eine will ihren Sohn auf diese Weise schützen, die andere ihn von Italien fernhalten.

Dido ist eine starke und einfallsreiche Frau, der das Unglück allerdings auf dem Fuße folgt. Sie stammt aus Phönizien und regierte dort einst an der Seite ihres geliebten Mannes Sicheus, der jedoch einem Komplott ihres Bruders Pygmalion zum Opfer fiel. Sie floh an die nordafrikanische Küste, wo der Numiderkönig Iarbas ihr so viel Land zugestand, wie sie mit einer Kuhhaut umspannen könne. Also schnitt Dido die Haut in hauchdünne Streifen und legte sie aneinander. Das auf diese Weise umrissene Areal wurde zur Keimzelle Karthagos.

Seitdem regiert sie allein und lehnt alle Heiratsangebote benachbarter Herrscher ab, um Sicheus auch nach seinem Tod noch treu zu bleiben. Doch bei Aeneas wird sie schwach und bricht ihr Versprechen, ohne zu ahnen, dass dabei zwei Ränke schmiedende Göttinnen die Finger im Spiel haben. Doch es ist Aeneas einfach nicht bestimmt, bei Dido zu bleiben und an ihrer Seite zu herrschen. Jupiter schickt seinen Boten Merkur, um ihn daran zu erinnern, dass sein Schicksal woanders liegt.

Auch Aeneas liebt Dido und will sie nicht verlassen. Aber er hat gar keine andere Wahl, denn er kann und darf seine Mission nicht aufgeben. Also bereitet er seine Abreise im Geheimen vor. Dido ahnt jedoch, was er tut, und stellt ihn zur Rede. Das letzte Gespräch der Liebenden ist voller Dramatik und erinnert an die Auseinandersetzung zwischen Jason und Medea in der Tragödie von Euripides. Halb wahnsinnig vor Liebe macht sie Aeneas schwere Vorwürfe und fleht ihn an zu bleiben. Sie hält ihm vor, was er versprochen und sie für ihn geopfert hat, macht ihm klar, wie grausam er sich verhält, indem er sie verlässt. Doch Aeneas gibt sich kühl und unbeteiligt, erklärt ihr, dass er nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern damit nur dem Willen der Götter folgt.

Unmittelbar nachdem er davongesegelt ist, begeht Dido aus Verzweiflung Selbstmord. Sie ersticht sich mit Aeneas’ Schwert und wirft sich auf den Scheiterhaufen, in dem die Geschenke brennen, die sie von ihrem Geliebten erhalten hat. Zuvor jedoch verflucht sie das Volk der Trojaner und sagt voraus, dass Karthago einmal sein größter Feind sein werde. Aus der Ferne sieht Aeneas die Rauchschwaden in Karthago aufsteigen. Vom schrecklichen Schicksal seiner Geliebten und den blutigen Kriegen gegen Karthago, die seinen Nachkommen bevorstehen, ahnt er jedoch nichts.

Die Figur der Königin Dido ist keine Erfindung Vergils, aber er hat die vorherrschende Version des Mythos in seinem Sinne abgeändert. Danach nahm Dido sich nämlich das Leben, um nicht König Iarbas heiraten zu müssen. Es war sicherlich ein genialer Kniff des Dichters, mit Dido die Erbfeindschaft zwischen Rom und Karthago zu erklären, die in der Auseinandersetzung mit Hannibal gipfelte. Aber es ist offensichtlich, dass ihm bei der Gestaltung seiner Dido eine reale Persönlichkeit vorschwebte, eine fremde Herrscherin, die zu Vergils Zeiten lebte: Auch Kleopatra gelang es, einen römischen Feldherrn zu becircen. Im Gegensatz zu Marcus Antonius, der sich dadurch vom – aus römischer Sicht – rechten Weg abbringen ließ, ist sich Aeneas seiner Verantwortung bewusst und zeigt sich bereit, die Liebe und das Glück seinen Pflichten zu opfern.

Ebenso wie Kleopatra letztlich von den römischen Dichtern bewundert wurde – Horaz etwa stieß auf die Verstorbene an –, erweist Vergil Dido seinen Respekt und empfindet sogar Mitleid mit ihr. In der Unterwelt begegnet sie schließlich Aeneas, weigert sich jedoch, mit ihm zu sprechen. Im Grunde hat Dido triumphiert, denn sie ist wieder mit ihrem Mann vereint, während der verzweifelte Aeneas leidet und vergeblich versucht, sich zu entschuldigen. Der eiskalte Mann aus der Abschiedsszene existiert nicht mehr. Hier, in der Unterwelt, spricht er »voll inniger Liebe« und versichert ihr, dass die Götter schuld waren und er gehen musste, obwohl er viel lieber bei ihr geblieben wäre. Aber Dido sieht ihn noch nicht einmal an. Während er weint, zeigt sie sich teilnahmslos. Dann dreht sie sich um und geht zu Sicheus, der »Liebe mit Liebe erwidert«, denn er hat ihr verziehen. So wird Dido im Tod doch noch eine Art Happy End zuteil.

Aeneas stellt das Schicksal dessen, was einmal Rom werden soll, über sein eigenes Glück. Das macht ihn zu einem Helden, den wir bewundern, aber auch bemitleiden, wenn wir mitansehen, wie er ständig von einem Ort zum nächsten getrieben wird. Er hat weder Zeit noch Gelegenheit, den Verlust seiner Heimat zu verarbeiten, weil ihn auf jeder Etappe neue Mühsal und Schmerzen erwarten.

Er plant, auf Kreta zu bleiben, wo er eine Siedlung namens Pergamusstadt gründet, doch eine Pestepidemie zwingt ihn zur erneuten Abreise. Nach einem furchtbaren Sturm macht er auf den Strofades halt, zwei Inseln im ionischen Meer. Aber Erholung findet er auch dort nicht, denn die Inseln werden von Harpyien bewohnt, scheußlichen Ungeheuern, halb Frau und halb Vogel. Sie quälen die Trojaner, indem sie ihr Essen verunreinigen. Selbst ein so einfaches Vergnügen wie die Nahrungsaufnahme bleibt Aeneas verwehrt, denn die Harpyien kommen von überallher, um zu stören, sobald er sich zum Essen niederlässt. In Epiros trifft er auf Helenus, einen Sohn des Priamos und Ehemann von Hektors Witwe Andromache, der ein neues Troja gegründet hat. Doch obwohl dieser Ort seiner verlorenen Heimat noch am nächsten kommt, kann er auch dort nicht bleiben.

Nach dem Tod von Anchises will Aeneas in Sizilien zu Ehren seines Vaters Leichenspiele abhalten. Juno schickt ihre Botin Iris, um die Frauen zu verleiten, die Schiffe in Brand zu stecken. Nur durch einen glücklichen Regen werden sie vor der Zerstörung bewahrt. Aber fast alle älteren Frauen bleiben auf der Insel, denn die Trojaner sind erschöpft und können einfach nicht mehr. Doch die Botschaft nach jeder Etappe ist unmissverständlich: Dies ist nicht der richtige Ort für euch, hier dürft ihr nicht verweilen, nicht einmal, um Atem zu schöpfen.

Für Aeneas gibt es keinen sicheren Ort, an dem er unter Freunden und Verbündeten Ruhe finden kann, bis er sein endgültiges, vom Schicksal vorbestimmtes Ziel erreicht hat – Italien, die Heimat des Dardanus, dessen Nachkommen Troja einst gründeten. Die Irrfahrt der Trojaner ist im Grunde also eine Reise zu ihrem Ursprungsort. Bei Vergil muss Aeneas Latium zwar erst unter großen Mühen in leidvollen Kämpfen erobern, aber es ist auch eine Rückkehr in die Heimat, in das Land seiner Vorfahren.

Rom muss gegründet werden, daran führt kein Weg vorbei, denn die Orakel sagen es voraus. Die Götter unterhalten sich darüber, und Juno beklagt ihre Machtlosigkeit, weil selbst eine Gottheit wie sie gegen das Schicksal nichts ausrichten kann, während Jupiter die um ihren Sohn besorgte Venus beruhigt. Der Göttervater versichert ihr, dass den Römern eine glorreiche Zukunft bestimmt ist in Gestalt eines »imperium sine fine«, eines ewigen Reiches, dessen Herrschaft niemals endet.

Dass er nach Italien gehen muss, hört Aeneas immer wieder – von den Traumbildern Hektors, Creusas und seines Vaters Anchises, aber auch von Propheten und den Göttern selbst. Die Wiederholungen muten ein wenig überflüssig an, so als habe sich Vergil noch nicht endgültig entschieden, wer der richtige Bote dieser Offenbarung sei. Man darf wohl davon ausgehen, dass er diesen Punkt noch geklärt hätte, wäre er nicht vor Vollendung seines Werkes gestorben.

Die mächtigste Prophezeiung stammt von der Harpyie Celaeno: Die Trojaner würden wissen, dass sie angekommen sind, wenn sie vor lauter Hunger ihre Tische verspeisten. Später löst sich diese Vorhersage ganz harmlos auf, denn die Tische erweisen sich als essbare Fladen, die ihnen bei der Mahlzeit als Unterlage dienen. Dennoch ist sie ein Zeichen dafür, dass sein Unternehmen Aeneas nichts als Leid einbringt.

Der Held ist seinen Vorfahren, aber auch seinen Nachkommen gegenüber verpflichtet – er trägt seinen Vater auf den Schultern und hält seinen kleinen Sohn an der Hand. Vergils Leser müssen die ständigen Hinweise auf die künftige Größe Roms mit Stolz erfüllt haben, denn die kosmischen Kräfte, die einzig dazu in Bewegung gesetzt worden waren, damit ihre Stadt geboren wurde, unterstreichen den römischen Herrschaftsanspruch. Zu wissen, dass diese monumentale Zukunft allein von ihm abhängt, setzt Aeneas allerdings enorm unter Druck. Und es gibt zwei Schlüsselmomente: den Abstieg in die Unterwelt und die Schildübergabe.

Die Bürde des römischen Mannes

Selbst als er in Begleitung der Sibylle von Cumae in den Hades hinabsteigt, erweist sich Aeneas als ungewöhnlicher Held. Auch andere berühmte Sagengestalten wie Herkules, Orpheus oder Theseus haben das Kunststück vollbracht, als Lebende das Reich der Toten zu besuchen. Aber sie kamen, um auch hier große Taten zu vollbringen: Herkules hatte den Auftrag, den dreiköpfigen Höllenhund Cerberus einzufangen, Orpheus wollte seine Frau Eurydike ins Leben zurückholen, und Theseus kam mit einem Freund, um Proserpina (Persephone) entführen, was fehlschlug. Zunächst weigert sich Charon der Fährmann jedoch, Aeneas über den Totenfluss zu bringen, weil er aus Erfahrung weiß, dass lebendige Helden in der Unterwelt nur Ärger machen. Aber die Sibylle kann ihn beruhigen – in seiner Göttlichen Komödie lässt Dante übrigens Vergil diese Aufgabe übernehmen. Aeneas sei anders, versichert sie dem Fährmann, er werde keine Probleme verursachen. Tatsächlich will er nur mit seinem Vater sprechen. Nicht Ruhmsucht treibt ihn an, sondern pietas. Gewissermaßen als Eintrittskarte hat Aeneas einen goldenen Zweig mitgebracht, der sich im Laufe der Zeit zum Symbol für magische Kräfte entwickelt, weshalb James Frazer seinem 1890 erschienenen religionsgeschichtlichen Hauptwerk den Titel Der goldene Zweig. Eine Studie über Magie und Religion gab.

In der Unterwelt begegnet Aeneas zahlreichen Toten des Trojanischen Krieges. Während die Achäer ihn meiden, kommen die Trojaner zu ihm, um zu erfahren, wie es den Überlebenden ergangen ist. Auf den Inseln der Seligen trifft er seinen Vater Anchises, der ihm die Prozession der Seelen zeigt, die zum Fluss Lethe hinabsteigen, um sich zu reinigen, ihre vergangene Existenz zu vergessen und zu einem neuen Leben auf die Erde zurückzukehren. Bei dieser Gelegenheit sieht Aeneas auch die künftigen Römer, Herrscher und Soldaten, mit der gens Iulia und natürlich Augustus an der Spitze, der Rom in das Goldene Zeitalter führen wird.

Das ist natürlich eine besonders propagandistische Passage, mit der Vergil sich bei seinem Kaiser einschmeicheln will. Er preist Augustus als einen Nachfahren von Aeneas und tröstet ihn über den frühen Tod seines geliebten Neffen Marcellus hinweg, den er zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Aber es ist eben nicht nur Propaganda, denn die Seelenparade, die Aeneas die großartigen Auswirkungen seines Handelns vor Augen führt, soll die Römer nicht nur an ihre glanzvolle Vergangenheit erinnern. Anchises beschreibt auch das, was von einem römischen Bürger erwartet wird, nämlich Strenge, Standhaftigkeit und moralische Unerschütterlichkeit. Und er stellt klar, dass die Römer das Recht haben, »regere imperio populos«, die Völker der Welt zu beherrschen. Er vergleicht sie mit den Griechen und erkennt an, dass diese zwar im Bereich der Künste und Wissenschaften überlegen seien, doch es den Römern dafür bestimmt sei, zu regieren, Gesetze zu erlassen und zu verwalten. Die Bürde des römischen Mannes.

Anchises prophezeit auch die Eroberung Griechenlands durch die Nachkommen der Trojaner, sodass Troja am Ende doch noch gerächt wird.

Eine ähnliche Funktion hat auch der von Volcanus geschmiedete Schild des Aeneas, der ihm von Venus geschenkt wurde, so wie Achill vor dem Zweikampf mit Hektor Waffen von seiner Mutter Thetis erhielt. Auf dem Schild sind in einer Art prophetischer Vorausschau Mythen und Legenden, aber auch wahre Begebenheiten aus der Geschichte Roms dargestellt: die Zwillinge Romulus und Remus, die von der Wölfin gesäugt werden, der Raub der Sabinerinnen, die sieben Könige und ihre Kriege um Latium. Dann Porsenna bei seinem Versuch, den etruskischen König Tarquinius Superbus wieder auf den Thron zu setzen, Horatius Cocles, der ganz allein die Brücke über den Tiber verteidigt, die den Zugang in die Stadt ermöglicht, und Cloelia, die mit den anderen Geiseln Porsenna entkommt. Außerdem zeigt der Schild den Galliersturm und die kapitolinischen Gänse, deren Geschnatter die Römer warnte.

Wir kennen sie alle, diese Geschichten, haben sie vielleicht in der Schule gelernt und werden sie im folgenden Kapitel besprechen, um zu verstehen, was sie den Römern bedeuteten und warum sie eine Quelle ihres Stolzes waren. Aeneas dagegen kennt sie nicht, kann sie noch gar nicht kennen. Doch obwohl er die Bilder nicht versteht, beruhigen sie ihn und verleihen ihm Zuversicht, sodass er im Schutze seiner Zukunft in die Schlacht ziehen kann.

Auf dem Schild ist auch eine Vision des Tartarus, der Unterwelt zu sehen, mit einem Bildnis von Cato, der als Urheber gerechter Gesetze auf den Inseln der Seligen willkommen geheißen wird. Der einzige in schlechtem Licht erscheinende Römer ist Catilina, der einen Staatsstreich versucht hat und dafür im Tartarus, an einer Klippe hängend, von den Furien bestraft wird. Der Höhepunkt des römischen Aufstiegs ist im Mittelbild dargestellt, das Augustus als Sieger der Schlacht von Actium zeigt.

Vergil spricht nicht von einem Bürgerkrieg, sondern von einem Konflikt zwischen Italikern und Fremden, denn für ihn stand Marcus Antonius an der Spitze eines Barbarenheeres. Auf dem Schild sind die römischen Götter im Kampf gegen Anubis wiedergegeben, den schakalköpfigen ägyptischen Gott der Totenwelt. Die Schildvision endet mit dem Triumph des Augustus und dem Aufmarsch aller Völker, die Rom unterworfen hat. Sie zu beherrschen, ist Ehre und Bürde zugleich.

Die Schildübergabe ist ein Zeichen für die Unausweichlichkeit des Krieges, der Aeneas und den Trojanern bevorsteht. Es ist wie ein Rückfall in die Tragödie, vor der sie geflohen sind, denn sie müssen immer noch kämpfen.

Achill wird doch noch besiegt

Ebenso wie in der Ilias ist der casus belli auch hier eine Frau. Lavinia, die Tochter des Königs Latinus, ist eigentlich Turnus, dem König der Rutuler, versprochen. Um eine alte Prophezeiung zu erfüllen, nach der Lavinia einen fremden Fürsten heiraten soll, möchte ihr Vater sie jedoch lieber Aeneas übergeben. Turnus ist daraufhin außer sich vor Zorn und greift zu den Waffen.

Auch beim Krieg um Latium haben wieder höhere Mächte die Finger im Spiel, denn Juno hat die einheimischen Völker gegen die Trojaner aufhetzt. Zwar hat sie sich längst damit abgefunden, dass die Gründung Roms unvermeidlich ist, will den verhassten Trojanern aber so viel Schaden wie möglich zufügen. Das macht diesen Krieg noch sinnloser, denn sein einziger Zweck besteht darin, Leid und Schmerz zu verursachen. Für Vergil ist der Krieg das schlimmste Verbrechen der Menschheit. »Bella horrida bella …«, heißt es im 6. Buch der Aeneis, »Kriege schau ich und rot von schäumendem Blute den Tiber«.

Am meisten preist er Augustus auch nicht für seinen Sieg, sondern dafür, dass er den Bürgerfrieden wiederhergestellt hat. Und seine Helden fliehen aus einer brennenden Stadt.

Diesmal wissen die Trojaner, dass es ihnen bestimmt ist zu siegen, denn das haben sie schon oft gehört. Aber nach den unzähligen Schrecken, die sie durchleiden mussten, steht ihnen nicht der Sinn nach militärischen Triumphen. Sie wissen nur zu gut, dass auch für einen Sieg viele von ihnen sterben müssen, ja, dass es im Krieg keine wahren Sieger gibt. Es bereitet ihnen auch keine Freude, anderen Schmerzen zuzufügen, und sie sind am Ende ihrer Kräfte, als sie von Turnus und seinen Rutulern belagert werden.

Doch so verzweifelt eine Lage auch ist, die Entschlossenheit der Trojaner – und damit auch der Römer – bleibt ungebrochen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte von Euryalus und Nisus, zwei jungen Helden, die sich freiwillig melden, um die feindlichen Linien zu durchbrechen und den abwesenden Aeneas zu warnen. Dieser hält sich bei Euander, dem König der ebenfalls in Latium siedelnden Arkadier auf, denn die Trojaner brauchen dringend Verbündete.

Nisus schlägt vor, das nur nachlässig bewachte Lager der Feinde bei Nacht zu durchqueren. Die Anführer der Trojaner erlauben ihm und seinem besten Freund Euryalus das gefährliche Unterfangen, von dem sie noch nicht wissen, dass es sie das Leben kosten wird. Doch ihre Freundschaft, gegenseitige Loyalität und Aufopferung füreinander sollen sie im Gedächtnis der Römer unsterblich machen.

Euryalus wird entdeckt und hingeschlachtet: »Wie die purpurne Blüte vom Pfluge getroffen zur Seite / Welkt und stirbt und wie der Mohn mit ermattetem Stängel, / Abwärts sinkt sein Haupt.« Nisus kann entkommen, erträgt es aber nicht, seinen Gefährten im Stich zu lassen, und kehrt zurück, um ebenfalls getötet zu werden. Die beiden Freunde scheinen zunächst das römische Wesen zu verkörpern, symbolisieren aber vor allem den Schmerz, den der Krieg verursacht, denn er verspricht zwar Ruhm, bringt aber nur den Tod. Das Ende von Euryalus und Nisus ist aber auch das Ergebnis einer unwürdigen Tat, denn im Lager der Feinde werden sie von Mordlust und Beutegier gepackt und richten ein Blutbad unter den schlafenden Rutulern an. Tatsächlich ist es das Aufblitzen eines erbeuteten Helms, das die feindlichen Reiter auf Euryalus aufmerksam macht. Noch mehr als das Schicksal der jungen Helden berührt uns jedoch die tiefe Trauer der Mutter des Euryalus. Sie ist eine der wenigen alten Frauen, die den Trojanern bis nach Latium gefolgt sind, weil sie ihren Sohn nicht verlassen wollte, den sie nun qualvoll beweint. Eine Mater dolorosa, in der sich gerade in diesen Tagen viele Mütter wiedererkennen werden.

Den Trojanern ist es bestimmt, sich mit den Latinern zu vermischen, was sie zu Vorfahren der Römer macht. Allerdings gehen die Trojaner in den Latinern auf und nicht umgekehrt. Grund dafür ist eine letzte Bitte Junos an Jupiter, als sie erkennt, dass Aeneas den Krieg gewinnen wird. Damit ist ihr Vorhaben, das Volk der Trojaner auszulöschen, endgültig gescheitert, und so fleht sie ihren Gatten an, doch zumindest dafür zu sorgen, dass deren Name aus der Geschichte verschwindet. Deshalb verdienen auch die italischen Helden Bewunderung, und die Trojaner, allen voran Aeneas, bedauern häufig, gegen sie kämpfen zu müssen.

Unter allen Italikern überragt die Gestalt der Camilla, einer kühnen jungen Frau, die im Kampf sogar den Männern überlegen ist. Sie hat sich wie eine Amazone eine Brust entfernen lassen, um besser mit dem Bogen schießen zu können. Als Kind der Göttin Diana geweiht und durch ein Wunder gerettet, wächst sie zur jungfräulichen Jägerin heran. Ihr Vater, der Volskerkönig Metabus, wurde von Feinden aus seiner Stadt Pivernum vertrieben und band das Kind auf der Flucht an einen Speer, den er über den Fluss schleuderte. Auf diese Weise gerettet, verlebte Camilla eine wilde Kindheit in den Wäldern, wo sie das Jagen und Kämpfen lernte. Sie kämpft auf Seiten von Turnus gegen die Trojaner, unter denen sie ein Gemetzel anrichtet. Vergil beschreibt ihren Heldenmut, ihre Kraft und Beweglichkeit mit einer Inbrunst, die er noch nicht einmal Aeneas zugesteht. Im Gegenteil, Aeneas ist zwar ein geschickter, aber kein herausragender Krieger. Nicht selten wird er von seinen Gegnern verspottet. Turnus etwa hält ihn für schwach, nennt ihn einen phrygischen Weichling – »semiviri Phrygis« – und hat nur einen Wunsch: »O hilf mir, dass ich … / schände die Locken im Staube, / Die er mit Myrrhen getränkt und heißem Eisen gekräuselt.«

Erst dem Etrusker Arruns gelingt es, geleitet von Apollo, Camilla zu töten, indem er einen Speer auf sie schleudert, als sie gerade abgelenkt ist und einen Krieger in glänzender Rüstung verfolgt. Um ihren Tod zu rächen, sorgt Diana dafür, dass Arruns seinerseits von einem Pfeil tödlich getroffen wird. Camillas Heldenmut speist sich aus Kampfeslust und dem Streben nach Ruhm und Ehre. Ihr Tod ist ein weiteres Beispiel dafür, wie der Krieg alles zunichtemacht. Und er ist das Vorspiel zur Niederlage jener Völker Latiums, die sich gegen die Trojaner gestellt haben.

Turnus ist ein Feind, der gleichermaßen Bewunderung und Mitleid verdient. Ein starker, tapferer und stolzer Feldherr, mit allen Eigenschaften der Latiner, die die Römer an sich selbst wiedererkennen. Der größte menschliche Gegenspieler des Aeneas, dessen eigentliche Hauptgegner die Göttin Juno und das Schicksal bleiben.

Schon vor der Landung in Latium wurde Aeneas prophezeit, dass er auf einen neuen Achilles treffen werde, mit dem der König der Rutuler tatsächlich viel gemeinsam hat.

Turnus ist der eigentliche Kriegsheld in der Aeneis, das Pendant zum größten Helden der Ilias, mit dem er auch das Übermaß an Kampfeslust gemeinsam hat. Das zeigt sich, als er einmal allein ins Lager der Trojaner vordringt, bis er sich schließlich durch einen Sprung in den Tiber retten muss. Dabei wirkt er zunächst klug, um nicht zu sagen weise, denn er scheint die Ankunft von Aeneas und den Verlust Lavinias akzeptiert zu haben. Doch Juno beauftragt die Furie Allecto, Turnus gegen die Trojaner aufzuhetzen. Sie erscheint ihm im Traum in Gestalt einer Juno-Priesterin und stachelt ihn an, auf die versprochene Ehe mit Lavinia zu bestehen und die Eindringlinge aus dem Land zu vertreiben. Hier gelingt Vergil einer der außergewöhnlichsten Verse der gesamten Aeneis: »Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo«, sagt Juno; wenn ich die himmlischen Götter nicht erweichen kann, werde ich die Unterwelt in Bewegung setzen. Mit diesem Zitat eröffnet Sigmund Freud übrigens sein Werk Die Traumdeutung, denn die Aeneis ist fester in unseren Köpfen verankert, als viele glauben. »Audentes fortuna iuvat«, den Tapferen hilft das Glück, heißt es an einer anderen Stelle des Werks. Tragischerweise spricht Turnus diesen Satz aus, um sein Volk zur Führung eines Krieges zu ermuntern, der ihn selbst – ungeachtet aller Tapferkeit – das Leben kosten wird.

Aeneas hat aber auch Mitleid mit Turnus und zögert, ihn zu bekämpfen. Die Passagen, in denen er seine Reue und Trauer über das Leid zum Ausdruck bringt, das er seinen Gefährten und Verbündeten, aber auch seinen Feinden zufügen muss, sind zweifellos von größerer Tiefe als die Schilderungen seiner militärischen Heldentaten. Aber Turnus kann seinem Schicksal nicht entrinnen, das sich in einem Zweikampf zwischen den beiden Protagonisten entscheidet, der nicht zufällig an die Auseinandersetzung zwischen Hektor und Achilles erinnert.

Turnus wird von Müdigkeit erfasst und fühlt sich von den Göttern verlassen, denn das Schicksal ist gegen ihn. Er weiß, dass er bald sterben wird. Als er, von Aeneas’ Lanze ins Bein getroffen, zu Boden stürzt, hat er bereits alle Hoffnung verloren und fleht um Gnade. Er beschwört seinen Vater und bittet den Sieger, zumindest seinen Leichnam an die Seinen zu übergeben. Aeneas ist gerührt von den Worten des Feindes und will ihn bereits verschonen, als sein Blick auf den Schwertgurt von Pallas, dem jungen Sohn Euanders fällt, den Turnus getötet hat. Von rasender Wut gepackt, stößt Aeneas ihm daraufhin das Schwert in die Brust.

Aeneas hat seine Aufgabe erfüllt, aber ein Sieg ist es nicht. In diesen letzten Momenten, am Ende des Epos, verliert Aeneas auf schockierende Weise sich selbst, denn von der Menschlichkeit und dem Mitgefühl, die ihn das ganze Werk hindurch beseelten, ist plötzlich nichts mehr zu spüren. Der Held, der Krieg und Gewalt eigentlich ablehnt, bringt das ultimative Opfer, indem er dieses eine Mal aus Wut und nicht aus Notwendigkeit tötet. Aeneas tauscht die Rollen mit Turnus und wird selbst zu Achill. Der Schwertgurt des Pallas beschwört die Rüstung herauf, die Hektor vom toten Patroklos erbeutet hatte. Aeneas verliert den Beinamen »pius«, denn er hat gegen den Rat seines Vaters gehandelt. In der Unterwelt hatte Anchises ihm die die Verantwortung derjenigen dargelegt, die über andere herrschen, und seinen Sohn dazu aufgefordert, die Besiegten stets zu verschonen.

Die Aeneis hält kein Happy End für ihren Protagonisten bereit. Sie endet mit einer grausamen Geste der Gewalt und nicht des Friedens, den Aeneas anstrebte. Der letzte Vers preist nicht den Triumph, sondern handelt vom Tod: »Vitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras«, und seufzend entfloh sein zürnender Geist zu den Schatten.

Vergil in Manhattan

In der Realität verhielten sich die Römer allerdings häufiger wie der bedauernswerte Aeneas am Ende der Aeneis: Sie eroberten, töteten und plünderten ohne Gnade und Mitgefühl. Vergil beschreibt die Römer so, wie er sie gerne hätte – so wie die Römer selbst sein wollten oder sogar zu sein glaubten, es aber nicht waren.

Aber genau darin liegt die wahre Größe der Aeneis. Sie mutet wie ein Werk an, das vor allem dazu geschaffen wurde, um den römischen Nationalismus und das neue Kaiserreich zu verherrlichen. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch, dass der Aeneis etwas geradezu Revolutionäres anhaftet, erzählt sie doch die Geschichte eines Mannes, den die Pflicht dazu zwingt, seinen eigenen mitfühlenden Instinkten zuwiderzuhandeln, um zu werden, was Volk und Schicksal von ihm verlangen.

Für die Römer ist die Aeneis ein glorreiches Epos, das sie mit Troja verbindet, ihre Tapferkeit beweist und ihre Vorherrschaft rechtfertigt. In ihren Augen ist Aeneas der Archetyp einer neuen Gestalt, des strengen, aber gerechten Kaisers. Augustus wird zum neuen Aeneas stilisiert. Auf persönlicher Ebene ist die Aeneis jedoch eine Tragödie. Dem Protagonisten ist kein einziger Moment der Ruhe und des Friedens vergönnt, während er für ein Unterfangen leidet, dessen Früchte er niemals genießen wird. Er ist ständig unterwegs, und die Umstände zwingen ihn, Schmerz und Leid über Menschen zu bringen, denen er eigentlich nichts Böses will oder die er im schlimmsten Fall sogar liebt. Denn genau das wird von ihm erwartet.

Die Geschichte der Dido unterstreicht die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit von Aeneas’ Charakter. Einige moderne Gelehrte wollen in ihrer Gestalt sogar ein Zeichen der Ablehnung des augusteischen Regimes erkennen. Vor seiner Abreise aus Karthago gibt Aeneas sich kühl und pflichtbewusst, doch beim Wiedersehen in der Unterwelt ist er gerührt, weint vor Verzweiflung und bittet sie um Vergebung oder wenigstens um ein Wort oder einen Blick. Nichts davon wird ihm gewährt.

Schließlich endet das Werk mit einem Triumph, der sich in eine Niederlage verwandelt. Aeneas ist ein tragischer, allzu menschlicher Held, dessen mitfühlendes Wesen von grausamen Pflichten auf die Zerreißprobe gestellt wird.

Mit ihm endet das Zeitalter der Helden, von nun an werden nur noch Menschen geboren.

Und gerade seine Menschlichkeit bringt Aeneas den Lesern der Aeneis nahe, ganz gleich aus welchem Jahrhundert sie stammen, denn jede Generation kann in seiner Geschichte und seinem Leiden ihre eigene Geschichte und ihr eigenes Leiden wiedererkennen.

Wie jede große Geschichte handelt auch die Aeneis letztlich von uns.

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