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Falling Hard for the Royal Guard. Eine königliche Liebeskomödie

Als Buch hier erhältlich:

Autorin und TikTok-Star Megan Clawson mit der authentischsten royalen RomCom des Jahres!

Maggie Moore lebt zwar in märchenhafter Umgebung im Tower von London, ist aber weit vom Status einer Prinzessin entfernt. Stattdessen verkauft sie Eintrittskarten an Touristen. Keine Spur von edlem Ritter oder weißem Pferd! Ihre Freunde raten ihr zu Tinder, wo sie Schwindler, aber nicht den Richtigen trifft. Und als eine Begegnung auf spektakuläre Weise endet, gibt Maggie die Hoffnung fast schon ganz auf. Dann sieht sie Freddie von der königlichen Garde und spürt, dass sie die Liebe keineswegs abgeschrieben hat. Er könnte doch ihr persönlicher Royal Guard sein! Aber wie erregt man die Aufmerksamkeit von jemandem, dessen Job es ist, jegliche Ablenkung zu ignorieren?


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004647

Leseprobe

Für Gingers, Red Heads, Carrot Tops und Gingas,
also für alle Menschen, die ständig zu hören bekommen, wie ähnlich sie diesem oder jenem rothaarigen Prominenten sehen – weil es uns zusteht, selbst ab und zu die Hauptrolle zu spielen, mit Sommersprossen und allem Drum und Dran.

1. Kapitel

Die Sonne verlässt immer als Erstes die östlichen Kasematten. Sie wird von der Westseite des White Towers verschluckt, in seinen Kerker gesperrt und im Morgengrauen durch die Rufe der Raben wieder befreit. Bewegt man sich um diese Zeit durch die Festung, stört einen niemand. Die Bewohner suchen Zuflucht an ihren Herdfeuern und geben sich keine Mühe, zwischen einem nächtlichen Wanderer und einem ruhelosen Geist zu unterscheiden, besteht doch sowieso kaum ein Unterschied zwischen beidem.

Ich gehe allein über den südlichen Rasen; die taufeuchten Grashalme schlüpfen zwischen meine nackten Zehen und streifen meine Fußknöchel, während ich mich frei im Mondlicht bewege. Im Schatten des White Towers bleibe ich stehen, lasse die im Mondlicht schimmernden Mauern auf mich wirken und verliere mich selbst in der Betrachtung der dunklen Fensterbögen, während die frühe Morgenbrise mich sanft in eine Richtung drängt.

Ein leises Lachen scheucht mich auf. Ich fahre herum, meine feuchten roten Haare legen sich für einen Moment wie ein Schleier um mein Gesicht. Aber ich sehe niemanden, spüre niemanden. Das Lachen wird lauter, regelrecht aufdringlich, und als ich beginne, mich zu regen, wird es nur noch lauter und lebhafter.

Lachen, Lecken, Lachen, Lecken.

Erschrocken reiße ich die Augen auf, nur um sie sofort wieder zu schließen, als grelles Sonnenlicht mir vom Fenster her schmerzhaft in die Augen sticht. Das feuchte Gefühl an meinen Füßen ist real, es wandert an meinen nackten Beinen hoch und landet schließlich in meinem Gesicht. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um vorsichtig und stöhnend meine Augen wieder zu öffnen, und sehe mich dem felligen Gesicht meines Katers Cromwell gegenüber, der absolut keinen Sinn für Privatsphäre hat. Die Füße, die er mir geleckt hat, versuche ich am Laken zu trocknen, während ich ihn liebevoll zwischen den Ohren kraule. Ich bringe gerade genug Zorn auf, um mein Gesicht beim Anblick des Speichels an meinen Zehen zu verziehen, denn mit dem schildpattfarbenen flauschigen Ball auf meiner Brust kann ich einfach nicht schimpfen.

Kicher, kicher, kicher.

Schlaftrunken, wie ich bin, nehme ich das fiese Lachen plötzlich als … ach, du Schreck! Ein Blick über Cromwells pelzigen Kopf hinweg aus dem Fenster zeigt mir zwei Jungen im späten Teeniealter mit ihrer hochmodernen Digitalkamera auf der östlichen Mauer, und natürlich spähen sie zu mir herüber. Mein dummerweise weit offen stehendes Fenster gibt mir keinerlei Deckung. Meine Brüste haben sich aus meinem Tanktop befreit und winken den beiden Jungen regelrecht zu, als ich in Hektik gerate. Das hinterhältige Grinsen in den Gesichtern hinter der wuchtigen Touristenkamera ist verräterisch genug, um mich dazu zu veranlassen, mich spontan aus dem Bett auf den Boden zu werfen.

Ich krieche bäuchlings über den Teppich, weiche dabei leeren Gläsern und diversen Kleidungsstücken aus, als wäre ich auf einem militärischen Hindernisparcours, um dem Gelächter zu entfliehen, das immer noch von der inneren Festungsmauer widerhallt. Als ich sicher bin, dass man mich von draußen nicht mehr sieht, drehe ich mich ächzend auf den Rücken und ärgere mich über mich selbst, weil mir jetzt all die Möglichkeiten einfallen, wie ich die Situation besser hätte meistern können. Zum Beispiel, indem ich mich einfach in meine Bettdecke gewickelt hätte, rechtzeitig daran gedacht hätte, die Vorhänge zuzuziehen, oder – wie jeder normale Mensch – einfach nur das Tanktop zurechtgerückt hätte, das mich im Stich gelassen hatte. Zu dumm, dass mir all diese Lösungen erst jetzt einfallen, nachdem ich meine Brust bereits am Teppich wund gescheuert habe.

Ohne Vorwarnung höre ich im Geiste die Stimme meiner Mutter, und ich zucke zusammen, so klar und deutlich ist sie. Beinahe könnte ich glauben – ja, hoffen –, sie wäre im Zimmer: »Weißt du, Maggie, für ein intelligentes Mädchen hast du bemerkenswert wenig gesunden Menschenverstand.« Ach ja, dieser Satz verfolgte mich in jedem Augenblick der Torheit meiner Teenagerzeit. Heute, mit Mitte zwanzig, empfinde ich ihn als noch ein wenig tragischer.

»Mags, bist du das? Gehst du heute nicht zur Arbeit?«, ruft mein Vater von unten, während ich noch immer nur in babyrosa Nachtwäsche rücklings auf dem Teppich liege. Die Sache ist mir so peinlich, dass ich mich noch nicht weiterbewegt habe.

Moment mal – wie spät ist es? Hastig greife ich nach der burgunderroten Arbeitsbluse, die seit dem gestrigen Feierabend zusammengeknüllt auf dem Fußboden liegt. Das zerknitterte Kleidungsstück schützt mich vor den Blicken von Zuschauern, sodass ich es wage, mir mein Handy zu holen und auf die Zeitanzeige zu schauen: 9:53 Uhr. Schon vor einer Stunde hätte ich meine Arbeit antreten sollen. Laut stöhnend lasse ich das Gesicht auf den Teppich sinken, was meinen Vater, der inzwischen in der Tür meines Zimmers steht, zum Lachen bringt. Genau wie ich ist er noch nicht vollständig bekleidet für die Arbeit. Das grässliche T-Shirt mit dem Spruch, der nur zu einem dicklichen Dad mittleren Alters passt, schreit mir in großen Buchstaben entgegen: »Wer braucht schon Haare, wenn er solch einen Körper hat?« Die marineblaue Hose sitzt gerade eben über seinem Bauch, mühsam an Ort und Stelle gehalten von roten Hosenträgern. Sein roter Bart, durchzogen von Weiß, hängt noch teilweise im Halsausschnitt seines T-Shirts, das er anscheinend einfach übergeworfen hat, ohne darüber nachzudenken. Das Tudor-Barett und der blaue Uniformrock fehlen noch. Im Augenblick sieht er eher wie der aufmüpfige jüngere Bruder des Weihnachtsmannes aus, ganz und gar nicht wie der durchtrainierte, immer adrette Soldat der Britischen Streitkräfte, als der er zweiundzwanzig Jahre gedient hatte.

Ich hätte nie gedacht, dass mein Vater noch exzentrischer werden könnte als damals, als er sein Haus verkaufte, um auf einem engen Boot zu leben. Aber da sind wir: Wir wohnen im Tower von London, wo er den obskursten Job ergattert hat, den er finden konnte – als Beefeater oder, um es vornehmer auszudrücken, als königlicher Leibgardist. Was das bedeutet? Er verbringt die meisten Tage damit, Touristen im Tower von London herumzuführen, damit zu prahlen, dass er zur Leibwache des Monarchen gehört, und dabei geflissentlich das »Zeremonien-« in seinem Titel zu unterschlagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich für diesen Job entschieden hat, weil es keinen anderen gibt, bei dem er eine so bizarre Uniform tragen kann. Er hatte sich mehr darauf gefreut, als er jemals zugeben würde, die Halskrause und die Strumpfhosen seiner Zeremonienuniform anziehen zu dürfen, die mit feinstem Goldgarn zusammengenäht wurde. Folgerichtig präsentierte er stolz seinen roten Bart und seinen runden Bauch, sowie er seinen Dienst antrat, und eignete sich seine neue Rolle methodisch an. Es dauerte nur wenige Wochen, bis er so aussah wie das Motiv auf einem der Geschirrtücher, die man in den Andenkenläden überall in London kaufen kann. Und er liebt das.

»Verdammter Mist!« Ich flitze in meinem Zimmer herum, auf der verzweifelten Suche nach meiner Hose, die ich irgendwo im Dunkeln ausgezogen und liegen gelassen hatte, nachdem ich um drei Uhr morgens von meinem »zehn Minuten die Augen schließen« aufgewacht war. Nachdem ich sie endlich auf dem Fußboden hinter meinem Bett gefunden habe, bleibt mir nur gerade genug Zeit, mir die Zahnbürste zu schnappen und mich beim Zähneputzen sehr kurz und kaum verständlich von Dad zu verabschieden, bevor ich die fünf Treppen zur Haustür hinunterrenne. Trotz meiner Eile bringe ich es nicht übers Herz, meiner Mutter nicht wie üblich »Ich liebe dich« zuzuflüstern, und ich bleibe auf dem Weg nach draußen im Flur stehen und verbringe wertvolle Sekunden damit, ihr Foto anzusehen. Sie sieht genau so aus, wie ich sie in Erinnerung habe: die Haare vom Wind zerzaust, so breit lächelnd, dass ihre Augen über den Wangen kaum noch auszumachen sind. Seufzend wende ich mich widerwillig ab, lächle ihr dabei traurig zu und werde wieder hektisch. Ich bin bereits viel zu spät dran, um mir eine Jacke überzuwerfen. Deshalb renne ich weiter und hoffe, dass die Märzbrise meine Haare wenigstens ein bisschen zu bändigen hilft.

»Morgen!«, rufe ich jedem der Beefeaters zu, an denen ich vorbeilaufe. Richie, unser unmittelbarer Nachbar, gießt die wild wuchernden Blumen in seinem kleinen Vorgarten. Noch nicht vollständig angezogen, wirkt er wie ein Spiegelbild meines Vaters mit seinem T-Shirt, den Hosenträgern und dem grau gesprenkelten Bart. Mit der freien Hand winkt er mir zu und schüttet sich dabei mit der anderen Wasser über die Stiefel, ohne es zu wollen und zu bemerken. Ich renne an Linda vorbei, die gerade aus der breiten offenen Tür des Brass Mount in der östlichen Ecke der Kasematten tritt. Sie dürfte ziemlich sicher der einzige Mensch auf der Welt sein, der von sich behaupten kann, in einem alten Artillerieturm zu wohnen, von dem aus früher Kanonen abgefeuert wurden. Während sie sich ihr Tudor-Barett auf den perfekten Haarknoten drückt, ruft sie mir einen Gruß zu, wohl wissend, dass es keinen Sinn hat, mich auf meinem täglichen Rennen zur Arbeit in ein Gespräch verwickeln zu wollen.

Nachdem ich das Kopfsteinpflaster hinter mir habe, erreiche ich den Pfad über die Zugbrücke. Es kostet mich all meine Willenskraft, nicht stehen zu bleiben, um Timmy, den Neufundländer des Beefeaters Charlie, zu streicheln. Die beiden kommen gerade aus dem Festungsgraben, wo Timmy jeden Morgen mit Begeisterung die Seemöwen scheucht.

»Morgen, Schätzchen!«

»Morgen, Charlie. Keine Zeit, Kev reißt mir sonst den Kopf ab!« Er lacht und salutiert scherzhaft, als ich an ihm vorbeirenne.

Timmy will unbedingt mitlaufen. Da er etwa so groß ist wie ein Schwarzbär, trommeln seine Pfoten hörbar auf den Boden, und sein Körper bewegt sich dabei wie eine Welle. Mit seinem wild wedelnden Schwanz könnte er mich glatt umwerfen, und ich muss darüber hinwegspringen. Seine mächtige Zunge hängt ihm seitlich aus dem Maul und hinterlässt einen Speichelfleck auf dem Saum meiner Hose.

Mein Arbeitsplatz ist bereits in Sichtweite, und ich muss nur noch den Gärtner Ben grüßen.

»Guten Morgen, Ben! Der Rasen heute Morgen …« Ich küsse mir die Fingerspitzen in einer übertriebenen Geste absoluten Entzückens.

Er lacht nur und spornt mich an, weiterzulaufen.

Außer Atem betrete ich das Gebäude mit den Ticketschaltern, viel zu spät, als dass es verzeihlich gewesen wäre, und so verschwitzt, als wäre ich in einer Sauna eingeschlafen. Während ich mich an meinen Platz zu schleichen versuche, schaue ich mich verstohlen um. Vielleicht habe ich ja Glück und komme trotz heftiger Verspätung ungeschoren davon? Hoffen darf man ja.

»Margaret Moore …« Ich zucke zusammen – nein, leider Pech gehabt. »Wie kann jemand, der buchstäblich an dem Ort wohnt, an dem er arbeitet, dennoch zu spät kommen? Du magst vielleicht in einer Burg leben, aber erwarte ja nicht, dass ich dich wie die Prinzessin behandle, für die du dich offenbar hältst.« Ich kann meinen Boss hören, bevor ich ihn sehe.

»Es tut mir leid, Kevin, wirklich sehr, sehr leid. Ich habe nicht bemerkt, wie spät –« Er unterbricht mich und fuchtelt mit seiner Hand so dicht vor meinem Gesicht herum, dass ich es riechen kann: Er war bereits im Café, um sich ein Schinkenspecksandwich zu gönnen, und hat anschließend hinter dem Lagerhaus heimlich eine geraucht.

Ich kapituliere. Wenn Kevin in dieser Stimmung ist, hat es keinen Zweck, mit ihm zu reden, und ich weiß bereits, welche Strafe mich erwartet: ein Abstecher in den Keller des White Towers, um die Tageseinnahmen dort in den Safe einzuschließen. Bei dem Gedanken schaudert es mich. Es wäre nur halb so schlimm, wenn dieser Keller nicht schon fast tausend Jahre alt und die Beleuchtung darin nicht wesentlich neuer wäre. Nicht, dass eine modernere Beleuchtung einen großen Unterschied machen würde: Niemand wagt sich die knarzende Treppe hinab, ohne erst die Augen zu schließen und wie ein kleines Kind vor den Ungeheuern davonzurennen, die nach seinen Füßen greifen, wenn es zu Bett geht, und niemand wagt sich tiefer in diesen Keller hinein als unbedingt nötig. Jahrhundertealte Weine, die von längst toten und begrabenen Adligen dort eingelagert wurden, bleiben deshalb unangetastet liegen, weil die instinktive Furcht des Menschen vor der Dunkelheit sie schützt.

Mit einem knappen Schlenker seiner Hand scheucht Kevin mich zu meinem Ticketschalter. Sein unechter Goldreif klappert dabei gegen seine ebenso unechte Rolex. Glücklicherweise sind die einzelnen Schalter durch Wände getrennt und nur von der Straßenseite aus durch die Schalterfenster einzusehen. Man kann mich also nur von draußen dabei beobachten, wie ich seine Gesten spöttisch nachahme. Ich lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen und versuche beim Anblick meines Spiegelbildes in der Glasscheibe vergebens, meine wild gekräuselten Haare zu bändigen. Feuchte Strähnen kleben mir im Gesicht, rote Locken kitzeln meine Nase. Also stecke ich mir meine Mähne, so gut es geht, hinten in den Halsausschnitt, damit sie mir bei der Arbeit nicht in die Quere kommt – und schon beginnt es, am Rücken bis hinab zum Hosenbund zu jucken.

Ich setze ein unechtes Lächeln auf und begrüße meinen ersten Kunden des Tages: »Guten Morgen und willkommen im Königlichen Festungspalast Seiner Majestät, dem Tower von London. Wie viele Tickets darf ich Ihnen ausstellen?«

Der Tag vergeht wie jeder andere: Ich wiederhole immer wieder denselben Satz, so oft, dass ich den Sinn kaum mehr heraushöre, drücke Tasten auf dem Computer, drucke Dinge aus, weiche meinen Kollegen aus und gebe alles, um mir die letzten Reste meiner Seele zu bewahren, bevor dieser Job sie frisst. Heute jedoch wird die Routine unterbrochen durch ein wenig Aufregung, weil ich meinen Slip in der morgendlichen Eile verkehrt herum angezogen habe und diesen immer unbequemer werdenden Fehler bei einer kurzen Toilettenpause beheben muss.

Und als die Zeiger der Uhr endlich langsam dem Ende des Arbeitstages entgegenkriechen, genauer gesagt fünf Minuten vor Schluss, drückt natürlich noch jemand sein Gesicht gegen die Scheibe meines Schalters. Völlig vertieft in das Facebook-Profil einer Frau, die in der Grundschule meine Mitschülerin gewesen war und mit ein paar kryptischen Bemerkungen über den Vater ihrer Kinder meine Neugier geweckt hatte, leiere ich meinen üblichen Text herunter, ohne aufzublicken: »Es tut mir leid, aber der Tower schließt heute um fünf Uhr. Er wird morgen früh um neun wieder geöffnet. Dann können Sie ihn besuchen.«

»Margo, ich bin es …«

Ich erstarre. Nur ein Mensch nennt mich Margo, und genau dem möchte ich jetzt am allerwenigsten begegnen – zumal in meinem derangierten Zustand. Nein, so hatte ich mir das absolut nicht vorgestellt. Noch viel weiter von dem entfernt, was ich mir in den letzten Wochen in meinen Tagträumen als erstes Gespräch nach der Trennung ausgemalt hatte, von meinem »Es-geht-mir-wirklich-großartig-ohne-dich-und-ja-ich-habe-schon-einen-anderen-siehst-du-nicht-wie-ich-Strahle«, könnte diese Situation nicht sein. Dabei hatte ich mich für dieses Zusammentreffen gewappnet. Ich blicke auf in die Augen meines Exfreundes.

Er beugt sich dicht Richtung Glasscheibe. Das Drachen-Tattoo an seinem Handgelenk, das wir zusammen entworfen haben, ist teilweise von mehreren Flechtbändern, ein paar alten Festivalbändern und dem Ärmelbund seines zerknitterten rosa Hemdes verdeckt. Die Ringe, die er an Daumen und Zeigefinger trägt – und die ich ihm nach und nach in den sieben Jahren unserer Beziehung zu Geburts- und Jahrestagen geschenkt habe –, schlagen aufeinander, als er sich die dunklen Haare hinters Ohr streicht.

»Wenn dich irgendwer hier sieht, Bran, endest du verscharrt von zweiunddreißig Beefeaters in dem Festungsgraben hinter dir. Siehst du die Kamera über mir? Ich kann dir garantieren, dass Lesley und Simon vom Sicherheitsdienst dich bereits gesehen und erkannt haben und die Grenadier-Garde in Alarmbereitschaft versetzen, während wir miteinander reden.« Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Lesley und Simon schütten sich vermutlich eher vor Lachen aus, während ihre eigene kleine Realityshow ein ganz klein bisschen interessanter wird. Spätestens morgen früh wissen alle, wirklich alle, dass Bran hier war.

»Margo –«

»Nenn mich nicht so.«

»Maggie, ich möchte doch nur mit dir reden. Die Wohnung fühlt sich so fremd an ohne dich. Es tut mir leid, dass du so empfindest, aber ich habe dir einen Monat Zeit gelassen, genau wie versprochen.«

Eine Zeit lang nach unserer Trennung, nachdem er alle anderen Optionen ausgeschöpft und erkannt hatte, dass sie nicht so verlockend waren, wie sie ihm vorgekommen waren, als sie noch mit dem Adrenalinkick einhergegangen waren, sie hinter dem Rücken seiner Freundin auszukosten, tauchte er mit absoluter Regelmäßigkeit unangemeldet hier auf.

Zu meinem Pech hat Bran einen Job in einem langweiligen Büro im Finanzdistrikt gleich auf der anderen Seite des Flusses gefunden, ist also nur eine Brücke davon entfernt, mir den Tag zu versauen. Ich weiß wirklich nicht, worin seine Arbeit besteht, irgendwas mit Zahlen und Steuern, aber er scheint genug freie Zeit zu haben, um mich zu belästigen. So wichtig kann es also nicht sein. Auf den Tag genau vor einem Monat hatte er mir angekündigt, dreißig Tage lang nicht kommen zu wollen, vermutlich ein Versuch, mich umzustimmen, heißt es doch: »Die Liebe wächst mit der Entfernung.« Und jetzt geht das Theater von vorn los.

Wirklich schlimm aber ist, dass es beinahe funktioniert. Nachdem ich sein Gesicht sieben Jahre lang fast täglich gesehen habe und plötzlich allein gelassen bin mit meinen Grübeleien über alte Erinnerungen, die durch die rosa Brille der Nostalgie strahlender und glücklicher erscheinen, hat er mir tatsächlich gefehlt.

»Komm bitte einfach nach Hause. Dorthin, wohin du gehörst.«

Beinahe muss ich darüber lachen. Ich muss den Versuch meines Exfreundes bewundern, mich davon zu überzeugen, dass unsere Wohnung am Stadtrand von London mit ihren schimmeligen Wänden und heimgesucht von den Gespenstern seiner Untreue mir ein besseres Zuhause ist als mein jetziges in einer königlichen Festung. Es gab einmal eine Zeit, in der eine einzige Sekunde von Feingefühl ausgereicht hätte, um mich zu allem zu überreden – und er weiß das. Das ist sein Trojanisches Pferd, eine Fassade von Intimität, hinter der sich der Schmerz verbirgt, den er mir erst dann zufügen wird, wenn er mich dazu verführt hat, ihm Einlass durch die Mauer zu gewähren, die nur zu einem einzigen Zweck errichtet wurde: ihn draußen zu halten. Während er das Gesicht verzieht wie ein gebrochener Mann, muss ich mich mit aller Gewalt daran erinnern, dass ich lieber bis ans Ende meiner Tage in der steinernen Zelle im Bell Tower verbringen würde, in der Rudolf Heß 1941 vier Tage lang gefangen gehalten wurde, als in dem Bett zu schlafen, das Nacht für Nacht meinen Kummer schlucken musste. Ich will das glauben, will an meine Stärke glauben.

»Ich brauche dich«, haucht er zur Krönung seiner emotionalen Sturmattacke auf mich.

Eine Träne löst sich von seinen dunklen Wimpern und rinnt über sein sonnengebräuntes Gesicht. Er wischt sie nicht weg, lässt sie dort trocknen, um die Mauern zu belagern, die ich seinetwegen errichtet habe. In dieser Träne sehe ich uns, sehe sieben Jahre meines Lebens, sieben Jahre voller Erinnerungen. Er ist alles, was ich kenne, seitdem ich erwachsen bin. Er ist mein Kummer und mein innerer Friede zugleich.

Mein Herz handelt, bevor mein Verstand es aufhalten und an die Reste von Würde und Vernunft ketten kann, die mir geblieben sind. Ich öffne die Tür des Kartenverkaufs, und bevor ich zur Besinnung komme, berührt meine Hand schon sein Gesicht und fängt seine Tränen auf. Das verdammte Trojanische Pferd.

Irgendwo in meinem Hinterkopf schrillen die Alarmglocken, aber es ist bereits zu spät. Es macht mich wütend, wie selbstverständlich sich das anfühlt. Dass ich mich so wohlfühle wie seit Wochen nicht mehr, nur weil ich ihn berühre. Früher konnten wir tagelang im Haus bleiben, in engster Gemeinschaft, zufrieden damit, einfach nur zusammen zu sein. Wenn einem von uns beiden nicht danach war, sich der Welt zu stellen, dann taten wir es eben nicht. Dazu bedurfte es keines einzigen Wortes, wir wussten ganz einfach, wie dem anderen zumute war. Also kuschelten wir uns gemeinsam unter die Bettdecke, sammelten neue Kraft und schafften es so, das nötige Gleichgewicht zu erlangen, um den nächsten Tag zu bewältigen. Als ich Mum verlor, wechselten wir drei Tage lang kein Wort miteinander. Er nahm sich arbeitsfrei und hielt mich einfach fest, bis …

Als er mich in die Arme nimmt, fällt mein Blick auf eine der Kameras, und endlich finde ich in die Wirklichkeit zurück. Die Paranoia gewinnt die Oberhand, und ich muss daran denken, dass jeder, der im Moment am Monitor sitzt und mir dabei zusieht, wie ich meine Würde und meine Kraft verliere, wieder ein wenig mehr die Achtung vor mir verliert. Auch wenn ich glaube, dass sie nicht noch schlechter über mich denken können, als ich das selbst schon tue. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, die widerlichen Beleidigungen, mit denen ich mein eigenes Verhalten verdamme, aber sie schwimmen einfach nur in seinen Tränen herum und werden von der Themse davongetragen.

Er löst sich von mir, mustert mich, beobachtet mich genau. Innerlich fluche ich darüber, wie sehr das Ganze nicht nach Plan verläuft: Es war mir gelungen, mich in der Pause in der Behindertentoilette zu waschen, aber keine Mühe der Welt konnte meine Haare bändigen, und auch die Lavendel-Handseife schaffte es nicht, nach dem morgendlichen Sprint zur Arbeit den Schweißgeruch meiner Bluse zu übertünchen. Mein Spiegelbild in der Scheibe meines Ticketschalters, das ich den ganzen Tag vor Augen hatte, trägt sein Übriges dazu bei, dass mir klar ist: Ich sehe fix und fertig aus.

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass unsere Trennung dich so schwer getroffen hat, Margo«, erklärt er nach kurzem Schweigen.

»Ähm … wie bitte?« Sein Griff ist schwach. Es kostet mich also nicht allzu viel Kraft, mich von ihm zu lösen.

»Du weißt schon: So schwer, dass du dich gehen lässt und so; dass du dir keine Mühe gibst, weil dein Herz gebrochen ist. Du brauchst nicht einmal etwas zu sagen, ich weiß auch so, dass ich dir gefehlt habe.«

Ich starre ihn an. Als ich nicht weiter reagiere, legt er mir die Handflächen auf die glühend roten Wangen und spricht eifrig weiter. »Hast du etwa auch den Appetit verloren? Du wirkst, als hättest du Gewicht verloren … Sieht irgendwie sexy aus.«

Jetzt muss ich mich nicht einmal mehr selbst aus meinem schwachen Moment reißen; er hat es geschafft, das für mich zu tun – einfach, indem er so ist, wie er nun mal ist. Inzwischen muss mein Gesicht puterrot sein. Das ist der Nachteil, wenn man rothaarig ist; ganz gleich, wie gut mir ein Pokerface gelingt, meine sommersprossige Haut lässt sich durch nichts daran hindern, die Farbe zu wechseln wie ein Chamäleon und damit unweigerlich jedes Mal zu offenbaren, was wirklich in mir vorgeht.

»Margo? Ich würde aber doch wenigstens Parfüm verwenden. Du hast doch noch das teure, das ich dir vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt habe, nicht wahr?« Er plappert weiter. Das One-Direction-Parfüm, das er mir vor sechs Jahren gekauft hat, steht im Badezimmer meines Vaters und dient dort als Lufterfrischer … »Das mit dem natürlichen Duft ist nicht ganz so sexy.«

Ich gerate ins Schwanken. Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschrien, hätte ihm jedes Schimpfwort entgegengeschleudert, das ich dank meiner Kindheit auf den verschiedensten Militärstützpunkten aufgeschnappt habe. Aber Bran scheint es immer zu gelingen, mich sprachlos zu machen. Ich traue meinen eigenen Gefühlen nicht, und die Worte bleiben mir im Halse stecken.

Bevor ich meine Sprache wiederfinde, lenkt mich ein rappelndes Geräusch ab. Kevin klopft ungeduldig an das Fenster meines Ticketschalters. Statt das Mikrofon einzuschalten, schreit er unhörbar durch die Sicherheitsverglasung, um mich ohne jeden Zweifel an die Bestrafung zu erinnern, die wegen meiner Verspätung am Morgen auf mich wartet. Und diese Verspätung ist natürlich der wahre Grund, warum ich so aussehe, als ließe ich mich gehen.

Bran streicht mir die Haare zurück, einer seiner Ringe bleibt an einem Knoten hängen. Ich zucke zusammen, weil es ziept, aber – wenig überraschend – er scheint das gar nicht zu bemerken. Er küsst mich auf die Stirn, murmelt etwas wie, er wolle mich nicht länger von der Arbeit abhalten und werde mich bald wiedersehen. Da meine Zunge mich immer noch im Stich lässt, antworte ich mit einem schwachen Lächeln. Und damit dreht er sich auf dem Absatz seines schwarzen Chelsea-Boots um, stolziert davon und ist kurz darauf über den Tower Hill verschwunden. Endlich wieder in der Lage, klar zu denken, und frustriert über meine Schwäche, rufe ich ihm nach beziehungsweise vage in die Richtung seines Abgangs, denn dank seiner verdammt langen Beine ist er inzwischen bestimmt schon an der Tube-Station.

»Ich habe verdammt noch mal kein Gewicht verloren, das sind einfach nur weite Hosen!«

2. Kapitel

Es gibt nichts, was ich nach einer überraschenden Begegnung mit einem Gespenst aus meiner nicht gar so weit zurückliegenden Vergangenheit weniger gern täte als das, was mir jetzt bevorsteht, nämlich, mich direkt in ein Abenteuer mit ein paar echten Gespenstern im White Tower zu stürzen. Leider bleibt mir keine andere Wahl; Kevin hat mich bereits mit einer schäbigen Tasche beladen, die die Tageseinnahmen enthält, und zog bereits an der Bushaltestelle an einer Zigarette, bevor ich auch nur um Gnade flehen konnte.

Also rede ich mir Mut ein und marschiere entschlossen die Water Lane hinunter, während ich in Gedanken alle möglichen Verteidigungsmaßnahmen gegen ein in seiner Ruhe gestörtes Gespenst durchzugehen versuche, das seit ein paar Jahrhunderten in einem Kerker gefangen ist. Die einzige Waffe, die mir zur Verfügung steht, ist ein halb geschmolzener Riegel Snickers aus dem Verkaufsautomaten im Ticketbüro. Damit habe ich keine Chance, es sei denn, der körperlose Geist reagiert allergisch auf Erdnüsse.

Seufzend suche ich nach einer anderen Taktik und rufe mir den weisen Rat meines Vaters in Erinnerung: »Wir stammen aus dem Norden«, pflegte er zu sagen. »Wenn wir es schaffen, eine Unterhaltung mit Londonern zu führen, dann ist es für uns ein Klacks, mit ein paar herumspukenden Geistern zu reden. Sie werden in dir tatsächlich einen Freund sehen, und wir sind es gewohnt, dass man uns nie antwortet.«

Als er mir zum ersten Mal verriet, mit welcher Taktik er Geistern entgegentritt, und das mit todernster Miene, lachte ich über ihn. Ich glaubte, es handle sich um einen jener wunderlichen Einfälle, die er im Fernsehen aufgeschnappt hatte, schaute er sich doch regelmäßig die Dokus zu Verschwörungstheorien auf Channel Twelve an. Aber seitdem er mir das erzählt hat, frage ich jeden Tag den in der Luft schwebenden Staub in meinem Schlafzimmer, wie es ihm geht, wenn ich ein Geräusch höre, das ich mir nicht erklären kann – und er hat recht. Das wirkt beruhigend.

Das Geld lastet unbequem schwer in der Tasche, die ich mir über die Schulter gehängt habe. Die losen Münzen darin klirren bei jedem Schritt, und aller Augen richten sich auf mich, als ich den Mauern meiner Arbeitsstätte entfliehe. Ich kann nichts dagegen tun – dass ich so viel Geld bei mir trage, macht mich ein bisschen nervös. Ich bin Colonel Blood, der einzige Mann, der es jemals geschafft hat, die Kronjuwelen zu stehlen, indem er sie sich in die Hosen steckte, und ich warte nur darauf, dass König Kevin mich gefangen nimmt und ins Verlies wirft. Wenn ich die Wahl zwischen dem Kerker im Bloody Tower und dem Keller im White Tower hätte, würde ich den Kerker jederzeit vorziehen.

Als ich den White Tower erreiche, muss ich zuerst die Waffenkammer durchqueren. Sehnsüchtig schaue ich zu den endlosen Reihen alter Rüstungen, Schilde und Waffen hinüber, während ich immer weiter in den Unterbauch der Festung vordringe. Mit jeder Treppenwindung, die ich tiefer steige, wird das Licht dunkler, bis ich den Keller erreiche, der im Dämmerlicht orange leuchtender Lampen liegt.

Zögernd bleibe ich vor der Tür stehen. Die uralte Eichenholztür ist voller Macken. Obendrein hat man absichtlich tiefe x-förmige Runen oder Hexenzeichen hineingeschnitten, die dazu dienen sollten, böse Geister zu bannen. Nach ein paar Erfahrungen mit den kalten Luftzügen hinter jener Tür glaube ich jedoch, dass der Tower von den mittelalterlichen Zimmerleuten, die diese Zeichen hinterlassen haben, sein Geld zurückfordern sollte.

Ich nehme all meinen Mut zusammen, drücke den Hebel am Türgriff hinunter, rüttele ein wenig daran und kann hören, wie die Verriegelung auf der anderen Seite hochspringt. Metall klirrt auf Metall, und das Geräusch hallt im leeren Raum hinter der Tür mehrfach wider. Mit der Schulter stemme ich mich gegen die Tür, um sie zu öffnen, sie quietscht laut, das Echo wird im Gang mehrfach von den Wänden zurückgeworfen bis in den schwach beleuchteten Bereich, in dem ich stehe.

Die Tasche mit den Münzen an die Brust gedrückt, betrete ich vorsichtig die Treppe. Ich könnte schwören, dass selbst sie es auf jeden abgesehen hat, der sie betritt. Die Stufen sind schief und uneben, fordern einen Sturz geradezu heraus, und ich wünschte, meine Augen würden sich schneller an die Dunkelheit gewöhnen.

Nach fünf Schritten abwärts verspüre ich einen leichten Druck auf meiner Schulter, als hätte jemand seine Hand daraufgelegt. Ich kann nicht sagen, ob sie mich führen oder bedrohen will. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.

»Hallo, du«, sage ich in die Finsternis und hoffe verzweifelt, dass keine Antwort kommt. »Ich werde dich nicht lange stören, versprochen. Kevin zwingt mich dazu – du weißt ja, wie er ist. Ein … echtes … verdammtes … Arschloch!« So plappere ich ins Leere, wechsele immer sprunghafter das Thema, in der Hoffnung, dass die Geister hier unten dieselbe Vorliebe für Genörgel und Gezicke haben wie die Mädchen im Pausenraum.

Ein kalter Windzug streift mein Ohr und bläst mir die Haare ins Gesicht.

»Okay, okay, ich beeile mich, kein Problem. Nein, wirklich, no problemo. Ich werde mich jetzt wirklich beeilen.« Damit renne ich den Rest der Treppe hinunter und schaffe es tatsächlich bis zur letzten Stufe, bevor ich stolpere und mit dem Kopf voran gegen den massiven Stahlsafe falle. Da ich die Tasche mit dem Geld wie einen Schild in den Händen halte, knallt meine Stirn gegen das kalte Metall. Ich muss mehrfach blinzeln, bevor ich wieder etwas sehen kann – so weh tut es.

Unter Flüchen, die die ehemaligen Marinesoldaten in der königlichen Garde mit Stolz erfüllen würden, werfe ich die Tageseinnahmen in den Safe, schlage die Safetür zu und nehme Reißaus. Auf allen vieren krabbele ich die Treppe hinauf.

»Ich wünsche euch noch einen schönen Abend, Nacht allerseits!«, rufe ich meinem Geisterpublikum zu und werfe schwungvoll die Tür hinter mir zu. So schnell meine zitternden Finger es erlauben, verriegele ich die Tür wieder, renne die drei Wendeltreppen hinauf und trete schwer atmend ins Freie. Meine schweißbedeckte Stirn verfärbt sich bereits von dem Zusammenprall mit dem Safe.

Ich sehe mich im Innenhof um. Er liegt verlassen da, nur die Raben hocken noch zusammen. Im Tower ist man nie allein, immer wird man von mindestens einem Paar wachsamer schwarzer Augen beobachtet. Praktisch gehört ihnen die Anlage. Nach einer alten Prophezeiung werden der White Tower einstürzen und das Königreich untergehen, wenn die Raben den Tower von London verlassen. So gesehen, ist es also durchaus beruhigend, sie Sandwichbrocken aus den Abfalleimern stehlen zu sehen oder morgens laut krächzen zu hören – bedeutet es doch angeblich, dass wir alle einen weiteren Tag lang in Sicherheit leben werden.

Ich begegne dem Blick von Regina, einem der Raben, und laufe rot an; offensichtlich hat sie beobachtet, wie ich völlig durch den Wind aus der Tür der Festung geschossen bin, und sich ihr Urteil über mich gebildet. Mit Sicherheit haben auch die Kameras die Szene eingefangen. Ich versuche, diesen Gedanken abzuschütteln, zupfe meine Bluse zurecht und eile über das Kopfsteinpflaster. Die frische Wunde an meiner Stirn brennt unter der Frühlingsbrise, pochender Schmerz zieht sich bis in meine Schläfen. Ich streichle sie leicht mit den Fingern, um den Schmerz zu lindern, wie meine Mutter es tat, als ich noch ein Kind war. Der Placeboeffekt scheint aber nicht so gut zu wirken, wenn ich das selbst tue. Da ich jeden Tag und jede Nacht in diesem alten Gemäuer verbringe, würden meine Füße auch bei geschlossenen Augen den Weg durch das Labyrinth finden, also verstecke ich mich unter meinen Haaren, viel zu peinlich berührt, um meine Dämlichkeit an einem so glanzvollen Ort offen zur Schau zu stellen.

Als ich dem einschüchternden Blick des White Towers entkommen bin, bereite ich mich darauf vor, wie Cinderella die Broadwalk Steps hinabzufliehen – sie liegen jetzt direkt vor mir. Diesen Augenblick meines Tages verkläre ich beinahe jede Nacht in meinen lebhaften Träumen, also schließe ich im Gehen die Augen und beruhige meine Nerven, indem ich mich meiner Fantasie hingebe.

»Au. Oh, Mist. Verdammte Scheiße!«

Wenn ich mir nicht bereits am Safe eine Gehirnerschütterung geholt habe, dann mit Sicherheit jetzt. Eine der viktorianischen Straßenlaternen hat es anscheinend geschafft, etwa zwei Meter nach vorn zu wandern, und ich glaube, dass ich mir beim Zusammenprall sämtliche Knochen neu sortiert habe.

»Du blödes Stück, was in aller Welt machst du nur!«, schimpfe ich mit mir selbst, voller Wut über meine Ungeschicklichkeit.

»Wie bitte?«, faucht die Laterne mich empört an. Ich reiße die Augen auf. Auch wenn ich vielleicht an Geister glaube, bin ich definitiv nicht benommen genug, um zu glauben, dass Straßenlaternen reden können.

Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, um die Quelle der Stimme besser sehen zu können. Ein Mann starrt zurück, und er ist wütend. Er hat sein Mobiltelefon ans Ohr gedrückt, sein Gesichtsausdruck ist starr vor Zorn, seine Kiefermuskeln zucken, so fest beißt er die Zähne zusammen. Auf den ersten Blick verleiht ihm sein maßgeschneiderter, offen getragener Blazer, unter dem ein tadellos gebügeltes weißes Hemd hervorleuchtet, eine gewisse Autorität; vor mir steht einer der Männer, denen man sich sofort unterordnet. Aber bei näherer Betrachtung kann er kaum älter sein als ich. Sein kastanienbraunes Haar ist an den Seiten kurz und sauber rasiert, aber oben auf dem Kopf sitzen weiche Locken, die er offensichtlich, aber vergebens zu zähmen versucht hat.

Was mir wirklich für einen Moment den Atem verschlägt, sind jedoch seine Augen, Feuerräder aus Jade und Pietersit, die wie polierte Edelsteine unter seinen dunklen Wimpern hervorblitzen. Ich folge ihren winzigen Bewegungen wie dem Pendel eines Hypnotiseurs. Nur sein immer stärkeres Stirnrunzeln reißt mich aus meiner Trance, und mir wird schlagartig klar, dass ich ihn schon einige Zeit mit offenem Mund anstarre. Na, toll, Maggie, das hast du fein hingekriegt. Jetzt stehst du nicht nur wie ein Clown vor dem attraktivsten Mann, der dir jemals vor Augen gekommen ist, nein, er muss dich obendrein für eine komplette Idiotin halten.

Endlich komme ich wieder zur Besinnung, und mir wird bewusst, dass ihm durch den Zusammenstoß mit mir ein glänzendes Holzkästchen aus den Händen gefallen ist, das jetzt mit aufgesprungenem Deckel auf dem Pflaster liegt. Der eindeutig teure Inhalt schimmert im schwachen Licht der Nacht. Mir wird ganz anders. Gleichzeitig bücken wir uns eilig, um das Kästchen aufzuheben; seine Lockenmähne hilft leider nicht, den Zusammenprall abzumildern, als wir dabei mit den Köpfen zusammenstoßen. Meinen ohnehin schon geschundenen Schädel durchzuckt ein stechender Schmerz, und vor meinen Augen sehe ich Sterne. Der Fremde verzieht ebenfalls vor Schmerz das Gesicht, als mir auffällt, dass er mit den Händen meine Arme gepackt hat und nur dieser Umstand mich davor bewahrt, rücklings aufs Pflaster zu fallen.

Unbeholfen befreie ich mich aus seinem Griff und versuche erneut, das Kästchen aufzuheben, aber natürlich ist er dank seiner langen Glieder schneller als ich, klappt den Deckel zu und klemmt meine Finger ein, bevor ich sie zurückziehen kann. Das tut so weh, dass ich zischend die Luft einziehe und die Fingerspitzen mit den abgekauten Nägeln in die Handfläche presse, um den Schmerz zu lindern. Der einzige positive Aspekt dieser Begegnung besteht darin, dass meine gemarterten Fingerspitzen es gut schaffen, mich von den pochenden Schmerzen in meinem Kopf abzulenken.

Sein Telefon noch immer mit der Schulter ans Ohr gedrückt, nimmt der Mann ohne sichtbare Regung die Unterhaltung mit seinem unsichtbaren Gesprächspartner wieder auf. Er achtet nicht darauf, wie ich meine schmerzenden Fingerspitzen umklammere.

»Ich rufe dich zurück, Vater. Ja, ich habe es bei mir. Ja, Sir.« Er richtet sich zu voller Größe auf und schiebt sein Mobiltelefon in seine Tasche.

»Oh, verflixt, nein. Es tut mir so leid, ich habe nicht … ich wollte nicht … ich«, gerate ich ins Stottern, als er mir seine volle Aufmerksamkeit schenkt.

»Wofür halten Sie sich eigentlich, so mit mir zu reden? Und schauen Sie nicht, wohin Sie gehen?«

Seine Aussprache ist Silbe für Silbe perfekt, von Umgangssprache keine Spur. Er könnte vermutlich sogar den König beleidigen, und dieser wäre beeindruckt von seiner Aussprache und Betonung. In dem Moment fällt mir wieder ein, wo wir uns befinden – in Sichtweite vom King’s House, der Residenz des Konstablers des Towers. Der Mann, der in diesen Mauern wohnt, ist Lord Herbert, die Augen und Ohren des Monarchen. Der Ruhestand des ehemaligen Oberbefehlshabers der gesamten Britischen Armee besteht darin, im Tower Dinnerpartys für jeden wichtigen Mann, jede wichtige Frau und jedes wichtige Kind zu veranstalten, die ihren Fuß auf britischen Boden setzen. Und ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass ich gerade einen seiner Gäste beleidigt habe. Vielleicht handelt es sich um einen Gentleman von Adel? Oder doch mindestens um einen reichen Botschafter irgendeines Landes, das mich verschwinden lassen kann, bevor am nächsten Morgen die Sonne aufgeht.

Er wirft einen Blick auf das Holzkästchen in seinen Händen; auf einer Seite ist es leicht beschädigt, unter abgeplatztem Lack zeigen sich Holzsplitter. Sichtlich betrübt, streicht er sich mit der Hand durchs Haar. Er wendet den Blick nur von mir ab, um sich in die Nasenwurzel zu kneifen, und grummelt etwas vor sich hin. Seine harte Selbstbeherrschung gerät ins Wanken, als er sich erneut bückt, um die Holzsplitter aufzusammeln, die noch am Boden liegen. Mir schnürt sich die Kehle zu, und ich weiß selbst nicht, ob ich weinen soll oder mir übel wird.

»Nein, Sir, so war es wirklich nicht. Ich habe Sie nicht beleidigt. Ich habe mit mir selbst geredet!« Ich gebe mir allergrößte Mühe, meinen Yorkshire-Dialekt in meiner Entschuldigung zu unterdrücken, aber ich habe keine Chance, mein Vergehen wiedergutzumachen. Ich bin erledigt. Dennoch deute ich auf das Kästchen. »Ich kann bezahlen! Für ein neues …«

Das ist eine glatte Lüge. Wenn das Kästchen so teuer ist, wie es aussieht, müsste ich eine Bank ausrauben, um es ersetzen zu können. Glücklicherweise reagiert er nicht auf mein Gestammel und öffnet das Kästchen, um seinen Inhalt unter die Lupe zu nehmen. Eine Reihe von Saphiren, aufgereiht auf einer zarten Silberkette, glitzert darin. Der Mann stößt einen Seufzer aus, der anscheinend Erleichterung ausdrückt, während ich angstvoll so tief Luft hole, dass es mir fast den Boden unter den Füßen wegzieht. Nachdem er die kostbaren Edelsteine wieder ordentlich zurechtgerückt hat, fährt er sich mit der Hand durch die Haare, und bevor ich noch irgendetwas sagen kann, um mich aus dem Schlamassel zu befreien, in den ich mich hineingeritten habe, dreht sich dieser einschüchternd attraktive Mann einfach um und marschiert in seinen auf Hochglanz polierten Schuhen davon.

Meine Hände zittern ein wenig, während ich zusehe, wie er über den Innenhof geht; die Fingerspitzen schmerzen, als ich sie ausschüttele, um das leichte Stechen loszuwerden, das mir diese Begegnung eingetragen hat. Während ich ihm noch nachschaue, schlägt die goldene Uhr des Waterloo Blocks sechs. Sie thront zwischen zwei Türmen über dem Haupteingang des größten Einzelgebäudes der Festung, das sich entlang des inneren Festungsrings fast über die ganze Nordseite erstreckt. Hinter diesem Gebäude verschwindet der Fremde. Als ich seinen breiten Rücken nicht mehr sehe und den harten Klang seiner Schritte auf den Pflastersteinen nicht mehr höre, fliehe ich so schnell, dass ich völlig außer Atem durch unsere Haustür stolpere.

»Alles in Ordnung, Maggie, Schätzchen?«, ruft Dad mir von seinem Ohrensessel im Obergeschoss zu. »Hast du dich verlaufen?« Ich kann das Lächeln in seiner Stimme hören.

»Kevin … schon wieder …«, rufe ich nach oben. Er antwortet nicht, aber ich höre seinen tiefen Bass und stelle mir vor, wie er vor sich hin grummelt, was ihm alles an meinem Boss ganz und gar nicht gefällt.

Tatsächlich ist Dad der Grund, warum Kevin schon wenige Wochen nach meinem Arbeitsantritt eine solche Antipathie gegen mich entwickelt hat. Mein Dad hat ihn in einer heiklen Situation mit dem Deputy Governor hinter dem Waterloo Block erwischt. Dad erzählte weder mir noch sonst jemandem davon – jedenfalls nicht, bevor ohnehin bereits der Klatsch blühte und alle Bescheid wussten –, aber als die Affäre ein paar Wochen später bekannt wurde, rechnete Kevin zwei und zwei zusammen, kam dabei auf fünf und erwählte mich spontan zu seinem Sündenbock. Seitdem gibt er sich allergrößte Mühe, mir meine Arbeitstage unangenehmer zu machen als eine Nacht mit Heinrich VIII., und natürlich folgen all seine loyalen Untergebenen – also meine Kolleginnen – seinem Beispiel.

Ohne Dads Überlegungen zu diesem Thema zu unterbrechen, stelle ich mich sofort unter die Dusche. Das heiße Wasser geht bereits zur Neige, als ich endlich spüre, wie mein Blutdruck zum ersten Mal seit dem Aufwachen heute Früh auf ein gesundes Niveau absinkt.

Jetzt, wo ich nicht länger rieche wie die Jungenumkleide in meiner alten Highschool, sitze ich schweigend auf meinem Balkon, vor mir auf der Brüstung eine dringend benötigte dampfende Tasse Tee mit Milch und einem Stückchen Zucker.

Lucie, die jüngste und lebhafteste der Raben, hockt auf einer Zinne und beobachtet mich. Ihre schwarzen Federn leuchten blau im Mondlicht, als sie sich schüttelt und sie mit ihrem langen Schnabel sorgsam ordnet. Hinter mir stößt Cromwell ein leises Jaulen aus, während er aus dem Fenster meines Schlafzimmers starrt. Sein Frust, hinter einer Glasscheibe gefangen zu sein, statt dem frechen Vogel draußen an die Federn gehen zu können, ist seinem felligen Gesicht anzusehen. Er hat ja keine Ahnung, dass ich damit in Wirklichkeit ihn schütze. Lucie, immerhin so groß wie ein Jack Russell, thront majestätisch auf ihrer Zinne. Wenn sie Gelegenheit dazu erhielte, würde sie meinen Kater als pelzigen Snack im Ganzen schlucken.

Sie hüpft über die Mauer, schwatzt mit mir, bevor sie leicht mit ihrem Schnabel gegen den Ärmel meines Schlafanzugs tippt. Ich streiche ihr mit einem Finger über den Kopf, so wie sie es am liebsten mag, und sie lässt ein zufrieden-melodisches Klicken vernehmen. Cromwell bearbeitet immer noch mit den Pfoten die Fensterscheibe und leckt ab und zu daran, um seine Bitte um Hilfe zu betonen. Er ist eifersüchtig, weil ich ihn nicht beachte.

»Er ist genauso ein Dummerchen wie seine Mutter.« Mit dem Kopf deute ich kurz auf die Speichelspuren am Fenster. Lucie starrt mich weiter an, als ob sie mir zuhört und versteht, was ich sage.

»Warum kann ich nicht wenigstens einmal einen normalen Tag haben, hmm? Ich schätze, der heutige toppt aber alles.«

Bei diesen Worten reibe ich mir die Beule an der Stirn und kann nicht sagen, ob ich zusammenzucke, weil es wehtut oder weil der Schmerz mich daran erinnert, wie peinlich das Ganze war. Ich führe die dampfende Teetasse an meine Lippen und seufze leicht. Der Lufthauch bläst den Dampf aus meinem Gesicht.

»Weißt du, manchmal wünschte ich mir, ich wäre auch ein Vogel. Ich würde wegfliegen, bevor mir jemand zu nahe kommen kann, einfach auf der höchsten Mauer sitzen und das Chaos von oben beobachten. Obwohl, so, wie ich mich kenne, wäre ich vermutlich der erste Vogel, der unter Höhenangst leidet, und würde ewig im Nest hocken bleiben, bis mich schließlich ein Sturm hinausbläst.«

Lucys glänzende schwarze Augen sind immer noch fest auf mich gerichtet, als sie den Kopf fragend schief legt.

»Also gut, pass auf, ich erzähle dir, was passiert ist.«

3. Kapitel

Erst als der Wecker am nächsten Morgen zum dritten Mal klingelt, reißt er mich endlich aus meinen nächtlichen Träumen. Ich quäle mich aus dem Bett; unter keinen Umständen gönne ich Kevin die Befriedigung, mir schon wieder eine Strafe aufzuhalsen, weil ich zu spät komme. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass aus der Beule ein hübsches schwarz-purpurnes Veilchen geworden ist, das mein rechtes Auge umfasst, als hätte ich versucht, mir mit geschlossenen Augen mit Filzstift ein Tattoo à la Mike Tyson nach einem Boxkampf zu malen. Die Ereignisse vom Abend zuvor gehen mir immer noch durch den Kopf, als ich unter die Dusche gehe. Mich arbeitsfertig zu machen kostet eine gute Stunde. Ich flechte mir die Haare, um sie aus dem Gesicht zu bekommen, und bügle meine Uniform, während ich zugleich versuche, die Erinnerung an die zornig blickenden Augen des Fremden abzuschütteln.

Kurz stecke ich den Kopf durch die Tür ins Wohnzimmer und verabschiede mich von Dad. Er sitzt in seinem Lehnstuhl in der Ecke, einen leeren Teller in der Hand, der wenig dazu beiträgt, die Krümel der Doppelkekse mit Vanillefüllung aufzufangen, die in seinem Bart hängen bleiben wie Fliegen in einem Spinnennetz. Seine roten Hosenträger spannen sich heute über ein anderes grellbuntes T-Shirt. Er winkt mir geistesabwesend zu, viel zu vertieft in die Wiederholung eines Krimis aus den Achtzigern, und murmelt, dass er früher die gleichen Schuhe und die gleiche Frisur trug wie der Kommissar im Film.

Pünktlich wie immer ist Richie bereits draußen und versorgt sein Blumenbeet.

»Morgen!«, rufe ich ihm lächelnd zu. Er ist so damit beschäftigt, die verwelkten und abgefallenen Blütenblätter seiner Rosen aufzusammeln, dass er überrascht wirkt, als er mich sieht – obwohl, ganz ehrlich, der Umstand, dass ich tatsächlich halbwegs wie ein Mensch aussehe und heute Morgen nicht wie üblich aus der Haustür sprinte, könnte ohne Weiteres der wahre Grund für seine Überraschung sein. Er winkt mir zu und antwortet etwas mit breitem cornischem Akzent, sodass ich einen Moment brauche, um im Geiste zu übersetzen, was er gesagt hat. In einem anderen Leben könnte ich ihn mir als Bauern vorstellen, der Tag für Tag die Reihen seiner neuen Ernte abschreitet und dabei mit einem Akzent vor sich hinmurmelt, den nur der Boden und die Vögel verstehen können.

Da ich bis zum Schichtbeginn noch zehn Minuten Zeit habe, entscheide ich mich für die landschaftlich schöne Route zur Arbeit. Dieses Mal schlüpfe ich hinter die Garagen, bevor ich die östliche Bastion erreiche, und gehe die Treppe hinauf, die zu einem versteckten Durchgang gehört. Wie jede Treppe an diesem Ort hat sie ihr eigenes eingebautes Verteidigungssystem mit einer beinahe hundertprozentigen Erfolgsquote: Die Stufen sind so unregelmäßig und schief, dass ich kaum drei Stufen nacheinander bewältigen kann, ohne mich auf die Nase zu legen. Der Durchgang ist breit, aber ein von allen Seiten umschlossener Tunnel. Die nackten Ziegelsteine sind ständig feucht, und der gespenstische Klang fallender Tropfen mischt sich mit dem Echo meiner Schritte. In der Ecke glimmt ein oranges Licht und wirft Schlagschatten überall dort, wo es auf Ecken und Unebenheiten trifft.

Erst als ich das Licht am Ende des Durchgangs erblicke, überfällt mich ein leiser Anfall von Furcht. Wo der Tunnel sich oben öffnet, hängen ein paar Pavianskulpturen aus feinem Maschendraht an den Wänden. Ihre Mäuler sind zu einem urzeitlichen Schrei geöffnet, ihre grausamen Zähne funkeln in der Morgensonne. Diesen Tunnel benutze ich genau aus diesem Grund niemals nachts. Im Mondlicht scheinen sich die Körper nämlich zu verwandeln. Die Sterne leuchten durch die aus Maschendraht geformten Augen, und die Figuren wirken plötzlich bedrohlich. Unweigerlich muss ich mir vorstellen, dass sie dann zum Leben erwachen, so wie in »Nachts im Museum«, auf dem Gelände des Towers Chaos und Verwüstung anrichten und dabei alle vernichten.

Vor langer Zeit lebten im Tower wirklich solche Kreaturen, damals, als es noch eine Menagerie dort gab. Sie beherbergte allerlei exotische Tiere, Geschenke von Monarchen an Monarchen, in Ketten hinter den Mauern: Elefanten, Löwen, Eisbären und Affen, alle gleichermaßen gefangen und sich selbst überlassen, sodass sie sich gegenseitig töten und alles andere gleich mit zerstören konnten. Sie hätten mir ja leidgetan, wenn die Skulpturen, die zur Erinnerung an sie hier angebracht wurden, mir – einer erwachsenen Steuerzahlerin – nicht Angst vor feinem Maschendraht eingejagt hätten.

Als ich die Pavianparade hinter mir habe, bin ich wieder im Innenhof und stehe erneut vor dem White Tower. Im Morgenlicht sieht das steinerne Gemäuer besonders erhaben aus. Jeder bröckelnde Stein leuchtet wie die Juwelen in einer Krone: jeder für sich betrachtet wunderschön in seiner Einzigartigkeit, aber zusammen ein Gebäude von blendender Pracht. Ganz oben weht der Union Jack stolz über der Stadt. Obwohl er längst von gläsernen Wolkenkratzern voller eintönig in Beige und Rosébeige gehaltener Büros überragt wird, wehrt der Tower sich standhaft dagegen, vor dieser Kulisse unterzugehen. Mag er auch nicht so hoch und elegant sein wie seine Nachbarn, so wohnt ihm doch eine historische Stärke inne, die sich nicht nachahmen lässt. Wenn man vor ihm steht, gibt es kein imposanteres, kein prachtvolleres Gebäude als den White Tower. In seinem Schatten fühlt man sich, als wäre man in eine andere Zeit zurückversetzt; ihn anzuschauen kommt einem bereits wie ein Privileg vor, das eigentlich nur der königlichen Familie zusteht.

Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und mit Besen und Müllgreifern ausgestattet, fechten die Reinigungskräfte ihren nie endenden Kampf gegen den Unrat aus, damit der Boden der Schönheit des Towers keinen Abbruch tut. Ich wünsche jedem einzelnen von ihnen einen guten Morgen, und sie lächeln so fröhlich, dass man ihnen nicht ansieht, dass ihr Arbeitstag schon lange vor Sonnenaufgang begonnen hat.

Einer der Arbeiter schaltet seinen Laubbläser aus, um mich anzusprechen. »Ich habe gesehen, wie du gestern Abend gestürzt bist! Geht es dir gut?« Ich habe weder sein Gesicht schon mal gesehen, noch kenne ich seinen Namen, aber vermutlich weiß er dank der Rund-um-die-Uhr-Überwachung mehr über mich als ich selbst. So etwas passiert häufig, genau deshalb sind meine Träume von Abgeschiedenheit so tröstlich für mich. Auf diesen Kopfsteinpflasterstraßen zu gehen, in dem Wissen, immer Zuschauer zu haben, macht selbst einen Abstecher zum Einkaufen zu einem Angst einflößenden Unterfangen, zumal wenn man so tollpatschig ist wie ich.

Um mein Gesicht zu wahren, deute ich auf mein blaues Auge und lache. »Nur ein kleines Veilchen, das hauptsächlich meinen Stolz verletzt. Ansonsten geht es mir gut, danke.« Mein Lächeln ist übertrieben und falsch, als er lacht. Ich bleibe nicht stehen, um mich mit ihm zu unterhalten. Es ist nett von ihm, mich nach meinem Befinden zu fragen, aber er hat mir damit nur wieder vor Augen geführt, wie peinlich das Ganze ist.

Als ich mich dem Waterloo Block mit dem Jewel House darin nähere, stelle ich fest, dass die Königliche Garde bereits auf ihren Posten steht. Die Gardisten sehen alle exakt gleich aus, unbeweglich in ihrer vorgeschriebenen Haltung. Ich kann kaum einen Funken Leben in ihnen erkennen, obwohl noch gar keine Touristen da sind, die jede ihrer Bewegungen mit Argusaugen beobachten und Ausschau nach Lebenszeichen halten. Ihre roten Uniformröcke sind mit goldenen Knöpfen besetzt, die so blank geputzt sind, dass sich der Tower in jedem einzelnen Knopf spiegelt. Jeder Gardist trägt ein Gewehr, aufgestützt in der linken Handfläche, das scharfe Bajonett am Rand ihres Gesichtsfeldes. Es ist ersichtlich, dass die Bajonettklingen von ihren jeweiligen Besitzern stundenlang poliert werden; die Klingenspitzen fangen das Licht ein und scheinen zu glühen. Die Bärenfellmützen verbergen weitestgehend ihre Gesichter, und ich bin sicher, dass das tiefschwarze Fell an den Ohren kitzelt. Es sieht jedenfalls wie der lästigste Haarpony aus, den man sich vorstellen kann. Ich würde diesen Dienst keine Minute durchhalten, ohne zu versuchen, mir die Haare wie ein frustriertes Kleinkind aus den Augen zu pusten.

Fünf verschiedene Infanterieregimenter stellen reihum die Gardisten, die hier Wache stehen: die Coldstream-, die Grenadier-, die Schottische, die Waliser und die Irische Garde. Sie halten rotierend jeweils ein paar Tage lang Wache bei den königlichen Palästen von London, sichern die Anlagen, die Gebäude und deren kostbaren Inhalt. Manchmal übernehmen auch die Royal Air Force, die Royal Navy und die Gurkhas eine Wachperiode; dann bieten die blaugrauen Uniformen der Royal Air Force, die blendend weißen Mützen der Royal Navy und die krummschneidigen Khukuri der Gurkhas eine willkommene Abwechslung.

Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich immer noch Zeit habe. Also beobachte ich die beiden Gardisten, die heute Wache stehen, eine Weile und versuche zu erkennen, zu welchem Regiment sie gehören. Anhand ihrer Uniformen komme ich zu dem Schluss, dass sie zur Grenadier-Garde gehören. Das unkundige Auge sieht in den Uniformen der verschiedenen Regimenter keine Unterschiede, aber ich kann erkennen, dass diese Jungs Grens sind, denn eine weiße Feder steckt seitlich an ihrer Bärenfellmütze, und ihre Kragen sind beidseitig mit dem »grenade fired proper«, einer stilisierten feuernden Granate, bestickt, die für mich allerdings eher aussieht wie ein Federball.

Ohne die Touristen wirkt die Szene zeitlos, und wie die beiden Gardisten dastehen, sind sie ein inspirierendes Motiv für ein Ölgemälde; wenn ich diesen Augenblick so festhalten könnte, wäre es nicht weiter schwierig, jemanden davon zu überzeugen, dass das Gemälde Jahrhunderte alt ist.

Schließlich gehe ich weiter, an ihnen vorbei, und mustere ihre Uniformen wie ein Offizier, der bereit ist, sie zu seiner Majestät zu schicken, damit er sie inspiziert. Ich bin beim zweiten der beiden angelangt, und mir fällt auf, dass er etwas größer ist als der andere. Seine Nase ist stark und gerade, seine Kieferpartie so scharf geschnitten, dass es aussieht, als könnte sie die Kinnkette seiner Bärenfellmütze durchschneiden. Er ist in jeder Hinsicht das perfekte Modell eines Soldaten. Das Blaugrün seiner Augen scheint aus seinem blassen Gesicht zu leuchten, während er versucht, sie möglichst wenig zu bewegen; lediglich ein langsamer Lidschlag unterbricht hin und wieder den disziplinierten Blick nach vorn.

Etwas an diesen Augen kommt mir bekannt vor. Die Uniform und die Haltung habe ich schon Tausende Male an vielen Männern gesehen, aber diese Augen fallen mir unwillkürlich auf … Ich schüttele den Kopf. Vermutlich bin ich ihm einfach schon mal hier begegnet. Es gelingt mir ganz gut, mir einige der gut aussehenden Soldaten, die abwechselnd hier Wache stehen, einzuprägen (und meiner Fantasie freien Lauf zu lassen); da war zum Beispiel eine geradezu umwerfende Gruppe Kanadier, die nur einmal hier Dienst tat, und ich weiß noch sehr gut, dass es mir in der Zeit noch schwerer als sonst fiel, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, weil ich mich einfach zu lange damit aufhielt, ihre herrlich breiten Schultern zu bewundern. Gelegentlich frage ich meinen Dad, ob geplant sei, dass sie bald mal wiederkommen, aber es macht mir auch nicht das Geringste aus, mich mit diesen beiden Grenadieren zufriedenzugeben, die heute hier stehen.

Kurz nachdem ich an dem Gardisten vorbeigegangen bin, bleibe ich abrupt stehen. Nein. Das kann nicht sein. Er kann es einfach nicht sein. Diese Augen. Ich erinnere mich glasklar an diese Augen. Einen Augenblick lang vergesse ich, wo ich bin, und gehe ein paar Schritte rückwärts, bis ich dem Gardisten gegenüberstehe. Seine breite Brust in der roten Uniformjacke überragt mich, während ich ihm angestrengt ins Gesicht schaue. Tatsächlich, er ist es. Lord Laternenpfahl – der furchterregende piekfeine Herr, den ich in meiner Blödheit beinahe über den Haufen gerannt hätte. Unbewusst reibe ich meine Fingerspitzen, deren blutunterlaufene Nägel mich daran erinnern, dass ich die unangenehme Begegnung nicht nur geträumt habe.

Aber wie ist das möglich? Ein Gentleman, dessen Aussprache und Betonung jedem Prinzen zur Ehre gereichen würde und von dem ich geglaubt hatte, er könne die politische Macht haben, mich verschwinden zu lassen, ist ein … Gardist? Ein Infanteriesoldat? Nicht falsch verstehen, das ist ein sehr respektabler Job, aber einer, der normalerweise von Vertretern der Arbeiterklasse ausgeführt wird, die es in der Schule nicht gerade leicht hatten und ein wenig mehr Disziplin gebrauchen können. Obwohl, wenn ich an seine Unfreundlichkeit denke, dann wirkt auch er wie jemand, dem ein paar zusätzliche Unterrichtsstunden in Höflichkeit ganz guttäten.

Bevor ich die Information verarbeiten kann, dass man mich nicht dafür verhaften wird, aus Versehen ein Mitglied der königlichen Familie angegriffen zu haben, sehe ich etwas in diesem starren Gesicht … ein Zwinkern?

Er hat mir gerade zugezwinkert!

Ich quietsche überrascht auf, stolpere über meine eigenen Füße und sehe zu, dass ich so schnell wie möglich fortkomme. Warum zum Teufel bin ich so dumm zu vergessen, dass unter all der Wolle und dem Pelz tatsächlich ein Mensch steckt? Ein Mensch, der mich genauso gut sehen kann wie ich ihn! Mit den Händen fächle ich mir Luft ins Gesicht, das vor Scham knallrot angelaufen ist. Kann ich nicht wenigstens einen Tag lang einfach nur sein, ohne dass es zu einem katastrophalen sozialen Zwischenfall kommt? Es ist noch nicht mal neun Uhr morgens!

Als ich meinen Arbeitsplatz erreiche, muss Kevin natürlich alles noch schlimmer machen, indem er kommentiert, wie rot mein Gesicht sei, was natürlich dazu führt, dass ich noch tiefer erröte. Aber ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, dieses dumme Zwinkern immer wieder vor meinem geistigen Auge abzuspielen, um auf seine Bemerkung zu reagieren, und lasse mich auf meinen Stuhl fallen. Der heftige Aufprall, zweifellos noch verstärkt von der stetig wachsenden Last meiner Scham, entlockt dem alten Stuhl eine Art dämonisches Kreischen, und ich bete still zu den Göttern, dass er mich aus meinem Elend erlöst und das kratzige Stuhlkissen mich einfach schluckt. Obwohl, wenn ich darüber nachdenke, dann bin ich mir fast sicher, dass Kevin mir seinen Stuhl untergejubelt hat wie schon so ziemlich jedem im Büro, weil er das Sitzmöbel unbedingt loswerden will. Der Gedanke, einer Sache so nahe zu sein, auf der er mit seinem breiten Hintern gesessen hat, gefällt mir ganz und gar nicht.

Ich logge mich in meinen Computer ein, und im Browser öffnen sich automatisch die mir wohlvertrauten Tabs. Ich habe vier verschiedene Seiten für die Jobsuche ständig offen und nutze jede freie Minute am Tag, mich auf Stellen zu bewerben, die ich gern für den Rest meines Lebens ausfüllen würde. An diesem Morgen erscheint auf den Seiten auch nach mindestens dreimaligem Neuladen nicht ein Angebot, das mir den dringend benötigten Ausweg aus meiner Beschämung oder meiner Stagnation eröffnen könnte.

Kurz darauf hält mich ein Kunde am Fenster davon ab, weiter die Liste der Absagen auf meine Bewerbungen durchzugehen, die mittlerweile schon schrecklich lang ist. Ein Mann klopft an die Scheibe, die Lippen missbilligend gekräuselt und mürrisch vor sich hin grummelnd. Ich schätze, mir bleibt nichts anderes übrig, als meinen Job zu tun. Also setze ich mein bestes gekünsteltes Lächeln auf und zu meinem üblichen Gruß an: »Guten Morgen, Sir. Willk–«

»Zwei Erwachsene, drei Kinder. Sie haben mich schon lange genug warten lassen, also ein bisschen Beeilung, bitte.«

Mein Lächeln wird zur Grimasse, als ich mich meinem Computer zuwende. Ich minimiere den Tab »Jobs: Denkmalpfleger«, reduziere mich auf meinen derzeitigen Job und tue, was mein wunderbarer Kunde verlangt.

Nach dem hundertsten Kunden, einer so charmant wie der andere, ist mein Mund trocken vom gezwungenen Lächeln. Ich flüchte mich in die Küche, und im Geiste bin ich wieder bei heute Morgen und nehme meine Selbstgespräche wieder auf, die trotz zahl- und abwechslungsreicher Formulierungen nur eine immer gleiche Aussage haben: Du dämlicher Pavian!

Da mir heute keine quälende Strafe auferlegt ist, entscheide ich bei Feierabend um fünf, einen Spaziergang zum Haustierfriedhof des Towers zu machen – der praktischerweise so weit von den Schilderhäuschen der Gardisten entfernt liegt wie nur möglich. Ich habe zwar keine Vorliebe für schaurige Friedhofsausflüge im Stil von Mary Shelley, aber der Haustierfriedhof ist ein abgeschiedener, sehr friedlicher Ort. Nicht viele wissen von seiner Existenz, sodass man hier seine Ruhe finden kann, wenn einem der Trubel im Dorf hinter den Mauern zu viel wird. Auch hier begleitet einen immer das rot blinkende Auge der Kamera in der Ecke, aber dem entkommt man sowieso nur auf der Toilette. Man gewöhnt sich also daran, ständig beobachtet zu werden.

Der Haustierfriedhof liegt in einem ruhigen, überwucherten Abschnitt des Festungsgrabens. Vor ein paar Hundert Jahren musste der Verteidigungsgraben in einen Garten umgewandelt werden, nachdem er zu Londons größter Jauchegrube verkommen war und schließlich mehr Menschen im Tower tötete als widerrechtliche Eindringlinge von außen. Dieser Teil des Festungsgrabens ist nicht ganz so breit wie der Rest, und die dichte Vegetation, gesäumt von hohen Mauern, vermittelt ein Gefühl der Abgeschiedenheit – wie ein winziger Wald mitten in der Innenstadt.

Kleine Grabsteine säumen den Fuß der Mauern, und die eingemeißelten Namen von Katzen und Hunden aus vergangener Zeit lugen unter ihren Decken aus Moos hervor. An der Rückseite des Friedhofs steht eine Bank, die vom Efeu verschluckt worden ist. Die Ranken winden sich so fest um die Holzplanken, dass es so aussieht, als wäre die Bank direkt aus dem Boden gewachsen und Mutter Natur selbst hätte sie ge...

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