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Flammenmädchen

Die Young-Adult-Serie aus der Feder von Spiegel-Bestsellerautorin
Samantha Young!

Bislang war Aris größtes Problem die zerbrochene Beziehung zu Charlie, ihrem bestem Freund und ihrer heimlichen Liebe. Doch in der Nacht ihres 18. Geburtstags findet sie sich unvermutet in Mount Qaf wieder, dem Reich der Dschinn. Und nach dem, was sie dort über ihre wahre Herkunft erfährt, hat sie ganz andere Sorgen. Denn plötzlich steckt sie mitten im Machtkampf der Feuergeister. Bodyguard Jai soll sie beschützen. Aber vor wem? Und für wen? Kann Ari dem arroganten
jungen Dschinn mit den faszinierenden grünen Augen wirklich trauen? Und warum ist Charlie auf einmal wieder so interessiert an ihr - und ihren neuen Kräften?


  • Erscheinungstag: 15.11.2019
  • Aus der Serie: Fire Spirits
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751703
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Samantha Young

Flammenmädchen

Roman

Übersetzung aus dem Englischen von
Alexandra Hinrichsen

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MIRA® TASCHENBÜCHER

MIRA ® Taschenbücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Jürgen Welte

Copyright dieses eBooks © 2019 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

Smokeless Fire

Copyright © 2011 Samantha Young

Titelabbildung: sakkmesterke, cla78 / Getty Images

ISBN 9783745751703

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

PROLOG

DIE STERNE SIND NICHT WILLKOMMEN, ABER DER HIMMEL WIRD SICH FÜGEN

Ihre Augen versuchten, ihn zu bezwingen. Ganz gleich, wohin er auch sah, diese Augen spiegelten sich auf dem kalten Glas und Marmor in seinem Haus. Augen, die sich mit allen Farben dieses Reichs und aller anderen vereinigten. Augen, die zweifellos schon manchen tapferen Feind besiegt hatten. Heute Nacht würde er so tun, als hätten sie auch ihn überwältigt.

Was danach geschehen würde, spielte für ihn keine Rolle.

Es spielte keine Rolle, außer Er entschied anders.

Erster Teil

1. KAPITEL

GEIST IN DER SEELE

Ari sah zu, wie Mr Dillon den Galgen samt hängendem Männchen von der Tafel wischte. Das arme Wesen hatte sterben müssen, weil die Klasse nicht auf „akkumulierte Abschreibung“ gekommen war, um das Rätsel zu lösen. Es war die allerletzte Schulwoche. Fach: Wirtschaft.

Ari versteckte ein Gähnen hinter ihrer Hand und schaute aus dem Fenster hinüber zu den Bäumen hinter dem Parkplatz. Ob er irgendwo da draußen war?

„Mann, ich hätte nicht gedacht, dass der Unterricht noch langweiliger werden könnte“, flüsterte Nick Melua ihr zu. Ari gab ein zustimmendes Geräusch von sich und nickte. Auf das Abschlusszeugnis und das Ende ihrer Schulzeit zu warten, war eine Höllenqual. Und dass es sich beim Wartezimmer ausgerechnet um den Klassenraum von Mr Dillon handeln musste, machte es nicht besser.

Ari fuhr zusammen. Am besten gewöhnte sie sich jetzt schon an diese Langeweile. Nach den Sommerferien würde sie an der Penn University anfangen, Wirtschaft zu studieren. Schnell verdrängte sie diese Zukunftsaussichten und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Sorge um Charlie. War er da draußen hinter dem Parkplatz? Schon wieder?

„Miss Johnson?“

Sie seufzte und blickte zur Tafel. „W“, riet sie, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Sofort spürte sie die strafenden Blicke ihrer Mitschüler.

„Falsch.“ Mr Dillon schüttelte den Kopf. „Nick?“

„U“, rief Nick eifrig und wurde mit einem dankbaren Lächeln belohnt, weil man das Wort nun erahnen konnte.

„Unternehmer!“, rief Staci Pike so begeistert, dass man fast glauben konnte, sie würde sich tatsächlich für den Unterricht interessieren. Ari grinste sie schief an, und Staci zuckte entschuldigend mit den Schultern. Staci konnte es nicht ertragen, wenn jemand sich schlecht fühlte, und die Schweißperlen auf Mr Dillons Stirn verrieten, dass er sich wirklich bemühte, die Klasse bei Laune zu halten. Das konnte Staci nicht tatenlos mit ansehen.

Dankbar lächelte Mr Dillon. „Korrekt! Magst du nach vorn kommen, Staci, und das nächste Wort bestimmen?“

Ari grinste sie an. Siehst du? Das hat man davon, wenn man mal nett ist.

Staci kniff die Augen zusammen, während sie an Aris Tisch vorbeiging. „Blöde Kuh“, flüsterte sie gerade laut genug, dass Ari es hören konnte. Ari schnaubte verächtlich.

Fünfzehn Minuten erfolglosen Ratens später war die Klasse total genervt. Schließlich seufzte Mr Dillon. „Das Männchen ist mausetot. Du musst uns die Lösung also verraten, Staci.“

Ungläubig schaute Staci in die Runde. „Ihr seid unfassbar schlecht!“

„Los, mach schon, Staci!“, jammerte Nick und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Spuck’s aus!“

„Okay, die beiden Wörter sind ‚Bill Gates‘.“

Ari brach in Gelächter aus, während der Rest der Klasse wie aus einem Mund aufstöhnte.

Als die Klasse kurz darauf endlich entlassen wurde und Ari und Staci zusammen auf dem Weg zu den Spinden waren, verstand Staci noch immer nicht, was mit ihren Klassenkameraden los gewesen war. „Was war daran denn bitte so schwer?“ Sie zuckte die Achseln.

„Es sollte ein Begriff aus dem Fach Wirtschaft sein“, erklärte Ari.

„Na und? Bill Gates ist ja wohl einer der bedeutendsten Wirtschaftsmagnaten der Welt!“

„Hallo!“, erklang unvermittelt eine warme Stimme, und ein Arm wurde um Staci geschlungen. Ihr Freund A. J. zog die zierliche Staci – ihre Mutter war Japanerin – an seinen vom Wrestling gestählten Körper. Stacis mandelförmige Augen weiteten sich leicht, bevor sie sich entspannte und den Kopf in den Nacken legte, damit er sie küssen konnte.

Ari seufzte und riss die Tür ihres Spinds mit mehr Schwung auf als beabsichtigt.

„Hat da etwa jemand schlechte Laune?“, fragte A. J. sanft und lächelte, sowie er Aris bösen Blick auffing, den sie ihm über die Schulter hinweg zuwarf.

Staci schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist nach der gefühlt längsten Unterrichtsstunde aller Zeiten einfach nur zu Tode gelangweilt.“

„Für schlechte Laune gibt’s gerade auch wirklich keinen Grund“, sagte eine vertraute Stimme. Ari schaute an der Tür des Spinds vorbei, um ihrer besten Freundin zuzulächeln. Rachel grinste zurück, und ihre kinnlangen blonden Haare schwangen hin und her, als sie aufgeregt von Staci zu Ari blickte. „In ein paar Tagen sind wir endlich frei und … Trommelwirbel, bitte!“, wies sie mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen A. J. an, der ihrem Wunsch mit seinen nicht vorhandenen Drumsticks nachkam. „Dann steigt Aris Party zu ihrem achtzehnten Geburtstag und Schulabschluss!“

Während ihre Freunde anfingen, die Party zu organisieren, zu der ihr Vater Derek bereits seine offizielle Erlaubnis erteilt hatte, bemühte Ari sich, angemessen begeistert zu lächeln. Es war nicht so, als wären ihr Geburtstage oder auch das Ende der Schulzeit egal. Es ging eher um ihre Zukunftspläne – denn wie sie die finden sollte, war ihr noch nicht klar.

„Leute, ich werde euch auf der Party mal das Stethoskop zeigen, das Mom und Dad mir geschenkt haben. Das ist echt super!“ Rachels Augen leuchteten bei dem Gedanken an ihr bevorstehendes Medizinstudium. Die Einführungskurse wollte sie am Dartmouth College absolvieren und sich danach an der John Hopkins University bewerben. Ari zweifelte keine Sekunde daran, dass Rachel das alles mit Bravour meistern würde.

„Die haben dir schon ein Stethoskop besorgt?“, stieß A. J. schnaubend hervor. „Dir stehen erst mal drei Jahre mit Einführungskursen bevor, bis du das brauchst!“

„Du willst also wirklich freiwillig sieben Jahre lang studieren? Du hast sie ja nicht mehr alle!“ Staci schüttelte sich. „Ich könnte mir das beim besten Willen nicht vorstellen.“

A. J. zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht – sieben Jahre lang Filme zu machen, klingt für mich jetzt nicht so furchtbar.“

Staci rollte ungeduldig mit den Augen. „Du findest alles toll, solange du dadurch von eurer Farm runterkommst.“

Am liebsten wäre Ari ganz woanders gewesen. Ihre Freunde wussten so genau, wer sie waren und was sie vom Leben wollten … Das machte ihr schreckliche Angst. Sie kam sich neben den anderen vor wie ein Freak. Während ihre Freunde sich weiter übers College unterhielten, fragte sie sich, was zum Teufel eigentlich nicht mit ihr stimmte. Staci und A. J. würden zusammen zur Rhode Island School of Design gehen, um Regie und Animation zu studieren. Davon redeten sie schon, seit sie vor drei Jahren zusammengekommen waren. Ari schloss ihren Spind ab. Mühsam unterdrückte sie eine Panikattacke. Früher hatte sie nie unter Angstzuständen gelitten, doch im letzten Monat hatte sie drei Panikattacken gehabt. Mit dem Rücken zu ihren Freunden schloss sie die Augen. Als ihr Vater ihr ein Wirtschaftsstudium vorgeschlagen hatte, hatte sie nicht widersprochen. Genau genommen hatte sie nämlich keine Ahnung, was sie sonst tun sollte. Anders als ihre Freunde hatte sie noch nie das Gefühl gehabt, dass sie irgendetwas besonders gut konnte oder dass sie spezielle Interessen besaß. Wie sollten die anderen das nachvollziehen? Sie brauchte dringend jemanden, der sie verstand.

Sie brauchte Charlie.

„Hey“, sagte Rachel sanft, legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich um. „Alles in Ordnung? Du bist in letzter Zeit so still.“

„Ja, alles bestens.“

„Wirklich?“

Warum konnte sie nicht mit Rachel darüber sprechen? Rachel war ihre beste Freundin. Das war allerdings nicht immer so gewesen.

Früher war Charlie ihr bester Freund gewesen. Mehr als das – er war ihre Familie gewesen. Charlie war da gewesen, als Aris Vater ihren neunten Geburtstag vergessen hatte, und als sie mit zehn einen Weinkrampf bekommen hatte, weil sie schuld daran gewesen war, dass ihr Vater und seine Freundin sich getrennt hatten. Oder als sie das erste Mal ihre Regel gekriegt hatte und komplett durchgedreht war, obwohl sie eigentlich genau gewusst hatte, was mit ihr passierte. Damals war sie Hals über Kopf aus der Schule abgehauen, und Charlie hatte sie bis nach Vickers Woods hinter der Autobahn verfolgt. Als sie dann heulend zugegeben hatte, was los war, hatte er sie an die Hand gefasst, war mit ihr nach Hause gelaufen und hatte seiner Mom leicht stotternd berichtet, wo das Problem lag. Mrs Creagh hatte sie in die Arme geschlossen und in der Schule Bescheid gesagt. Dann hatte sie ihren Dad angerufen, um zu erklären, weshalb Ari verschwunden war und wo sie steckte. Gemeinsam waren sie anschließend in die Drogerie gefahren. Mrs Creagh hatte sich rührend um sie gekümmert.

Ganz gleich, was auch passiert war, Charlie war immer für sie da gewesen. Doch dann war etwas geschehen – und Charlie war nicht mehr wirklich da gewesen, um für sie da zu sein.

„Machst du dir wieder Sorgen wegen Charlie?“, fragte Rachel.

Ari bedachte sie mit einem Blick, der ausdrückte: „Ach, fang bloß nicht wieder damit an!“

„Kommt, wir gehen zum Mittagessen in die Cafeteria“, unterbrach A. J. die beiden, um ein Gespräch über Charlie zu verhindern. Für ihn war Charlie ein Versager, und er begriff nicht, wieso Ari so viel Zeit an ihn verschwendete.

Ari trat einen Schritt zurück. „Ich komme gleich nach. Haltet mir einen Platz frei.“

Rachel zog die Augenbrauen zusammen. „Du willst doch nicht wieder zu ihm, oder?“

Ari presste die Lippen aufeinander und wandte ihren Freunden den Rücken zu. „Haltet mir einfach einen Platz frei“, rief sie noch einmal über die Schulter und wich ein paar Schülern aus, die ihr den Weg versperrten.

„Lass sie wegen Charlie lieber eine Weile in Ruhe“, hörte sie Staci noch sagen. A. J.s Antwort verstand sie nicht mehr, weil sie schon zu weit entfernt war.

Ari lief durch die Eingangstür hinaus ins Freie und atmete die warme Sommerluft ein. War Charlie auf dem Parkplatz? Nein, sie konnte ihn nirgends entdecken. Also musste er sich zwischen den Bäumen dahinter aufhalten, wo die Lehrer ihn nicht sehen konnten. Wenn er nicht aufpasste, warfen sie ihn von der Schule. Er war bereits einmal sitzen geblieben – was ihm allerdings völlig egal war. Ari wurde wütend – wie immer, wenn sie zu Charlie ging. Früher einmal war das ganz anders gewesen. Da hatte allein der Gedanke an ihn schon eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Entschlossen straffte sie die Schultern und marschierte mit großen Schritten zum Parkplatz. Sie wollte sich nur versichern, dass mit ihm alles in Ordnung war. Sie hatten seit zwei Wochen nicht miteinander gesprochen – seit sie einander kannten, hatte noch keine Funkstille so lange gedauert.

Wie aus dem Nichts kam plötzlich ein kleiner Junge mit braunen Haaren auf sie zugerannt. Er schien ungefähr neun oder zehn Jahre alt zu sein und war richtig aus der Puste. „Hast du meine Schwester gesehen?“, fragte er keuchend.

Was machte der Kleine um diese Zeit hier vor der Highschool? Ari hielt ihn am Arm fest, bevor er weiterlaufen konnte. „Wie heißt denn deine Schwester?“

„Gemma Hall.“

Ari runzelte die Stirn. Gemma ging in eine der unteren Klassen. „Ich …“

„Bobby!“ Ari und der Kleine drehten sich um. Hinter ihnen kam Gemma die Stufen vor dem Schulgebäude heruntergesprungen. „Hast du sie dabei?“

„Ja, doch du schuldest mir dafür mindestens einen Zwanziger!“

Beruhigt, weil es offenbar nichts Dramatisches war, ließ Ari die beiden allein. Noch einmal drehte sie sich zu dem kleinen Jungen um. Er sah Michael wirklich sehr ähnlich.

Michael Creagh, Charlies kleiner Bruder. Er war der Grund dafür, dass Charlie so aus der Bahn geworfen worden war. Vor zwei Jahren, an Aris sechzehntem Geburtstag, hatte Charlie ihn mit dem SUV seiner Eltern vom Baseball abholen wollen. Er hatte es eilig gehabt, weil er erst Michael zu Hause hatte abliefern und dann schnell weiter zu Ari hatte fahren wollen, um mit ihr ihren Geburtstag zu feiern. Der Fahrradfahrer war aus dem Nichts aufgetaucht. Der Wagen war ins Schleudern geraten und in den entgegenkommenden Verkehr gerast. Als Charlie wieder zu sich gekommen war, war Michael bereits tot gewesen. Seit dem Tag hatte sich alles vollkommen verändert. Die früher so glücklichen Creaghs hatten keine richtigen Eltern mehr für Charlie sein können – und Charlie … Charlie war seitdem nicht mehr Charlie. Bis zum heutigen Tag gab er sich die Schuld am Tod seines Bruders, und Ari vermutete, dass seine Eltern es auch taten.

Es versetzte ihr einen Stich, wenn sie daran dachte, wie schlecht es ihrem besten Freund ging. Wie konnte man mit solchen Schuldgefühlen weiterleben? Nach dem Unfall hatte Ari die Creaghs nicht mehr besucht – Charlie hatte das nicht gewollt. Sein Vater hatte angefangen zu trinken, und seine Mutter arbeitete wieder als Managerin bei FoodLand. Zum einen, weil sie Geld verdienen musste, zum anderen aber auch, um ihrem Mann aus dem Weg zu gehen. Und Charlie, ihrem zweiten Sohn, der überlebt hatte. Charlie hatte plötzlich mit ganz anderen Leuten Zeit verbracht: mit Losern und Kiffern. Er hatte oft geschwänzt, und seine schulischen Leistungen hatten dramatisch nachgelassen. Bis heute hatte sich daran nichts geändert. Manchmal entdeckte Ari ihn völlig high im Vickers Woods. Erst hatte sie gehofft, es wäre nur eine Phase – seine Art, die Trauer zu bewältigen. Doch es ging nun schon seit zwei Jahren so …

Bevor es damals passiert war, hatte Ari allen Mut zusammengenommen. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie es ihm endlich sagen wollen. Sie hatte es davor schon Rachel, ihrer neuen Sitznachbarin in Chemie, verraten. Und sie waren beide der Meinung gewesen, dass Ari es machen musste. Ari hatte keine Ahnung, wann ihre rein freundschaftlichen Gefühle für Charlie sich verändert hatten. Es war mit der Zeit geschehen, nicht von einem Augenblick zum anderen. Doch irgendwann hatte sie sich in Charlie verliebt. Sechzehn Jahre alt und wunderbar verliebt war sie damals gewesen.

Und sie liebte ihn immer noch.

Auch wenn er nicht mehr der alte Charlie war.

Ari hatte die kleine Baumgruppe erreicht und folgte dem schmalen gewundenen Pfad in das Wäldchen hinein. Er führte zu einer kleinen Lichtung, auf der sich die Kiffer trafen. Die Lehrer mussten wissen, was hier los war. Doch entweder waren sie zu faul, um etwas dagegen zu unternehmen, oder es war ihnen schlicht egal. Ari schaute sich unter den Leuten um. Die meisten gingen in Jahrgänge unter ihr, und sie kannte sie nur flüchtig. Vorsichtig nickte sie den paar vertrauten Gesichtern zu. Die Leute saßen im Gras und hatten sich aneinander oder gegen ein paar große Steine gelehnt. Ihre Pupillen waren geweitet, ihr Gesichtsausdruck war leer. Ari schritt auf einen Jungen zu, den sie kannte.

Er war auffallend groß. Seine langen Beine steckten in dreckigen, zerrissenen Jeans, und sein Smashing-Pumpkins-T-Shirt hatte ebenfalls schon bessere Tage gesehen. Mit trübem Blick schaute er zu Ari hoch und strich sich das zerzauste dunkle Haar aus den braunen Augen. Er sah gut aus, wie der nette Junge von nebenan. Als er Ari erkannte, lächelte er. In seinen Augen blitzte etwas auf, und plötzlich wirkte er gar nicht mehr harmlos, sondern sexy und gefährlich. Niemand konnte Ari so wehtun wie er.

„Charlie.“ Sie nickte und versuchte, locker zu wirken, obwohl ihr bewusst war, dass ausnahmslos alle sie anstarrten.

„Was gibt’s?“, fragte er und griff nach dem Joint, den Mel Rickman ihm reichte. Ari richtete den Blick fest auf Charlie. Mel war älter als die anderen hier, schon Anfang zwanzig, und ein echter Idiot. Wenn er sie anschaute, hatte sie immer das Gefühl, er würde sie in Gedanken ausziehen. Der Typ war ihr unheimlich.

Plötzlich kam Ari sich hier in ihren sauberen hippen Jeans und dem gebügelten T-Shirt völlig fehl am Platz vor. Das Gras kitzelte sie an den Füßen, an denen sie Flipflops trug. Sie sah nach unten, und ihr Blick fiel auf Mels Stiefel mit den Stahlkappen. Nervös spielte sie mit dem funkelnden Armband an ihrem Handgelenk und bemühte sich, nicht zu erröten. Die meisten Kids, mit denen Charlie jetzt abhing, kamen aus dem Osten der Stadt. Dort befanden sich die ärmeren Viertel von Sandford Ridge, einem Ort, der von der Einwohnerzahl her irgendwo zwischen Groß- und Kleinstadt einzuordnen war und im Südosten von Butler County lag. Hier kannte man zwar nicht jedes intime Detail des anderen, allerdings aus welchem Viertel jemand stammte, war dennoch allgemein bekannt. „Ich wollte nur fragen, ob es dabei bleibt, dass du am Freitag zu meiner Geburtstagsparty kommst.“

Charlies Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, als er sie nun schweigend musterte. Ari wurde allmählich wütend und hätte ihm am liebsten die Büchermappe an den Kopf geworfen, die sie im Arm hielt.

„Ich kann ja zu deiner Party kommen.“ Mel zwinkerte ihr zu. „Wenn du mir beizeiten eine kleine Privatvorstellung gibst, besorge ich dir vielleicht sogar ein Geschenk.“

„Vorsicht, Kumpel!“ Charlie funkelte Mel böse an. „Lass sie in Ruhe.“

„Hey …“

„Halt einfach die Klappe.“ Charlie bedachte Mel mit einem Blick, der jeden Menschen mit einem Fünkchen Verstand in die Flucht geschlagen hätte. Ari zitterte, obwohl ihr Freund nur so reagierte, um sie zu verteidigen. Als er sich ihr wieder zuwandte, konnte man noch immer sehen, wie zornig er war. „Natürlich komme ich“, sagte er ruhig. „Dann bis Freitag.“

Weil Ari nicht wollte, dass er hierblieb, fragte sie: „Wollen wir zusammen Mittag essen?“

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf und bekam wieder diesen leeren Gesichtsausdruck. „Geh zurück zur Schule, Ari. Wir sehen uns.“

Obwohl es ihr einen Stich versetzte, nickte Ari nur, drehte sich um und lief über den Pfad zurück. Leider war ihr Auto in der Werkstatt, sonst wäre sie sofort nach Hause gefahren.

Auf dem flirrenden Asphalt des Parkplatzes blieb sie stehen und betrachtete den Buick Lacrosse, den Rachels Eltern ihrer Tochter zum Highschoolabschluss geschenkt hatten. Ich kann auch nach Hause laufen. Ja, ich gehe jetzt nach Hause. Ari wandte sich um und lief Richtung Tor. Bis nach Hause war sie höchstens eine halbe Stunde unterwegs, und ein bisschen Bewegung würde ihr guttun.

„Ari!“

Ungläubig schloss Ari die Augen, holte tief Luft und drehte sich um. Rachel kam über den Parkplatz auf sie zugerannt. „Rachel!“

„Wo willst du hin?“

„Nur ein bisschen spazieren.“

„Wolltest du nach Hause?“

„Ja, ich habe gerade tatsächlich mit dem Gedanken gespielt.“

Rachel schüttelte den Kopf und kniff die Augen leicht zusammen. „Lässt du dich wieder von ihm runterziehen?“

„Das ist nicht seine Schuld.“

„Hör auf, ihn immer in Schutz zu nehmen, Ari! Und du bleibst schön hier!“ Damit fasste Rachel sie am Arm und zog sie zurück Richtung Schule.

„Hey, du hast mir gar nichts zu sagen“, erwiderte Ari brummig und stolperte fast über ihre Flipflops.

„Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie Charlie dir die letzten Tage auf der Schule verdirbt – und alles, was danach kommt. Glaubst du etwa, ich merke nicht, wie still du wirst, wenn wir übers College reden? Das ist Charlies Schuld! Es ist immer Charlies Schuld! Wenn er diesen selbstzerstörerischen Weg weitergehen will, dann lass ihn. Ich bin offen gestanden froh darüber! Er ist ein Loser … Du hast etwas viel Besseres verdient.“

„Hey!“ Ari befreite sich aus ihrem Griff und bedachte ihre Freundin mit einem zornigen Blick. „Nenn ihn nicht so! Das höre ich mir nicht länger an. Charlie ist durch die Hölle gegangen. Wenn er deinen Ansprüchen nicht genügt, ist das Pech. Aber er ist mein Freund, und ich lasse meine Freunde nicht fallen.“

Beschwichtigend hob Rachel die Hände und nickte. „Okay, du hast recht. Ich hätte das nicht sagen dürfen.“

Ari schüttelte den Kopf und seufzte. „Lassen wir das. Komm, auf in die Cafeteria, ehe A. J. dir alles wegisst.“

Erschrocken riss Rachel die Augen auf. „Mein Snickers!“

Ari lachte leise und beobachtete, wie Rachel immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe zum Schulgebäude hinaufstürmte.

Ari beneidete Rachel darum, dass sie sich selbst so gut zu kennen schien. Wenn sie doch nur auch so wäre – oder wenn ihr zumindest mehr Zeit bliebe, um ihren eigenen Weg zu finden.

Ausnahmsweise war Ari froh, in das helle, geräumige Haus zurückzukehren, in dem sie wohnte. Sie winkte Rachel noch einmal zu. Da ihr Auto noch immer in der Werkstatt war, holte ihre Freundin sie dieser Tage jeden Morgen ab und brachte sie am Nachmittag wieder zurück.

Ari schloss die Tür hinter sich, ließ ihre Tasche fallen und schlüpfte aus der leichten Sommerjacke. Die hatte sie gut gebrauchen können, als vorhin nach dem Mittagessen wie aus dem Nichts eine dunkle Wolkenwand heraufgezogen war. Sie hängte die Jacke an einem Garderobenhaken auf, von dem sie prompt herunterrutschte. Stöhnend bückte Ari sich, um sie aufzuheben. Nachdem sie die Jacke wieder aufgehängt hatte, ging sie in die Küche. Dort angekommen, hörte sie das Geräusch der Metallknöpfe an ihrer Jacke, die erneut auf den Holzboden knallten. Seufzend drehte sie sich um, lief zurück und schlang die Jacke genervt über den Haken.

Ihr Poltergeist war manchmal verdammt anstrengend.

„Das kann ich gerade gar nicht gebrauchen, Miss Maggie!“, rief sie und schaute sich im Flur um.

Vor zwei Jahren, kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag, war ein Poltergeist ins Haus eingezogen. Ari hatte ihrem Vater erzählt, dass jemand die Möbel verschob, ihr Laptop benutzte und Bücher aus dem Regal nahm. Doch er hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, sie solle nicht so kindisch sein. In den letzten vier oder fünf Jahren war er oft weg gewesen und im ganzen Land herumgereist, um Ärzte zum Essen einzuladen und ihnen neue Medikamente zu verkaufen. Aris Vater arbeitete als Pharmareferent. In seinem Job war er super, und sie hatte immer alles gehabt, was sie brauchte. Bis auf gemeinsame Zeit mit ihrem Dad.

Das Thema Poltergeist war damit erst einmal erledigt gewesen. Bis Ari sich vor anderthalb Jahren beschwert hatte, dass ihr Vater so viel weg war. Ein Streit war entbrannt. Er hatte sie genervt angeschrien – und in dem Moment war ein Buch aus dem Regal geflogen und hatte ihn am Kopf getroffen. Seitdem war Aris Vater das Haus unheimlich. Sie hingegen hatte aufgehört, sich über seine ständige Abwesenheit zu beklagen, weil sie gehofft hatte, er würde dann öfter zu Hause sein. Und sie hatte sich an den Poltergeist gewöhnt. Sie war sich ziemlich sicher, dass es der Geist einer Frau war – sexistische Witze erregten den Zorn des Poltergeists und er war einfach zu umsichtig für einen Mann. Ari hatte den Geist Miss Maggie getauft – nach der Hündin, die ihr Vater ihr zum achten Geburtstag geschenkt und prompt wieder weggegeben hatte, nachdem er gemerkt hatte, wie viel Arbeit so ein Tier machte.

Als die Jacke tatsächlich auf dem Haken hängen blieb, atmete Ari erleichtert auf. „Danke, Miss Maggie, ich weiß das wirklich zu schätzen. Ich hatte nämlich einen harten Tag.“ Sie marschierte vom kühlen Flur in die noch kältere, leere Küche. Diesem Haus schien die anheimelnde Gemütlichkeit zu fehlen, die sie bei den Familien ihrer Freunde spürte. Ari war sich nicht sicher, ob das am minimalistischen Einrichtungsstil lag oder daran, dass hier eben keine Familie lebte. Fast hätte sich das einmal geändert … Ari war schuld daran, dass es nicht so weit gekommen war. Sie hatte ihrem Vater das kaputtgemacht.

Ari hatte schon als Kind herausgefunden, dass ihre Mutter eine geheimnisvolle Frau namens Sala war. Nach einer kurzen leidenschaftlichen Affäre hatte Sala ihrem Vater Derek das Herz gebrochen und ihn verlassen. Neun Monate später war sie dann wieder vor seiner Tür aufgetaucht – mit einem Baby, das angeblich sein Kind war. Sie hatte Ari bei ihm gelassen und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Ari wusste, dass ihr Vater das Beste aus der Situation gemacht und sich wirklich alle Mühe gegeben hatte. Und sie wusste auch, wie sehr er sie liebte. Er hatte sich nach Kräften bemüht, hatte ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen, ihr Schwimmen und Baseball beigebracht. Doch je älter sie geworden war, desto mehr war auch die Distanz zwischen ihnen gewachsen. Anders als andere Kinder, die ohne Mutter aufwuchsen, hatte Ari sich nie eine Mutter gewünscht. Für sie war eine Mutter eine Frau, die dem Vater das Herz brach und ihn und ihr Kind dann im Stich ließ – verloren und einsam. Deshalb war Ari auch in Panik ausgebrochen, als ihr Vater plötzlich eine vielversprechende, ernstere Beziehung begonnen hatte. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen und hatte sich große Sorgen gemacht. Hätte ihr Vater diese Frau geheiratet, wäre sie Aris neue Mutter geworden. Was, wenn sie auch gegangen wäre? Dann hätte schon wieder jemand Ari und ihrem Vater das Herz gebrochen … Allerdings hatte noch mehr hinter Aris Angst gesteckt: Sie hatte ihren Vater für sich allein haben wollen. Auch heute noch, acht Jahre später, quälte sie das schlechte Gewissen, weil sie sich damals diese furchtbare Lüge hatte einfallen lassen. In einem Moment kindlicher Dummheit hatte sie behauptet, Michelle – so war der Name der Freundin ihres Vaters gewesen – hätte sie geschlagen. Derek war außer sich vor Wut gewesen. Natürlich hatte er seiner Tochter geglaubt und nicht der Frau, die er erst vier Monate gekannt hatte. Er hatte die Beziehung augenblicklich beendet. Seitdem hatte es nie wieder etwas Ernstes gegeben … Wenn ihr Vater jemals die Wahrheit herausfand, würde er ihr wahrscheinlich den Hals umdrehen. Die arme Michelle.

In Aris Hosentasche erklang die Melodie von Metrics Sick Muse. Erschrocken zuckte Ari zusammen, holte das Handy aus der Tasche und lächelte, sowie sie die Nummer des Anrufers sah. „Hi, Dad!“

„Hallo, Süße!“, hörte Ari seine warme tiefe Stimme. Der Klang erinnerte sie an Weihnachten, wenn sie mit ihm zusammen auf der Couch gelegen, Schokolade zum Frühstück gegessen und dabei Kevin – Allein zu Haus geguckt hatten. „Alles klar?“

„Ja. In ein paar Tagen ist übrigens die Abschlussfeier von der Schule“, erinnerte sie ihn.

„Das weiß ich doch, Süße“, antwortete er müde. „Ich habe Rachels Mutter gebeten, ein bisschen auf dich achtzugeben und ganz viele Bilder von dir mit Doktorhut zu knipsen. Es tut mir wirklich schrecklich leid, dass ich nicht da sein kann. Du weißt ja, dass ich auf jeden Fall kommen würde, wenn ich könnte. Aber das Meeting darf ich nicht versäumen.“

Ari nickte. Er war so weit weg … „Weiß ich, Dad. Mach dir deshalb keine Gedanken. Ist nicht schlimm.“

„Doch, das ist es. Und deshalb darfst du mit der Notfall-Kreditkarte alles einkaufen, was du für deine Geburtstagsparty brauchst, ja?“

„Danke, das ist super.“

„Außerdem habe ich ein tolles Geschenk für dich. In drei Wochen bin ich wieder zu Hause. Ich freue mich schon auf dein Gesicht, wenn du es auspackst.“

Ari lächelte. Zugegebenermaßen gab sich ihr Vater bei der Auswahl ihrer Geschenke immer große Mühe. „Ich hoffe, du hast dich nicht völlig übernommen.“

Derek lachte. „Es ist dein achtzehnter Geburtstag – selbstverständlich gebe ich da richtig Geld aus! Ich liebe dich, meine Kleine.“

„Ich liebe dich auch, Dad.“

Nach dem Telefonat mit ihrem Dad verbrachte Ari den Rest des Abends damit, sich Pasta zu kochen, Cartoons zu schauen, sich den Kopf über Charlie zu zerbrechen und sein Facebook- und Twitter-Profil zu stalken. Doch da tat sich sowieso nie viel. Schließlich chattete sie über Skype mit Rachel und Staci, bevor sie erschöpft auf ihr großes Bett fiel.

„Miss Maggie … könntest du das Licht ausmachen?“ Zwei Sekunden später war das Klicken des Lichtschalters zu hören, und das Schlafzimmer versank in Dunkelheit. „Danke, du bist ein Schatz.“

Ein paar Minuten darauf riss Ari ein Lichtschein, der ihre Lider streifte, aus dem Halbschlaf. Stöhnend öffnete sie die Augen und richtete sich auf. Ihr Laptop lief wieder, der Bildschirm flackerte, und im Browserfenster erkannte sie erst ein Facebook-Profil, das im nächsten Moment einem Twitter-Account Platz machte.

„Miss Maggie“, murmelte Ari und ließ sich wieder zurück auf die Matratze sinken. „Kannst du nicht morgen twittern? Bitte …“

Der Schreibtischstuhl knarrte, und der Laptop wurde heruntergefahren.

„Danke“, flüsterte Ari. „Der Tag heute war schon frustrierend genug. Da muss ich nicht auch noch darüber nachdenken, warum auf Twitter mehr Leute meinem Poltergeist folgen als mir.“

2. KAPITEL

BRENNENDE HIEBE SOLLEN IHRE STRAFE SEIN

D as schmiedeeiserne Tor mit den gefährlich aussehenden Spitzen schwang auf, nachdem er sich über die Sprechanlage angekündigt hatte. Jai Bitar holte tief Luft, dann trat er aufs Gas und fuhr auf die Auffahrt, während das Tor hinter ihm zuging.

Schon jetzt wünschte er sich, wieder in seiner Eigentumswohnung in Hollywood zu sein. Um ehrlich zu sein, wäre er gerade überall lieber gewesen als hier in seinem ehemaligen Zuhause in den Palisades. Es war das Anwesen seiner Familie oder besser seines Vaters, der gleichzeitig sein Chef war. Wenn sein Dad einen Auftrag für ihn hatte, bestellte er ihn für gewöhnlich ins Büro im Stadtzentrum ein. Dass sein Vater diesmal lieber hier alles besprechen wollte … Jai musste tief Luft holen. Dahinter steckte irgendetwas sehr Wichtiges. Jai parkte vor der breiten Steintreppe am Eingang des riesigen Gebäudes. Mit seinen roten Ziegelsteinen erinnerte es eher an ein spanisches Herrenhaus der Kolonialzeit als an die marokkanische Architektur, wie Jai sie bevorzugte. Seine Stiefmutter hingegen liebte diesen Stil, also brachten Diskussionen gar nichts.

Na endlich! Wo hast du so lange gesteckt? Ich habe dich vor drei Stunden gerufen!

Jai zuckte nicht einmal mit der Wimper, als er nun ausstieg. Er war so daran gewöhnt, dass sein Vater ihn telepathisch kontaktierte, dass ihn das nicht mehr aus der Ruhe bringen konnte. Ich war noch beschäftigt und bin so schnell gekommen, wie es ging. Konnte sein Vater nicht mal die zwei Minuten warten, bis er vor ihm stand, verdammt? Dann konnte er ihn doch immer noch mit den üblichen Vorwürfen überschütten.

Bei so einem Notfall hast du gefälligst alles stehen und liegen zu lassen und deinen Hintern hierherzubewegen. Punkt. Deine Brüder wissen das ganz genau. Nur du scheinst das nicht zu begreifen.

Jai richtete seinen Blick wütend zum Haus hinauf, schwieg jedoch. Sein Vater sollte warten, bis sie einander gegenüberstanden, ehe er ihn zurechtwies. Oder besser gesagt: ehe er ihn vollkommen ungerechtfertigt heruntermachte. Wie immer. Um sich nicht auch noch den Vorwurf anhören zu müssen, warum er so lange gebraucht hatte, um die Treppe hinaufzusteigen, stellte Jai sich die kalte Eingangshalle seiner Eltern mit dem schwarz-weißen Marmorboden und der hohen Decke vor. In der Halle hing ein modernes, aber leider nicht sehr gelungenes Porträt von seiner Stiefmutter Nicki. Sobald er diesen Anblick in seinen Geist eingeschlossen und verinnerlicht hatte, entspannte Jai sich und spürte im nächsten Moment einen leichten Windhauch auf seiner Haut. Der Strudel aus Farben und das leichte Schwindelgefühl, die mit dem Peripatos, den er gerade einsetzte, einhergingen, dauerten nur eine Sekunde. Dann stand Jai in der Halle und sah das Porträt in seiner ganzen Schauderhaftigkeit tatsächlich vor sich.

„Wo warst du?“, ertönte eine scharfe Stimme direkt hinter ihm.

Jai setzte einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck auf und drehte sich zu seinem ältesten Halbbruder David um. Der Blick aus seinen schwarzen Augen schien Jai zu durchbohren. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass sie nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander hatten. Ein Fremder wäre nie darauf gekommen, dass sie miteinander verwandt waren. Die Bitars waren mischblütig. Vor zwei Jahrhunderten hatte ihr marokkanischer Stamm seine Heimat Richtung London verlassen, um einer Blutfehde mit einem anderen Ginnaye-Clan zu entgehen. Von dort aus waren sie dann weiter in die USA gezogen – zunächst an die Ostküste, dann nach Kalifornien. Zu dem Zeitpunkt hatten die Bitars längst Mitglieder anderer Ginnaye-Clans geheiratet, die ihre Wurzeln in Europa gehabt hatten. Nicki gehörte zu einem Stamm keltischer Ginnaye. Luca hatte sie in Irland kennengelernt.

Deshalb waren Jais Halbbrüder äußerlich eine Mischung ihrer marokkanischen und irischen Vorfahren. Nicht so Jai. Seine Züge waren schärfer geschnitten, seine Haut war mehrere Töne dunkler, und er hatte grüne Augen. Er fragte sich oft, woher seine Mutter wohl stammte, weil er so ungewöhnlich aussah.

Jai fixierte seinen Bruder und zuckte die Achseln. „Ich war zu Hause. Ich habe nämlich im Gegensatz zu euch meine eigene Wohnung – wie die meisten erwachsenen Menschen übrigens.“

David verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Sehr lustig. Aber einen guten Sinn für Humor brauchst du ja wohl auch. Den bräuchte ich auch, wenn ich der einzige Sohn von Luca Bitar wäre, den er absolut nicht in seiner Nähe ertragen kann.“

Beide wussten, dass Jai genau deshalb nicht mehr hier wohnte. Aber Jai wollte seinem Bruder nicht die Genugtuung bereiten zu zeigen, wie sehr ihn die Bemerkung traf. Also zog er lässig die Schultern hoch und ging auf ihn zu. „Benutzt du noch immer das Poolhaus, um dich heimlich mit Frauen zu vergnügen, damit Dad und Nicki nichts mitbekommen? Wie läuft’s denn so für dich, großer Bruder? Die Frauen sind bestimmt wahnsinnig beeindruckt von einem Dreißigjährigen, der im Poolhaus seiner Eltern wohnt.“

„Wenigstens bekomme ich mein Vergnügen.“

„Ich auch. Keine Sorge.“

„Ja, aber ich benutze dazu nur meinen natürlichen Charme. Im Gegensatz zu dir habe ich nicht die böse Sukkubus-Seite deiner Mommy in mir, um die Frauen anzulocken, Idiot.“

Obwohl Jai innerlich vor Wut kochte, schaffte er es, seine Gefühle zu verbergen. Darin war er Meister. Er warf David einen gelangweilten Blick zu, als sie das Büro seines Vaters betraten. „Den Teil von Mutters Genen habe ich nicht geerbt. Es liegt also wohl eher daran, dass ich dir glücklicherweise überhaupt nicht ähnlich sehe.“ Damit machte er grinsend die Tür hinter ihnen zu.

„Dir auch einen guten Morgen“, sagte Luca Bitar schneidend.

Jais triumphierendes Lächeln verschwand von seinem Gesicht, als er zum Schreibtisch seines Vaters ging, davor stehen blieb und die Hände hinter dem Rücken faltete. Sein Vater und er kamen zwar nicht gut miteinander aus, doch Jai war einer seiner besten Leibwächter – was Luca Bitar natürlich bewusst war. Auch wenn er das nicht zugab. „Guten Morgen, Sir.“ Jai nickte seinem Vater respektvoll zu.

Luca nickte steif zurück, und sein Blick wanderte kurz zu David. „Wo ist deine Mutter?“

David lehnte sich an den Barschrank seines Vaters und verschränkte lässig die Arme vor der Brust. Schief grinsend musterte er Jai. „Du weißt ja, dass sie am liebsten verschwindet, wenn die Brut des Bösen hier auftaucht.“

Jai zuckte nicht mit der Wimper und bemerkte zufrieden, dass sein Vater seinen anderen Sohn enttäuscht ansah.

Es brachte Luca fast um, dass David sich wie ein Kleinkind aufführte, während Jai so erwachsen reagierte. Dabei war Jai genau genommen ohne Lucas Einwilligung entstanden – er war damals gegen seinen Willen von einer Dschinniya verführt worden. Dennoch war Jai von seinen vier Söhnen derjenige, der sich am professionellsten und reifsten verhielt. Das hätte er selbstverständlich niemals offen zugegeben. Genau wie seine Frau Nicki ließ er Jai spüren, dass er ihm seine unglückliche Abstammung übel nahm. Dass er Jai trotzdem großgezogen und dem Jungen genau wie seinen Brüdern eine ausgezeichnete Ausbildung hatte zuteilwerden lassen, war seinem Pflichtgefühl geschuldet. Liebe und Zuneigung hatte es für Jai aber nie gegeben.

Jai hatte seine unbändige Wut darüber nicht gezeigt. Nicht einmal, als sein Vater erlaubt hatte, dass die beiden älteren seiner Halbbrüder ihn schrecklich verprügelten, während der jüngste der Söhne zugeschaut hatte. Und auch vor den anderen Mitglieder ihres Ginnaye-Clans verbarg Jai diese Gefühle. In deren Augen war er ein dreckiges Mischblut. Statt irgendwann die Nerven zu verlieren und zu explodieren, hatte er das genaue Gegenteil getan. Nur um die anderen zu ärgern.

Er hatte härter gearbeitet und trainiert als alle anderen, was ihm zumindest bei einigen der älteren Ginnaye einen gewissen Respekt verschafft hatte – insbesondere von Clans aus anderen Teilen der Welt. Mit seinen nunmehr dreiundzwanzig Jahren war er einer der besten Leibwächter bei Bitar Security in L. A. Sein Vater war der Sohn des letzten Clan-Chefs hier in Kalifornien. Sie gehörten zu den Ginnaye. Das bedeutete, dass die Mitglieder seiner Familie seit Jahrhunderten nun schon das Leben normaler Menschen führten und die Bedeutenden, also Menschen mit einer besonderen, wichtigen Bestimmung, beschützten, wann immer sie den Auftrag dazu erhielten.

In den Vierzigerjahren, der Goldenen Ära Hollywoods, hatte Jais Großvater Bitar Security gegründet. So waren sie nicht mehr nur Leibwächter der Bedeutenden und der Dschinn gewesen, die sie engagiert hatten, sondern hatten auch Starlets und andere VIPs beschützt. Das hatte ihnen eine Menge Geld eingebracht. Und das tat es noch immer. Jais letzter Auftrag war es gewesen, eine Pop-Prinzessin zu beschützen, die von einem hartnäckigen Stalker belästigt worden war. Luca Bitar bevorzugte bei solchen Projekten einen möglichst schnellen Abschluss. Also hatte er Jai erlaubt, sich direkt an die Fersen des Stalkers zu heften. Dank seiner Dschinn-Kräfte war es Jai ohne größere Anstrengung gelungen, die Seele des widerlichen Kerls von dem Gift zu befreien, das ihn dazu gebracht hatte, Frauen als reine Objekte zu sehen, die ihm zu gehorchen hatten. Das hatte zwar dazu geführt, dass der Stalker am Ende teilnahmslos und handlungsunfähig in irgendeinem Krankenhaus gelegen hatte, aber um das zu umgehen, hätte Jai ihn gleich umbringen müssen. Zumindest war in Zukunft kein Unschuldiger mehr in Gefahr. Luca war mit der Arbeit seines Sohnes zufrieden gewesen. Nicht dass er das gesagt hätte. Jai hatte es daran gemerkt, dass sein Vater ihn eine volle Woche lang nicht kritisiert hatte.

Bis es gerade eben wieder losgegangen war.

„Schön.“ Luca biss die Zähne zusammen, weil er David nicht vor Jai zurechtweisen wollte. Jai grinste innerlich, während er beobachtete, wie sein Vater mit sich kämpfte. Es war keineswegs so, dass sein Vater seine anderen Söhne nicht tadelte. Jai hatte das schon oft mit angehört. Aber Luca tat es eben nur, wenn er glaubte, dass Jai weit weg war. Seine reinblütigen Ginnaye-Kinder offiziell immer nur mit Lob und Zuneigung zu überschütten, war wohl als weiteres seelisches Folterinstrument für Jai gedacht. Zuerst hatte es auch funktioniert. Bis Jai gemerkt hatte, dass eigentlich sein Vater derjenige war, der litt, weil er es nur schwer ertragen konnte, dass ihm von all seinen Söhnen ausgerechnet Jai am ähnlichsten war. „Du kannst jetzt gehen, David.“

„Ich wüsste aber gern, was er sagt. Wenn er es nicht machen will, übernehme ich das.“

Luca sah David verärgert an. „Du wurdest nicht angefordert, sondern er.“

Jai runzelte die Stirn. Langsam konnte er seine Neugier nicht mehr verbergen. „Worum geht es denn?“

„David, geh.“

Tief seufzend murmelte David knapp „Ja, Sir!“, bevor er Jai noch einen vielsagenden Blick zuwarf. Bis später, Idiot.

In Jais Augen blitzte unbemerkt von Luca kurz ein spöttisches Lächeln auf. Hau ab und weine dich bei deiner Mommy aus.

Wenigstens habe ich eine, du Versager. Damit knallte David die Bürotür zu.

Jai sah wieder seinen Vater an. „Also schön, was ist so wichtig, dass du es hier im Büro mit mir besprechen musst?“

Bevor sein Vater antworten konnte, fing die Luft hinter dem Schreibtisch an zu flimmern, und Jai hielt den Atem an. Wer kam da? Flammen züngelten hinunter zum Boden, loderten auf und verschwanden dann wieder. Jai blinzelte und spürte die mächtige Energie des Dschinns, der nun vor ihm stand. Er war riesig, fast zwei Meter groß, mit langem feuerrotem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Er trug moderne Kleidung und warf Jai ein freundliches Lächeln zu.

„Du bist also Jai Bitar.“ Der Dschinn kam auf ihn zu und verbeugte sich höflich, was Jai erwiderte. Er hatte noch immer keine Ahnung, was dieser mächtige Dschinn von ihm wollen könnte. Wer auch immer er war, er schien wichtig zu sein. Vielleicht sogar königlich. Ob er ein Dschinn-Fürst war?

„Jai“, sagte sein Vater kühl. „Darf ich dir den Red King vorstellen?“

Jai ließ sich für gewöhnlich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, aber jetzt war es so weit. Erstaunt zog er eine Augenbraue hoch, und der Red King lachte. Ein Unsterblicher? Der Red King. Einer der Sieben Könige der Dschinn stand hier im Büro seines Vaters?

Warum?

„Du fragst dich sicher, warum ich deine Dienste benötige, Jai.“ Mit seinen hellblauen Augen musterte der Red King Jai von Kopf bis Fuß.

„Ich wusste nicht einmal, dass Sie sie benötigen.“

„Bedauerlich.“ Der Red King grinste und drehte sich zu Luca um. „Du hast es ihm noch nicht gesagt?“

„Jai ist eben erst hier eingetroffen, Eure Hoheit“, erklärte Luca schlecht gelaunt.

Der Red King schaute zwischen Vater und Sohn hin und her und lächelte wissend. „Ach, ich verstehe. Gut, ja. Also, Jai …“ Er klopfte Jai auf die Schulter. „Es hat sich herumgesprochen, dass Jai Bitar von den Ginnaye eine ungewöhnliche Gabe besitzt, die ihm als Wächter Vorteile verschafft. Und ich würde mir das gern zunutze machen.“

Als seine Gabe erwähnt wurde, zuckte Jai leicht zusammen. Er hatte dieses außergewöhnliche Talent entdeckt, als er mit dreizehn Jahren die zwölfjährige Tochter der Haushaltshilfe geküsst hatte. Es hatte bei ihm anscheinend mit der Pubertät begonnen. Jedenfalls hatte er festgestellt, dass seit dem Kuss eine spezielle Verbindung zwischen dem Mädchen und ihm bestanden hatte. Wenn die Kleine besonders starke Gefühle empfunden hatte, so hatte er ihren genauen Aufenthaltsort gekannt. Und je mehr er gelernt hatte, diese Kräfte zu beherrschen, desto genauer hatte er auch den Ort bestimmen können, an dem sie gewesen war. Dabei war es nicht darum gegangen, dass er ihre Gedanken hätte lesen können – dazu war er nicht in der Lage. Trotzdem hatte ihn dieses neu entdeckte Talent so fasziniert, dass er seinem besten – und einzigen – Freund Trey davon erzählt hatte.

Trey war der Meinung gewesen, diese Information nicht vor seinem Vater Rik geheim halten zu dürfen, und Rik hatte Jais Vater davon berichtet.

Unter den Ginnaye gab es eine ältere Frau, die eine sehr starke Fähigkeit besaß, in andere Menschen hineinzublicken. Sie hatte Jai erklärt, dass seine Gabe ein Erbe seiner Mutter und ihrer Sukkubus-Gene wäre. Seine Wächter- und seine Sukkubus-Gene hatten sich miteinander verbunden und ihm ein einzigartiges Talent geschenkt.

Gemeinsam hatten sie im Laufe der Jahre herausgefunden, dass ein Klient durch Jais Kuss auffindbar wurde, als hätte er einen Peilsender bei sich. Aber es musste ein echter Kuss sein. Und dank der Sukkubus-Seite in ihm funktionierte der Kuss nur bei Klienten, die Jai auch tatsächlich attraktiv finden konnte. Frauen.

Um herauszufinden, ob diese Annahme auch wirklich stimmte, und ohne sich darum zu kümmern, wie unangenehm das dem damals fünfzehnjährigen Jai sein könnte, hatte sein Vater ihn zwingen wollen, probehalber einen Jungen zu küssen. Er hatte behauptet, sehen zu wollen, ob möglicherweise auch männliche Klienten infrage kamen. Jai dagegen war sich sicher gewesen, dass es für seinen Vater ein willkommener Anlass war, ihn wieder einmal zu quälen.

Jai war wie jeder andere Junge in dem Alter gewesen – das alles war ihm schrecklich peinlich gewesen. Und einen Jungen zu finden, der überhaupt bereit war mitzumachen, war auch nicht gerade leicht gewesen. Trey hatte angeboten einzuspringen, falls sich absolut niemand anders auftreiben ließ. Doch Jai war klar gewesen, dass Treys homophober Vater seinen Sohn dafür umgebracht hätte.

Und so hatte Jai es abgelehnt. Nicht weil er Angst davor gehabt hätte, einen Typ zu küssen, sondern weil er sich nicht zu etwas drängen lassen wollte, das Luca die Gelegenheit verschaffte, ihn wieder einmal zu demütigen. Angesichts seiner Gene war es ohnehin äußerst zweifelhaft, dass ein männlicher Klient durch seinen Kuss auffindbar werden würde. Luca Bitar hatte ihn danach wochenlang seinen Zorn spüren lassen.

Für Außenstehende war Luca ein loyaler, einflussreicher Dschinn, der Leute beschützte. Und in seinem Clan galt er als ein Mann, an den man sich immer wenden konnte, wenn man Hilfe brauchte. Doch als Jais Mutter ihn gegen seinen Willen verführt hatte, hatte sie dabei einen Teil der Liebe gestohlen, die allein Nicki gehörte – und das ließ er Jai spüren. Das hatte er immer getan.

Jai verdrängte diese Erinnerungen und schaute den Red King voller Respekt an. „Wie kann ich Ihnen dienen?“

Der Red King nickte und lächelte breit. „Ich mag dich.“ Er zeigte mit dem Finger auf ihn, und Jai musste unwillkürlich daran denken, wie gut der Mann sich in einem Tarantino-Film machen würde. „Ja, wirklich. Ich mag dich. Sehr gut, sehr gut. Okay, mein Junge. Folgendes Angebot. Es gibt da diesen extrem Bedeutenden, den du beschützen sollst.“

Wenn einer der Könige der Dschinn sich persönlich darum kümmerte, musste es sich wirklich um eine herausragende Persönlichkeit handeln. Jais Herz schlug schneller, und er freute sich auf diese Herausforderung. „Ich vermute, dass es sich um eine Frau handelt … wenn meine besondere Gabe gefragt ist?“

„Worauf du dich verlassen kannst. Und zwar eine Frau, die mir sehr viel bedeutet, Jai. Hast du das verstanden?“

Jai straffte die Schultern und nahm Haltung an. „Natürlich, Eure Hoheit.“

„Mein Sohn ist der Beste, Hoheit“, versicherte Luca.

Jai bemühte sich um einen unbeeindruckten Gesichtsausdruck und musste ein Lächeln unterdrücken. Der Red King sah Luca an und lachte. Mit einem Funkeln in den Augen wandte er sich wieder Jai zu. „Ich wette, dass du den Satz aus seinem Mund zum ersten Mal hörst – jedenfalls, was dich betrifft und nicht einen von seinen anderen Söhnen, diesen fürchterlichen Blindgängern!“

Jai beantwortete die Frage nur mit einem undurchdringlichen Blick. Der Red King war ihm nicht unsympathisch. Jai war mit Geschichten über die Könige der Dschinn aufgewachsen. Er wusste alles über sie, über Azazil und über den Krieg der Flammen. Aber keine dieser Geschichten hatte ihm verraten, dass der Red King so viel … Sinn für Humor hatte.

„Ja, du bist der Richtige.“ Der Red King nickte wieder. „Okay, es wird ein langwieriger Auftrag, bei dem du rund um die Uhr im Einsatz sein wirst. Falls du also noch etwas in Hollywood zu erledigen hast, gebe ich dir zwölf Stunden Zeit. Ich erkläre dir die gesamte … Situation …, wenn wir uns wieder hier treffen. Hollywood gefällt mir nicht. Ich mag die Filme, aber die Leute …“ Er erschauderte, bevor er unvermittelt in gleißende Flammen aufging.

Als er verschwunden war, herrschte zunächst Stille im Büro von Jais Vater. Schließlich räusperte Luca sich. „Ich muss dir sicher nicht sagen, wie ungeheuer wichtig dieser Auftrag für uns ist. Du bist übrigens nicht der einzige Grund, aus dem der Red King sich an uns gewandt hat. Als mein Urgroßvater unser Clan-Chef war, hat einer seiner Wächter einen Dschinn getötet, um einen Bedeutenden zu schützen. Er wurde vors Gericht der Dschinn gestellt und wäre hingerichtet worden, wenn der Red King sich nicht für ihn ausgesprochen hätte. Der Red King treibt eine alte Schuld ein. Vermassle es also nicht.“

Nicht einmal die Gemeinheiten seines Vaters konnten Jai diesen großartigen Moment verderben. Dieser Auftrag, der wichtigste, den er je bekommen hatte, würde seine Position in der Firma festigen – von nun an würde er sehr viel mehr Einfluss haben. „Natürlich nicht, Sir.“ Er nickte knapp, rief sich seine Wohnung vor sein geistiges Auge und benutzte wieder den Peripatos. Den Wagen würde er später holen.

Seine Wohnung war hell und angenehm sparsam eingerichtet. Die wenigen Möbel waren aus schwarzem Leder und Chrom. Alles in allem war die Einrichtung sehr maskulin. Frauen hassten seine Wohnung, aber Jai war sowieso nicht der Beziehungstyp, also spielte das keine Rolle. Jai hatte nichts mehr zu erledigen, bevor er den Auftrag antrat, und so ließ er sich auf seine Ledercouch fallen und starrte durch die hohen Fenster hinaus auf L. A. Die Morgensonne brannte heiß vom Himmel, spiegelte sich in den Fenstern, auf den Glasflächen der Gebäude und den Autos. Jai seufzte und lehnte den Kopf zurück. Er hätte im Haus seiner Eltern bis zum Abend warten können, doch dann hätte er die Gesellschaft seiner Familie in Kauf nehmen müssen.

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