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Billie ist Mutter – und sie ist Tochter. Wenn Billie auf ihre Mutter trifft, prallen zwei Welten aufeinander und reißen sie entzwei.

Das Ende der DDR bietet Billie neue Freiheiten, doch schnell lernt sie, dass auch der Kapitalismus Mauern zieht – will sie weiterhin als Musikerin leben, muss sie ihre Eltern um Unterstützung bitten. Neben einem großen Urvertrauen spürt Billie jedoch besonders das Urteil ihrer Mutter, die an einem zerbröckelndem Wertesystem festhält. Und da ist auch noch Billies Mann André, den sie liebt, durch den sie sich aber auch an eine Rolle gebunden fühlt. Wie kann Billie gleichzeitig frei und verantwortungsbewusst, wild und liebevoll sein – wenn die eng gesetzten Grenzen nicht nur innerhalb der Familie gezogen werden, sondern auch von dem politischen System?

Ein aufwühlender Roman über kompromisslosen Frau und die Sehnsucht nach Freiheit.


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000817
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Söhne Ari und Ben
(ihr seid mein Für-Immer.)

»Das Leid von Familien verbreitet sich von Generation zu Generation wie ein Waldbrand, zerstört alles auf seinem Weg, bis eine Person in einer Generation den Mut aufbringt, sich umzudrehen und sich den Flammen entgegenzustellen. Diese Person bringt ihren Vorfahren Frieden und verschont die Kinder, die danach
kommen.«

Terry Real

I

WAS VORHER GESCHAH

1

BILLIE

Immer wenn sie nach Hause fuhr, bekam sie Bauchschmerzen. Sie war noch nicht mal ganz angekommen, hielt den schweren Lederkoffer noch in der Hand, hatte die Haustür ihrer Eltern noch nicht ganz hinter sich geschlossen, da ging es schon los. Ihre Kinder, zwei Jungen, gleichermaßen wild und schön, rannten zu den Großeltern ins Wohnzimmer, während sie sich an der Eingangstür festhielt. Ihr Magen zog und bog sich erst in die eine, dann in die andere Richtung, ganz so, als wollte er ihren Körper verlassen. Oder in ihm zumindest bleibende Verwüstung anrichten. Es pochte. Es drückte. Es wütete. Ihre Mutter rief: »Nicht so laut«, und ihr Vater: »Nicht so wild«, und sie, die hier an diesem Ort gleichermaßen Tochter und Mutter war, zerriss es in der Mitte.

Tochter- und Muttersein waren nämlich zwei Angelegenheiten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können – bestand die eine doch daraus, nie das Gefühl zu haben zu wissen, was man tut, und die andere daraus, immer so zu tun, als wüsste man, was man tut. Sie schluckte schwer, atmete tief ein und aus (richtig atmen hatte sie erst gelernt, als die Schmerzen der ersten Geburt sie fast umbrachten) und lief mit einem strahlenden Lächeln hinter ihren Kindern her. Auf ihre Eltern zu. Einen Fuß im Weltall und einen auf der Erde. Man umarmte sich, und sie spürte die Wärme. Wollte es genießen, konnte aber nicht, weil sie genau wusste, wie vergänglich diese Wärme war. Es war die Wärme eines Wiedersehens, so wie Wiedersehen sich anfühlten, wenn man nicht nah beieinanderwohnte, wenn man im Alltag getrennt war. Es war die Wärme von Eltern, die ihr einziges Kind zu Hause begrüßten. Die Wärme, die auf Vorfreude folgt, so wie Ausatmen auf Einatmen. Es war die Wärme von Liebe, ja, das schon. Aber Liebe, das wusste sie seit ein paar Jahren, kam in allen Farben und Formen. Nur weil man jemanden liebte, hieß das noch lange nicht, dass man ihn auch mochte. Und das galt besonders in Familien. Eine Familie hatte man einfach. Die konnte man sich nicht aussuchen. Da liebte man sich dann, ohne infrage zu stellen, ob man sich auch mochte. Ihre Mutter zum Beispiel. Ihre Mutter liebte sie, so wie eine Mutter ihr Kind liebte. Sie war für sie da, sie unterstützte sie, sie verbrachte Zeit mit ihr. Aber mochte ihre Mutter sie? Konnte ihre Mutter etwas mit diesem Menschen anfangen, in den sie sich mit und ohne ihr Zutun entwickelt hatte? Das war eine ganz andere Frage. Eine Frage, die sie natürlich nie stellen würde. Sie war selbst Mutter, und sie wusste, manche Fragen stellte man Müttern nicht. Manche Fragen stellte man nicht einmal sich selbst. Erst recht nicht, wenn man die Antwort eigentlich lieber nicht wissen wollte. Denn Liebe war ein Gefühl, kein Versprechen. Und Erwartungen töteten das Herz.

Sie stand jetzt im Wohnzimmer, und fast instinkthaft durchströmte ein Gefühl von Zugehörigkeit ihren Körper. So wie der Löwe mit seinem Rudel jagt, fühlte sie, dass sie hier irgendwie hingehörte, ob sie wollte oder nicht. Sie vergaß kurz ihre Bauchschmerzen. Lange war das hier ihr Zuhause gewesen, und Zuhause war ein Gefühl, das nie so recht verblasste. Hier empfand sie eine Vertrautheit, die sie an keinem anderen Ort spürte. Aber es lag nicht nur an den vier Wänden, an der Platte oder dem Viertel, in dem sie jede Straße schon mal entlanggelaufen war, jeden Stein berührt hatte. Es lag an ihren Eltern. Sie waren ihr Zuhause, mit allen Komplikationen.

Ihr Blick fiel auf den neuen Fernseher, der viel zu groß war für das kleine Wohnzimmer und es auf aufdringliche Art dominierte.

»Dein Vater wollte ja direkt nach Italien fahren«, sagte ihre Mutter spitz. »Aber ich habe ihm gesagt, vielleicht tut es ein neuer Fernseher auch erst mal.«

Sie sah ihre Eltern fragend an.

»Die Fußballweltmeisterschaft?« Das Gesicht ihres Vaters, eine Sammlung von Falten und Furchen und Unverständnis über die Ignoranz seiner Tochter. »Ich habe jedes Spiel gesehen.«

»Ach so, ja … stimmt. Wir sind ja Weltmeister.«

»Wer auch immer wir sind«, sagte ihre Mutter.

»Mama, ich hab Hunger«, quengelte ihr Jüngster. Er drückte sich an sie.

»Ja also, so schnell bin ich nicht«, ging ihre Mutter sofort in Verteidigungsstellung.

»Alles gut, Mutti, mach in Ruhe. Ich habe noch Zwieback.« Sie ging in die Knie und begann, an ihrem Rucksack herumzunesteln, während der Kleine sich halb auf ihren Rücken legte. Sie spürte seinen warmen, kräftigen Körper. Er hatte etwas Einnehmendes. Besetzendes. Wenn jemand sich so auf einen legte, verschwammen die Grenzen zwischen nah und zu nah.

»Aber nicht hier im Wohnzimmer«, protestierte ihre Mutter, »ihr krümelt mir ja alles voll, ich habe heute Morgen gerade erst gesaugt.«

»Deine Mutter hat einen neuen Staubsauger gekauft.«

»Aha.«

»Völlig überteuert, wenn du mich fragst.« Sie sah noch, wie ihre Mutter eine abwinkende Handbewegung machte, dann schob sie ihre Söhne vor sich her in die Küche. Dort holte sie zwei Teller aus dem Küchenschrank und platzierte sie auf dem kleinen viereckigen Holztisch. Bis vor Kurzem hatte hier ein großer runder Esstisch gestanden, aber gleich nach dem Mauerfall hatte ihre Mutter darauf bestanden, die Wohnung komplett neu einzurichten. Wo sie alles hingefahren waren, für ein paar Stühle oder das perfekte Bett. Jegliche Spuren, dass hier einmal eine kleine Familie – Mutti, Vati, Kind – gelebt hatte, waren nun verschwunden. Es war jetzt die Wohnung von Mittfünfzigern, deren goldene Jahre gerade erst begonnen hatten. Alles waren jetzt nur noch sie. Zwei Stühle in der Küche. Zwei Sofasessel im Wohnzimmer. Und eine kleinere Garderobe, an die gerade mal zwei Jacken passten. Eine Wohnung für zwei, die jedem, der hinzu­kam, das Gefühl gab, zu viel zu sein. Es war ein seltsames, endgültiges Signal der Einigelung. Der Abspaltung. Der Autonomie. Der Isolation. Eigentlich wollten ihre Eltern natürlich auch, genau wie das ganze Land gerade, umziehen. Ihre Mutter träumte von einem Einfamilienhaus, so wie sie es im Westen gesehen hatten, bei ihrem ersten Ausflug über die Grenze. Aber fürs Erste hingen sie in der Platte fest, denn es gab keine freien Wohnungen, geschweige denn Häuser. Und sie als Tochter war fast froh darüber, denn ihre Platte war im Moment das Einzige, was sich noch vertraut anfühlte, während alles andere Stück für Stück verschwand.

Die Jungs setzten sich an den Küchentisch, und sie drückte jedem ein Stück Zwieback in die Hand.

»Ist ja schade, dass André nicht kommen konnte«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die ihnen in die Küche folgte und mit jedem Wort näher kam.

»Ja, der ist im Studio mit Rex, die arbeiten an ein paar neuen Songs.«

Ihre Mutter sagte nichts. Aber sie spürte förmlich, dass sie hinter ihrem Rücken die Augenbrauen in die Höhe zog. Skepsis. Immer Skepsis im Blick. Allein schon, weil sie »Songs« gesagt hatte – ihre Mutter hasste Anglizismen.

»Rex ist der Sänger von Herbst in Peking, die sind jetzt bei Toni und Fritz unter Vertrag, weißt du, von City«, redete sie einfach weiter. Ließe sie sich jedes Mal von dem skeptischen Blick ihrer Mutter aufhalten, würde sie gar nichts mehr erzählen. »Herbst in Peking sind die, die 89 verboten wurden …«

»Sind das die mit der Schweigeminute für die Opfer auf dem Platz des Himmlischen Friedens?«, fragte ihr Vater, der nun ebenfalls die Küche betrat.

»Ja, genau.« Sie grinste.

»Und die von City haben jetzt Leute unter Vertrag?«

»Ja. Die haben die erste unabhängige Schallplattenfirma der DDR gegründet.« Sie wusste, dass es ihre Eltern beeindruckte, wenn sie von den großen Stars erzählte, als wären sie ihre Freunde. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich ihnen überlegen, angriffslustig. Aber schon eine Sekunde später schlug das in Erschöpfung um. Eigentlich war sie todmüde. Müde, müde, müde. Eigentlich wäre sie gerne in einen tiefen Schlaf gefallen und vielleicht ein paar Wochen lang nicht mehr aufgewacht. Sie drehte sich leicht und sah ihre Eltern an. Mutti und Vati. Mutti war gerade vierundfünfzig geworden und Vati fünfundfünfzig. Das war schließlich auch kein einfaches Alter für diese Zeiten.

»Heute ist der Tag, an dem das System zusammenbricht«: Mit diesen Worten hatte Rex jedes seiner Konzerte begonnen, sie und André waren oft genug dabei gewesen. André meist hinter der Bühne, verantwortlich für die Technik, und sie knapp davor. Manchmal war sie auch mit auf die Bühne gesprungen, und Rex und sie hatten ein Lied zusammen gesungen. Wobei Rex eher grölte und sie dann kaum zu hören war. Und jetzt war das System tatsächlich zusammengebrochen. Und sie und Rex hatten viel zu oft miteinander geschlafen, was André natürlich nie erfahren durfte. Und ihre Eltern schon gar nicht.

»Hast du dir schon überlegt, wie alles weitergeht?«, fragte Vati, der ihren langen Blick als Aufforderung zu einem ernsten Gespräch verstanden hatte.

Was das wieder sollte, hier so zwischen Tür und Angel. Sie war doch gerade erst angekommen. Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Aus Verlegenheit schnappte sie sich nun ebenfalls einen Zwieback, obwohl sie weder Hunger hatte noch Zwieback besonders mochte. »Unsere Musik wird erst mal abgemeldet sein …«, versuchte sie, ihren Eltern direkt den Wind aus den Segeln zu nehmen, sie wusste ja, was die dachten.

»Davon kann man wohl ausgehen«, pflichtete ihre Mutter ihr erwartungsgemäß bei, »alles, was aus dem Osten kommt, ist abgemeldet. Unsere Sachen sind doch schon vollständig aus den Kaufhallen verschwunden. Überall nur noch Westware. Als hätte es unsere Firmen nie gegeben. Neulich habe ich unser Pflaumenmus von Rokoma gesucht. Weg. Einfach weg! Brauchst du nicht denken, dass dieses Zeug aus dem Westen, Zentis oder wie das heißt, schmeckt. Ekelhaft. Die Wessis lassen die ganzen Schluppen von den Pflaumen drin … Idioten.«

»Den Alkoholgehalt im Boonekamp haben sie von achtundvierzig auf vierzig Prozent gesenkt!«, fiel ihr Vater der Mutter ins Wort. Er hatte so eine Art, das Gespräch an sich zu reißen. »Das ist doch alles nur noch bekloppt«, sprach er weiter, mit dieser Stimme, die schnell etwas zu laut, etwas zu aggressiv klang. »Und es betrifft nicht nur die Fabriken, sondern auch alles andere. Keiner will mehr DEFA-Filme gucken, die Vorstellungen im Kino International sind leer, hab ich neulich gelesen. Alle wollen jetzt nur noch Hollywood.« Er sprach Hollywood irgendwie falsch aus. Aber wenn sie ehrlich war, wusste sie auch nicht genau, wie man das richtig auf Amerikanisch sagte.

»Die Leute wollen was Neues, kann man ja irgendwie auch verstehen.« Sie sah ihre Eltern kauend an, und der Zwieback knirschte zwischen den großen weißen Zähnen, die in ihrem großen Mund mahlten.

»Alles an dir ist groß«, hatte André damals gesagt, als sie sich in Bulgarien am Goldstrand kennenlernten. »Großer Mund, große Augen, großes Herz, großer Charakter.«

»Große Titten«, hatte sie lachend geantwortet, und dann hatten sie geknutscht. Gott, wie lange das her war.

»Wenn du mit der Musik kein Geld mehr verdienst, musst du dir vielleicht doch mal einen richtigen Job suchen«, sagte ihre Mutter in diesem Moment kühl. So schoss sie ihre Sätze wie Pfeile durch den Raum. Ihre Mutter. Mutti, die sie liebte, wie eine Mutter ihr Kind liebte. Aber mögen, mögen, das war eine andere Frage.

»Geld wirst du damit erst einmal nicht mehr machen können, wer soll schon auf eure Konzerte kommen?«, orakelte ihr Vater, die Welt schwarzmalend wie immer.

»Ich hab gedacht, vielleicht könntet ihr uns ein wenig unter die Arme greifen? Nur vorübergehend …« Der Zwieback tat ihrem Bauch eigentlich gut, aber das hatte sich nun erledigt. Diese Frage stellen zu müssen. Da krampfte sich sofort alles wieder zusammen. Zog und bog sich in alle Richtungen. Sie war doch gerade erst angekommen.

»Du, wir müssen unser Geld jetzt auch zusammenhalten. Deine Mutter und ich werden bald arbeitslos sein«, protestierte ihr Vater sofort. »Und bis zur Rente haben wir ja noch ein paar Jahre.«

»Na, nu übertreib mal nicht. Die Lehrer werden sie nicht entlassen, warum denn? Und du hast doch ein Gewerbe angemeldet«, sagte ihre Mutter ruhig und bestimmt mit dieser Lehrerinnenstimme, die keinen Widerspruch duldete.

»Gewerbe? Als was?«, fragte sie ihren Vater neugierig.

»Unternehmensberater. Ich kenn genug Leute. Was meinst du, was da draußen los ist? Machen sich alle selbstständig. Ich kann mich schon jetzt kaum vor Aufträgen retten.«

Sie sah ihn verwirrt an. Wie er das immer schaffte. Eben war er noch arbeitslos und jetzt plötzlich Großunternehmer. Er hörte sich selbst gerne reden, aber hörte er sich auch zu?

Vati: »Ja, wir können euch schon unterstützen.«

Mutti: »Aber eigentlich solltet ihr in der Lage sein, mit zwei Kindern auf eigenen Füßen zu stehen. Ich sag ja immer, wer Kinder bekommt, sollte sie auch ernähren können.«

Vati: »Und eure teure Reise nach Paris wäre nun wirklich nicht nötig gewesen.«

Mutti: »Und dieses ganze Musikzeug, das müsst ihr euch wirklich mal überlegen. Mein Gott, das ist ja alles schön und gut, aber leben kann doch davon niemand.«

Vati: »Vielleicht solltet ihr mal überlegen, ob ihr nicht nach Rostock zurückzieht. Ist doch alles einfacher hier, und dann können wir euch auch mit den Kindern unter die Arme greifen.«

Mutti: »Aber wie sollen sie denn hierherziehen? Ihre Arbeit ist doch in Berlin.«

Vati: »Na ja, wir unterstützen euch jedenfalls, das ist gar keine Frage. Du weißt, dass wir immer für dich da sind.«

Sie biss ein weiteres Stück von dem bröselnden Zwieback ab und nickte stumm. So lief das immer. Hin und her. Manchmal fühlte sie sich wie ein Pingpongball, der zwischen den Launen ihrer Eltern hin und her gespielt wurde. Das Schlimmste am Einzelkinddasein war, dass man keine Komplizen hatte. Die Eltern waren zu zweit, und man war allein. War ja klar, wer da wem ausgeliefert war. Sie hatte es nie gemocht, ein Einzelkind zu sein. Immer überall allein. Beim Spielen und wenn man die Eltern um etwas bitten musste, da gab es nicht noch jemanden, der einem beistehen konnte. Da musste man als Einzelkämpfer durchkommen.

Sie bereute jetzt schon, dass sie gefragt hatte, aber welche anderen Optionen hatten sie? Mann, sie kannten das doch gar nicht: Geldsorgen. Zu DDR-Zeiten gab es keine Geldsorgen. Gab doch eh nix zu kaufen. Hatte doch eh keiner was. Und jetzt lebten sie seit acht Monaten in der schönen neuen Welt, und André hatte fast alle seine Ersparnisse aufgebraucht. Vor allem nachdem sie den VW-Bus gekauft hatten, mit dem sie in den Osterferien die ganze Strecke bis Paris gekurvt waren. Dort hatte André nämlich einen Onkel, der eigentlich sein Großcousin war und den er seit dessen letztem Besuch in Ostberlin Anfang der Achtzigerjahre nicht mehr gesehen hatte. Und überhaupt: Paris! Nachdem sie einhunderttausend Jahre gedacht hatten, dass sie niemals aus diesem Land rauskommen würden. Jedenfalls nicht in Richtung Westen. Und dann stand die Welt ihnen plötzlich offen, alles wurde möglich, und Onkel Gerry in Paris war eine verdammt gute Möglichkeit. Sie hatten kurzerhand ihre Koffer und die Kinder eingepackt und waren drauflosgefahren. Durch die ganze BRD. Einmal rein in die Höhle des »Klassenfeindes«. Hannover, Dortmund, Köln, dann Holland, Belgien, Frankreich – die Kinder aufgeregt auf dem Rücksitz, denn so weit waren sie noch nie mit dem Auto gefahren, und sie und André mit staunenden Augen vorne. Sie hatten auf einem Campingplatz in Hagen und dann in einem französischen Naturschutzgebiet namens Scarpe-Schelde übernachtet. Drüben war alles so sauber, so ordentlich, die Straßen, die Häuser. Und bunter, bunter war es auch. Die Franzosen laut und lebendig. Die Holländer mit den schicksten Wohnwagen und neusten Vorzelten. Die Wessis in bunten, glänzenden Trainingsanzügen. Als sie in Paris zum ersten Mal den Eiffelturm sahen, haben sie geschrien. Um den Arc de Triomphe mussten sie unter ihrem eigenen Kreischen – und dann auch dem der Kinder, die nicht recht wussten, warum dieses Steintor ihre Eltern so begeisterte, aber natürlich sofort dabei waren, wenn es ums Schreien ging – gleich viermal fahren. Bei dem Gedanken daran musste sie unwillkürlich lächeln.

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