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Frühstück mit Lucian Freud

Um das Leben des Malers Lucian Freud ranken sich viele Gerüchte – nicht zuletzt, weil er Privates rigoros vor der Öffentlichkeit abschirmte. Geordie Greig gehörte zu Freuds engsten Vertrauten, mit ihm teilte er Geschichten aus seinem Leben, das voller Arbeitswut, grausamer Rücksichtslosigkeit und einer fatalen Hang zum Glücksspiel war. Greig enthüllt in seiner Biographie eine faszinierende Persönlichkeit, für die jeder aus der High Society liebend gern Modell sitzen wollte, obwohl es monatelange Tortur bedeutete. Illustriert mit vielen unbekannten Fotos und Bildern, ist diese Biographie eines der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts zugleich ein lebendiges Stück Kunstgeschichte.
  • Erscheinungstag: 03.02.2014
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312006267
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

 

Frontispiz: Lucian bei der Arbeit an seinem letzten Gemälde, Portrait of the Hound, März 2011

 

Titel der Originalausgabe: Breakfast with Lucian. A Portrait of the Artist

Jonathan Cape, London 2013. © 2013 Geordie Greig

 

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Michael Hofstetter, unter Verwendung eines Fotos von © Geordie Greig

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Gaby Michel, Hamburg

ISBN 978-3-312-00626-7

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

Vorwort

Mitte der 1990er Jahre verhinderte Lucian Freuddie Drucklegung der von ihm autorisierten Biographie, nachdem ihm bei der Durchsicht des Manuskripts klargeworden war, wie viele intime Details an die Öffentlichkeit gelangen würden. Der Verfasser, mit dem er zusammengearbeitet hatte, wurde großzügig entschädigt, das Projekt begraben.

Als ich in den späten 1980ern Reporter bei der Sunday Times war, erfuhr ich von einem anderen Autor, der ebenfalls an einer Biographie saß, dass von Freud beauftragte Gangster bei ihm erschienen waren und mit unangenehmen Folgen gedroht hatten, falls er seine Recherchen nicht einstellte. Auch dieses Projekt wurde begraben.

Derartige Probleme blieben mir erspart. In Lucians letzten zehn Jahren traf ich mich regelmäßig mit ihm zum Frühstück. Er taute allmählich auf und gestattete mir schließlich, unsere Gespräche auf Tonband aufzunehmen. Alles, was er in Interviews mit diversen Zeitungenund Zeitschriften gesagt hatte, sollte ich verwenden dürfen. Das Ergebnis – das vorliegende Buch, mit dessen Niederschrift ich nach Lucians Tod begonnen habe – ist ein sehr persönlicher Blick auf Leben und Werk von jemandem, der seinen Weg fünfunddreißig Jahre lang verfolgt hat, sein Vertrauen aber erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt gewinnen konnte.

Frühstück

Die beiden Männer, schweigsam, gebeugt und ein wenig verlottert, sahen aus wie Schauspieler kurz vor der Kostümprobe zu Warten auf Godot. Es war das immer gleiche Ritual: Lucian Freud, der große alte Mann der britischen Gegenwartskunst, und sein Assistent David Dawson gingen das kurze Stück von Freuds Haus in der Kensington Church Street im Londoner Stadtteil Notting Hill zu Clarke’s Restaurant. Lucian trug meist einen farbfleckigen grauen Issey-Miyake-Kaschmirmantel, schwarze Bauarbeiterstiefel und ein zerknittertes weißes Hemd, dem man ansah, dass es viel Geld gekostet hatte.

Sie betraten das Clarke’s, das natürlich noch geschlossen war, durch das benachbarte Feinkostgeschäft, von dem man über eine Verbindungstür in das Restaurant gelangte. Im Laden gab es Mandelhörnchen und Schokocroissants, Käse von biodynamischen Erzeugern, Quiches, Zitronentörtchen, Sausage Rolls und Brot, doch das Frühstück nebenan war ein Privileg, das Sally Clarke, Besitzerin und eines seiner letzten Modelle, ausschließlich Lucian Freud gewährte. Tatsächlich war ihr Lokal eine Art Privatsalon für ihn und seine Gäste.

Das Clarke’s, ein kleines, feines Restaurant, gehört seit mehr als einem Vierteljahrhundert zu Kensington. Gäste berichten, dass man sich dort fast wie auf einer privaten Dinnerparty fühlte, weil es keine Speisekarte gab, sondern nur das auf den Tisch kam, was Sally an dem Tag eingekauft hatte. Seit ein paar Jahren stehen jedoch drei, vier Gerichte zur Auswahl, immer das Frischeste der Saison. Es ist ein beliebter Treffpunkt von bekannten Fernsehleuten und prominenten Figuren wie Bryan Ferry, Salman Rushdie oder Maggie Smith. Als die burmesische Oppositionspolitikerin Aung San Suu Kyi im Juni 2012 nach vierundzwanzig Jahren Exil erstmals wieder nach England reisen konnte, ging sie an ihrem einzigen Tag in London – es war ihr siebenundsechzigster Geburtstag – zum Mittagessen ins Clarke’s. Vornehme Damen eines bestimmten Alters genießen die ruhige Atmosphäre. Mobiltelefone sind hier verpönt. Prinz William und Kate sind Stammgäste. Unter all den exklusiven Immobilienmaklern und Antiquitätengeschäften in der Gegend kann man das Restaurant leicht übersehen, aber sobald man eingetreten ist, merkt man sofort, von welcher Klasse es ist.

1989 hatte Lucian erstmals im Clarke’s gefrühstückt, und zwar mit Leigh Bowery, dem flamboyanten australischen Performancekünstler mit Wangenpiercings, kahlem Schädel oder blonder Perücke, neben dem er geradezu unscheinbar aussah. Später porträtierte er ihn. Lucian gefielen die gestärkten weißen Tischtücher, die hübschen Kellnerinnen, die ungezwungene Atmosphäre, die Blumensträuße auf dem Tresen, das grandiose Essen und natürlich die wunderbare Sally. Hinter seiner eigenwilligen, leicht verwahrlost anmutenden Erscheinung verbarg sich ein Mann von ausgeprägtem Geschmack. Nichts war dem Zufall überlassen. Das Frühstück im Clarke’s war eine kostbare Auszeit. Lucians Arbeitstage waren rund um die Uhr ausgefüllt, oder «rund um den Schwanz», wie ein Scherzkeks es nannte, denn seine Libido schien nie zu erlahmen. Manchmal legte er einem seiner weiblichen Gäste, einer Kellnerin oder Sally die Hand auf den Schenkel, was diese mit einem Lachen quittierten. Bei anderen hätte diese Geste plump oder völlig deplaziert gewirkt – bei ihm hatte sie etwas Spielerisches, fast Komödiantisches, es war ein altmodisches Zeichen von Sympathie aus einer Zeit, die noch nichts von politischer Korrektheit wusste. Es war auch Ausdruck eines Mannes, der nach dem Leben griff und für den es keine Vorschriften gab, schon gar nicht, wenn es um solch spielerische Gesten ging. Lucian konnte sich alles erlauben.

Er und David gingen fast täglich zum Frühstück ins Clarke’s. Auch ich gehörte über fast zehn Jahre zum Kreis ausgewählter Freunde, die, meist an Samstagen, eingeladen wurden, einander aber nie kennenlernten – alte und neue Liebschaften, Kunsthändler, Kinder, Rahmentischler und Freunde. Es waren ganz unterschiedliche Leute: ein hübsches krebskrankes Mädchen, das in Diensten der Queen stand, ein ehemaliger Heroinjunkie, der im Knast gesessen hatte, sein Weinhändler, sein Lieblingsauktionator, sein Buchmacher oder sein ältester Freund, der Maler Frank Auerbach. Lucian legte großen Wert darauf, seine Freunde nicht zusammenzubringen. Man bekam kaum mit, wer seine anderen Freunde waren. Dreh- und Angelpunkt in seinen letzten Lebensjahren waren sein Atelier und Clarke’s. Wer ihm wichtig war, traf dort mit ihm zusammen.

Die Frühstücksgespräche mit Lucian waren bald fester Bestandteil meiner Wochenenden, auch wenn sie meist spontan vereinbart wurden. Er verabscheute feste Verabredungen, wollte sich nicht festlegen. Begonnen hatte es, nachdem Lucian mich einmal telefonisch eingeladen hatte, doch in den letzten Jahren bildete sich eine Art Routine heraus. Morgens schickte ich David eine SMS, der für Lucian antwortete: «Clarke’s in 20 Minuten» oder «Sind im Clarke’s, komm jetzt». Lucian gab nur sehr wenigen Leuten seine Telefonnummer, einigen seiner Kinder, seinem Galeristen, seinem Anwalt und natürlich David, der auch einen Hausschlüssel hatte. Sein Terminkalender lag aufgeschlagen auf dem alten Mahagonitisch im Esszimmer. In seiner kindlichen Handschrift hatte er die Namen derjenigen eingetragen, die er an dem Tag sehen wollte, mit knappen Angaben zu Zeit und Ort («Frank 9 Clarke’s», «Jane 8.45»), und auch den Namen der Person, die ihm später Modell sitzen würde. David weckte Lucian, wartete, bis er sein Bad genommen hatte, und dann machten sich die beiden auf den Weg ins Clarke’s.

 

 

Notiz von Lucian zur Erinnerung an den Frühstückstermin

 

David arbeitete zwanzig Jahre für Lucian. Sie verbrachten mehr Zeit miteinander als mit anderen Menschen in ihrem Leben. Sie kannten einander gut und hatten eine völlig unkomplizierte Beziehung. David kam in Kontakt mit Lucian, als er noch für dessen damaligen Galeristen James Kirkman arbeitete, der ihn bat, bestimmte Aufgaben in Lucians Haus zu übernehmen. Er kümmerte sich um die täglichen Dinge, holte Geld von der Bank (Lucian liebte Bargeld; nach seinem Tod fand sich haufenweise Bargeld in den beiden alten Weinkühlern in seinem Wohnzimmer) und besorgte die Schmerztabletten, die Lucian nahm, um in Schwung zu kommen und Schmerzen zu vergessen. Wichtig war aber vor allem Davids Funktion als Organisator des Ateliers, der sich um sämtliche Details im Zusammenhang mit Lucians Arbeit kümmerte. Er war, wie Lucian oft erklärte, «richtig, richtig gut». Er wusste genau, was Lucian für seine Arbeit brauchte, und sie hatten den gleichen Humor.

David, 1960 geboren, studierte am Royal College of Art und war der einzige seines Abschlussjahrgangs, den der Kunstkritiker des Evening Standard, Brian Sewell, für wirklich fähig befand. Der Zeitgenosse von Tracey Emin ist nicht nur Lucians Modell und Assistent in den letzten zwei Jahrzehnten, sondern ein eigenständiger Künstler. Seine Radierung Talbot Road ist, neben einigen Auerbachs, eines der wenigen Bilder, die in Lucians Atelier hängen.

Zu meinen Frühstücksterminen im Clarke’s stellte ich meinen Wagen in der Nähe ab und ging dann die paar Schritte, vorbei an dem Privatparkplatz, wo für Lucians braunen Bentley ein eigener Platz reserviert war. Aus der Nähe konnte ich David und Lucian am hinteren Fenster sehen, immer an demselben runden Tisch, vor ihnen die Tageszeitungen, die David besorgt hatte. Lucian ließ sich eine Kanne Earl Grey bringen, den er einschenkte, noch ehe der Tee richtig gezogen hatte, und gab Milch dazu, während David sich für Cappuccino entschied. Dazu gab es Rosinenbrötchen oder Porridge oder Rührei auf Toast. Sally und David achteten darauf, dass er genügend und möglichst gesund aß, denn er hatte eine große Schwäche für Süßigkeiten. Wenn er den Shop betrat, nahm er manchmal ein Stück hausgemachtes Nougat vom Regal und steckte es sich mit gespielt diebischer Geste in die Manteltasche. Mit einem scharfen Küchenmesser schnitt er Scheiben davon ab, die er seinen Gästen anbot.

 

 

David Dawson und Lucian im Clarke’s

 

In Lucians letzten drei Lebensjahren fuhr ich von Holland Park, wo ich in dem Haus wohnte, in dem sich sein Atelier befand, zum Clarke’s. Die einzige, ungeschriebene Regel war, dass man pünktlich sein musste. Das Clarke’s war neutrales Terrain für ihn, ein Refugium von Schlafzimmer oder Atelier. Hier konnte er entspannen. Manchmal kamen meine drei Kinder, Jasper, Monica und Octavia, und zeigten ihm, was sie mit ihren Playstations machten oder mit meinen iPads. Dabei entstanden seine einzigen digitalen Zeichnungen – ein Pferd auf einem iPad und eines auf einem iPhone. Lucian war reizend zu den Kindern, lachte amüsiert, als Jasper ihm erklärte, dass er nette Knie habe – «gehören zu den besten Teilen von mir» – oder dass die Initialen OM nach seinem Namen für «Old Man» stünden und nicht für Order of Merit. Lucian trommelte mit einem Löffel oder einer Faust auf den Tisch, zog den Kindern imaginäre Kirschen aus dem Ohr, sang Liedchen oder rezitierte Gedichte von Walter de la Mare oder Rudyard Kipling. Das waren sehr rührende Momente.

 

 

Im Gespräch mit Jasper Greig, September 2010

 

Im Gespräch mit Jasper Greig, September 2010

 

 

Lucian mit Monica und Octavia Greig

 

In den Gesprächen mit Lucian ging es um die verschiedensten Themen, von Rendezvous mit Greta Garbo bis zu der Frage, wie man jemandem eine gerade Rechte verpasst, ohne sich dabei den Daumen zu brechen, er erzählte von seinem Besuch bei Premierminister Gordon Brown in der Downing Street oder von Kate Moss, mit der er einen Nachtclub besucht, oder von einem Gemälde, das er für eine astronomische Summe verkauft hatte. Lucian war geistreich, ätzend, neugierig. Zitate von Goethe, Noël Coward, T. S. Eliot und Yeats gingen ihm wie selbstverständlich über die Lippen. Es war immer eine Performance, ob er nun Nat King Coles «There’s Gotta Be Some Changes Made» sang oder ein französisches Gedicht aus dem neunzehnten Jahrhundert vortrug. Er erzählte von seinem Streit mit Ian Fleming in den 1940ern, der einen Nebenbuhler in ihm sah («völlig grundlos»), von Stephen Spender, der einige Zeichnungen gestohlen hatte, oder von einer Ballettvorstellung in Covent Garden, zu der ihn Jacob Rothschild tags zuvor eingeladen hatte. Manche Geschichten gingen noch weiter zurück, wenn er beispielsweise von seinen Erlebnissen als Statist in George Formbys Filmmusical Much Too Shy erzählte. (Er spielte einen jungen Maler an der School of Modern Art, während Formby ein tolpatschiger Typ war, der Reklameplakate für das örtliche Kino malt. Als der Kinobesitzer ihn bittet, attraktive Frauen in Seidenstrümpfen und Satinwäsche für sein Kino zu malen, meldet er sich an der Kunstakademie an, aber er ist so schüchtern, dass er kein Modell findet. «Wenn ich eines Tages ein berühmter Maler bin, werden meine Bilder weggehen wie kühles Bier im Sommer», prahlt er gegenüber seinem jungen Assistenten Jimmy. «Mir wär kühles Bier lieber», erwidert dieser.)

 

 

Rasch hingeworfener Pferdekopf, Lucians einzige iPad-Zeichnung, November 2010

 

Oft wurde über Maler diskutiert, von Degas (den Lucian bewunderte) bis Raffael (den er nicht zu den wahrhaft Großen rechnete). Am allerbesten fand er Rembrandt und Velázquez. Ein andermal erzählte er, dass Chardin in seinem Gemälde Die kleine Schulmeisterin von 1735 «das schönste Ohr der Kunstgeschichte» gemalt habe. Die Gespräche waren leicht und unbeschwert, manchmal tiefschürfend. So konnte er über die quietschbunten Cupcakes in der angesagten Konditorei lästern, die in der Nähe aufgemacht hatte, und im nächsten Moment über sein jüngstes Gemälde sprechen oder über einen Brief von Flaubert, der ihm besonders gefiel. Wenn er über sein Werk oder seine Bekanntschaften sprach, dann nie prahlerisch. Gern erzählte er von den Ganoven, unter denen er in Paddington gelebt hatte, oder wie er in den 1960ern in Dorset oder in den nuller Jahren unweit des Gefängnisses Wormwood Scrubs geritten war. Von seinem Großvater Sigmund sprach er mit großer Wärme.

Sein Verhältnis zu ihm betrachtete er ohne modisches Psychologisieren. «Diese Denkweise ist mir fremd», erklärte er mir. Allzu viel Analysieren, fand er, lähme einen nur.

 

GG  Besaß Ihr Großvater ein Gemälde von Ihnen ?

LF   Ja, ich habe ihm ein paar Sachen geschenkt, aber meine Tante Anna hat sie vernichtet.

GG  Warum ?

LF   Ich glaube, weil sie ihm gefallen haben. Einmal habe ich versucht, sie wieder auszuleihen, was aber irgendwie nicht klappte. Ein Dienstmädchen, mit dem ich mich gut verstand, verriet mir, dass meine Tante sie vernichtet hatte. Sie war unmöglich.

GG  Haben Sie Ihren Großvater oft gesehen ?

LF   Ja, ich war gern bei ihm. Es war nie langweilig. Er hat mir Witze erzählt. Ich weiß noch, wie nett er zu dem Dienstmädchen war. Ich habe ihn gern besucht. Ich habe mal ein Buch von Norman Douglas aus seiner Bibliothek mitgenommen, auf dessen Titelblatt jemand «Bitte nicht Prof. Freud zeigen» geschrieben hatte. Es gab ja einen Limerick, der so ging:

 

The girls who frequent picture palaces

Have no use for this psychoanalysis,

But although Doctor Freud

Is extremely annoyed

They cling to their long-standing fallacies.

 

Die Mädchen, die ins Kino gehen,

Haben für Analyse nichts übrig,

Doch obwohl Doktor Freud

Das gar nicht gut findet,

Halten sie an ihren liebgewonnenen Illusionen fest.

 

Ein anderes Gedicht, das Lucian gern zitierte, spottete über jüdische Intellektuelle, darunter auch seinen einstigen Schwiegervater, den Bildhauer Jacob Epstein (der Lucian einmal als «schmierigen Geschäftemacher» bezeichnete):

 

There was once a family called Stein,

There was Gert,

There was Ep,

There was Ein.

Gert’s writings were bunk,

Ep’s statues were junk,

And no one could understand Ein.

 

Es war einmal eine Familie namens Stein,

Da war Gert,

Da war Ep,

Da war Ein,

Gerts Schriften waren Mumpitz,

Eps Statuen waren Schrott,

Und Ein konnte niemand verstehen.

 

Eine Stunde dauerte das Frühstück, manchmal auch zwei. Dann musste Lucian wieder an die Arbeit. Er steckte den Schlüsselbund und seine Lesebrille ein, David packte die Zeitungen zusammen. Und dann ging es zurück zu seinem wohlproportionierten Haus mit den weißen Fenstern, der dunkelgrauen Tür, dem schmiedeeisernen Gatter und der Bambushecke, die das Haus vor neugierigen Blicken verbarg. An der Klingel stand kein Name, aber wenn er oben arbeitete, war sie ohnehin kaum zu hören. Unangemeldete Besucher hatten also keine Chance.

Die meisten seiner großen Gemälde der letzten fünfundzwanzig Jahre sind im Atelier in Holland Park entstanden. Das Haus in der Kensington Church Street hatte er ursprünglich gekauft, um etwas mehr Platz und auch mehr Privatsphäre zu haben, was ihm immer sehr wichtig war. Einer Freundin sprach er davon, dass sie dort gemeinsam einziehen könnten, aber letztlich hätte er sich doch eingeengt gefühlt.1 Das Haus wurde ein zweiter Arbeitsplatz, war aber viel ordentlicher als das Atelier in Holland Park, wo alte Kaviardosen von Fortnum & Mason auf dem Küchenschrank standen, neben einer zersprungenen Vase mit harten Pinseln, verstaubten Musikkassetten von Johnny Cash, alten Auktionskatalogen von Christie’s und Korkenziehern. In den letzten vier Jahren arbeitete er nicht mehr in Holland Park, sondern in seinem Haus, wo er zwei Zimmer im Obergeschoss als Atelier nutzte. Beide Immobilien sind heutzutage mehrere Millionen Pfund wert, die ärmlichen Verhältnisse in Paddington, als er die Miete aus den bescheidenen Einkünften von Tantiemen seines Großvaters bezahlte, liegen weit hinter ihm. Im Grunde wollte er immer nur einen Ort haben, wo er ungestört arbeiten konnte.

In den letzten drei Jahren arbeitete Lucian fast jeden Tag nach dem Frühstück an Portrait of the Hound, seinem letzten Gemälde. Es zeigte Eli, den Whippet, der neben dem nackt daliegenden David umso kleiner wirkte. Es war ein monumentales und bewegendes Finale.

Lucians letztes Bild bekräftigte noch einmal, dass er ein überzeugter Vertreter der figürlichen Malerei war. Er verachtete abstrakte Malerei, Expressionismus, Postmoderne und Konzeptkunst. Für ihn stand das intensive Studium des menschlichen Körpers im Zentrum der Kunst. Erstaunlich viele frühe Werke sind erhalten, zum Teil bis zu siebzig Jahre alt. Dazu gehören einige naive Zeichnungen aus seiner Berliner Kindheit, vor allem aber ein Skizzenbuch, das er 1941 angelegt hatte, als er als einfacher Matrose auf der MS Baltrover fuhr, einem Frachter, der während der Kriegsjahre zwischen England und Nordamerika verkehrte. Lucians Werk ist außerordentlich vielfältig, von zarten Bleistiftskizzen in Liebesbriefen bis hin zu gigantischen Bildern eindrucksvoller nackter Leiber. Keine zwei Bilder sind in Dimension oder Komposition gleich.

Am Ende war Lucian Freud ein Symbol figurativer Kühnheit, doch in den 1970ern und 1980ern wurde er keineswegs so wahrgenommen. In Amerika fand man, er sei hinter der expressionistischen und abstrakten Avantgarde zurückgeblieben. Er konzentrierte sich auf die Porträtmalerei, und er provozierte. «Es ist der einzige Grund, morgens aufzustehen: malen, etwas Gutes schaffen, etwas noch Besseres schaffen, nicht aufgeben, konkurrieren, ehrgeizig sein», sagte er. Es war oft ein einsamer Weg. Seine Malerei war zwar tief in der Tradition verwurzelt, aber er schuf Werke, die oft als schockierend und verstörend empfunden wurden.

Auch die rein biographischen Fakten erzählen eine packende Geschichte. Lucian, ein Enkel Sigmund Freuds, wurde 1922 geboren und floh 1933 mit den Eltern aus Deutschland, nachdem einer seiner Cousins in Berlin am helllichten Tag von Nazischlägern vor einem Café ermordet worden war. Der Schatten von Tod und Flucht bewirkte, dass Lucian in England einen enormen Lebenshunger entwickelte, sich über alle konventionellen Moralvorstellungen hinwegsetzte und Rivalen ignorierte. Er wollte etwas Bleibendes hinterlassen, und die Malerei war sein Lebensinhalt.

Noch in seinen letzten Jahren, beweglich, lebendig und weltweit berühmt, erregte er überall Aufmerksamkeit. In seinem Atelier saß er in einem Sessel, die Beine über der Lehne wie ein Teenager. Seine Rahmentischlerin Louise Liddell sagte: «Er war toll, einfach toll.»2 Intellekt und Emotion kollidierten in seinem Werk und Leben, insofern er Menschen porträtierte, die ihn anzogen, um Bilder zu schaffen, die visuelle Wucht und psychologische Tiefe besaßen. Seine Bilder vermittelten eine intensiv beobachtete Wahrheit dessen, was vor ihm war, von den geöffneten Frauenschenkeln bis hin zu den leeren Blicken hoffnungsloser Männer in merkwürdigen Posen. Lucian veränderte Psychologie und Sprache der Porträtmalerei.

 

 

Eli in Lucians Atelier, entspannt

 

Er heiratete zweimal und zeugte offiziell mindestens vierzehn Kinder.3 Sein Ruf als Don Juan und Künstler war jahrzehntelang Stoff für den Boulevard. («Ist er der größte Liebhaber aller Zeiten ?», fragte die Daily Mail). Einige seiner Kinder saßen ihm nackt Modell, auch sein damals neunundzwanzigjähriger Sohn Freddy, von dem er einen lebensgroßen Ganzfigurakt malte. Lucian war ehrlich und unerschrocken. Auf die briefliche Warnung des steinreichen Unternehmers Sir James Goldsmith, dass er ihn aus dem Weg schaffen lassen werde, wenn er seine Tochter male, entgegnete Lucian: «Ist das ein Auftrag ?» Mir selbst schrieb er vor unserem ersten Gespräch: «Bei der Vorstellung, von Ihnen interviewt zu werden, wird mir ganz schlecht.»

In seinen letzten Jahren, als er längst nicht mehr in Paddington wohnte, wurde er, wenn er morgens zum Frühstück in einem Café am Smithfield Markt auftauchte, von den Männern mit «Na, Lou, wie geht’s ?» begrüßt. Er hielt gern Kontakt zu den unteren Schichten der Gesellschaft, aber genauso wohl fühlte er sich in Ascott, dem Landsitz des Bankiers Sir Evelyn Rothschild in Buckinghamshire, dessen Pferdebilder von George Stubbs er bewunderte. Die Angehörigen der Ober- und Unterschicht standen ihm näher als die bürgerliche Mittelschicht, aber London verließ er nur selten. «Ich bewege mich lieber in der Vertikalen als in der Horizontalen», lautete seine denkwürdige Beschreibung der Koordinaten seines sozialen Umgangs.4

Lucian fand jede neue Generation faszinierend, und immer bewegte er sich in ganz unterschiedlichen Kreisen. In den nuller Jahren malte er Jerry Hall und Brigadier Andrew Parker Bowles (Ex-Ehemann von Camilla, Herzogin von Cornwall), in den 1940ern und 1950ern hatte er Stephen Spender und Francis Bacon porträtiert. Als er im September 1933 als zehnjähriges Emigrantenkind nach England kam, galt er schon als großes Talent. Achtzig Jahre später drehten sich die Leute in Restaurants und Galerien noch immer nach ihm um wie nach einem Rockstar.

 

 

Der 87-jährige Lucian, entspannt

 

In seinen letzten Jahren konnte man ihn abends oft an Tisch 32 in einer Ecke des Wolseley sehen, des illustren Restaurants am Piccadilly Circus. Wenn er sich im Raum umblickte, hielt er nicht Ausschau nach prominenten Gästen, sondern nach Schulterpartien, Knien, Gesichtern, Armen, Beinen und Ohren. Ihn interessierte, wie die Leute aussahen, nicht, wer sie waren. Als Keira Knightley eines Abends in der Nähe saß, wusste er nicht, wer sie war, denn er sah nie Filme, weder Kino noch Fernsehen. Er fragte mich, ob ich diese Schönheit kenne.

Lucian war selbst im Wolseley eine auffällige Erscheinung. Richard Wallace, Herausgeber des Daily Mirror, spürte sein Charisma. Zwei Tage nach seinem Tod schrieb er mir: «Ich war überrascht, wie sehr mich sein Tod getroffen hat. Ich kannte ihn ja nicht – abgesehen von den gelegentlichen Blicken im Wolseley. Das letzte Mal sah ich ihn vor ein paar Wochen, an einem Samstag, ich war dort allein zum Lunch, er saß an einem Nebentisch mit einer üppigen jungen Blondine. Als ich meine Zeitung aufschlug, schimpfte er plötzlich, wild und aggressiv: ‹Der liest den Daily Mirror.› Ich spürte seinen Blick, hatte aber nicht den Mut, ihm in die Augen zu schauen.»

Gelegentlich saß er auch an Tisch Nr. 25, etwas näher am Eingang, aber noch im inneren Kreis. Er war ein vertrauter Anblick, die aufmerksamen Kellner hielten ihm allzu neugierige Leute vom Leib. Lucian bezahlte stets mit druckfrischen Fünfzig-Pfund-Scheinen. Manchmal bestellte er Garnelen, die er pulte und mit seinen Gästen teilte. Er liebte Delikatessen wie Fasan oder Moorhuhn, die direkt vom Landsitz eines seiner aristokratischen Freunde stammen mochten.

Lucians gesellschaftlicher Aufstieg in seiner englischen Wahlheimat ähnelte in gewisser Weise demjenigen Anton van Dycks (1599–1641), auch er ein kontinentaleuropäischer Emigrant, der noch englischer wurde als die Engländer selbst. Van Dycks Mäzene waren die Herzöge von Buckingham und Norfolk, bei Lucian waren es die Herzöge von Devonshire und Beaufort. Van Dyck malte Karl I., Lucian malte Elisabeth II. Beide Künstler führten ein anregendes soziales Leben, wenn der Flame auch etwas bescheidener in Sachen Nachkommenschaft war. Er hatte zwei Töchter, eine mit seiner Mätresse und eine mit seiner Ehefrau. Beide Männer eroberten die englische Gesellschaft als die bedeutendsten Porträtisten ihrer Zeit.

Lucian besaß ein geradezu aristokratisches Selbstbewusstsein. Auf meine Frage, ob er als deutscher Jude auf dem britischen Frachter, auf dem er Anfang der 1940er angeheuert hatte, schlecht behandelt worden sei, antwortete er nur, dass die Seeleute ihn als Gentleman betrachtet hätten. Und auch als Mitglied einer Oxforder Dining Society konnte er genauso unbekümmert auftreten. Als Vierundachtzigjähriger warf er einmal mit Grissini nach einem Mann, der ihn im Wolseley mit Blitzlicht fotografierte. Der Mann trat an den Tisch, um zu protestieren. Lucian, vierzig Jahre älter, baute sich kampfeslustig vor ihm auf. Der Mann beklagte sich später, Lucian habe den Geburtstag seiner Tochter vermasselt. «Seien wir ehrlich», sagte Jeremy King, Miteigentümer des Wolseley, «das hat er fertiggebracht. Er war furchtlos. Das hat mir so gefallen an ihm. Er war nicht aggressiv, aber wenn er sich provoziert fühlte, kannte er kein Pardon.»5

Lucian erzählte mir, wie Francis Bacon mäßigend auf ihn eingeredet habe: «Er fragte, warum ich immer gleich aus der Haut fahre, und schlug mir eine verbindlichere Art vor: ‹Nutze deinen Charme.›» Lucian hat immer gern die Fäuste eingesetzt. In den 1960ern trat der Thane of Cawdor im Cuckoo Club in Piccadilly um vier Uhr morgens auf ihn zu und zündete die Zeitung an, die Lucian gerade las. Er schlug ihm ins Gesicht, und dann setzten sie sich hin und tranken zusammen und rauchten eine Zigarre. Noch in seinen Achtzigern lieferte er sich in einem Supermarkt in Holland Park eine handfeste Schlägerei, nachdem es an der Kasse zu Streit gekommen war. Manchmal rastete er richtig aus, wie etwa eines Abends im Restaurant Bibendum in der Fulham Road. Es war schon spät, Lucian und sein Freund Victor Chandler setzten sich an einen Tisch, woraufhin ein – offenkundig schwuler – Kellner fragte: «Na, Jungs, im Theater gewesen ?»

Lucian polterte los: «Was geht dich das an, ob wir im Theater waren ?» Verdutztes Schweigen. «Nur weil wir um elf Uhr abends zusammen ausgehen, heißt das noch lange nicht, dass wir schwul sind wie du.»

«Ich fleh dich an, hör auf», sagte Victor.

«Aber warum denkt er das ?», fragte Lucian. «Mir ist egal, was jemand ist, aber warum denkt er das ?» Und dann versetzte er dem Kellner einen Faustschlag, während Victor versuchte, ihn zurückzuhalten.

Ein andermal, als er mit Victor ins River Café ging, um dort etwas zu essen, betraten zur selben Zeit zwei jüdische Paare das Restaurant. «Lucian konnte furchtbar antisemitisch sein, was an sich merkwürdig war, aber das Parfüm der beiden Frauen war wirklich überwältigend. Lucian rief: ‹Ich hasse Parfüm. Frauen sollten, wenn überhaupt, nach Fotze riechen. Man sollte ein Parfüm mit diesem Namen erfinden.› Er war betrunken und laut, aber das andere Paar hörte ihn und war extrem beleidigt. Ich bat sie: ‹Bitte nehmen Sie es ihm nicht übel, er ist verrückt und betrunken.› Die Kellner waren entsetzt, und ich sagte fortwährend: ‹Beruhige dich, Lucian !› Und er nur: ‹Ich beruhige mich nicht› und die üblichen anderen Sachen.»6

Jeremy King sorgte dafür, dass Lucian sich im Wolseley wohlfühlte. Das Restaurant war eine richtige Erholung nach der intensiven Arbeit im Atelier. Immer hatte man Lucians Lieblingsweine vorrätig, und manchmal überraschte man ihn mit einem richtig großen Jahrgang. (Die Rothschilds baten Lucian einmal, ein Etikett für ihren Mouton-Rothschild zu gestalten. Er lieferte eines aus den 1940ern, statt, wie gewünscht, ein neues zu entwerfen.)

Lucian suchte sich einen aufmerksamen Beobachter, als er Jeremy King porträtierte, der ihm 2006/07 über Hunderte von Stunden Modell saß, und anschließend noch eine Radierung vorbereitete, die er jedoch nicht mehr fertigstellen konnte. King, dem das beste Restaurant in London gehörte, war in Harold Pinters Stück Celebration als der ultimativ elegante «Maitre d’» verewigt worden. Scherzhaft bemerkte Lucian, dass «Jeremy einen schwarzen Gürtel hat und einen Mann mit einer einzigen Bewegung töten kann» – was überhaupt nicht stimmte, aber Lucian gefiel dieses Bild einfach. Manchmal erfand er eine Art Wahrheit, nicht unbedingt eine Lüge, eher eine poetische Wahrheit, die richtig klang und die er zumindest für wahr hielt.

King erinnerte sich, dass Lucian gern «Cheek to Cheek» sang oder «You’re the Top» und dass sie um die Wette sangen, um zu sehen, wer den Text am besten konnte. Er war praktisch unschlagbar, denn am Ende eines jeden Songs erklärte er, dass er dazu mit Marlene Dietrich getanzt habe. Er liebte Witze und Klatschgeschichten, Gedichte und Limericks und Wortspiele. Aus seinem Mund klangen die meisten Dinge irgendwie ungewöhnlich, ob es der Schnitt eines Revers war, Gedanken über die Liebe oder die Zubereitung von Spinat: «[Trotzdem] kann ich mir vorstellen, dass ich Spinat mit Öl mögen würde, wenn er von einer Frau zubereitet wird, in die ich verliebt bin. Mir würde auch dieses leicht Heroische daran gefallen, ihn zu mögen, obwohl ich es normalerweise nicht mag, wenn er so zubereitet wird.»7

Er war verspielt und eigenwillig, und obwohl ihm seine Privatsphäre so wichtig war, sehnte er sich nach Anerkennung. Nicht zuletzt deswegen war er so angenehm in Gesellschaft. «Ich gebe gern an, nicht im Atelier, aber wenn ich mit Leuten zusammen bin», sagte er. Unvergesslich ist sein Kopfstand, festgehalten von dem Fotografen Bruce Bernhard und beobachtet von seiner Tochter Bella, die beeindruckt neben ihm saß. Lucian hat oft schockiert. Denken wir nur an die Situation im River Café, als er im Beisein von Sue Tilley (die ihm für Benefits Supervisor Sleeping Modell saß) einen masturbierenden Wal imitierte. Nicht alle Anwesenden fanden das komisch.

Er hatte etwas Rechthaberisches, war manchmal schwierig und impulsiv. Einmal schrieb er einem Kurator der Tate: «Nicholas Serota lügt. Ich habe dieses Bild nie besessen.» Der Kurator hatte lediglich eine Anfrage Serotas weitergegeben, der Francis Bacons Gemälde Two Figures (1953), das in Lucians Schlafzimmer hing, für die Tate ausleihen wollte. Das Bild, das wegen seines homosexuellen Inhalts für Lucian nur «The Buggers» hieß, hatte für einen Skandal gesorgt, als es erstmals öffentlich gezeigt wurde. Es bezog sich auf Edward Muybridges Fotoserie nackter Männer (Lucian besaß mehrere Bände von Muybridge). Offiziell gehörte das Bild Lucians Freundin Jane Willoughby, und der Kurator wollte einfach sagen, wie dankbar die Tate für die Leihgabe sei, hatte es aber so formuliert, als sei Lucian der Besitzer, der daraufhin diese ruppige Reaktion schickte. (Das genannte Werk wurde übrigens nicht ausgeliehen. Lucian hat der Tate jedoch ein Porträt von Leigh Bowery geschenkt, und Serota und Lucian blieben befreundet.)

Lucian interessierte sich nicht für Geld, freute sich aber, wenn er sah, welche Preise seine Werke bei Auktionen erzielten, auch wenn sie ihm schon nicht mehr gehörten. Als Roman Abramowitsch im Mai 2008 das Gemälde Benefits Supervisor Sleeping für 17,2 Millionen Pfund erwarb (der höchste Preis, der je für das Werk eines lebenden Künstlers gezahlt wurde), erfüllte ihn das mit großer Befriedigung. Reichtum hat sein Leben nicht geändert, er hat auch ohne Geld immer gut gelebt. Freunden gegenüber konnte er sehr großzügig sein (einigen seiner Modelle schenkte er ein Haus), Wohltätigkeitsauktionen hat er aber nie bedacht. Für ihn wäre das eine allzu öffentliche Geste gewesen. Als Leigh Bowery für Sex in einer öffentlichen Toilette zu einer Geldstrafe von vierhundert Pfund verurteilt wurde, bezahlte Lucian den Betrag, und er kam auch für die Überführungskosten auf, nachdem Leigh in Australien an Aids gestorben war. Lucian hinterließ nicht gern Spuren und signierte auch nur ungern Bücher, zumal Kunstbücher oder Kataloge eigener Werke. Wenn man ihn nachdrücklich darum bat, schrieb er vielleicht «von mir» auf die Titelseite und setzte einen Pfeil dazu, der auf seinen Namen zeigte.

Viele Modelle und Geliebte waren überwältigt von seiner starken Persönlichkeit, nahmen aber immer wieder Kontakt zu ihm auf. «Viele meiner Modelle sind Mädchen, die die Leere in ihrem Leben dadurch ausfüllen, dass sie Malern Modell sitzen», sagte er einmal. «Ich muss mich auf zuverlässiges Erscheinen verlassen können, das ist wichtig.» Und es gab Verluste unterwegs – verstoßene Freundinnen, gekränkte Kinder, unbeantwortete Briefe oder rüde Antworten, Schulden, Beleidigungen. Seine Spielregeln besagten, dass er kompromisslos seine Ziele verfolgte und seinen Vergnügungen nachging. Es war ein egoistisches Leben, aber eines, das er bereitwillig erklärte und verteidigte. Den Companion of Honour (CH) und Order of Merit (OM) nahm er an, doch den CBE lehnte er 1977 in einem Brief an den damaligen Premierminister ab: «Ich hoffe, man wird verstehen, dass ich aus egoistischen Gründen zu dieser Entscheidung gekommen bin.»8 (Den CH lieh er einer seiner Töchter für einen Kostümball, auf dem das Ding verlorenging. Der OM wurde wenige Monate nach Lucians Tod protokollgemäß an den Buckingham Palace zurückgegeben.)

 

 

Lucian, April 2010

 

Man hat ihm Untreue, Grausamkeit und mangelnde väterliche Fürsorge vorgeworfen, aber trotz seines zuweilen unglaublich egoistischen Verhaltens verteidigen ihn einige seiner Kinder und Freundinnen und sogar deren Kinder. Zeit seines Lebens wurde ihm alles verziehen. Seinem Charisma konnte kaum jemand widerstehen. «Er war ebenso charmant wie bösartig, eine total bezaubernde, erschreckend clevere Figur, durch die sich, wie ein Faden in einem Geldschein, etwas ausgesprochen Böses zog. Ich habe ihn verehrt und fand ihn zugleich beängstigend», sagte Lady Lucinda Lambton, deren Mutter, Lady Bindy Lambton, über mehr als fünfundzwanzig Jahre eine seiner Geliebten war. Lucinda lehnte es ab, sich nackt von ihm malen zu lassen, die Vorstellung war ihr einfach unangenehm.

Ungeachtet all dieser Widersprüche waren es natürlich die Gemälde, die ihm Bekanntheit verschafften. In den 1950ern und 1960ern, als abstrakte und postmoderne Kunst tonangebend war, malte er beharrlich Porträts. Obwohl er in Amerika, das den Kunstmarkt in den nächsten zwanzig Jahren beherrschte, als Randfigur galt, wurden Mode und Markt schließlich doch aufmerksam. 2004 schrieb der Kunstkritiker Robert Hughes über Lucians langen Kampf um Anerkennung: «Jeder Zoll Boden muss erkämpft, muss begründet werden, weist die Spuren von Neugier und Befragung auf – und nimmt vor allem nichts als selbstverständlich hin und verlangt vom Betrachter aktive Auseinandersetzung. Nichts dergleichen finden wir bei Warhol oder Gilbert und George oder irgendeinem der anderen Plünderer und Wiederverwerter, von denen es in dem kümmerlich aufgehübschten Wäldchen einer längst verfallenen, ausgequetschten Postmoderne nur so wimmelt.»9

Lucian Freud war der größte realistische, figürliche Maler des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit seinen Aktporträts schuf er ein neues Genre. Er war ein Künstler, der keinerlei Grenzen akzeptierte. Er war ganz und gar unkorrumpierbar. «Wenn mich jemand fragte, ob ich ihn porträtieren würde, lehnte ich meist sofort ab, hätte am liebsten sogar zugeschlagen», erklärte er mir. «Und wenn mich jemand unter Druck setzte oder bedrohte, hat es erst recht nicht funktioniert.» Malerei und Leben waren für ihn eins. Er forderte Gefahren heraus, er liebte das Risiko und führte ein Leben voller Widersprüche, lustvoll, chaotisch und befremdlich.

Kontaktversuche

Mit siebzehn habe ich zum ersten Mal ein Gemälde von Lucian Freud gesehen, und zwar während eines Tagesausflugs nach London, den wir Etonianer mit unserem Englischlehrer Michael Meredith unternahmen. Die siebzehn Bilder in der Kunstgalerie Anthony d’Offay weckten mein Interesse an dem Künstler und seinem Werk.

Das Gemälde, das mich an jenem Tag besonders faszinierte, war Naked Man with Rat, das Aktbild eines langhaarigen jungen Mannes auf einem Sofa, die Schenkel weit geöffnet, direkt neben seiner Lende hielt er eine Ratte, deren Schwanz über seinem Oberschenkel lag. Dieses verstörend drastische Werk hing direkt neben einem Porträt der Mutter des Künstlers.

Nach dem Besuch der Kunstgalerie gingen wir ins Theater, um uns eine Aufführung von Peter Shaffers Equus anzusehen, das Stück über einen Jungen, der sich seelisch und körperlich entblößt, um seine sexuellen und psychischen Dämonen zu vertreiben. Die Figur des Jungen, der sechs Pferde blendet, hat sich mir ebenso eingeprägt wie das Aktporträt des Mannes mit Ratte.

Das größte der ausgestellten Gemälde maß nur 90 x 90 cm, das kleinste, ein Kopfbild von Lucians Mutter, lediglich 32 x 23 cm. Aber sie waren besonders eindrucksvoll. Wer war der langhaarige Mann ? Warum war er nackt ? Weshalb um alles in der Welt hielt er die Ratte so nah an seinem Geschlechtsteil ? Fragen über Fragen. War Freuds Mutter krank ? Auffällig war ihre ruhige, gelassene Haltung. Diese beiden ungewöhnlichen Altersstudien ließen keinerlei Gefühlsregungen erkennen. Hier fand eine merkwürdige Alchemie statt. Die Figuren schienen aufgeladen, psychologisch verwirrend, wie durchleuchtet, mit mehr als einer Andeutung von Risiko und Gefahr. Ich begriff, dass die Wahrheit schmerzhaft sein konnte.

Der Ausstellungskatalog enthielt ein Foto von Lucian Freud, aufgenommen von seiner Tochter Rose Boyt, auf dem er aggressiv in die Kamera blickt. Die nur halb zugeschnürten Bauarbeiterstiefel, das zerknitterte weiße Hemd und der Schal geben ihm etwas rockermäßig Hartes und zugleich Dandyhaftes. Mit seiner karierten Hose sieht er aus wie eine Kreuzung aus Bäcker und Boxer, die Augen aufgerissen, ein Bild roher Kraft.

Martin Dysart, der freundliche Psychiater in Equus, versteht und analysiert das Verhalten des Jungen, der Pferden die Augen aussticht. Er ist entsetzt über die Aggressivität, aber auch neidisch, weil sich der Junge über die repressive bürgerliche Moral, über alle Konventionen hinwegsetzt, wenngleich auf so abscheuliche Weise. Während sich der Junge wilden dionysischen Ritualen hingibt, verbringt der Psychiater mit seiner gelangweilten und langweiligen Frau öde, sexlose Pauschalferien in Griechenland. Ich ahnte, welcher Zusammenhang Michael Meredith vorschwebte. Freuds Gemälde waren meilenweit von bürgerlicher Etabliertheit entfernt und vermittelten mit ihren ungeschönten Wahrheiten eine elektrisierende Energie, die keine Konventionen kannte. Freud wollte die Situation im Atelier genau wiedergeben, wie irritierend dies für Modell und Betrachter auch sein mochte.

Die Galerie in der Dering Street, einer kleinen Seitenstraße von der Oxford Street in Mayfair, hatte eine sehr private Atmosphäre. Gezeigt wurden sechzehn Porträts und eine Landschaft. Noch heute erinnere ich mich an jedes Detail, auch an den schönen Katalog mit grauer Schlaufe und Aufkleber. Das Ganze war voller Widersprüche und Dramatik.

Tagelang diskutierten Michael Meredith und ich über die Ausstellung, über die Komposition und Hängung der Bilder und entwickelten unsere eigenen Theorien. Lucian hat sich nie zu seinen Werken geäußert. Harold Pinter (der ihm später Modell saß) bezeichnete seine Bühnenstücke einmal als «Wiesel unter der Hausbar», um seine Interpreten auf den Arm zu nehmen. Er versteckte sich hinter Nichtgesagtem, erklärte nichts, überließ das Interpretieren anderen. Auch er blieb am liebsten im Hintergrund, sprach nie in der Öffentlichkeit, nicht einmal auf dem Höhepunkt seines Ruhms in den 1970ern und 1980ern, denn er wusste, wie Ted Hughes mir berichtete, dass «Flüstern lauter ist als Schreien».

Wenn Pinter allenfalls flüsterte, so wahrte Lucian völliges Schweigen. Von 1940 bis in sein letztes Lebensjahrzehnt gab er keine Interviews. Gegenüber Fotografen konnte er handgreiflich werden, und wer ihm zu nahe kam, musste mit Unflätigkeiten rechnen. Es gab nur wenige Fotos von ihm. Er heuerte Ganoven an, um sich gewisse Leute vom Hals zu halten. Nur Insider erhielten Zugang zu ihm, und selbst dann behielt er alles in der Hand. Deshalb stammte die Fotografie für den Ausstellungskatalog im Januar 1978 von seiner Tochter, die er, wie alle seine Kinder, nur von Zeit zu Zeit sah. Er wollte nicht mit seinen Kindern leben, das traditionelle Familienleben verachtete er.

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