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Fünfzig Dinge, die du tun sollst, wenn ich tot bin

hier erhältlich:

"Versprich, dass du für uns beide lebst." Natürlich hat Elsie das ihrem sterbenskranken Mann Lucas versprochen, und dann, gemeinsam mit ihm, 50 Zettel geschrieben. Mit wundervollen, verrückten Ideen, die Elsie allein ausführen soll. Achtzehn Monate nach Lucas‘ Tod traut sie sich zum ersten Mal, die Wunschbox zu öffnen. Und plötzlich ist sie mittendrin in ihrem neuen Leben: Sie gründet einen Chor. Sie geht wieder aus und eine Zukunft scheint möglich - und sogar rosig. Nicht zu sprechen von diesem anderen unverschämt selbstüberzeugten, unverschämt gutaussehenden Kerl, der ständig ihren Weg kreuzt! Ja, es läuft gut für Elsie. Bis sie den 51. Wunsch in Lucas‘ Box liest …


  • Erscheinungstag: 11.01.2016
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495199
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Miranda Dickinson

Fünfzig Dinge, die du tun sollst, wenn ich tot bin

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jutta Zniva

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

When I Fall In Love

Copyright © Miranda Dickinson 2012

erschienen bei: Avon Books, New York

Published by arrangement with Avon, an Imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner Gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: Any.way Grafikpartner, Hamburg

Redaktion: Christiane Branscheid

Titelabbildung: iStock

Autorenfoto: © Miranda Dickinson

ISBN 978-3-95649-519-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

So hätte es nicht kommen dürfen

Entschuldigen Sie, Miss?“

Elsie Maynard schaute von ihrer zur Hälfte abgehakten Einkaufsliste auf. Vor ihr stand ein schwergewichtiger Mann vom Sicherheitsdienst und versperrte ihr den Weg. „Hallo. Tut mir leid, aber im Moment bin ich ein wenig in Eile. Wenn Sie also bitte …“

„Ich muss Sie leider bitten, mitzukommen.“

Gerade heute konnte sie so etwas gar nicht gebrauchen. Nicht nur, dass sie mit fünfundvierzig Minuten Verspätung in die Mittagspause gegangen war, weil ein ganz besonders penetranter Waffeltütenverkäufer sie aufgehalten hatte. Nein, obendrein war sie wegen ihrer endlos langen Einkaufsliste so in Eile gewesen, dass sie ohne Schirm losgelaufen war – gerade als der Himmel seine Schleusen öffnete. Und jetzt auch das noch …

„Ich sagte doch schon, ich habe keine Zeit für so was!“

Der massige Wachmann seufzte entnervt und packte sie mit seiner gewaltigen Pranke deutlich zu fest an der Schulter. „Ich muss darauf bestehen, Miss. Ich glaube, Sie haben Waren bei sich, die Sie nicht bezahlt haben. Wenn Sie mich also bitte zurück in den Laden begleiten?“

Wovon zum Teufel redete der Kerl eigentlich? Natürlich hatte sie bezahlt! Wofür hielt er sie denn? Allein schon der Gedanke machte Elsie wütend. Sie öffnete gerade den Mund, um zu protestieren, da mischte sich eine neue Stimme ein.

„Hey. Kann ich behilflich sein?“

Der Sprecher war jung, hatte dunkelbraune Haare und grüne Augen und konnte durchaus als gut aussehend bezeichnet werden. Seine ganze Erscheinung vermittelte den Eindruck, dass man es mit jemandem zu tun hatte, der alles absolut im Griff hatte: von seinem gepflegten Haarschnitt bis hin zu dem perfekt sitzenden Anzug und Mantel. Hinzu kam, dass er frustrierenderweise anscheinend immun gegen den strömenden Regen war, während Elsies dünne Arbeitsuniform und die Strumpfhose mittlerweile völlig durchweicht waren. Über seine Schulter hinweg erhaschte Elsie einen Blick auf eine blonde junge Frau in dem türkis-schwarzen Outfit einer Diner-Kellnerin der Fünfzigerjahre. Sie sah aus, als hätte man ihr gerade einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Elsie rutschte das Herz in die Hose, als ihr klar wurde, dass sie ihr eigenes Spiegelbild im Schaufenster des Ladens sah.

Das Lächeln von Mr Wasserdicht wäre ihr vermutlich willkommen gewesen, hätte sich ihr nicht der Verdacht aufgedrängt, dass er es genoss, wie sie da auf den Eingangsstufen der Drogerie an der Hauptstraße stand: tropfnass, durcheinander und mittlerweile zutiefst verlegen.

„Alles in Ordnung, danke. Es handelt sich nur um ein Missverständnis …“, setzte sie an, aber der menschgewordene Kilimandscharo, der sie aufgehalten hatte, beachtete sie schon gar nicht mehr, sondern versuchte sich der Solidarität des neu aufgetauchten männlichen Mitspielers in diesem Straßentheater zu versichern.

„Sie hat nicht bezahlt“, erklärte er und deutete mit einem seiner Wurstfinger auf die Hämorrhoidensalbe und das Ohrenschmalzlösemittel in Elsies Hand. „Und zwar das da.“

Um Himmels willen! In ihrem Zorn darüber, des Ladendiebstahls beschuldigt zu werden, hatte Elsie völlig vergessen, dass sie genau zwei der möglicherweise peinlichsten Dinge, die man sich nur vorstellen konnte, in der Hand hielt. Aber natürlich hatte sie dafür bezahlt! Oder etwa nicht?

Der junge Mann unterdrückte ein Lächeln, und Elsie spürte, wie sich ihr fast der Magen umdrehte, während ihr kalte Regentropfen in den Kragen liefen und über den Rücken rannen. „Ich bin sicher, das ist wirklich einfach nur ein kleines Missverständnis“, meinte er leutselig lächelnd zu dem kein bisschen lächelnden Hünen, der immer noch Elsies Schulter gepackt hielt. „Schauen Sie, hier haben Sie zwanzig Pfund. Mehr kann das doch nicht kosten, oder?“

Ganz kurz huschte ein milderer Ausdruck über die eiskalte Miene des Wachmanns. „Nun …“

Das Lächeln des jungen Mannes wurde breiter, kaum dass er spürte, wie sein Gegenspieler langsam einknickte. „Ich kann mir vorstellen, dass Sie jeden Tag so etwas erleben, hmm? Leute, die in der Mittagspause schnell einkaufen, den Kopf aber im Büro gelassen haben. So viele verlockende Dinge in den Läden, und schon machen sie einen winzigen Fehler …“ Damit wandte er sich mit all seiner Aufrichtigkeit Elsie zu. Möglicherweise wollte er sie damit beruhigen, bewirkte aber genau das Gegenteil. „Ich meine, dieses Mädchen scheint doch sehr nett zu sein und nicht wirklich eine typische Ladendiebin, nicht wahr?“

Die Eiseskälte kroch wieder in das Gesicht des Hünen, während er sie musterte. „Es gibt solche und solche.“

„Oh, natürlich, Officer. Aber vertrauen Sie mir. In meinem Beruf habe ich täglich mit allen möglichen Verbrechern zu tun, und ich erkenne sie schon von Weitem. Die hier, Sir, gehört nicht dazu.“

Die hier? Obwohl der gut gekleidete Fremde neben ihr ganz offensichtlich nur helfen wollte, ging er mit dieser unpersönlichen Titulierung für Elsies Geschmack einen gewaltigen Schritt zu weit. „Nun mal ganz langsam …“

Er fiel ihr ins Wort, indem er mit herrischer Geste eine behandschuhte Hand hob. Dabei warf er ihr einen Blick zu, der ihr schreckliche Konsequenzen androhte für den Fall, dass sie seine Geste missachtete. Kochend vor Wut schaltete sie auf stur und funkelte ihn zornig an.

„Nun kommen Sie schon, zwanzig Pfund. Viel mehr können die Sachen doch nicht wert sein, oder?“, fuhr er völlig unbeeindruckt wieder an den Wachmann gewandt fort. „Ich komme auch mit in den Laden, um mir eine Quittung geben zu lassen. Das ist doch wirklich ein faires Angebot.“

Zu Elsies Überraschung zuckte der Hüne nur mit den Schultern und ließ sie endlich los. „Soll mir recht sein“, brummelte er, steckte die Zwanzig-Pfund-Note ein und wandte sich wieder dem Laden zu. „Aber sagen Sie Ihrer Freundin, dass sie beim nächsten Mal ein bisschen besser achtgeben soll.“

„Wie bitte? Ich bin nicht seine Freun…“

„Aber natürlich. Warte bitte hier draußen, Liebling. Ich bin gleich zurück.“ Mit einem Lächeln, das jeder Zahnpastareklame zur Ehre gereicht hätte, zwinkerte er Elsie zu und folgte dem Wachmann in den Laden.

Fassungslos auf die fragwürdigen Artikel in ihrer Hand starrend, blieb Elsie wie angewurzelt stehen und versuchte zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Im einen Moment war sie auf der Suche nach Baby-Feuchttüchern und Mascara zwischen den Regalen der weitläufigen Drogerie Ecke North Street und Queen’s Road in Brighton umhergehuscht. Im nächsten Moment hatte ein Anruf ihres Vaters sie unterbrochen: Er hatte sie darum gebeten, ihm ein paar peinliche, aber für ihn notwendige Dinge mitzubringen … Vielleicht war sie in Gedanken wirklich woanders gewesen – zumal sie an diesem Morgen eine wichtige Entscheidung getroffen hatte –, aber dennoch war sie sicher, die Artikel bezahlt zu haben. Überhaupt, wer würde auch nur auf die Idee kommen, Hämorrhoidensalbe und Ohrenwachsentferner mitgehen zu lassen? Jedenfalls nicht Elsie Maynard, Assistentin der Geschäftsführerin im Sundae & Cher Eiscafé, aufrechte Bürgerin von Brighton und der letzte Mensch, der in Erwägung ziehen würde, einen Ladendiebstahl zu begehen. Selbst als Teenager hatte sie sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Ihre Angst davor, in Schwierigkeiten zu geraten, wurde nur noch verstärkt dadurch, dass sie miterlebte, welche Folgen die kleineren Fehltritte ihrer zwei älteren Schwestern hatten. Dabei war meistens zu viel Alkohol im Spiel gewesen, und mehr als einmal waren die beiden von einem Streifenwagen zu Hause abgeliefert worden.

„So, alles geregelt.“Der lächelnde Mann war zurück. Der Ausdruck auf seinem Gesicht zeugte von glühendem Triumph, den er vermutlich bezüglich seines ritterlichen Hilfsmanövers verspürte. Er reichte ihr eine Quittung. „Ein hektischer Tag, oder?“

„Ich habe dafür bezahlt“, beharrte Elsie. Die Ungerechtigkeit der Anschuldigung schmerzte immer noch.

„Haben Sie nicht. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Ich habe das für Sie geregelt.“

Elsie drückte ihm die Quittung wieder in die Hand, fischte ihre Geldbörse aus ihrer durchfeuchteten Handtasche und blätterte ärgerlich die Quittungen darin durch. „Schauen Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich will auch nicht undankbar sein, aber dieser Kerl war im Irrtum. Ich erinnere mich genau, dass ich diese Dinge mit einer Zwanzig-Pfund-Note bezahlt habe. Das weiß ich, weil ich nur einen Zwanziger dabei hatte, den ich gerade aus dem Geldautomaten geholt habe. Wie Sie sehen, ist er nicht mehr … Oh …“ Das Herz sank ihr bis in die durchnässten Schuhe, als sie die zusammengefaltete Zwanzig-Pfund-Note in ihrer Börse entdeckte. Sie steckte genau da, wohin sie sie gesteckt hatte, nachdem sie am Geldautomaten gewesen und bevor sie die Drogerie betreten hatte.

Die Stimme des jungen Mannes wurde weicher. „Ganz ehrlich, es ist alles in Ordnung. So was kommt in den besten Familien vor.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Ich heiße übrigens Torin. Torin Stewart.“

Immer noch unter Schock angesichts der Erkenntnis, unabsichtlich ein Bagatelldelikt begangen zu haben, ergriff Elsie die angebotene Hand. „Elsie Maynard.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Elsie Maynard“, erwiderte Torin grinsend. „Andere Umstände wären mir natürlich lieber gewesen, aber ich bin froh, dass ich helfen konnte. Also, wie wäre es mit einem Kaffee? Sie sehen aus, als könnten Sie einen brauchen, und sie müssten nicht länger im Regen herumstehen.“

Zutiefst beschämt und von dem dringenden Bedürfnis getrieben, sich aus der peinlichen Situation zu befreien, drückte Elsie ihm ihre Zwanzig-Pfund-Note in die Hand und wandte sich ab. „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen …“

„Hey, warum die Eile?“

„Ich habe Mittagspause. Genauer gesagt, ich hatte Mittagspause. Bis vor etwa zwanzig Minuten“, gab Elsie zurück. Sie hoffte, dass das Tempo, das sie anschlug, ihn davon abhalten würde, ihr die Straße entlang zu folgen.

Zu ihrem Leidwesen ließ Torin sich nicht so einfach abwimmeln. „Ach, kommen Sie schon. Ich habe Ihnen gerade das Leben gerettet. Damit dürfte ich doch wenigstens Anspruch darauf erworben haben, einen Kaffee mit Ihnen zu trinken? Wenn Sie knapp bei Kasse sind, zahle ich natürlich …“

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das Blut rauschte in Elsies Ohren, als sie sich abrupt zu ihm umwandte. „Wie bitte? Ich habe genug Geld. Welchen Teil von ‚ich muss jetzt wirklich gehen‘ haben Sie nicht verstanden? Ich komme zu spät zur Arbeit, ich bin völlig durchnässt von diesem saublöden Regen, und – das können Sie mir glauben – jetzt mit Ihnen irgendwohin zu gehen, dazu habe ich nun wirklich absolut keine Lust. Ich habe Ihnen Ihre Auslagen bezahlt. Ich schulde Ihnen also nichts.“

„Ist das der Dank, den Sie für all Ihre Retter übrighaben?“ Das belustigte Glitzern in seinen Augen ließ erneut die Wut in Elsie hochkochen.

„Wofür halten Sie sich eigentlich? Für Lancelot? Und wann hören Sie endlich auf, sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen? Ich kann durchaus auf mich selbst aufpassen, wissen Sie. Ich bin keine Jungfrau in Nöten, die sich von einem großen starken Helden retten lassen muss. Auch ohne Ihre Hilfe hätte ich die Sache klären können. Ich wäre zurechtgekommen. Also vielen Dank, dass Sie mir zur Seite gesprungen sind, aber nötig war das ganz und gar nicht.“

Torin blieb wie angewurzelt stehen, was Elsie einen kurzen Moment der Befriedigung verschaffte, während sie sich von ihm entfernte. Na schön, er hatte geholfen, sie aus dem stahlharten Griff des Wachmanns zu befreien, aber musste er so darauf herumreiten? Oder gar versuchen, sie deswegen quasi zu erpressen, mit ihm Kaffeetrinken zu gehen? Also ehrlich, das war mehr als dreist!

„Un-glaub-lich!“, rief er ihr nach.

Elsie stöhnte auf, eilte aber weiter, wich dem mittäglichen Einkaufsverkehr aus und eilte durch den unablässig strömenden Märzregen. Gibt dieser Kerl eigentlich nie auf?

„Ich dachte, Sie könnten meine Hilfe brauchen“, fuhr Torin fort, als er Elsie eingeholt hatte und sie nebeneinander die Straße entlanghasteten. „Und ich habe nichts weiter getan, als zu versuchen, Sie aus einer peinlichen Situation zu befreien und möglicherweise eine Anzeige zu verhindern. Ich muss ein Narr gewesen sein!“

„Sie sagen es“, murmelte Elsie und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er endlich begriff und sie in Ruhe ließ.

„Wenn das keine Undankbarkeit ist! Manche Frauen würden erkennen, dass ich einfach nur ritterlich gehandelt habe.“

„Und manche Frauen würden Sie für einen erbärmlichen Mann auf einem Egotrip halten, der unbedingt seine Überlegenheit beweisen muss. ‚Warte hier draußen, Liebling …‘ Als wäre ich ein dümmliches Flittchen! Chauvinismus hat nichts mit Ritterlichkeit zu tun.“

„Oh, es war also Bevormundung, den Wachmann davon abzuhalten, Sie vor halb Brighton zurück in den Laden zu zerren, richtig?“

Natürlich nicht. Aber Elsie war müde, beschämt, bis auf die Knochen durchweicht und absolut nicht in der Stimmung, diesem lästigen Mann gegenüber, dem der Regen anscheinend immer noch nichts anzuhaben vermochte, klein beizugeben. „Es tut mir leid, aber ich habe wirklich keine Zeit dafür.“

„Zeit wofür? Sich sagen zu lassen, wie unangemessen Sie sich verhalten?“

Elsie lachte völlig humorlos auf, während sie eine ungünstig aufgestellte Werbetafel für ein Café umkurvte. „Oh, natürlich, ich verhalte mich unangemessen …“

„Ja, natürlich. Darf ich Sie daran erinnern, dass der Wachmann Sie ganz bestimmt nicht einfach hätte gehen lassen?“

„Woher wollen Sie das wissen? Das können Sie gar nicht wissen!“

Er hielt mit ihr Schritt, sein Gesicht lief rot an, als er sich zu ihr hinüberbeugte. „Das war für jedermann offensichtlich! Man musste doch nur das Leuchten in seinen Augen sehen, um zu erkennen, dass er an Ihnen ein Exempel statuieren wollte. Er hätte möglicherweise die Polizei gerufen, Sie wären angeklagt worden, hätten Strafe zahlen müssen … vielleicht wären Sie anschließend sogar vorbestraft gewesen?“

Elsie blieb abrupt stehen und wandte sich ihm zu. „Okay, das reicht jetzt! Ob Sie es glauben oder nicht, ich habe heute wichtigere Dinge im Kopf, als darüber nachzudenken, ob ich ins Vorstrafenregister eingetragen worden wäre oder nicht, wenn Sie nicht eingegriffen hätten. Ich habe mich bei Ihnen bedankt, habe Ihnen Ihre Auslagen bezahlt. Was also können Sie jetzt noch von mir wollen?“

Schwer atmend hob Torin beide Hände. „Nichts. Ganz offensichtlich gar nichts.“ Dann trat er sehr zu Elsies Überraschung einen Schritt zurück, verzichtete auf weitere schlagfertige Erwiderungen, drehte sich um und verschwand in der Menge.

Wenn sie nicht die aufrichtige Enttäuschung in seinen Augen gesehen hätte, hätte Elsie die ganze Sache einfach verdrängt. Aber dieser unerwartete Einblick sorgte dafür, dass ihr Gewissen es endlich schaffte, ihre Scham zu übertönen. Sie blinzelte die Regentropfen fort, die ihr aus dem Pony tropften und blieb wie angewurzelt zwischen den hin und her hastenden Einkäufern stehen, während die Ereignisse der letzten zehn Minuten sich wieder und wieder vor ihrem inneren Auge abspielten.

Erst das hartnäckige Läuten ihres Handys holte sie mit einem Ruck in die Gegenwart zurück.

„Hallo? Oh, hallo, Dad. Ja, ich habe deine Sachen besorgt. Nach der Arbeit bringe ich sie dir vorbei.“

Nach einem letzten Blick die Straße entlang schüttelte Elsie die nagenden Zweifel ab.

Ein Spinner, sagte sie sich. Ganz eindeutig ein Spinner.

2. KAPITEL

Das Leben geht weiter

Als Elsie später an diesem Tag ihren Wagen vor dem dreigeschossigen Stadthaus ihres Vaters parkte, hingen dicke graue Wolken am Himmel über Brighton und ließen ihre Regenfracht auf die Straßen der Küstenstadt herniederprasseln. Auf dem Sprint vom Auto zum Haus hatte sie versucht, sich mit ihrer Handtasche über dem Kopf vor dem Wolkenbruch zu schützen. Trotzdem war sie erneut völlig durchnässt, als sie die rot gestrichene Haustür mit den Buntglasfenstern erreichte.

Über der Tür klimperte ein kleines Windspiel, und in der Luft hing der berauschende Duft von angewärmtem Patschuli-Öl und Nag-Champa-Räucherstäbchen. Schon beim Eintreten übten diese vertrauten Gerüche eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Sie wandte sich dem indischen Perlenschnurvorhang zu, der im Zugang zur Küche hing. Schon vor vielen Jahren war sie aus diesem Haus ausgezogen, aber immer noch fühlte sie sich hier daheim.

Jim Maynard strahlte, als Elsie die Küche betrat. Er hatte bereits seinen seriösen Geschäftsanzug gegen sein geliebtes nepalesisch gestreiftes Patchworkhemd sowie eine unförmige Cargo-Hose und leuchtend orange Doc-Martens-Stiefel ausgetauscht. Elsie erwiderte sein Lächeln. So mochte sie ihren Vater am liebsten – in seiner legeren Alltagskleidung und mit seinem heißgeliebten goldenen Ohrring am Ohrläppchen. Diese Version seiner selbst entsprach sehr viel mehr seinem wahren Ich als der hochangesehene Geschäftsmann von Brighton, den er spielte, seitdem er das Möbelgeschäft seines Vaters übernommen hatte, der sich auf Stilmöbel spezialisiert hatte.

„Sieh an, meine allerliebste jüngste Tochter!“, rief er und zog sie in eine seiner berühmten väterlichen Umarmungen, die ihr heute noch willkommener war als sonst. „Hattest du einen angenehmen Tag, Elsie?“

Elsie öffnete eine bunt emaillierte Teedose und hängte zwei Ingwer-Zimt-Teebeutel in eine handbemalte eisvogelblaue Teekanne, die Jim von seiner mittleren Tochter Guin geschenkt bekommen hatte, als sie vor Jahren ihre Töpferei in Shoreham-by-Sea eröffnete. „Einen grässlichen Tag, um ehrlich zu sein.“ Sie lächelte ihren Vater an. „Aber jetzt, wo ich hier bin, fühle ich mich gleich viel besser.“

„Das freut mich, mein Schatz. Ich wusste doch, dass wir heute das Patschuli-Öl brauchen. Setz dich, atme durch und vertrau dich deinem alten Vater an.“ Jim nahm den pfeifenden Kessel vom Gasherd und brühte den Tee auf. „Was ist passiert?“

„Oh, eigentlich gar nichts. Ich hatte heute Mittag nur eine kleine Tortur zu überstehen.“

Ihr Vater war drauf und dran, weiter nachzubohren, als die Küchentür aufgerissen wurde und ein mehrstimmiges „Ladendiebin!“ die Küche erfüllte, gefolgt von lautem Gelächter.

Elsie stöhnte, als sich ihre zwei Schwestern rufend und lachend auf sie stürzten und ihr die Haare zerzausten. Manchmal war es ziemlich ätzend, seinen Schwestern so nahe zu stehen (und ihnen immer alles gleich brühwarm per SMS zu erzählen, was im Laufe des Tages passierte) …

„Unsere kleine Schwester, die Ladendiebin!“, lachte Daisy Maynard, warf die perfekt gestylten blonden Haare zurück, klatschte fröhlich in die schmalen Hände und freute sich diebisch, dass ihre Schwester sich vor Verlegenheit wand. „Ich bin so stolz auf dich!“

„Eigentlich wollten wir dir auf dem Weg hierher im Kostümladen eine coole Tasche und eine Maske besorgen, aber Junior hat beschlossen, Ärger zu machen“, fügte Guin hinzu und klopfte sich leicht auf ihren mächtig runden Bauch. „Der scheint jetzt schon auf deiner Seite zu stehen, Els.“

Trotz ihrer Verlegenheit musste Elsie grinsen und beugte sich vor, um den beachtlichen Babybauch ihrer Schwester zu streicheln. „Du hast Geschmack, Kleiner. Halt dich einfach nur an Tante Elsie, und du bleibst einigermaßen normal.“

„Obwohl sie dich für ihr Verbrechersyndikat rekrutieren wird, ehe du merkst, wie dir geschieht“, fügte Daisy hinzu, und erneut kugelten sie und Guin sich vor Lachen.

„Was redet ihr andauernd von Verbrechen?“ Jim schaute fragend von einer Tochter zur anderen. Er konnte ihrem Gespräch nicht folgen. Nachdem ihre Mutter sich von der Familie getrennt hatte, hatte Jim die Rolle des alleinigen Schiedsrichters im Wirbelsturm der Maynard-Schwestern übernommen und wunderte sich immer noch oft über ihre scheinbar endlose Energie und das halsbrecherische Tempo ihrer Unterhaltungen.

„Unsere kleine Schwester wäre heute beinah wegen eines Ladendiebstahls verhaftet worden“, erklärte Guin und ließ sich stöhnend auf einen Stuhl am Küchentisch sinken. In ihren blauen Augen blitzte der Schalk, während sie ein Haarband von ihrem Handgelenk abstreifte und ihre blonden Locken zu einem losen Knoten im Nacken zusammendrehte. „Wer hätte das gedacht, hmm? Ausgerechnet unsere kreuzbrave Elsie ist eine Meisterverbrecherin.“

„Es handelte sich um ein Missverständnis“, widersprach Elsie. „Ich bin mit der Situation fertiggeworden.“

„Tatsächlich? Du bist damit fertiggeworden?“, fragte Daisy, die Brauen hochgezogen.

„Ja“, gab Elsie fest zurück und wünschte sich erneut, sie hätte die beiden am Nachmittag nicht so umfassend mit einer ganzen Reihe von SMS über das Geschehen informiert. „Mir ging unheimlich viel durch den Kopf, und ich hatte ehrlich geglaubt, ich hätte bezahlt. Schließlich kam dann aber heraus, dass ich das irgendwie versäumt hatte.“

„Oh.“ Jim verteilte Becher mit Tee. Er wusste offensichtlich nicht, wie er auf diese Eröffnung reagieren sollte. „Tja, man lernt nie aus, nicht wahr?“

Von plötzlicher Dankbarkeit und Liebe zu ihrem Vater erfüllt, drückte Elsie ihm die Hand, als sie den Teebecher entgegennahm. „Richtig. Du siehst also, Dad, jetzt ist alles in Ordnung.“

„Freut mich zu hören. Anderes Thema. Ich habe gestern Abend gebacken. Besteht eine klitzekleine Chance, dass ich euch zu einem Stück Bananen-Walnuss-Brot überreden kann?“

Dieser Vorschlag löste allgemeine Begeisterung aus, und Jim öffnete hocherfreut eine alte Pralinendose von Cadbury Roses, um seine neueste kulinarische Kreation zu servieren. Während er und Guin miteinander plauderten, griff Daisy nach Elsies Hand und zog ihre Schwester in den kleinen Flur hinter der Küche.

„Also?“, fragte sie, verschränkte die schlanken Arme vor der Brust und musterte Elsie mit dem klassischen Verhörblick der älteren Schwester.

Aber damit brauchte sie Elsie nicht zu kommen. Im Laufe der Jahre war sie Daisys Einschüchterungsversuchen unzählige Male erfolgreich begegnet, und sie würde sich nicht ausgerechnet heute von ihr kleinkriegen lassen. „Also was?“

„Du weißt, was, Elsie Maynard. Warum hast du den Typen nicht erwähnt?“

Elsie zuckte die Achseln. „Das braucht Dad nicht zu wissen.“

„Wie kommst du denn darauf? Dieser gut aussehende Fremde hat dich davor bewahrt, verhaftet zu werden, verdammt noch mal!“

„Schhh! Red doch bitte leiser … Ich habe übrigens nie behauptet, dass er gut aussieht.“

In einen scharfen Flüsterton verfallend, musterte Daisy ihre Schwester kritisch. „Das sehe ich anders. Davon abgesehen, warum regst du dich überhaupt so auf? Weißt du, es ist doch nichts dabei zuzugeben, dass du Hilfe gebraucht hast. Hilfe zu brauchen ist kein Makel. Das bedeutet doch nicht, dass du nicht zurechtkommst oder so …“

Elsie hatte genug gehört. „Lass gut sein, Dais! Lass uns einfach … für eine Weile das Thema wechseln.“

Daisy gab nach und legte ihrer Schwester einen Arm um die Schulter. „Na gut, Süße. Es tut mir leid. Also, war er attraktiv?“

„Daisy!“

„Ach, komm schon, Elsie, lass mich nicht neugierig sterben!“

„Ich schätze ja. Auf nervige, wasserfeste Weise. So genau habe ich nun auch wieder nicht hingeschaut.“

Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über Daisys Gesicht. „Gut. Das ist gut.“

Später, als die Maynards alle zusammen im großen Esszimmer im ersten Stock am Esstisch saßen und eine Gemüse-Tajine mit Tabouleh und Perlcouscous aßen (eins von Jims ganz besonderen Lieblingsgerichten), beschloss Elsie die Entscheidung zu verkünden, die sie in Gedanken so beschäftigt hatte, dass sie um die Mittagszeit versehentlich zur Ladendiebin geworden war. Schon seit einer Woche ging ihr diese Sache permanent durch den Kopf. Genau genommen, seitdem sie sich dazu durchgerungen hatte, nach achtzehnmonatiger Wartezeit endlich die kleine satinbespannte Pralinenschachtel neben ihrem Bett zu öffnen. Heute Morgen hatte sie die Entscheidung getroffen: Es wurde Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, zu neuen Ufern aufzubrechen …

„Also, hört alle mal her. Ich bin froh, dass ihr alle hier seid – und schon sitzt –, denn ich habe euch etwas zu sagen.“ Sie lächelte, als sie die angespannten Gesichter ihrer Lieben sah. „Keine Angst, es handelt sich um gute Nachrichten. Glaube ich jedenfalls.“ Sie atmete tief durch, um sich selbst zu beruhigen. „Ich habe beschlossen, wieder mit Männern auszugehen.“

„Oh, Els …“ Guin lief rot an, und sie brach zur großen Belustigung ihrer Schwestern in Tränen aus. Seit sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte sich die normalerweise so pragmatische mittlere Maynard-Schwester in ein emotionales Wrack verwandelt, das über alles und nichts in unkontrollierbares Schluchzen verfiel, ob es nun um irgendwelche Lieder im Autoradio, Fernsehwerbung für Hunde- und Katzenfutter oder Sofas ging. Lachend über ihre eigene emotionale Labilität, nahm sie die Schachtel Papiertaschentücher entgegen, die ihr Vater immer für solche Gelegenheiten bereithielt, und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Junge, ich bin ja so eine Heulsuse! Ich hoffe nur, dass diese ständige Flennerei mein Baby nicht traumatisiert. Dabei freue ich mich doch einfach nur so sehr für dich, Liebes.“

Jim beugte sich über den Tisch und griff nach Elsies Hand. „Mein tapferes Mädchen. Und es geht dir auch wirklich gut dabei?“

Elsie spürte, dass sie zitterte, aber sie wusste dennoch: Ja, es ging ihr gut dabei. „Ich habe tierische Angst – ich meine, ich habe keine Ahnung, wie ich dabei vorgehen soll oder wie man das heute überhaupt anstellt –, aber es fühlt sich richtig an.“

„Wir helfen dir“, sagte Daisy und nickte heftig. Dieser Vorschlag machte Elsie allerdings eher noch mehr Angst. Daisy bildete sich nämlich ein, für jeden den richtigen Partner finden zu können, obwohl etliche ihrer Kuppelversuche im Freundeskreis zu grässlichen Verabredungen und bitteren Trennungen geführt hatten. Andererseits, so nahm Elsie ihre Schwester in Schutz, wie sollte eine Frau, die so mühelos wunderschön war wie Daisy Maynard, erfolgreich Karriere gemacht und seit Ewigkeiten einen wohlhabenden Projektentwickler zum Freund hatte, auch Ahnung davon haben, welche Gefahren das Ausgehen mit Männern mit sich bringen konnte?

„Versprich mir eins, Liebling: Halte dich von diesen grässlichen Internet-Partnersuchen fern“, warf Jim ein. Seine drei Töchter reagierten schockiert. „Nein, ich meine das ernst. Ich habe mich letztes Jahr auf zwei Online-Dating-Plattformen registriert, und meine Erfahrungen waren äußerst enttäuschend.“

Die unerwartete Eröffnung, dass Jim heimlich Online-Dating betrieben hatte, lenkte das Gespräch kurzfristig in eine andere Richtung. Das gab Elsie eine kurze Verschnaufpause, um ein wenig zu entspannen, während ihre Schwestern ungläubig nachhakten. Nachdem sie eine ganze Woche davor gebangt hatte, ihrer Familie zu erzählen, was sie vorhatte, empfand sie jetzt einen seltsamen inneren Frieden. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, und diese Entscheidung war eine wichtige.

Das war die erste Botschaft in dem Stapel Papierzettel, der fein säuberlich in der ehemaligen Pralinenschachtel verstaut war. Sie stand auf dem Zettel, der Punkt 50 auf ihrer Liste enthielt:

Achtzehn Monate hatte Elsie gebraucht, um sich dazu durchzuringen, die Schachtel zu öffnen. Irgendwie hatte der Gedanke an all die ungelesenen Mitteilungen etwas seltsam Tröstliches. Als sie am vergangenen Montag beschlossen hatte, auch die vorletzte Sache auf der Liste abzuhaken, fühlte sie sich, als wäre sie mit einem alten Freund wiedervereint worden. Und sobald sie die erste Nachricht gelesen hatte, wusste Elsie, dass der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war. Die Nachricht machte hundertprozentig Sinn – und sie wusste sofort, was sie zu tun hatte.

„Wow“, stieß Cher Pettinger aus, die Eignerin von Sundae & Cher, als Elsie ihr eine Woche nach dem Zwischenfall mit dem Ladendiebstahl erzählte, was sie beschlossen hatte. „Und du bist sicher, dass du bereit bist, dich wieder in diese haiverseuchten Gewässer zu stürzen?“

„Tja, wenn du es so ausdrückst, wie könnte ich da widerstehen?“

„Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint.“ Cher schüttelte den Kopf und brachte damit ihre toupierte Bienenkorbfrisur im Stil der Sechziger heftig ins Schwanken. „Es ist nur so, weißt du, wenn du schon drei Scheidungen hinter dir hast so wie ich, dann wird der ganze Zirkus ums Ausgehen mit Männern eher zu einer Übung, wie man am besten Volltrotteln aus dem Weg geht, als alles andere.“

Elsie lächelte ihre Chefin an, während ihr wieder einmal bewusst wurde, wie sehr der Mangel an Erfolg bei Verabredungen mit Männern im Gegensatz zu der selbstbewussten Persönlichkeit der Mittvierzigerin stand, die von Kopf bis Fuß in Vintage-Klamotten von Dior gekleidet war. „Ich behalte das im Hinterkopf. Wie läuft es mit deiner neuesten Flamme?“

Cher verzog das Gesicht zu einer Grimasse und stellte einen Behälter frisch zubereitete Eiscreme der Hausmarke Apfel-Zimt-Muskat in die gläserne Auslagevitrine. „Das sah alles so vielversprechend aus, bis mir klar wurde, dass er noch bei seiner Mutter wohnt. Zweiundvierzig Jahre alt – und schläft noch in einem Zimmer mit He-Man-Tapeten an der Wand.“

„Ich werd’ verrückt!“

„Glaub mir, Kleines, das ist der reinste Dschungel da draußen. Aber du kennst mich ja: stets optimistisch und abenteuerlustig.“

Cher Pettingers Beziehungsgeschichte las sich wie ein abschreckender Roman über die Gefahren der Partnersuche. Dreimal verheiratet und geschieden, hatte sie es mit einer ganzen Reihe hoffnungsloser Fälle zu tun bekommen. Das begann beim Eigentümer des örtlichen Spielsalons, der eine seltsame Vorliebe für lebensgroße Puppen hegte. Dann ging es weiter mit dem jugendlichen Immobilienmakler, der davon überzeugt war, dass das MI5 ihn überwachte, bis hin zu dem alternden Schürzenjäger von Hotelier, der sich als notorischer Bigamist entpuppt hatte. Aber Cher war absolut engagiert bei ihrer Partnersuche und stürzte sich trotz allem immer wieder mutig in den Dschungel voller Trottel, um ihre wahre Liebe zu finden.

Elsie mochte ihre Chefin sehr, trotz Chers berüchtigten trockenen Humors, der ihr in North Laine einen furchterregenden Ruf eingetragen hatte. Sie war keck, selbstbewusst und ging unerschrocken durchs Leben. Und in Elsie hatte sie eine Gleichgesinnte gefunden. Cher hatte von ihrer schrulligen Tante Lucy „Skyflower“ Pettinger ein veganes Hippie-Café in der farbenfrohen Gardner Street geerbt. Gemeinsam mit Elsie hatte sie es in den letzten drei Jahren in ein Eiscafé im Retro-Stil verwandelt. Inzwischen war es bei den Bewohnern von Brighton unheimlich beliebt und zu jeder Jahreszeit gut besucht.

Sundae & Cher war vollgestopft mit Erinnerungsstücken an die Fünfziger- und Sechzigerjahre. An der Wand hinter der grünen Glastheke hingen goldgerahmte Fotos von Elvis und Frankie Valli. Der Fußboden war schwarz-weiß im Schachbrettmuster gekachelt und die Tische mit Decken im gleichen Muster verziert. In einer Ecke stand eine nachgebaute Wurlitzer Jukebox und die mit rotem Leder bezogenen Stühle aus glänzendem Chrom vollendeten das Bild. So strahlte das Café altmodischen Chic aus und wirkte zugleich modern und cool. Elsie genoss immer wieder den Gesichtsausdruck der Leute, wenn sie zum ersten Mal das Café betraten. Das Entscheidende war aber natürlich, dass das Eis, das sie hier verkauften, ausschließlich hausgemacht war. Es wurde in der Kellerküche zubereitet, in der eine große Eismaschine und ein gewaltiger Gefrierschrank standen. Das bedeutete nämlich, dass Sundae & Cher Geschmackssorten anbieten konnten, die niemand sonst in Brighton im Angebot hatte. Außerdem änderten sie regelmäßig ihr Angebot und entwickelten neue Sorten, um ihre enthusiastischen Kunden bei der Stange zu halten. Von Popcorn über Ahornsirup-Banane bis hin zu so etwas Ausgefallenem wie Blauschimmelkäse mit Walnuss und Tomaten-Basilikum-Oliven-Eis, die einzigartigen Sorten, die Sundae & Cher anbot, waren ein beliebtes Gesprächsthema in der bekannten Küstenstadt. Wenn man dann noch die mühelos entspannte und fröhliche Atmosphäre im Eiscafé mit in Betracht zog, konnte man leicht verstehen, warum Sundae & Cher so perfekt in die farbenfrohe und unkonventionelle Gardner Street passte.

Cher war völlig besessen von der Mode der Fünfziger und Sechziger. Stolz trug sie Vintage-Stücke, die sie in einer der Nostalgie-Boutiquen in den Straßen des berühmten Einkaufsviertels von Brighton aufgestöbert hatte. Auch ihr Zuhause kam einer Kultstätte für Retro-Kitsch gleich. Wo sie ging und stand, ließ sich nicht übersehen, wie sehr sie diese Dinge liebte.

Von daher wirkte sie absolut glaubwürdig, wenn sie hinter dem Glastresen von Sundae & Cher stand – und Elsie genauso in ihrer kurzärmeligen schwarzen Bluse mit dem weißen Kragen und den weißen Manschetten, dem türkisfarbenen Tellerrock aus Satin und der weißen Rüschenschürze. Es machte Spaß, sich so für die Arbeit zurechtzumachen, und obwohl die Tage lang und anstrengend waren, stand Elsie mit Begeisterung hinter Chers nostalgischer Geschäftsidee. Es war, als hätte Chers herausragender Tatendrang Besitz von Inventar und Einrichtung des Eiscafés ergriffen: Alles strahlte Optimismus und Freude aus, und das war Elsie in den vergangenen achtzehn Monaten eine wertvolle Hilfe gewesen.

Heute war sie sich ihrer Entscheidung sicherer als je zuvor, während sie farbenfrohe Kugeln hausgemachter Eiscreme in tiefblaue Glaseisbecher drapierte.

„Also, soll ich mich für dich umsehen?“, fragte Cher und dekorierte nebenher die Eisbecher mit schokoladengefüllten Waffelröllchen. „Ich glaube nämlich, ein paar passende Herren zu kennen. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass du nicht auch auf eigene Faust jemanden finden könntest, verstehst du? Aber ein bisschen Hilfe kann nie schaden.“

Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann mittleren Alters hüpfte über die schwarz-weißen Bodenfliesen auf sie zu. „Guten Morgen, die Damen!“

„Und da ist auch schon der Erste“, meinte Cher augenzwinkernd. „Dennis, mein Schatz. Wie geht es unserem morgendlichen Lieblingskunden?“

Röte überzog die Wangen des Angesprochenen. „Sehr gut, wie immer, wenn ich dich sehe, meine Liebe.“

Cher gab sich schüchtern und klimperte mit ihren falschen Wimpern. „Was für ein Charmeur! Also, womit kann ich dich heute in Versuchung führen?“

Sein Blick huschte gierig über die vor ihm liegenden mächtigen Eisberge in allen Regenbogenfarben (und vielleicht auch ganz nebenbei etwas eingehender über Chers ebenso mächtigen Busen). „Ach, die Qual der Wahl. Ich glaube, ich nehme etwas von euren fantastischen Frühstücksbackwaren. Schließlich ist es noch sehr früh am Morgen.“

„Gute Wahl. Und was dazu, Dennis?“

Elsie kannte das Drehbuch für diese Unterhaltung in- und auswendig. Jeden Montag- und Donnerstagmorgen, immer genau um neun Uhr, kam Dennis Keith auf dem Weg in das kleine Buchhaltungsbüro, in dem er arbeitete, bei Sundae & Cher vorbei. Was er eigentlich wollte, waren drei Kugeln Eis zu seinem Frühstücks-Schokocroissant, aber sein Sinn für britische Korrektheit und sein Gewissen ließen niemals zu, dass er diesen Wunsch direkt äußerte. Stattdessen begann jedes Mal ein gut einstudiertes Schachern, nur damit er sich hinterher damit beruhigen konnte, gar nicht gierig gewesen zu sein, sondern einfach nur Cher einen Gefallen getan zu haben, indem er auf ihren Vorschlag einging. Schließlich konnte er doch nicht einfach ihre Gefühle verletzen, indem er das angebotene Eis ausschlug.

„Ich überlege, ob ich eine Kugel von eurem exzellenten gelato zum Frühstück nehmen könnte?“

„Aber natürlich, mein Lieber. Welche Sorte soll es denn sein?“

Dennis gab sich schrecklich unentschlossen, hüpfte nach links und rechts, während er die Auswahl begutachtete. „Vanille – nein, halt – Mango-Ingwer sieht ganz besonders einladend aus … Aber dann ist da noch Schokoladen-Sternenstaub … oh, oh, diese Qual der Wahl!“

Cher lehnte sich gerade so weit über die Theke, dass sie kurz seinen Blick von der Eiscreme ablenkte. „Dennis, du weißt, dass ich beleidigt bin, wenn du nicht alle drei Sorten probierst …“

Mission erfüllt. Seine Augen funkelten, während er so tat, als sei er überrascht. „Ernstlich? Nun, in dem Fall kann ich natürlich schlecht Nein sagen.“

Als er glücklich an einen der Tische entschwand, wirbelte Cher ihren Eisportionierer um ihre Finger wie ein Scharfschütze des Wilden Westens seinen Revolver. „Siehst du? Kenne ich mich mit Männern aus oder nicht?“

Elsie grinste und griff nach einer Speisekarte, die über und über mit rosa Haftnotizzetteln beklebt war. „Daran habe ich nie gezweifelt. Denkst du wieder darüber nach, die Speisekarten neu zu gestalten?“

Cher reichte ihr eine Tasse Tee. „Nicht die Karten. Die Karte.“

„Wie bitte?“

„Ich habe mir überlegt, dass wir etwas Neues wagen könnten. Versuchen könnten, unser Angebot ein bisschen zu erweitern. Jetzt, wo es auf Ostern zugeht, scheint mir die Zeit gekommen, eine Art Frühjahrsputz zu veranstalten.“

Elsie schaute sich die schriftlichen Anmerkungen auf den rosa Haftnotizen an. „Mir gefällt die Idee, Porridge und Pfannkuchen zum Frühstück anzubieten. Schließlich steht nicht jeder schon am frühen Morgen auf Eis so wie Dennis.“

„Ich habe unsere Freunde bei Cupcake Genie um ein paar saisonale Spezialitäten für uns gebeten, und in einige ihrer Ideen kann ich unsere Eiscremesorten mit einbinden“, fuhr Cher fort. Ihre Augen funkelten vor Begeisterung. „Und dann wäre da noch was …“ Sie eilte in die Küche hinter der Theke, kam kurz darauf mit einer weiß bereiften Tupperdose zurück, öffnete den Deckel, löffelte ein wenig zart-fliederfarbenes Eis heraus und reichte es Elsie. „Probier mal.“

Der Geschmack war unglaublich – ein Aroma von zerdrückten Veilchen- und Rosenblüten. „Wow, das ist umwerfend.“

„Biologisch und kuhmilchfrei“, strahlte Cher. „Ich habe dafür Mandelmilch benutzt. Das funktioniert mit all unseren Geschmacksrichtungen, und wir haben damit etwas, was niemand sonst in Brighton anbietet. Außerdem habe ich eine Crêpe-Pfanne bestellt. Dann können wir frisch zubereitete Crêpes mit Eis, frischem Obst und nahezu jedem unserer Toppings anbieten. Das wird toll aussehen, und im Café wird es nach heißen Crêpes duften! Wenn das gut läuft, wer weiß? Hausgemachte Waffeln, Eis zum Mitnehmen, noch ein paar mehr Sorten von deinen fantastischen Cookies – alles ist möglich.“

„Klingt ganz so, als hättest du dir das alles sehr gründlich überlegt. Und wann willst du all diese Änderungen an der Speisekarte vornehmen?“, fragte Elsie.

„Vorläufig noch lange nicht. Ich arbeite zurzeit daran, alle meine Ideen zu bündeln. Außerdem möchte ich auch von dir Vorschläge hören. Dies muss ein gemeinsames Projekt werden, einverstanden?“ Sie schaute hinüber in die Ecke des Cafés, in der Dennis selig in seinem Frühstück schwelgte, ohne von Schuldgefühlen geplagt zu werden. „Wenn doch nur alle unsere Gäste so leicht zufriedenzustellen wären wie Dennis, hmm?“

Elsie grinste. „Vielleicht sollten wir ihn zu unserem Chefberater für die Speisekarte machen.“

„Du machst Witze! Dann würden wir ihn ja nie mehr loswerden!“

„Stimmt auch wieder.“ Elsie legte die Speisekarte zurück auf den Tresen. „Neues wagen ist also das Motto.“

Das Zwinkern, mit dem Cher sie bedachte, war ausgesprochen unflätig. „In jeder nur denkbaren Hinsicht, Mädchen.“

Am Samstagmorgen traf Elsie sich mit Daisy zum Frühstück im Driftwood Café am Strand nahe des Brighton Marine Palace and Pier. Wie immer wirkte Daisy, als wäre sie von einem Team aus Kosmetikern und Modeschöpfern eingekleidet und hergerichtet worden. Ihre schlichte weiße Bluse war makellos glatt und passte elegant zur dunklen eng anliegenden Jeans und den Halbschuhen. Ein breiter Paschminaschal aus Seide vervollständigte ihr Outfit. Elsie hatte ihre älteste Schwester schon immer bewundert und sich in ihrer frühen Teenagerzeit lange bemüht, Daisys Stil nachzuahmen. Mit sechzehn entdeckte sie dann die abgedrehten Modeboutiquen in North Laine und fand mit deren Hilfe ihren eigenen Stil. Heute trug sie ein niedliches, mit Kirschmuster bedrucktes Kleidchen über lose sitzenden Jeans, dazu ihre heiß geliebten roten Converse-Sportschuhe und einen hellgrünen Cardigan, um sich vor der kühlen Meeresbrise zu schützen. Ein scharlachrotes Band hielt ihre Haare in einem Pferdeschwanz zusammen. Gut zehn Zentimeter kleiner als ihre Schwester, sah Elsie ihr dennoch überraschend ähnlich. Sie beide kamen nach ihrer schon lange abwesenden Mutter mit ihren hohen Wangenknochen und den großen indigoblauen Augen. Ihre Schwester Guin hingegen war ein Abbild ihres Vaters: groß, athletischer Körperbau und dichtes, welliges blondes Haar, um das ihre Schwestern sie glühend beneideten, denn Locken kannten deren völlig glatte Strähnen nicht einmal vom Hörensagen.

Die Vormittagssonne wärmte die Terrasse des Cafés, während Daisy Tee aus einer skurrilen getupften Teekanne in zwei übergroße Tassen goss.

„Ich hoffe, dir ist aufgefallen, dass ich mir das erste Mal seit fünf Monaten an einem Samstag freigenommen habe“, erklärte Daisy und schob eine der Tassen über die Mosaiktischplatte zu ihrer Schwester hinüber. „Du solltest dich sehr geehrt fühlen.“

„Das tue ich.“

„Gut.“ Daisy rührte ihren Tee um und behielt Elsie dabei genau im Auge. „Und? Wie geht es dir mit allem so? Das ist eine ernst gemeinte Frage, Els. Ich erwarte also, dass du mir nichts vorspielst, so wie du es Dad und Guin gegenüber getan hast.“

„Mir geht es gut. Nun schau mich nicht so an. Mir geht es wirklich und ganz ehrlich gut.“

Daisy war mit dieser Antwort keineswegs zufrieden. „Dann erklär mir doch – denn ich bin mir nicht sicher, dass ich es verstehe –, was dich dazu bewogen hat, wieder mit Männern ausgehen zu wollen?“

„Ich habe angefangen, die Nachrichten in der Schachtel zu lesen.“

Klappernd fiel Daisys Teelöffel auf die Untertasse. „Oh. Wow!“

„Ja, ich weiß. Und es fühlt sich gut an. Als wäre der richtige Zeitpunkt gekommen, weißt du? Heute Morgen habe ich die zweite Botschaft gelesen, und sie passt genial. Schau …“ Damit zog sie einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Geldbörse und schob ihn über den Tisch.

Für jemanden, der dafür berühmt war, seine Gefühle bestens unter Kontrolle zu haben, sah Daisy verflixt danach aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Der Zettel zitterte leicht in ihren Fingern, während sie die Botschaft las, und sie schwieg eine ganze Weile. „Was für eine schöne Aussage …“

„Wenn auch nicht sonderlich überraschend.“

„Nein, das wohl nicht.“ Daisy reichte Elsie den Zettel zurück. „Ich weiß, das klingt jetzt reichlich seltsam, wenn man alles bedenkt, aber du hast wirklich unglaubliches Glück. André hat in all der Zeit, die ich ihn kenne, noch nie so etwas zu mir gesagt.“

„Würdest du dir denn wünschen, dass er es täte?“

„Oh, ich weiß nicht. Manchmal denke ich, es wäre ganz nett, mal zu hören, was er für mich empfindet, aber dann wieder sage ich mir einfach, dass wir zu den Paaren gehören, bei denen das nicht so läuft. Es ist ja auch nicht das, was wirklich wichtig ist.“ Damit wischte sie das Thema mit einer wegwerfenden Handbewegung beiseite, als wäre es eine lästige Fliege. „Und? Was wirst du mit dieser Botschaft anfangen?“

„Ich muss etwas Neues beginnen.“

„Zum Beispiel?“

Elsie sog tief die salzige Luft ein, die von den in der Ferne auf den steinigen Strand brandenden Wellen aufstieg. Über ihnen kreiste ein kreischendes Pärchen Möwen. „Ich habe keine Ahnung. Aber ich glaube, wenn ich etwas Neues beginne, könnte mir das helfen, mich wieder als eigenständige Person zu betrachten. Verstehst du?“

„Du bist eine eigenständige Person …“, setzte Daisy zum Protest an.

„Ja, das weiß ich doch. Aber vor mir liegt jetzt dieses ganze unerwartete Leben, und ich sollte mir darüber klar werden, was ich damit anfangen will. Ich muss einfach dahinterkommen, was als Nächstes geschieht.“

Daisy schüttelte den Kopf. „Du bist wirklich erstaunlich. Wie du mit alledem fertiggeworden bist … also, ich halte das für fantastisch.“ Verlegen über ihren eigenen Gefühlsausbruch redete sie rasch weiter. „Hast du schon darüber nachgedacht, was du gern tun würdest?“

„Ein wenig. Bisher ist mir aber nur eine Sache eingefallen, die nicht wirklich etwas Neues ist.“

„Schieß los.“

Aufregung bemächtigte sich ihrer, und sie fuhr fort. „Schön. Erinnerst du dich noch, wie wir als Kinder immer diese grässlichen Musikshows für Dad aufgeführt haben?“

„Sonntagnachmittags! Das hatte ich ganz vergessen!“ Daisy klatschte in die Hände und lachte so laut, dass ein vorbeieilender Kellner fast sein Tablett hätte fallen lassen.

Um Elsies achten Geburtstag herum wurden die Sonntagnachmittage im Haus der Maynards zu Musikspektakeln. Daisy, die damals zwölf war, hatte sich gerade einem Kindertheaterclub angeschlossen, der zur örtlichen Methodistenkirche gehörte. Sie war fest davon überzeugt, ihr sei es bestimmt, eines Tages im Rampenlicht des West End zu stehen. Wie bei fast allem, was in ihrer Kindheit geschah, waren die Produktionen der Maynard-Schwestern von Daisy angestiftet. Sie dienten ihr vor allem als Mittel, ihre eigenen Schauspielkünste vorzuführen, und ihre beiden Schwestern bekamen die Nebenrollen aufs Auge gedrückt. Nicht, dass es ihnen etwas ausgemacht hätte. Sie beide liebten und bewunderten ihre selbstbewusste, willensstarke Schwester. Woche um Woche wurde das Sonntagstheater noch enthusiastischer und kunstreicher. Elsie und Guin führten nach und nach Kostüme ein, wackeläugige Sockenpuppen und schließlich auch Musik. Als Elsie zwölf war, war sie auf den Posten des Musikdirektors aufgestiegen. Dann spielte sie auf dem permanent verstimmten Klavier im Esszimmer, während ihre Schwestern tanzten und sich maßlos theatralisch durch langatmige selbst geschriebene Produktionen schauspielerten.

„Armer Dad“, lachte Daisy. „Kaum zu glauben, dass er das tatsächlich Woche für Woche über sich ergehen lassen hat.“

„Als Publikum war er aber großartig. Jeden Sonntag stehende Ovationen, weißt du noch?“, meinte Elsie grinsend.

„Wie könnte ich das je vergessen? Du denkst aber nicht daran, die Sonntagsspektakel wieder aufleben zu lassen?“

„Hmm, ich bin mir nicht sicher, ob Brighton für so experimentelles Theater bereit ist. Aber ich dachte, ich könnte mich vielleicht einer Theater- oder Musiktheatergruppe anschließen. An Musicals hätte ich wirklich großen Spaß – obwohl meine alten Stimmbänder schon seit Jahren nicht mehr gefordert wurden. Außerdem wäre es gut, neue Leute kennenzulernen, mal wieder rauszukommen. Mit irgendetwas muss ich anfangen, und wenn ich etwas tue, das mir Spaß macht, scheint mir das ein guter Anfang zu sein. Selbst wenn meine Stimme nach all den Jahren ziemlich zu wünschen übrig lässt.“

Daisy starrte ihre Schwester an, als hätte diese gerade behauptet, das Meer sei rosa. „Du machst wohl Witze! Deine Stimme ist fantastisch. Viel besser als die jedes anderen Familienmitglieds, einschließlich Onkel Frank. Und der hat jahrelang seinen Lebensunterhalt damit verdient, in örtlichen Pubs das Great American Songbook zu vergewaltigen. Ich schätze, du könntest singen, wo immer du wolltest, und die Leute würden dir zuhören.“

„Lieb, dass du das sagst, aber ich glaube, ich muss ein wenig üben, bevor ich mich damit an die Öffentlichkeit wage.“

„Unsinn. Warte mal …“ Daisys Augen wurden groß, als ihr eine Idee durch den Kopf schoss. „Du könntest gleich hier singen.“

Damit deutete sie auf eine Ecke des Bohlenweges des Cafés, in der ein in allen Regenbogenfarben bemaltes Klavier stand. So wie es aussah, hätte es auch bei einem Coldplay-Konzert nicht fehl am Platze gewirkt. Zum Café gehörte es seit dem vorigen Sommer und war ein Überbleibsel eines sechswöchigen Kunstprojekts. Auf dem Deckel stand eine Einladung: „Spiel auf mir – ich gehöre ganz dir!“, und gelegentlich nahm jemand die Herausforderung an. Das wiederum bedeutete, dass man jederzeit damit rechnen konnte, zum biologisch angebauten Fairtrade-Kaffee ein Rock’n’Roll-Medley, ein Stück von Chopin oder eine grässliche Interpretation der Chopsticks Brothers geboten zu bekommen.

„Pssst, red keinen Unfug!“ Elsie lachte nervös und schaute sich um. Hoffentlich hatte niemand der Cafégäste gehört, was Daisy gerade vorgeschlagen hatte. Glücklicherweise schienen die anderen Gäste auf der Terrasse nichts mitbekommen zu haben und genossen einfach nur ihr Frühstück in der Frühlingssonne.

Aber Daisy Maynard war eine unglaublich schöne Frau auf heiliger Mission. „Ich meine das ernst, Els! Mach schon – jetzt. Geh, sing etwas!“

„Ich kann nicht …“

„Doch, du kannst. Du bist furchtlos, weißt du noch?“ In ihren dunkelblauen Augen blitzte es schelmisch auf, und sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ein siegesbewusstes Lächeln auf den Lippen. „Wetten, dass du dich nicht traust?“

Elsie starrte ihre Schwester an. Wenn es eine unumstößliche Wahrheit gab, die die Maynard-Schwestern kannten, dann diese: Ein „Wetten, dass du dich nicht traust“ war die ultimative Provokation. Es zu ignorieren kam einem Verrat an der Familienehre der Maynards gleich, und wer das tat, zog den endlosen Spott des gesamten Clans auf sich: von Dad, Daisy, Guin und sogar von ihrer bereits verstorbenen Großmutter Flo, die zu Lebzeiten geradezu fanatisch an dieser Regel festhielt. Ganz gleich, welche möglichen Konsequenzen das Eingehen auf eine solche Provokation auch haben mochte, sie zu ignorieren und mit dem Widerhall zu leben, war einfach viel schlimmer.

Elsie schnitt ihrer Schwester eine Grimasse, aber die Würfel waren gefallen. Während sie sich langsam erhob, jagte ein Adrenalinstoß durch ihre Adern. Was sie im Begriff war zu tun, kam ihr so kühn vor, dass sie beinah in lautes Jammern ausgebrochen wäre. Daisy nickte eifrig, als Elsie zum Klavier hinüberging. Sie lockerte ihre Finger über den bunten Tasten, atmete einmal tief durch und legte los.

Die ersten paar Töne von „I Will Survive“ kamen noch ein wenig zittrig heraus – verständlicherweise, immerhin starrten sie die anderen Cafégäste inzwischen völlig überrascht an. Aber als Daisy den Edelstahltisch zum Schlagzeug umfunktionierte und darauf den Takt zu schlagen begann, wuchs Elsies Selbstvertrauen. Beim Refrain angekommen, wummerte ihr Herz wie eine Dampflokomotive, und sie sang aus vollem Hals.

Und dann geschah etwas Bemerkenswertes.

Ein Mann mit Brille in einem figurbetonten karierten Hemd ganz am anderen Ende der Terrasse erhob sich plötzlich von seinem Platz und stimmte in den Refrain ein. Als Nächstes folgte eine Dame am Nebentisch. Und während immer mehr Leute einstimmten, infizierte der gemeinsam empfundene Nervenkitzel ihrer spontanen Aufführung das ganze Café. Die Gäste im Inneren drängten sich an den Fenstern und in der offenen Tür, um sich das Schauspiel anzusehen, und einige Leute, die gerade ihre Hunde ausführten, blieben stehen, um das außergewöhnliche Geschehen zu verfolgen. Läufer auf der Promenade hielten an und schauten über die seegrünen Geländer herüber; ein kleiner Trupp Teenager hörte für eine Weile auf, SMS zu versenden, und richtete die Smartphone-Kameras auf das Café; ältere Pärchen, die ihre Eisbecher genossen, machten sich gegenseitig auf das Spektakel aufmerksam und lachten. Überall sah man lächelnde Gesichter, und während Elsie ihre improvisierte Gesangstruppe in den letzten Refrain geleitete, fühlte sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr.

Als das Lied endete, gab es enormen Jubel von Sängern und Zuschauern gleichermaßen. Das miteinander geteilte Empfinden ließ Elsie Tränen in die Augen schießen, als auch die Bedienung im Café bewundernd zu pfeifen begann und wie wild applaudierte. Dann – schließlich waren sie hier in Brighton – kehrten die unabsichtlichen Flashmob-Teilnehmer verlegen an ihre Tische zurück, als wäre nichts geschehen.

In Hochstimmung klatschte Elsie ihre grinsende Schwester ab. „Na, wie war das?“

Daisy verneigte sich tief. „Du bist ganz offiziell meine Heldin, Elsie Maynard! Was für eine verdammt gute Art, etwas Neues zu beginnen.“

„Vielen Dank.“

„Das schreit nach Kuchen. Nein, tut mir leid, du kannst nicht ablehnen, Schwesterherz. Du bist gerade zur Legende geworden. Kuchen ist das einzig Passende, womit ich deinem Genie huldigen kann.“ Damit enteilte Daisy ins Innere des Cafés.

Elsie lächelte in sich hinein. Sie empfand eine starke innere Befriedigung. Was sie da gerade abgezogen hatte, war hochgradig albern gewesen, aber es hatte etwas tief in ihrem Inneren wachgerüttelt. Sie hatte Ausschau nach etwas Neuem gehalten. Und obwohl sie sich ganz und gar nicht sicher war, dass diese Entdeckung tatsächlich eine Bedeutung hatte, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass gerade etwas Wichtiges geschehen war. Sie irrte sich tatsächlich nicht. Denn ohne dass sie sich dessen bewusst war, hatte jemand ihren spontanen Auftritt von der Brüstung der Promenade her aufmerksam verfolgt. Jemand, der ihr Leben vollständig umkrempeln sollte …

3. KAPITEL

Sehr erfreut, Sie kennenzulernen

Er war ganz in Schwarz gekleidet: von seinen zu eng sitzenden Jeans (wirklich nicht unbedingt ratsam für einen Mann seines Alters) über seine abgewetzten mit silbernen Sternen beschlagenen Lederstiefel und das zerrissene T-Shirt mit dem weißen Totenschädel, der einem zuzublinzeln schien, bis hin zu seiner abgetragenen Lederjacke und dem zerbeulten Stetson. Die einzige Ausnahme in diesem ganzen Schwarz war ein purpurrotes Halstuch, das er sich umgebunden hatte. Über seinen Rücken hing ein langer, ergrauender Pferdeschwanz, und an seinen Handgelenken klimperten Silberketten. Während er die bemerkenswerte Szene beobachtete, die sich in dem Terrassencafé unterhalb seines Standortes abspielte, lehnte er an der Promenadenbrüstung, kaute nachdenklich auf seinem Zimtkaugummi herum und nickte langsam, als ein unbestreitbar genialer Plan in seinem Kopf Form annahm.

Als die Schaulustigen auf der Promenade um ihn herum sich langsam zerstreuten, zog er eine blaugetönte Sonnenbrille mit runden Gläsern aus seiner Gesäßtasche, setzte sie sich feierlich auf die Nase, zog seine Hutkrempe ein Stückchen tiefer und schlenderte die Steinstufen zur Terrasse hinunter.

Daisy kam mit einem Tablett zurück, das Gesicht gerötet vor Lachen. „Da drin sind sie hin und weg von dir“, sprudelte sie hervor. „Der Kuchen geht aufs Haus!“

„Im Ernst? Du liebe Güte, vielleicht sollte ich so etwas öfter tun.“

„Der Manager hat gefragt, ob du nächsten Samstag wiederkommen kannst. Ich glaube, er meinte das ernst …“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich als Sängerin in einem Café auftreten möchte, aber es ist nett, dass er gefragt hat“, meinte Elsie und stieß mit ihrer Tasse Tee mit Daisy an.

„Eeeeengel!“, mischte sich plötzlich eine fremde Stimme über ihren Köpfen ein.

Elsie und Daisy schauten auf und entdeckten einen ganz in Schwarz gekleideten Mann mittleren Alters, der neben ihrem Tisch stehen geblieben war.

Daisy runzelte fragend die Stirn. „Wie bitte?“

„Du bist eine Vision, ein Wunder, ein mystisches Zeichen, Baby.“

Elsie unterdrückte ein Kichern, aber Daisy empfand sofort eine Abneigung gegen den unwillkommenen Fremden, der ihr Gespräch unterbrochen hatte. „Nein, danke!“, erklärte sie fest.

Einen Moment schien er aus dem Konzept gebracht. „Wie bitte?“

„Was immer Sie verkaufen wollen, wir haben kein Interesse.“

„Lady, sehe ich etwa so aus, als wäre ich ein gemeiner Strandhändler?“

„Ich habe keine Ahnung, wer oder was Sie sind. Aber meine Schwester und ich genießen einen entspannten gemeinsamen Morgen. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, würden wir gern …“

„Deine Schwester? Deine Schwester ist ein Geschenk der Götter, Mädchen.“

„Sie sind sehr nett“, gab Elsie zurück. Sie fand den Schwarzgekleideten wesentlich lustiger als Daisy. „Aber ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem.“

„Aber ganz und gar nicht“, erwiderte er, schnappte sich einen Stuhl von einem Nebentisch und setzte sich uneingeladen zu ihnen. „Du bist genau diejenige, nach der ich gesucht habe!“

„Ahem, hören Sie mal …“, begann Daisy, aber der schwarzgekleidete Mann hörte gar nicht zu.

„Woody“, stellte er sich vor und streckte Elsie seine Hand entgegen, wobei die Ketten an seinem Arm leise klimperten. „Woody Jensen. Vielleicht kennst du mich noch aus den Achtzigern: Die Rockband Hellfinger.“

Der verständnislose Gesichtsausdruck beider Maynard-Schwestern zeigte klar und deutlich, dass dieser Name beiden nichts sagte. Woody fuhr dennoch unbeeindruckt fort. „Ich war an dem Welthit ‚Hard Rockin’ Summer‘ beteiligt – 1987? Auf der Kerrang! Radio Playlist steht er immer noch ganz oben …“

Elsie zuckte die Achseln. „1987, da war ich zwei und meine Schwester sechs – tut mir leid.“

Sichtlich ernüchtert, nahm Woody den Hut ab und legte ihn auf den Tisch. „Es war ein bahnbrechender Hit, Mann … Welttournee, Groupies, alles, was dazugehört. Bist du sicher, dass du dich nicht daran erinnerst?“ Er begann, mit kehliger Falsetto-Stimme zu singen und trommelte dazu mit seinen beringten Fingern auf die Tischplatte: „Heart beatin’ faster than a-Olympic runn-uhh, we’re livin’ the dream for a hard rockin’ summ-uhh … Oh-oohh, hard rockin’ summ-uhh …“ Hoffnungsvoll schaute er Elsie und Daisy an. „Na klingelt’s?“

„Ja, Alarmglocken“, murmelte Daisy.

„Wie bitte?“

„Schauen Sie, es war nett, Sie kennenzulernen, wie Sie sehen, aber ich würde es trotzdem sehr begrüßen, wenn Sie uns jetzt allein lassen könnten?“

Woody verschränkte die Arme vor der Brust. „Nicht, bevor deine Schwester meinen äußerst attraktiven Vorschlag gehört hat.“ Damit grinste er Elsie lasziv an.

Sofort bereit, ihre Schwester vor etwas zu schützen, was sie als verdächtigen Annäherungsversuch eines räudigen Rockers betrachtete, sprang Daisy auf und beugte sich drohend über Woody. „Jetzt hören Sie mal zu. Ich habe Sie auf nette Weise gebeten zu gehen. Wenn Sie trotzdem unbedingt bleiben wollen, werde ich den Besitzer darum bitten, Sie aus dem Café zu werfen …“

„Hey, nun beruhig dich doch, Baby. Ich will deiner Schwester doch nur eine Frage stellen, und dann gehe ich. Ist das akzeptabel?“

Plötzlich empfand Elsie Mitleid mit dem ehemaligen Rockstar an ihrem Tisch. Sie legte eine Hand auf den Arm ihrer Schwester. „Ich glaube, wir sollten uns anhören, was Mr Jensen zu sagen hat, Liebes.“

Daisy ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken. „Aber er ist …“

Ohne auf den Protest ihrer Schwester zu achten, wandte Elsie sich an Woody. „Also fragen Sie.“

Ein Ausdruck reinster Ehrfurcht huschte über Woodys stoppelbärtiges Gesicht. „Eeeeengel“, hauchte er, bevor er seine Fassung wiedergewann. „Ich brauche deine Hilfe. Schau, ich bin ein Mann, der stärker von Wunschträumen und künstlerischen Fähigkeiten beherrscht wird, als für einen Normalsterblichen gut ist. Aber ich trage diese Bürde dank meiner Kreativität. Jedenfalls stehe ich unmittelbar vor einer Wiedergeburt. Man könnte es auch eine spirituelle Nachjustierung nennen. Und ich werde das Gefühl nicht los, diese neue Phase meines Lebens könnte die wichtigste werden. Jedenfalls dann, wenn ich mein Projekt zum Laufen bekomme.“

Daisy starrte ihn an, als wäre er ein dreiköpfiges Alien. Elsie hingegen schenkte ihm ein geduldiges Lächeln. „Und was genau wollten Sie mich fragen?“

„Nun ja, ich schlenderte da oben über die Promenade, dachte über meine nächsten Schachzüge nach – und dann hatte ich eine Vision. Genau wie 1984, als ich von einer Rockband träumte, die die Welt erobern sollte, und Hellfinger aus der Taufe gehoben wurde. Und diese Vision, das warst du, die du hier, auf dieser bescheidenen Terrasse, wie eine musikalische Schamanin die Gläubigen von Brighton bezaubert hast, sich deinem mystischen Willen zu unterwerfen.“

Elsie musste lachen. „Das war doch nur ‚I Will Survive‘, kein religiöser Gesang.“

„Genau, Mädchen! Du hast einen schlichten Song gewählt und ihn in pure Magie verwandelt. Genau das strebe ich an.“

„Es tut mir leid, ich verstehe wirklich nicht, worum Sie mich eigentlich bitten wollen …“

Völlig überraschend für sie, griff Woody nach ihrer Hand. „Ich rede von einem Chor, Babe! Aber nicht von einer scheinheiligen sacharinsüßen Sängergruppe in einer Kirche. Ich spreche von einer Band stimmgewaltiger Gläubiger, die einem Massenpublikum treu klassische Stücke präsentiert. Stücke von Hendrix, Lennon, McCartney oder Gaga. Aber ich schaffe das nicht allein. Ich brauche einen Musikdirektor. Einen Mitarbeiter, der mir hilft, meinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Ich habe das Universum um ein Zeichen gebeten – und im selben Moment hast du begonnen zu singen. Das ist ein Wink des Schicksals, Babe! Also, was sagst du dazu? Wagst du den Sprung in den Abgrund des Zufalls und spielst auf dem Klavier des Schicksals?“

„Bei einem solchen Angebot, wie könntest du da ablehnen?“, spottete Daisy.

„Ja, wie könnte ich …?“, gab Elsie zurück, während ihr durch den Kopf schoss, welche Möglichkeiten sich ihr so plötzlich und unerwartet eröffneten.

Daisy packte sie am Arm. „Moment mal. Du denkst doch nicht ernstlich darüber nach, oder?“

Elsie konnte nicht lügen. Obwohl es jede Menge guter Gründe gab, das Angebot nicht anzunehmen, fand sie diesen alternden Rocker mit seiner verrückten Idee äußerst sympathisch. Dies hier schien das Potenzial zu etwas ganz Besonderem zu haben und das faszinierte sie ungemein. In Lucas’ Botschaft dieser Woche hatte gestanden, dass sie furchtlos war. Wenn sie sich also diesem Projekt verschrieb, würde sie dann nicht beweisen, dass es stimmte?

„Ich wollte doch etwas Neues beginnen. Vielleicht ist das genau das Richtige.“

„Unter keinen Umständen! Tut mir leid, Elsie, ich kann dir das nicht erlauben.“

Woody runzelte die Stirn. „Ich schätze, du wirst feststellen, dass Elsie durchaus kann …“

„Daisy, ich glaube, das könnte funktionieren. Ich wollte irgendetwas mit Musik tun, und diese Sache – das könnte Spaß machen. Stell dir vor, was für Leute sich auf einen unkonventionellen Chor einlassen würden. Leute, mit denen ich etwas gemeinsam habe und mit denen ich etwas aufbauen könnte … Komm schon, Dais, du hast gesagt, du würdest mich in allem unterstützen, wofür ich mich entscheide. Wenn ich etwas Neues beginnen und mich vielleicht wieder verabreden möchte, dann könnte das die perfekte Gelegenheit sein.“

„Ja, Daisy, entspann dich und ergreife die Vision“, fügte Woody hinzu. Besonders klug war das vermutlich nicht, wenn man die Mordlust in Daisys Augen aufblitzen sah.

„Niemand hat uns einander vorgestellt. Was fällt Ihnen also ein, mich beim Vornamen zu nennen!“, stieß sie hervor. Ihr Argument war so durch und durch britisch, dass Elsie kichern musste.

„Daisy Maynard, darf ich dir Woody Jensen vorstellen? Woody, das ist Daisy. Und ich bin Elsie. Damit haben wir die formelle Vorstellung hinter uns gebracht. Zufrieden?“

„Nicht wirklich.“ Wütend schlang Daisy ihren langen Paschminaschal um ihre Schultern und funkelte sie beide an. „Wenn du das tun willst, meinetwegen. Aber ich bin dabei. Ich lasse dich auf keinen Fall mit diesem – diesem – mit dieser Person allein irgendwohin gehen.“

Woody griff nach seinem Stetson und setzte ihn sich auf den Kopf. „Geht klar, Babe. Je mehr, desto besser.“

Sie vereinbarten, dass sie sich am kommenden Dienstagabend im Sundae & Cher treffen würden. Woody war sichtlich von der Aussicht auf die Erfüllung von Wunschträumen und traumhaften Eiscremesorten in Kombination angetan. Daisy wartete, bis Woody gegangen war, bevor sie Elsie sagte, was sie wirklich von der Sache hielt.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass du auch nur in Erwägung ziehst, mit diesem Typen irgendetwas gemeinsam in Angriff zu nehmen“, sagte sie, während sie langsam über den Kieselstrand wanderten. „Das ist doch ein Spinner!“

Elsie bückte sich nach einem glatten grauen Stein. „Ich weiß, er ist ein bisschen … exzentrisch, aber ist das nicht jeder in dieser Stadt? Und du musst doch zugeben, das Ganze klingt, als könnte es wirklich Spaß machen.“

„Für mich klingt es nach einem Albtraum“, schoss Daisy zurück. „Els, bist du sicher, dass du das willst? Es gibt nämlich alle möglichen seriösen und anständigen Chöre in Brighton, denen du dich stattdessen anschließen könntest. Das DreamTeam soll einfach wunderbar sein – und sie treten jedes Jahr im Theatre Royal auf. Stell dir vor, du singst auf dieser Bühne! Es würde dir gefallen, da bin ich sicher …“

Elsie warf ihrer Schwester einen schiefen Blick zu. „Ich in einer Singgruppe, die von Jeannette Burton geleitet wird? Der vermutlich einzigen Chorleiterin, die sich stärker ins Rampenlicht drängt als ihre Truppe? Nein danke. Ich will nicht unter der Leitung einer Mittfünfzigerin in hautengen roten Lederhosen Medleys singen. Die Vorstellung finde ich zutiefst abschreckend …“ Ihr fiel wieder ein, wie Chers vernichtendes Urteil über die Frau ausgefallen war – „Wie Simon Cowell in rotem Leder“ –, und sie musste lächeln. „Außerdem“, fuhr sie fort und spielte dabei mit dem glatten Stein in ihren Händen, „wäre der Chor, den Woody und ich ins Leben rufen könnten, eine spaßige Angelegenheit und definitiv alles andere als konventionell.“

Wandel war eine gute Sache, entschied Elsie, während sie über die Ereignisse der letzten Woche nachdachte. Die Entscheidung, wieder mit Männern auszugehen – auch wenn sie bisher nur in der Theorie gefallen war und sie noch keinen Schlachtplan hatte –, und die Möglichkeit, an einem wie auch immer gearteten musikalischen Projekt teilzuhaben, wie Woody es sich vorstellte, erfüllte sie mit freudiger Erregung. Oberflächlich betrachtet war keine der beiden Entscheidungen sonderlich weltbewegend, aber für sie waren es wichtige Schritte nach vorn.

Später an diesem Nachmittag – Daisy war inzwischen fort, um sich mit Freunden zum Essen zu treffen – rief Jim an und bat Elsie, in seinem Laden vorbeizuschauen. Da sie sonst nichts vorhatte, freute sie sich über die Einladung. Außerdem besuchte sie ihren Vater gern an seinem Arbeitsplatz.

Jim Maynard war der Eigentümer des Brighton Home Store. Der Laden lag mitten im Stadtzentrum und war damit das erste Haus am Platz, wenn es um hochwertige Möbel ging. Er hatte das Geschäft von seinem Vater und der wiederum von seinem Großvater geerbt und war deshalb in Brighton bestens bekannt. Ihn mit Anzug und Krawatte zu sehen amüsierte Elsie jedes Mal aufs Neue. Schließlich wusste sie nur zu gut, wie er wirklich war. Außerhalb seiner Arbeit scheute Jim alles Konventionelle noch mehr als seine Kinder, ja sogar mehr als die New-Age-Anhängerin, Veganerin und selbst ernannte Erdmutter Guin. In seinem Zuhause war er die Verkörperung des alternativen Lebens schlechthin. In seiner Teenagerzeit hatte er vier Jahre in einer Hippie-Kommune gelebt und nie ganz seine Begeisterung für Frieden, Liebe und Batikstoffe verloren. Folgerichtig war ihr Elternhaus eine regelrechte Farbexplosion: Jedes Zimmer war dekoriert mit knallbunten indischen Stoffen, und die Wände waren hell gestrichen und mit leuchtenden Mustern bemalt. Er aß seine selbst zubereiteten vegetarischen Mahlzeiten von handgetöpferten Tellern (von Guin gefertigt), ließ in Wohnzimmer und Küche Räucherstäbchen glimmen und hegte eine Vorliebe für hypnotisierende Sitar-Musik, die fast permanent auf einem seiner vielen CD-Player lief und im ganzen Haus zu hören war.

In seinem Geschäft hingegen war Jim Maynard ein mustergültiger Geschäftsmann. Der einzige Hinweis auf sein verborgenes Hippie-Dasein war der kleine Goldring, den er in einem Ohr trug, ein Detail, das seinen gut betuchten und ganz entschieden konventionellen Kunden kaum auffiel. Er hatte diese Entscheidung, im Geschäft seriös und konventionell aufzutreten, bewusst getroffen, als er den Laden übernahm. Sie war ein Zeichen seines Respekts für seinen Vater, der so durch und durch konservativ war, wie man nur irgend sein konnte. Und obwohl Jim das nie in Worte gefasst hätte, definierte seine Geschäftspersönlichkeit die andere Seite seines Wesens: sein Pflichtbewusstsein und sein Engagement, die auch seine allumfassende Liebe und Hingabe zu seinen Töchtern prägten.

Elsie liebte das Familiengeschäft – den Duft nach Möbelpolitur und neuen Stoffen, der sich mit dem Aroma frisch gebrühten Kaffees mischte, den Jim den ganzen Tag für seine Kunden bereithielt. Als kleines Kind hatte sie viele glückliche Stunden damit verbracht, ihrem Vater bei der Arbeit zuzusehen und so zu tun, als wäre der ganze Laden mit seinen eleganten Möbelarrangements ihr eigenes Zuhause. Nachdem ihre Mutter die Familie im Stich gelassen hatte, verbrachten Elsie und ihre Schwestern sogar noch mehr Zeit im Geschäft. Nach der Schule gingen sie dorthin und blieben bis Ladenschluss, um gemeinsam mit Jim nach Hause zu gehen. Als sie größer wurden, arbeiteten sie alle samstags aushilfsweise im Laden mit. Die Folge war, dass jede von ihnen ihre Liebe für dekorative Inneneinrichtung entdeckt hatte, und das sah man ihren eigenen Wohnungen auch an.

Elsie fragte sich oft, wer von ihnen – wenn überhaupt eine – eines Tages den Laden von ihrem Vater übernehmen würde. Guin baute an ihrem eigenen Haus, leitete ihre Töpferei und bereitete sich auf eine Familie vor, zu der nach ihren Plänen mindestens drei Kinder gehören sollten; Daisy war Teilhaberin bei einem Innenarchitekten und würde das wohl kaum gegen die Leitung eines Provinz-Möbelgeschäfts eintauschen wollen. Damit blieb nur Elsie übrig, die im Augenblick mehr als zufrieden mit ihrem Job als Assistenzmanagerin des Eiscafés war. Jim schienen diese Aussichten jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen. Er wirkte zufrieden, dass seine drei Mädchen ihren eigenen Weg gingen und ihr Glück machten.

Als Elsie das Geschäft betrat, füllte er gerade ein Auftragsformular für eine ältere Kundin aus. Er hob grüßend seine Hand und zwinkerte ihr zu. Elsie winkte zurück und nahm die neue Kissenauslage neben dem Verkaufstresen in Augenschein. Nur zu gern sah sie ihrem Vater zu, wenn er mit Kunden verhandelte. Jim war ein geborener Entertainer und entlockte noch dem griesgrämigsten Ladenbesucher ein Lächeln. Diese Fähigkeit hatte ihm auch einen Platz im Stadtrat eingetragen, wo er sich als Friedensstifter zwischen streitenden Parteien einen Namen gemacht hatte.

Er geleitete die alte Dame zur Tür und kam dann zurück, um Elsie in die Arme zu schließen. „Ach, wie schön, dich zu sehen! Wie war dein Tag, mein Schatz?“

„Großartig. Sieht ganz so aus, als würde ich einen Chor ins Leben rufen.“

Jims Gesichtsausdruck umwölkte sich. Aber als Elsie von ihrem Auftritt im Strandcafé und ihrer Begegnung mit Woody erzählte, reagierte er mit breitem Grinsen.

„Woody Jensen von Hellfinger? Wow, Kind, der Mann ist eine Legende! Und du wirst mit ihm zusammenarbeiten?“

Elsie musterte ihren Vater verdutzt. „Ich wusste gar nicht, dass du insgeheim etwas für Rockmusik übrighast, Dad?“

„Ach, es gibt eine Menge, was du nicht über mich weißt, Süße“, erwiderte er und tippte sich mit einem Finger an die Nase. „Ich habe Hellfinger ’88 in Knebworth erlebt, in dem Jahr, nachdem ‚Hard Rockin’ Summer‘ an die Spitze der Charts gestürmt war. Sie waren einfach umwerfend. Eine Schande, wie das geendet ist. Ihr Drummer hat sich während einer Tournee in Japan umgebracht, und es stellte sich heraus, dass er derjenige war, der die Band zusammengehalten hatte. Ohne ihn fiel sie einfach auseinander. Im Jahr darauf hatten sie einen Auftritt in Köln und ich glaube, danach haben sie versucht, Woody als Leadsänger zu ersetzen. Das war der letzte Sargnagel für Hellfinger.“

„Wer hätte gedacht, dass mein Vater sich ausgerechnet mit Hellfinger so gut auskennt?“, staunte Elsie und ignorierte die gespielte Empörung ihres Vaters. „Also, wolltest du was Bestimmtes oder einfach nur deine Lieblingstochter sehen?“

„Ich freue mich immer, dich zu sehen“, gab er zurück und ging hinüber zur Kaffeemaschine, die in der kleinen Küche hinter dem Verkaufstresen vor sich hin dampfte. „Kaffee?“

„Sehr gern, danke.“

„Bitte sehr.“ Damit reichte Jim ihr einen Becher, und gemeinsam gingen sie zu einem Arrangement von zwei mit türkisgrünem Samt bezogenen Chaiselongues hinüber, um sich zu setzen. „Also, ich hoffe, du bist mir nicht böse, Liebling, aber ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast. Und etwas getan, was ich vermutlich besser nicht hätte tun sollen.“

„Oh?“ Amüsiert nahm sie den verlegenen Gesichtsausdruck ihres Vaters zur Kenntnis. „Keine Bange, Dad, ich werde dich nicht enterben. Also, was hast du ausgefressen?“

„Nun, ich habe Marty gegenüber zufällig heute Morgen deine große Entscheidung erwähnt, und wir – nun ja – haben einen Plan ausgeheckt.“

Elsie wusste, dass ihr Gesichtsausdruck bei der Erwähnung von Jims Geschäftspartner nichts über ihre wahren Empfindungen zeigte. Marty Hogarth arbeitete seit Mitte der Neunziger mit Jim zusammen, und er war im Verhalten, in der Einstellung zu den Kunden und in seiner Weltsicht das exakte Gegenteil ihres Vaters. Wo Jim immer das Beste von jedem annahm, so unangebracht sein Glaube an das Gute auch manchmal sein mochte, betrachtete Marty die Welt mit zynischem Blick und in der festen Überzeugung, dass jeder seine eigenen heimlichen Ziele verfolgte. Dennoch ließ Jim sich in seiner Sympathie für Marty nicht erschüttern, also benahmen Elsie und ihre Schwestern sich um seinetwillen höflich, solange er im Raum war. Was sie sagten, wenn er nicht dabei war, stand auf einem anderen Blatt …

„Und was hatte Captain Zynisch dazu zu sagen?“

Jim musterte sie vorwurfsvoll. „Hör mal, das ist wirklich nicht angebracht. Marty ist ein guter Mann, Elsie – nein, das ist er wirklich. Jedenfalls steht er voll hinter deiner Entscheidung.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Wie du siehst, ist er nicht so übel, wie du ihn gern darstellst. Ich habe ihm erzählt, dass du daran denkst, wieder mit Männern auszugehen, und er hat jemanden vorgeschlagen, der dich gern kennenlernen würde.“

„Ah …“

„Moment, bevor du Nein sagst, hör mich erst mal zu Ende an. Martys Neffe Oliver ist ein wirklich netter Kerl. Ich arbeite seit einem Monat mit ihm an der neuen Webseite des Geschäfts, und wir verstehen uns blendend. Ich glaube ehrlich, dass ihr beide eine Menge gemeinsam habt.“

Elsie liebte ihren Vater für seinen Enthusiasmus, aber in ihr machte sich dennoch leises Grauen breit. „Wie lieb von dir, Dad, und ich weiß deine Bemühungen wirklich zu schätzen, aber ich weiß doch überhaupt nichts von ihm, also …“

Jim faltete seine Hände in seinem Schoß. „Das ist mir doch klar. Deshalb kommt er ja auch zum Kaffee.“

„Wann?“

„Er kann jeden Augenblick hier sein.“

„Dad …“

„Ich weiß, ich hätte dich vermutlich vorher fragen sollen. Aber Olly sagte, er wolle heute vorbeischauen, und ich wusste, dass du heute Nachmittag nicht arbeitest. Deshalb dachte ich … Nun schau mich doch bitte nicht so an, Els. Ich habe nur versucht, dir behilflich zu sein.“

Wenn man Elsie gefragt hätte, wer aus ihrer Familie und ihrem Freundeskreis wohl am ehesten versuchen würde, sie zu verkuppeln, hätte ihr Vater es vermutlich nicht auf ihre Liste geschafft. Und doch hatte er sie jetzt tatsächlich in einen Hinterhalt gelockt! Sie wollte gerade reagieren, als die Tür geöffnet wurde und Jim aufsprang.

„Da ist er schon. Verspricht mir bitte, nett zu ihm zu sein?“

Elsie ergab sich ins Unvermeidliche und nickte. „Natürlich.“ Langsam erhob sie sich und machte sich bereit. Das hatte sie für heute nicht erwartet. Mit einem Blick zur Tür sah sie Jim, der fröhlich mit einem großen blonden Mann plauderte. Dieser wirkte so entspannt wie jemand, der gerade vom Strand kam, und trug ein dunkelgraues Kapuzenshirt, verwaschene Jeans und blaue Converse-Sportschuhe. Als er näher kam, bemerkte Elsie sein Lächeln – breit und freundlich. Es erinnerte sie sofort an jemanden, den sie mal gekannt hatte. In ihrer Kehle bildete sich ein unerwarteter Kloß, und sie musste einen Moment den Blick auf ihre Füße senken, um den Gefühlsansturm vorüberziehen zu lassen.

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