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Fürchte das Böse

Als Buch hier erhältlich:

Aus der Dunkelheit erhebt sich ein Mörder

Holly Wakefield war gerade neun Jahre alt, als ihre Eltern von dem berüchtigten Serienkiller The Animal ermordet wurden. Aus diesem Grund hat sie sich für eine Karriere als Kriminalpsychologin entschieden und macht Jagd auf die gefährlichsten Psychopathen. Ihre Welt wird auf den Kopf gestellt, als sie an grausamen Tatorten Botschaften von der Person entdeckt, die sie am meisten fürchtet. Die Welt glaubt, The Animal sei tot, doch Holly ist sich sicher: er lebt – und er will, dass sie es weiß. DI Bishop ist der einzige, der Hollys Instinkt mehr vertraut als der Vernunft. Als weitere Morde das Land erschüttern, beginnen die beiden zu ermitteln. Doch der Killer hat ein noch perfideres Spiel für Holly auf Lager, als sie je für möglich gehalten hätte. Und dieses Mal wird er es zu Ende bringen …


  • Erscheinungstag: 27.06.2023
  • Aus der Serie: Holly Wakefield
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905393
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

In Erinnerung an meinen Vater,

ich weiß, dass er tief im Herzen

sehr stolz auf mich war.

Und für meine Mutter,

die darauf bestanden hat, dass ich immer

ein Buch dabeihabe, damit ich nie allein bin.

Danke für alles, Mum.

Dir gelingt es immer zu lächeln,

und wenn du lächelst, lächeln wir alle.

Eins

Es war August und schien zu früh für Regen, und doch trommelte er auf Constable Samuel Jeffersons Autodach und spritzte kofferraumhoch von der Straße empor.

Der Motor lief, und Jefferson hatte die Scheibenwischer eingeschaltet, um das Haus besser sehen zu können. Im Wohnzimmer brannte Licht, die Vorhänge waren zugezogen. In den übrigen Häusern regte sich nichts, nur hin und wieder flatterte eine Taube von Baum zu Baum.

Weil es nicht danach aussah, als würde der Regen beizeiten nachlassen, zog er sich seinen Anorak über, stieg aus und lief los, den Gartenpfad entlang, vorbei an dem hölzernen Zu verkaufen-Schild, das im Rasen steckte. Er versuchte, das Notizbuch unter seinem Arm so gut wie möglich zu schützen, doch als er die Haustür erreichte, war er tropfnass. Jefferson war circa sechzig Jahre alt, sein Gesicht kantig und sein Körperbau sehnig. Auf seinen Handrücken zeichneten sich deutlich sichtbar die Venen ab, und jedes Mal, wenn er schluckte, sah man die Bewegung seiner Kiefermuskeln. Er hatte kurzes silbergraues Haar, das im Licht der Veranda schimmerte.

Er klopfte und drückte auf die Klingel, ehe er seine Uniform zurechtzog und das Notizbuch an seiner Hose abwischte. Er hörte Schritte auf Holzdielen und gleich darauf eine Stimme.

»Einen Moment.«

Eine Kette rasselte, dann wurde die Haustür geöffnet.

Der Mann, der ihm gegenüberstand, war dreiundfünfzig Jahre alt, eins neunundsiebzig groß mit seitlich gescheitelten Haaren und einer runden Brille. Er trug einen engen weißen Wollpullover, unter dem sich seine schlanken Arme und der flache Bauch abzeichneten.

»John Newsome?«, fragte PC Jefferson.

»Ja. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Eigentlich wollte ich mit Ihrer Frau sprechen, Sir. Mrs. Sandra Newsome. Ich komme von der Metropolitan Police.« Er hielt seinen Dienstausweis in die Höhe.

Der Mann nickte. Auf einmal wirkte er verunsichert und zog sich ein Stück aus dem Türrahmen zurück, ehe er wieder vortrat.

»Darf ich fragen, worum es geht?«

»Ich müsste wirklich mit Mrs. Newsome sprechen. Aber Sie dürfen gerne während des Gesprächs anwesend sein.«

»Aha. Na, dann kommen Sie herein.«

Er betrat das Haus und schloss die Tür.

»Kann ich Ihnen die Jacke abnehmen?«

»Danke.« PC Jefferson schälte sich aus seinem Anorak, den Mr. Newsome auf den Garderobenständer hängte. Auf der linken Seite des Flurs führte eine Treppe in den ersten Stock, die Küche lag geradeaus, und die verglaste Doppeltür zu ihrer Rechten gab den Blick ins Wohnzimmer frei, in das John ihn nun führte.

»Liebling?«, sagte er.

Bei ihrem Eintreten erhob Sandra Newsome sich vom Sofa. Sie trug eine weiße Bluse zu einem blauen Rock und darüber eine blaue Strickjacke. Mit blassen Händen strich sie sich das Haar aus dem Gesicht.

»Hallo«, sagte sie leise.

»Liebling, der Herr von der Polizei – entschuldigen Sie, wie war noch gleich Ihr Name?«

»Jefferson. Constable Jefferson.«

»Richtig. Constable Jefferson muss mit dir über etwas sprechen.«

»Genau. Es tut mir leid, dass ich Sie an einem Sonntagabend störe. Es dauert auch nicht lange.« Er warf einen Blick in seine Notizen. »Mrs. Newsome, Sie arbeiten für die Immobilienfirma Domum and Casa als Maklerin?«

»Ja. Sind Sie an einem Objekt interessiert?«

»Nein, das nicht.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll, also komme ich am besten gleich zum Punkt. Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass in einem der Häuser Ihres Portfolios eine Leiche gefunden wurde.«

Sie blinzelte und schaute erst zu ihrem Ehemann, dann zum Constable.

»Eine Leiche?«, flüsterte sie.

»Ich fürchte, ja.«

»Im Sinne von – Sie meinen keine tote Katze oder einen toten Hund, nicht wahr? Sie reden von einer …«

»Ja. Einer menschlichen Leiche.«

»O mein Gott«, rief sie schrill und fasste sich unwillkürlich an den Hals, wo sie nervös an ihrer orangeroten Korallenkette nestelte. »Das kann ich gar nicht glauben. Völlig unmöglich. Um welches Objekt handelt es sich denn?«

»Es liegt hier in der Gegend, die genaue Adresse darf ich Ihnen leider nicht …«

»Ist es das in der Thurston Avenue? Am Bennington Place?«

»Es handelt sich um eine laufende Ermittlung, deshalb bin ich nicht befugt, Ihnen zu …«

»War es Selbstmord?«

»Ich fürchte, es deutet alles darauf hin, dass das Opfer durch Fremdeinwirkung zu Tode gekommen ist.«

Betretenes Schweigen.

»Verdammt«, sagte John schließlich. »Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet.«

»Es war eins Ihrer leer stehenden Objekte, deshalb ist es höchstwahrscheinlich kein Klient oder sonst jemand, den Sie kennen. Ich kann Ihnen immerhin so viel sagen, dass die Leiche vor drei Stunden entdeckt wurde, nachdem ein Nachbar die Polizei verständigt hatte, weil die Haustür nicht verschlossen war.«

»Die Haustür? O Gott. Ich meine … ich habe Schlüssel für alle meine Häuser.«

»Das ist es ja gerade. Es gab keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen, wir gehen also davon aus, dass auch der Täter einen Schlüssel gehabt haben muss.«

»Das kann gar nicht sein – die Schlüssel zu den Objekten werden immer in einem Schließfach auf dem jeweiligen Grundstück aufbewahrt.«

»Vielleicht kannte der Täter die Kombination?«

»Ich wüsste nicht, woher. Ich suche die Codes persönlich aus.«

»Und es kommt nie vor, dass Sie jemand anderem einen Schlüssel geben oder Nachschlüssel anfertigen lassen?«

»Nein, nie.« Bei dem bloßen Gedanken blähten sich Mrs. Newsomes Nasenflügel, und sie strich sich den Rock glatt.

»Vielleicht setzt du dich besser wieder hin, Liebling?«, sagte John. »Ich koche uns Kaffee. Möchten Sie auch gerne einen, Constable Jefferson?«

»Das wäre sehr freundlich, danke. Nur Milch, kein Zucker.«

John nickte eifrig und verschwand in Richtung Küche.

Constable Jefferson ließ sich auf der äußersten Kante eines Sessels nieder. Er blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um und betrachtete Mrs. Newsome. Diese hatte die Lippen so fest aufeinandergepresst, dass sie fast weiß waren. Dann sagte sie unvermittelt:

»Moment mal – haben Sie mit Jason gesprochen?«

»Jason?«

»Jason Oppenheim, er ist der Inhaber von Domum and Casa. Ich sollte ihn anrufen.«

»Ja, das haben wir bereits getan. So sind wir an Ihre Adresse gekommen.«

»Natürlich. Entschuldigen Sie, ich habe nicht nachgedacht. Wie ist – ich meine – ein Mord in unserer Nachbarschaft. Und Sie können mir wirklich nicht sagen, welches Haus es ist?«

»Das wird bestimmt alles morgen in der Zeitung stehen«, sagte Constable Jefferson. Eine kurze nachdenkliche Pause folgte. »Sind Sie morgen Vormittag hier?«

»Ja.«

»Vielleicht könnte ich oder einer meiner Kollegen bei Ihnen vorbeikommen und mit Ihnen zum Haus fahren, damit Sie in Anwesenheit des Ermittlungsleiters eine Aussage zu Protokoll geben.«

»Ermittlungsleiter?«

»Genau. In diesem Fall wäre das DI William Bishop von der Abteilung für Kapitalverbrechen bei der Metropolitan Police. Er ist sehr kompetent.« Wieder ein kurzer Blick in die Aufzeichnungen. »Möglicherweise bringt er auch eine junge Frau mit. Holly Wakefield, eine forensische Psychologin.«

»Eine was?«

»Sie hilft bei der Fahndung nach Mördern, die …« Er zögerte. »… besonders gewalttätig sind.«

»O mein Gott, ist es so schlimm?«

»Wie gesagt, das kann ich wirklich nicht …«

»Ich muss professionelle Reinigungskräfte bestellen. Ich habe zweiundzwanzig Objekte in meinem Portfolio, aber Bedford Terrace kann es nicht sein, da war ich erst vor einer Stunde.«

»Nein, Bedford Terrace ist es nicht«, bestätigte Constable Jefferson.

Sie sah ihn mit verschwörerischer Miene an.

»Ist es Mellington Mews?«

»Ich kann und darf nicht …« Er holte tief Luft und kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, sagte er:

»Ich könnte dafür wirklich Ärger bekommen.«

»Ich werde es keiner Menschenseele erzählen, versprochen.«

»Eins Ihrer Häuser ist Bishops Drive 107, ist das korrekt?«

»Ja, aber das ist …« Sie stutzte. »Das ist doch hier. Ich wohne im Bishops Drive 107

Constable Jefferson konsultierte abermals seine Notizen.

»Hier steht: Leichenfund Bishops Drive 107

Urplötzlich, so als hätte man den Korken aus einer Sektflasche gezogen, lachte Mrs. Newsome auf.

»Na bitte, das kann dann ja nur ein Fehler sein!«, rief sie. »Ganz eindeutig!« Mit der Andeutung eines Schmunzelns setzte sie hinzu: »Am Bishops Crescent gibt es ein Haus, das zum Verkauf steht. Meinen Sie vielleicht das?«

»Bishops Crescent?«

»Ja, es liegt zwei Straßen weiter. So muss es sein. Aber das ist gar keins von meinen Objekten. John! John, komm schnell!« Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.

»Was ist denn?«, fragte John, als er mit drei Tassen Kaffee und einem Teller Schokoladenkekse auf einem Tablett hereinkam.

»Sie haben die falsche Adresse. Es geht um das Haus am Bishops Crescent, nicht um dieses hier!«

»Nicht um dieses hier? Warum dieses hier?«

»Das ist mir wirklich sehr unangenehm«, sagte Constable Jefferson und stand auf. »Bishops Drive ist Ihre Privatadresse – ich muss es mir auf dem Revier falsch aufgeschrieben haben. Wie dumm von mir. Ich muss die Zentrale anfunken und Bescheid geben, dass ich etwas durcheinandergebracht habe, dann schicken sie einen anderen Kollegen zum richtigen Haus. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie damit belästigt habe. Ich hole meine Jacke.« Er machte Anstalten zu gehen.

»Nein, nein«, sagte Sandra. »Jetzt sind Sie schon mal hier, trinken Sie wenigstens noch Ihren Kaffee.«

»Ja, unbedingt. Außerdem regnet es noch«, fügte ihr Mann hinzu, ehe sein Blick zum Couchtisch wanderte, auf dem ein Stapel Magazine neben einer Vase mit Rosen lag. Offenbar überlegte er, ob er das Tablett abstellen konnte oder vorher einen Platz freiräumen musste.

»Das ist sehr freundlich. Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Constable Jefferson griff nach dem Tablett, bekam es jedoch nicht richtig zu fassen, sodass die Tassen umfielen und Kaffee durch die Gegend spritzte.

»Verflucht noch eins!«, entfuhr es John.

Sandra war aufgesprungen und räumte hastig die Zeitschriften weg.

»Hol Küchenpapier«, wies ihr Ehemann sie an.

Der Constable sah Mrs. Newsome nach, als diese in die Küche eilte.

»Es tut mir so leid.«

»Schon gut.« John ließ sich auf die Knie nieder und versuchte, die Kaffeepfütze mit den Ärmeln seines weißen Pullovers an der Ausbreitung zu hindern.

»Er ist überall …«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Soll ich …«

»Nein, bemühen Sie sich nicht. Lassen Sie mich einfach machen.«

Constable Jefferson nickte und ging neben John auf die Knie.

»Ich verspreche, ich werde Ihre Tochter oben nicht anrühren«, wisperte er kaum hörbar.

Mit weit aufgerissenen Augen fuhr John zu ihm herum. »Was haben Sie gesagt?«

Unter dem Hemd trug Constable Jefferson am rechten Unterarm eine Metallmanschette, aus der auf eine Bewegung seines Handgelenks hin ein langes, dünnes Messer hervorschnellte, mit dem er John in den Hals stach wie ein Matador dem Stier. Danach zog sich die federgelagerte Klinge mit einem metallischen Klicken wieder zurück, und der Constable legte den toten Mr. Newsome sanft am Boden ab, gerade als Mrs. Newsome mit einer Rolle Küchenpapier zurückkam.

»Das ist wirklich ein merkwürdiger Abend …«

»John hatte einen Unfall«, sagte der Constable.

»Was ist denn passiert?«

»Er ist einfach zusammengebrochen.«

Sie starrte auf das Blut, das aus dem Hals ihres Mannes rann, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Im nächsten Moment hatte Jefferson sie am Hals gepackt und herumgedreht. Ein weiteres Mal schoss das Messer unter seinem Ärmel hervor, und er rammte es Mrs. Newsome mit brutaler Kraft in den Rücken. Die dünne Klinge verfehlte Mrs. Newsomes Wirbelsäule, durchbohrte ihr Herz, ging zwischen den Rippen hindurch und riss beim Austreten ein Loch in ihre Bluse.

Constable Jefferson ließ sie zu Boden fallen. Sein Blick ruhte noch einen Moment lang auf seinem Werk, dann ließ er die Messerklinge zurückschnappen und streifte sich sehr bedächtig ein Paar transparente Latexhandschuhe über.

Sein harter Mund verzog sich zu einem Lächeln, ehe er einen Finger in die Mischung aus Kaffee und Blut tauchte und damit eine Botschaft an die Wand schrieb.

Zwei

»Was ist das Böse?«

Holly Wakefield saß auf der Kante des Pults vorne im großen Hörsaal des Londoner King’s College. Mehr als fünfzig Studentinnen und Studenten blickten ihr aus den ansteigenden Sitzreihen entgegen. Ein Student hob die Hand.

»Ja, Ben?«

»Etwas, das in uns allen angelegt ist?«

»In uns allen? Wirklich?«

Gelächter schwappte durchs Auditorium.

»Vielleicht nicht in uns allen«, meinte sie schmunzelnd, »aber definitiv in manchen. Sie haben das Wort ›angelegt‹ verwendet. Das würde ja darauf hindeuten, dass das Böse als dauerhafter Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit existiert – was ein durchaus interessanter Gedanke ist. Oder kann das Böse erschaffen, kann es geformt werden?«

Sie drehte sich um und notierte Stichpunkte am Whiteboard, während sie weitersprach.

»Die Definition von böse ist ›zutiefst unmoralisch und niederträchtig‹ oder auch ›das Gegenteil beziehungsweise die Abwesenheit des Guten‹. Letzteres ist vielleicht eine etwas mittelalterliche Interpretation, denn wenn wir an das Böse denken, schwebt uns dabei normalerweise kein abstrakter moralischer Wert vor, richtig? Wir denken eher an Individuen, an einzelne Subjekte. Wir möchten dem Bösen Substanz geben – etwas, das wir sehen, fühlen oder anfassen können. Dunkle Geister und Hexen in der Nacht. Der Buhmann. Das Monster unter dem Bett, das nur darauf wartet, dass das Licht ausgeht, damit es hervorkriechen und uns zu Tode erschrecken kann.« Eine kurze Pause, während sie zur Mitte des Podiums ging. »Das ist das stilisierte Böse aus Comics, Filmen und unserer Vorstellungskraft. Aber welche Gestalt hat das reale Böse im einundzwanzigsten Jahrhundert?«

»Multinationale Unternehmen, die uns verarschen und unsere Pensionen veruntreuen.«

»Danke, Matthew, ja. Das führt mich zu einem weiteren interessanten Punkt. Wie viele Ihrer Eltern sind in Unternehmen im Management tätig?«

Etwas mehr als zehn Hände gingen in die Luft.

»Bei schätzungsweise einem von fünf CEOs lässt sich eine Psychopathie diagnostizieren. Das sind zwanzig Prozent aller CEOs auf der Welt – derselbe Anteil wie der von Psychopathen unter den Insassen von Justizvollzugsanstalten. Rein statistisch gesprochen, haben also zwei von Ihnen einen psychopathischen Elternteil – ich werde nicht fragen, wer, und ich rate Ihnen, das Thema heute beim Abendessen lieber nicht anzuschneiden. Lassen Sie mich auch Folgendes klarstellen: Nicht alle Psychopathen morden, genau wie nicht alle Soziopathen morden. Aber immerhin zwanzig Prozent der Menschen, die in diesem Land die Fäden in der Hand halten, weisen die klassischen Symptome einer derartigen Störung auf. Dazu zählen beispielsweise … Sie müssen sich nicht melden, rufen Sie Ihre Antworten einfach rein«, sagte Holly, während sie die Kappe von einem Marker zog.

»Empathielosigkeit«, sagte Ben.

»Ja, die Unfähigkeit, sich in seine Mitmenschen einzufühlen.« Sie schrieb den Stichpunkt ans Whiteboard.

»Krankhaftes Lügen«, rief jemand aus der ersten Reihe.

»Richtig«, sagte sie und notierte auch dies.

»Falschheit.«

»Ja.«

»Sie sind eingebildet … arrogant.«

»Richtig – wir bezeichnen das gerne als erheblich übersteigertes Selbstwertgefühl.«

»Manipulativ.«

»Sie drehen ja heute richtig auf.«

»Keine richtigen Emotionen.«

»Ja – nur oberflächlich ausgeprägte Gefühle, falls überhaupt.«

Ihr Stift schwebte über dem Whiteboard, während sie auf das nächste Stichwort wartete.

»Nur zu«, sagte sie.

»Ein Mangel an Schuldbewusstsein.«

Die Stimme ließ sie aufhorchen. Sie klang rau, nach Sandpapier, Zigaretten und Whisky. Mit einem neugierigen Lächeln drehte sie sich um.

Detective Inspector Bishop.

Sie waren zum Mittagessen verabredet, aber er war eine ganze Stunde zu früh dran. Er ging im Mittelgang des Auditoriums ein paar Stufen hinunter und schlüpfte in die letzte Sitzreihe, ehe er ihr mit einer Handbewegung bedeutete, fortzufahren.

»Richtig«, sagte sie. »Ein Mangel an Schuldbewusstsein. Vielen Dank, Detective Inspector Bishop.«

Einige der Studierenden wandten kurz den Kopf, um den Neuankömmling zu beäugen, während sie seine Antwort zu den Stichpunkten am Whiteboard hinzufügte und sich dann wieder an die Vorlesungsteilnehmer richtete.

»Ob sie nun andere Menschen um ihre Rente betrügen oder jemandem zwanzigmal ein Messer in die Brust rammen, die Faustregel des Psychopathen lautet: Es juckt mich nicht.« Sie steckte die Kappe auf den Stift. »Wie ich sagte, nur sehr wenige CEOs bringen tatsächlich jemanden um, konzentrieren wir uns also auf diejenigen, die es tun, und kommen wir noch mal auf meine Eingangsfrage zurück: Was ist das Böse? Oder vielmehr: Wie sieht das Böse aus – das Böse in der Seele eines Menschen? Woran erkennt man einen Psychopathen?« Sie deutete auf eine junge Frau mit dunklen Haaren in der dritten Reihe. »Clara, wenn Sie einen Massenmörder sehen würden, der die Straße entlangläuft, würden Sie ihn auf den ersten Blick erkennen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Simon – was ist mit einem Serienvergewaltiger in einer Bar?«

»Nein.«

»Erica – ein Mehrfachmörder, der Ihnen anbietet, Ihre Einkaufstüten zu tragen, wenn Sie zu Hause aus dem Fahrstuhl kommen?«

»Ich hoffe natürlich, dass ich was merken würde, aber …«

»… vermutlich eher nicht«, beendete Holly ihren Satz. »Die simple Antwort auf die Frage ›Wie erkenne ich einen Psychopathen?‹ lautet: gar nicht. Weil Psychopathen ab einem gewissen Ausprägungsgrad extrem gut darin sind, sich an ihre Umgebung anzupassen und in der Menge unterzutauchen. Wir dürfen niemals vergessen, dass das Böse intelligent ist. Es ist schlau und oft unsichtbar. Wir erkennen es erst, wenn es zu spät ist.«

Es läutete zum Ende der Vorlesung, und die Studierenden erhoben sich von ihren Plätzen.

»Christliche Theologen sind der Ansicht, dass das natürliche Böse eine Folge der Erbsünde ist«, rief Holly ihnen nach. »Ich möchte zweitausend Wörter zu dem Thema bis nächsten Montag!«

Die Schritte verklangen, und sie suchte Bishops Blick, als dieser Kurs auf sie nahm. Er war groß, sein Haar dunkel, durchzogen von Grau. Heute trug er einen anthrazitfarbenen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Er sah gut aus.

»Schön, dich mal in deiner natürlichen Umgebung zu erleben«, sagte er mit einem Lächeln. »Das sind also alles zukünftige Psychologen?«

»Einige werden Psychologen, andere Anwälte«, entgegnete sie, während sie ihre Bücher verstaute. »Hatten wir uns nicht für ein Uhr verabredet?«

»Das stimmt, ich entschuldige mich.«

»Ich habe noch eine Lehrveranstaltung. Magst du mitkommen und zuhören?«

»Kannst du sie ausfallen lassen?«

Sie erstarrte. In seinen dunkelblauen Augen lag etwas Dringliches.

»Im Ernst?«, fragte sie.

Er nickte.

»Du musst sie absagen, Holly.«

Drei

Sie ließen das Zentrum von London hinter sich und fuhren auf der Fernstraße in Richtung Osten.

Eine halbe Stunde später erreichten sie Hertfordshire, eine ländliche Gegend voller Getreidefelder und Hecken. Die Luft war schwül und stickig, die Nachmittagssonne verbarg sich hinter einer dichten grauen Wolkendecke.

»Es ist ein Doppelmord, ein Mann und eine Frau«, sagte Bishop. »Die Opfer heißen John und Sandra Newsome. Er war Informatiker, handelte mit Kryptowährung, sie Immobilienmaklerin. Beide wurden jeweils mit einem einzigen Messerstich getötet, er in den Hals, sie von hinten zwischen die Rippen ins Herz.«

»Wer ist der zuständige Gerichtsmediziner?«

»Angela Swan.«

Holly nickte. Sie hatte bereits bei ihren letzten drei Fällen mit Angela zusammengearbeitet.

»Sie macht heute Abend noch die Autopsie«, fuhr Bishop fort. »Dann haben wir morgen früh den Befund. Ihrer Ansicht nach hat der Mörder eine relativ dünne Klinge benutzt. Ein Stilett oder Ähnliches.«

»Ungewöhnlich. Aber ein Stilett ist leicht zu verbergen und sehr effizient. Wo wurden sie getötet?«

»Im Wohnzimmer im Erdgeschoss ihres Hauses. Keine Einbruchsspuren – offenbar haben sie den Mörder ins Haus gelassen.«

Holly nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet.

»Zeugen?«

»Keine. Es ist eine ruhige Straße in einer gut situierten Wohngegend, und gestern Abend hat es heftig geregnet, deshalb gab es niemanden, der zur fraglichen Zeit mit dem Hund draußen war oder ein Auto gehört hat, und die nächste Überwachungskamera ist drei Meilen weit weg.«

»Hast du den Tatort gesehen?«

»Ich war vor zwei Stunden dort und habe schon einen vorläufigen Bericht geschrieben.« Er hielt inne. »Danach bin ich direkt zu dir gefahren.«

Holly sah ihn einen Moment lang schweigend an. »Wieso?«

Er sagte nichts, sondern blinzelte lediglich mehrmals hintereinander.

»Bishop?«

»Dieser Tatort ist anders als die der letzten Monate. Er ist …«

»Was?«

»Ehrlich gesagt weiß ich das selbst nicht so genau. Und ich weiß auch nicht, was das Ganze zu bedeuten hat.«

Holly überlegte einige Minuten, dann fiel bei ihr der Groschen.

»O mein Gott. Du denkst, er war es, stimmt’s?«, fragte sie. »Die Bestie.«

Er hielt den Blick auf die Straße gerichtet.

»Meine Güte, Bishop – die Bestie? Sebastian Carstairs? Der Mann, der meine Eltern ermordet hat, als ich neun war?«

»Und noch sechzehn weitere Menschen«, sagte er tonlos. »Der Mann, der eine lebenslange Haftstrafe in Broadmoor absaß. Der Mann, der angeblich tot ist.«

Holly war wie vor den Kopf geschlagen.

Carstairs war drei Monate zuvor für tot erklärt worden, es hieß, er sei einem Krebsleiden erlegen. Holly war bei seiner Einäscherung dabei gewesen und hatte geglaubt, dass nun endlich das Kapitel ihres Lebens, das an jenem Tag begonnen hatte, an dem sie von der Schule nach Hause gekommen war und die Bestie neben den Leichen ihrer Eltern hatte stehen sehen, ein für alle Mal abgeschlossen war. Doch im Rahmen seiner letzten Bewährungsprüfung hatte Carstairs persönliche Briefe an sämtliche Hinterbliebenen seiner Opfer geschrieben, und Holly hatte in ihrem eine geheime Botschaft entdeckt, die darauf schließen ließ, dass er in Wirklichkeit noch lebte. Mehr noch: In dem Brief hatte er sie Jessica genannt – ihr bürgerlicher Name, ehe man sie ins Zeugenschutzprogramm aufnahm und sie eine neue Identität erhielt. Sie hatte die Behörden verständigt, doch dort war man der Meinung gewesen, dass es sich bloß um einen grausamen Scherz handle. Offiziell war die Bestie tot und begraben. Doch tief im Herzen fürchtete Holly das Schlimmste.

»Falls er tatsächlich noch am Leben sein sollte …«

»Immer langsam«, sagte Bishop. »Momentan gibt es noch keine Beweise.«

»Nein, natürlich nicht, aber … wir können den Tatort und den Mord analysieren. Ein Stilett, sagtest du?«

»Möglicherweise.«

»Die Bestie hat während seiner Morde ganz unterschiedliche Tatwaffen benutzt: Küchenmesser, Hammer, Säure, Stricke. Aber ein Stilett – könnte sein, dass er sich anpasst.«

»In welcher Hinsicht?«

»Mittlerweile ist er an die sechzig. Er ist nicht mehr so stark wie früher.«

Sie holte tief Luft. Bishop hatte recht, sie durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sie hatte noch nicht einmal den Tatort gesehen. »Es könnte auch bloß eine falsche Fährte sein«, sagte sie.

»Mr. und Mrs. Newsome hatten drei Töchter. Die zwei ältesten sind Zwillinge und haben ganz in der Nähe bei Freunden übernachtet. Die jüngste lag oben in ihrem Bett und schlief. Sie ist sechs Jahre alt.«

»Er hat sie nicht getötet?«

»Nein, aber er war in ihrem Zimmer. Wir haben blutige Fußabdrücke auf ihrer Türschwelle gefunden, Schuhgröße 47

»Das ist seine Größe. Und wir wissen, dass die Bestie keine Kinder tötet, das ist ein psychologischer Tick von ihm. Aber prinzipiell könnte es auch jemand anders gewesen sein. Warum bist du heute zu mir gekommen?«

Beinahe entschuldigend drehte er sich zu ihr um.

»Weil du sehen musst, was an der Wand geschrieben steht.«

Vier

Sechs Einsatzfahrzeuge der Polizei blockierten die von Bäumen gesäumte Straße. Reporter sowie neugierige Nachbarn wurden durch Flatterband auf Abstand gehalten.

Bishop parkte fünfzig Meter vom Haus entfernt, den Rest der Strecke legten sie zu Fuß zurück. Er zeigte einem der Officer vor Ort seinen Dienstausweis, während Holly sich umsah: eine Wohngegend im grünen Gürtel Londons voller schicker Einfamilienhäuser mit gekiesten Einfahrten und hohen, dichten Hecken, die die einzelnen Grundstücke voneinander trennten. Als sie den schmalen, baumbestandenen Fußweg sah, der neben einem der Häuser entlang zu einem dichten Wald führte, blieb sie stehen.

»Jenseits der Bäume sind offene Felder«, sagte Bishop. »Etwa vierzig Hektar, mit dem Auto nicht passierbar. Der nächstgelegene Bahnhof ist sieben Meilen entfernt, und Busse halten hier auch nicht, insofern können wir wohl davon ausgehen, dass er mit dem eigenen Pkw gekommen ist. Falls er Spuren hinterlassen hat, wurden diese leider vom Regen letzte Nacht weggewaschen.«

Das Haus war verhältnismäßig neu, zweigeschossig mit einem Anbau und wunderschönem Vorgarten.

»Was sagen die Nachbarn?«

»Die sind verständlicherweise beunruhigt, auch wenn sie noch gar nicht wissen, was passiert ist. Wenn sie die Zeitungen sehen, werden einige von ihnen garantiert ihre Sicherheitsvorkehrungen verstärken oder gleich ihre Sachen packen und umziehen. Wir haben erste Recherchen zu Mr. und Mrs. Newsome angestellt, aber dabei ist uns nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Viele Freunde, keine Feinde, keine Schulden und soweit wir wissen auch keine außerehelichen Affären.«

Er reichte ihr ein Paar Schuhüberzieher und Handschuhe.

»Bereit?«

Sie nickte und folgte ihm ins Haus.

Der Eingangsbereich hatte einen Boden aus Weymouth-Kiefer, weiße Wände und eine mit Teppich ausgelegte Treppe auf der linken Seite. Die Küche befand sich geradeaus, das Wohnzimmer rechts hinter einer Glastür. Holly biss die Zähne zusammen, als sie durch die Scheibe das viele klebrige Blut sah. Sofa, Couchtisch und der cremeweiße Teppich waren regelrecht damit durchtränkt.

»Wann wurden die Leichen abgeholt?«, fragte sie.

»Vor etwa einer Stunde. Angela geht davon aus, dass der Ehemann als Erstes getötet wurde. Stich in den Hals. Er wurde so abgelegt, dass er mit dem Oberkörper am Couchtisch lehnte. Seine Frau lag mit dem Gesicht nach unten rechts neben ihm auf dem Teppich.«

»Wurden die Leichen inszeniert? Ganz bewusst auf eine bestimmte Art und Weise drapiert?«

»Abdruckstellen im Teppich und das Spritzmuster des Bluts deuten darauf hin, dass er sie dort getötet hat, wo sie auch aufgefunden wurden. Es lagen drei Kaffeetassen auf dem Teppich. Sieht so aus, als hätten sie dem Mörder einen Kaffee gekocht und Kekse angeboten, aber dann kam es möglicherweise zu einem Streit oder einem Handgemenge, bei dem das Tablett umgestoßen wurde. Die Tochter hat das Zimmer durch diese Tür hier betreten. Man kann ihre Fußabdrücke im Blut sehen – hier und da drüben.«

Er deutete auf die entsprechenden Stellen. Holly sah die blutigen Abdrücke kleiner Füße.

»Wir gehen durch die Küche, damit wir den Teppich nicht betreten müssen«, sagte er.

Sie folgte ihm durch den Flur zu einer Tür, die in die im Landhausstil eingerichtete Küche führte. Die Arbeitsflächen waren schwarz, der Herd ebenfalls, und alles war sauber und aufgeräumt. Einzig eine Tüte Milch stand auf dem Tresen neben einem Glas mit Instantkaffee, einem Teelöffel und einer geöffneten Packung Schokoladenkekse.

Bishop ging mit ihr durch eine weitere Tür ins Wohnzimmer. Direkt vor ihnen befanden sich die Rückseite des Sofas und der Couchtisch. Dahinter gab es einen Gaskamin, einen Fernseher auf einem Schränkchen und zwei Sessel. In den Regalen standen Familienfotos. Auf der linken Seite befand sich ein bogenförmiger Durchgang zum Esszimmer. Holly roch die Mischung aus Kaffee und kaltem Blut.

»Hier entlang.« Bishop lotste sie zum Durchgang.

Das Esszimmer war größer als gedacht, mit einem Tisch aus hellem Holz und dazu passenden Stühlen. Unter einem breiten Spiegel stand ein Sideboard mit einer Karaffe darauf, und eine gläserne Schiebetür auf der linken Seite führte hinaus in den großen Garten. Ein Kriminaltechniker machte Fotos von einer Nische. Als er sie bemerkte, trat er leise zur Seite und entfernte sich dann.

Bischop deutete auf die Nische.

Holly hatte keine Ahnung, was sie erwartete, doch was sie dann sah, ließ ihr den Atem stocken. An der Wand stand mit bräunlich schwarzem Blut eine Botschaft geschrieben:

Liebste Holly,

es ist schon eine ganze Weile her, aber wie gesagt:

Ich bin nicht totzukriegen.

Doch ich muss etwas gestehen:

Was stimmt nicht mit Annie Wilkes?

»O mein Gott … die ist für mich.«

Wie hypnotisiert starrte sie auf die Worte. Sie zitterte, als hätte ein Geist sie berührt.

»Er ist es, Bishop«, flüsterte sie. »Diesmal muss er es sein. ›Nicht totzukriegen‹ – das stand auch in seinem Brief an mich. Das bedeutet, er lebt und es geht ihm gut.«

Es war, als senke sich Dunkelheit über sie. Sie war unfähig, den Blick von der Botschaft an der Wand abzuwenden. Darauf hatte sie die ganze Zeit gewartet. Doch nun, da der Moment endlich gekommen war, empfand sie nichts als Entsetzen. Ihre Finger verkrampften sich ineinander, und sie hatte Mühe, ihre Atmung zu kontrollieren. Gleich darauf spürte sie den sanften, beruhigenden Druck von Bishops Hand auf ihrer Schulter, und ihre Vernunft setzte wieder ein.

»Wer ist Annie Wilkes?«, fragte sie.

»Das wissen wir nicht.«

Sie nickte. Ihr Blick blieb unverwandt auf die blutige Botschaft gerichtet, bis Bishops Stimme sie aus ihrer Lähmung riss.

»Willst du das Zimmer des Mädchens sehen?«

Sie kehrten in den Flur zurück und erklommen die Treppe. Sie bewegten sich am äußeren Rand der Stufen, da in der Mitte auf dem Teppich immer noch ganz schwach die blutigen Abdrücke der großen Schuhe des Mörders zu sehen waren.

»Sei vorsichtig hier oben«, warnte Bishop. Er stieg über mehrere Tatortmarker hinweg, ehe er ihr helfend die Hand reichte. Sie ergriff sie und folgte ihm an den Markern vorbei, bis sie am Ende des Flurs vor einer geöffneten Tür auf der rechten Seite stehen blieben. Bishop schaltete das Licht ein, und Holly sah nichts als Pink. Kuscheltiere und Sticker. Frozen-Bettwäsche. Puppen von Elsa, Anna und Olaf im Regal. Auf dem Bett lag ein Prinzessinnen-Schlafanzug und auf dem hölzernen Schreibtisch ein glitzerndes Diadem. Holly fragte sich, ob das Mädchen diese Spielsachen und Kleidungsstücke jemals wiedersehen würde. Oder würden ihre Verwandten ihr neue Sachen kaufen, damit sie sich nicht an das Grauen erinnern musste? Nach dem Tod ihrer Eltern hatte man Holly nicht erlaubt, noch einmal ihr Haus zu betreten. Sie hatte nichts mitnehmen können. Man hatte ihre persönlichen Sachen zusammengepackt und bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag eingelagert. Sie hatte fast alles gespendet.

»Wie heißt die Tochter?«

»Kristen.«

»Ist sie bei ihren Schwestern?«

»Ja. Die drei sind bei ihren Großeltern, die wohnen etwa zehn Meilen entfernt.«

Holly nickte. Sie hatte genug gesehen und ging Bishop voran zurück nach unten. Weil sie nicht anders konnte, schaute sie noch einmal ins Esszimmer an die Nachricht an der Wand. Die persönliche Anrede, die Höflichkeit – all das war absolut typisch für die Bestie. Aber es war vor allem der letzte Satz, der ihr keine Ruhe ließ:

Was stimmt nicht mit Annie Wilkes?

Fünf

Bishop parkte am Straßenrand vor Hollys Haus in Balham im Süden von London. Er hatte den Kopf gesenkt und die Stirn gerunzelt.

»Nur drei von uns auf dem Revier wissen, dass die Bestie deine Eltern getötet hat«, sagte er. »Aber sobald die anderen im Team die Botschaft sehen, werden sie anfangen, Fragen zu stellen.«

»Du glaubst, sie werden sie sofort mit mir in Zusammenhang bringen?«

»Das sagt mir zumindest mein Bauchgefühl.« Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Gott, entweder, er ist es wirklich, oder aber der Täter will uns glauben machen, er wäre es gewesen.«

»Ein Nachahmungstäter?«

»Er wäre nicht der erste.«

»Aber das glaubst du nicht wirklich, oder? Du bist vom Tatort aus direkt zu mir gefahren. Du weißt, dass es kein Nachahmungstäter ist.«

»Holly …«

»Zwei Leichen und eine Botschaft an mich. Er muss es gewesen sein.«

»Die Bestie? Ein Mann, den alle Welt für tot hält? Der Mann, dessen Einäscherung du mit eigenen Augen gesehen hast?«

Sie ging nicht auf die Spitze ein.

»Wir müssen die Auswertung der Spuren abwarten, ehe wir irgendwelche Schlüsse ziehen«, sagte er. »Ohne Augenzeugen, Überwachungsbilder oder DNA-Spuren haben wir rein gar nichts in der Hand.«

»Wenn er es war, wird es keine Spuren zum Auswerten geben. Chief Constable Franks hat nicht auf mich gehört, als ich vor drei Monaten mit dem Brief zu ihm gekommen bin, den die Bestie mir geschrieben hat …«

»Ich kenne den Brief, Holly. Den mit der geheimen Botschaft …«

»… in der er mir mitteilt, dass er noch am Leben ist.«

»Nicht totzukriegen – schon klar. Das war die Formulierung, die die Presse verwendet hat, nachdem er deinen Attentatsversuch überlebt hatte.«

»Ich war kaum zehn, er war nie wirklich in Gefahr.« Sie tat die Sache mit einem Schulterzucken ab. »Vor drei Monaten hatte ich nichts als den Brief. Jetzt haben wir einen Tatort.«

»Wie gesagt, wir müssen abwarten, was die Analyse der Spuren ergibt. Wir können nur mit den Beweisen arbeiten, die wir haben.«

»Du arbeitest auch mit deinem Instinkt, genau wie ich.«

»Stimmt, und ich werde heute Abend noch den Chief anrufen und ihm berichten, was wir wissen. Mehr kann ich fürs Erste nicht tun.«

Schweigen.

Es war schon eine ganze Weile her, seit Bishop zuletzt in ihrer Wohnung gewesen war, und sie hatte das Gefühl, dass sie ihn bitten sollte, noch auf einen Drink mit raufzukommen. Ihre Beziehung – wenn man es überhaupt so nennen konnte – beschränkte sich nach wie vor auf Drinks und ein gelegentliches Mittagessen. Es lag an ihr, das war ihr klar. Sie war diejenige, die die Handbremse angezogen hatte und verhinderte, dass sie den nächsten Schritt machten. Es gab da etwas Persönliches, worüber sie mit Bishop sprechen musste, und sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Wie die meisten Geheimnisse hatte auch dieses ein Eigenleben entwickelt und drängte immer stärker ans Tageslicht. Sie hatte schon unzählige Male mit dem Gedanken gespielt, das Thema anzuschneiden, aber ein zwischen Tür und Angel hervorgestoßenes Geständnis wäre katastrophal gewesen, und je länger sie es für sich behielt, desto schwieriger wurde es. Es kam ihr vor, als würde sie ihn hinters Licht führen.

Sie bemerkte, dass er sie anlächelte. Lag da ein Hauch von Traurigkeit in seinen Augen?

Sie erwiderte sein Lächeln und fasste sich ein Herz.

»Magst du noch mit hochkommen?«

»Sicher – das wäre schön.«

Gut.

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock und wandten sich im Korridor nach links. Vor der Nachbarwohnung lag ein Malerfilz ausgebreitet am Boden. Ihre Nachbarn Maisie und Vincent Lomax ließen gerade ihr Apartment renovieren; die ganze Woche schon hatten Handwerker gebohrt und gehämmert, und im Hausflur roch es nach frischer Farbe.

Holly schloss die Tür auf und hörte das Klicken des doppelten Riegels – eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, seit sie den Brief von der Bestie erhalten hatte. Manchmal kam sie sich in ihren eigenen vier Wänden wie eine Gefangene vor, und das machte sie wütend, aber hatte sie eine Wahl?

»Ich sollte dich vorwarnen«, sagte sie, als sie eintraten. »Es ist nicht aufgeräumt.«

Die offene Küche mit angeschlossenem Wohnzimmer sah in der Tat wüst aus. Die Wände waren mit Hunderten von schwarz-weißen Zeitungsausschnitten über die Bestie und ihre Opfer zugepflastert, die Holly im Laufe der letzten zwanzig Jahre gesammelt hatte. Sie hatte die Regale leer geräumt, und sämtliche Bücher, Zeitungsartikel, Magazine und Ermittlungsakten lagen verstreut auf Tischen, Sesseln und der Couch. Wo ihr der Platz ausgegangen war, hatte sie Bücher in unordentlichen Haufen rechts und links neben dem Sofa aufgetürmt.

Sie zog sich die Schuhe aus und wartete auf Bishops Reaktion. Sie wusste, dass sie von der Bestie besessen war, und diese Art zu leben war alles andere als gesund, deswegen rechnete sie halb damit, dass er zurückschrecken würde, doch das war nicht der Fall.

»Magst du ein Glas Wein?«, fragte sie.

»Roten, wenn du hast.«

Sie ging in die Küche, während Bishop die True-Crime-Magazine auf dem Fernseher überflog. Dann nahm er ein Notizbuch und einen gelben, von vorne bis hinten vollgekritzelten Schreibblock in die Hand.

»Hast du das geschrieben?«

»Das ist der erste Entwurf für meine Abschlussarbeit an der Uni: Eine globale Geschichte der Serienmörder in drei Teilen. Der Mörder von nebenan, Die Maske der Vernunft und Die dunkle Seite – Psychologie eines Wahnsinnigen. Ich habe cum laude bestanden.«

»Davon gehe ich aus.«

Ein Anflug von Sarkasmus? Er ließ den Blick über die Zeitungsartikel an den Wänden mit ihren reißerischen Schlagzeilen schweifen: Opfer Nummer 7 – wann hat das Morden ein Ende? Wird den Opfern Gerechtigkeit widerfahren? Der unsichtbare Killer! Psychologen: Die Bestie wird niemals aufhören! Und eine Schlagzeile von vor drei Monaten, die seinen Tod feierte: Englands schlimmster Killer fährt endlich zur Hölle.

Holly zog den Korken aus einer Flasche Merlot und schenkte zwei Gläser ein. »Was glaubst du? Wie schwer wird es, die Welt davon zu überzeugen, dass er noch lebt?«

»Ich bin auch noch nicht davon überzeugt, Holly.«

Sie hatte gehofft, er würde dies nicht sagen, verstand jedoch sein Unbehagen. Würde es der Staatsanwaltschaft und der Polizei genauso gehen? Sie konnten die Möglichkeit nicht einfach abtun. Oder doch? Was hatte sie schon vorzuweisen? Zwei Leichen, eine personalisierte Botschaft, ein paar blutige Schuhabdrücke in Größe 47 und keine Zeugen.

»Falls er noch lebt«, sagte Bishop, »bedeutet das ein monumentales Versagen des gesamten Justizsystems. Es bedeutet, dass jemand – vielleicht sogar mehrere Personen – einige eklatante Fehler gemacht hat.«

Er blieb vor einem gerahmten Foto auf dem Esstisch stehen, das eine strahlende Holly in einem blauen Partykleid zeigte. Sie hielt einen gelben Luftballon in der Hand, auf dem »Happy Birthday, Dad« stand.

»Wie alt warst du da?«

»Sieben oder acht.«

»Süß.«

Vom Kaminsims hing eine Art selbst gemachte Broschüre mit silber- und goldfarbenen Markierungen.

»Was ist das?«

»Das ist eine farbcodierte Opfer-Informations-Übersicht.«

»Sieht aus wie ein Pokémon-Stickeralbum.«

»So funktioniert mein Kopf eben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es enthält die Namen aller Opfer der Bestie, ihr Alter, Datum und Uhrzeit der Morde, wo sie getötet wurden und die Anzahl der Tage zwischen den einzelnen Taten. Seine Methodik hat sich ständig geändert, es gab nie ein klar erkennbares Muster. Das Einzige, was immer gleich blieb, war sein Markenzeichen: Er hat jedes Mal ein Schmuckstück seines Opfers mitgenommen und es am nächsten Tatort zurückgelassen – ein wichtiges Schmuckstück, von dem er wusste, dass sein Fehlen auffallen würde. Beim ersten Opfer, Raychel Raynes, war es ein silberner Verlobungsring mit einem Granat. Der wurde am Martin-Smith-Tatort deponiert. Ein goldenes Taufkreuz von Martin Smith hinterlegte er im Schlafzimmer von Ernie und Samantha Wellcroft, wo er zwei Eheringe aus Platin mitgehen ließ, die er wiederum bei Opfer Nummer fünf deponierte, und so weiter und so fort. Tatorte und Fotos der Schmuckstücke, die nach jedem Mord gestohlen wurden, sind in chronologischer Reihenfolge auf der Heizung aufgelistet.«

»Und die Polizeifotos von Männern an der … Das ist doch die Tür zum Klo?«

»Ja. Das waren alles Verdächtige, die im Zusammenhang mit den Morden verhaftet und dann wieder freigelassen wurden. Vier von ihnen haben die Taten der Bestie gestanden, alle hatten psychische Probleme – und ein Alibi, wie sich herausstellte.«

»Autopsieberichte?«

»Neben dem dänischen Bücherregal. Und im Getränkeschrank sind auch noch einige – mir ist der Platz ausgegangen.«

Als Nächstes erregte ein großer Hefter auf dem Couchtisch Bishops Aufmerksamkeit.

»Und was ist das hier?«

»Die Bibel«, sagte sie beiläufig. »Eine Kopie seines sechsundsiebzigseitigen Geständnisses.« Sie gab ihm sein Rotweinglas. »Zum Wohl.«

»Zum Wohl.«

Sie stießen an.

Holly hob die Hand an den Hals und berührte die Kette mit den Schmetterlingsanhängern aus Silber und Emaille. Die Bestie hatte sie damals ihrer Mutter gestohlen, und weil Holly sie für immer verloren glaubte, hatte sie sich mit fünfzehn Jahren fünf grün-blaue Schmetterlinge im gleichen Design in den Nacken tätowieren lassen. Doch vor drei Monaten hatte Carstairs bei seinem Versuch, auf Bewährung freizukommen, eingewilligt, Holly die Kette zurückzugeben – unter der Bedingung, dass sie sich bereit erklärte, seinen Brief zu lesen. Sie nahm sie niemals ab.

»Und dann ist da natürlich noch der Brief.« Ein Anflug von Sarkasmus, als sie Bishop das Blatt reichte.

Ich habe schon lange vor, Ihnen zu schreiben, da ich die

Chance ergreifen möchte, Ihnen einige Dinge zu sagen.

Hoffentlich lesen Sie diesen Brief, denn persönlich

werde ich Ihnen wohl nie wieder begegnen.

Eins lässt sich nicht leugnen: In der Vergangenheit habe

ich entsetzliche Dinge getan. Doch Sie haben trotz meiner

schrecklichen Taten einen Weg gefunden, weiterzuleben. Ein

solches Ausmaß an Kraft und Charakterstärke nötigt mir

wahrhaftige Bewunderung ab.

Oftmals, wenn ich über meine Taten nachdenke und versuche,

daraus die entsprechenden Lehren zu ziehen, muss ich

unwillkürlich an Sie denken. Manchmal liege ich nachts

wach und bitte um Vergebung. Ich bete um meine Erlösung,

obwohl ich weiß, wie unfassbar schwer es für Sie sein muss,

Hoffnung oder Freude zu empfinden oder einfach

nur ein ganz normales Leben zu führen, nachdem

Sie das Grauen mit ansehen mussten, das ich mit meiner

Tat über Sie und Ihre Familie gebracht habe.

Ja, ich weiß, die Gerechtigkeit ist blind.

Einige sagen mir, ich müsse Frieden mit mir selbst

schließen, und das tue ich. Wenigstens versuche ich es,

so gut ich eben kann.

Ich weiß, dass die Menschen sagen, ich wäre ein böser

Charakter und man dürfe mir nicht vergeben. Ich kann das

aber durchaus verstehen. Mir selbst fällt es auch

oft schwer.

Doch die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.

Ein Leben nach dem Tod – ob es so etwas wohl gibt? Ein

Reich im Jenseits, die Möglichkeit, weiterzuexistieren,

selbst wenn es in der Hölle ist? Feuer und Schwefel

oder die Qualen, die vielleicht auf mich warten,

lassen mich kalt. Man muss nur Miltons »Verlorenes Paradies«

lesen, dann weiß man Bescheid. Nein, ich habe keine Furcht.

Ich kenne mein Schicksal. Aber was erwartet Sie?

Cherubim?

Harfenklänge?

Himmlische Heerscharen?

Oder wartet auf Sie eine Zwischenwelt, ein düsterer

Limbus, beherrscht von Dämonen und ihrem Gebieter,

Luzifer persönlich?

Yin und Yang, jeder von uns hat zwei Seiten. Denn eins

sage ich Ihnen: Sie sind keineswegs so unschuldig und

arglos, wie Sie glauben. Aber niemand wird

gern mit seinen Schwächen konfrontiert, das verstehe ich.

Erynnien, sagt Ihnen der Name etwas? Die alten Römer

nannten sie Furien. Die Göttinnen der Gerechtigkeit.

Ich glaube, es waren drei Schwestern. Sie brachten

Chaos und Verderben über alle, die sich schuldig gemacht

hatten. Nichts als Rache und rasenden Zorn im Herzen. Ich

bin voller Mitgefühl für sie. Tatsächlich würde ich eher

ihretwegen eine Träne vergießen als meinetwegen.

Nun rücken meine letzten Stunden näher.

Natürlich wünschte ich, dass mir noch mehr Zeit bliebe, das

ist wohl nicht verwunderlich. Ich hätte gern die

Chance, noch ein wenig länger zu verweilen. Eine eitle

Hoffnung, denn schon bald werde ich meinen letzten Atemzug tun.

Tot sind wir alle irgendwann, ob wir wollen oder nicht.

Ob man sich unserer erinnert – das ist wichtig. Ob wir unsere

Träume gelebt haben. War es die Erfüllung meiner Träume

zu töten? Ja. Ich bin den Weg der Zerstörung gegangen, habe

Unheil gesät, gelogen und betrogen, doch in meinem

Kopf war daran nie etwas falsch. Ich habe unzählige Leben

ruiniert, doch Gott hat mir jedes Mal vergeben.

Ich bitte Sie, dies nun auch zu tun.

Es klingt vielleicht vermessen, doch bin ich in

Gottes Augen nicht auch Ihr Bruder?

Eine arme Seele? Wenn ich aus der Welt scheide, dann mit

nichts als Liebe im Herzen.

Sebastian Carstairs x

»Der erste Buchstabe jeder Zeile ergibt eine geheime Botschaft.« Bishop nickte. »Ich weiß, wo du wohnst, Jessica, oder soll ich Holly sagen? Ich bin nicht totzukriegen.«

Sechs

Nachdem Bishop gegangen war, hätte Holly eigentlich ins Bett gehen sollen, doch sie konnte noch nicht schlafen.

Als ihre Eltern ermordet wurden, war sie neun Jahre alt gewesen. Sie erinnerte sich noch an den Geruch von Blut, an die Kälte des Todes und an eine junge Polizistin namens Yannis Marie, die sich als Erste um sie gekümmert hatte. Als sie jetzt noch einmal Maries Bericht las, kamen die Erinnerungen mit unerwarteter Macht zurück. Sie wusste nicht mehr, wie die junge Polizistin aussah, aber sie erinnerte sich noch daran, wie sie ihre Hand gehalten hatte, und an das Gefühl, bei dieser Frau sicher und geborgen zu sein.

»Und du bist Jessica Ridley«, hatte Yannis gesagt. »Das ist ein schöner Name. Sollen wir zum Kamin gehen, wo es warm ist?« Ihre sanfte Stimme hatte Holly ganz schläfrig gemacht. »Hättest du gerne was zu trinken? Ein Glas Wasser? Oder wie wäre es mit einer heißen Schokolade?«

»Heiße Schokolade«, hatte Holly gesagt, und bei der Erinnerung konnte sie die Tasse in ihren Händen spüren.

»Ich mag dein Kleid.«

»Das ist nicht meins.«

Nachdem sie die Leichen ihrer Eltern entdeckt hatte, war Holly zu einem Haus im Nachbardorf gelaufen. Mr. und Mrs. Sayles hatten ihr das Blut aus dem Gesicht gewischt, ihr die besudelten Sachen ausgezogen und ihr ein blaues Kleid aus dem Schrank ihrer Tochter gegeben. Mrs. Sayles hatte Holly auch noch eine Strickjacke angezogen. Sie war zu groß gewesen, aber flauschig.

»Also. Jetzt, wo wir es uns gemütlich gemacht haben und sauber sind und unsere heiße Schokolade haben, magst du mir da ein bisschen von deinem Tag erzählen, Jessica? Davon, wie er angefangen hat?«

»Okay.«

»Gehen wir bis zum Morgen zurück. Was hast du zum Frühstück gegessen?«

»Ein Ei«, sagte sie.

»Ein gekochtes Ei?«

»Ja.«

»Hat deine Mummy das für dich gemacht?«

»Nein, ich selber.«

»Wow – nicht schlecht. Ich kann überhaupt nicht kochen.«

Die junge Polizistin hatte es wirklich vermocht, sie zu beruhigen und zum Reden zu bringen. Yannis war speziell für den Umgang mit traumatisierten Kindern ausgebildet. Jahre später fand Holly heraus, dass es ihr erster Fall gewesen war.

»Und dann bist du zur Schule gegangen?«

»Ja.«

»Gehst du gern zur Schule?«

»Ja.«

»Und was hast du da gemacht? Was für Stunden hattest du heute, Jessica?«

»Geschichte, Mathe und Kunst.«

»Kunst mochte ich früher total gern. Ich zeichne immer noch. Was habt ihr heute gemalt?«

»Weiß ich nicht mehr.«

»Das macht nichts. Und um Viertel nach drei hattest du Schluss?«

Holly hatte genickt.

»Und dann bist du alleine nach Hause gegangen?«

»Das mache ich immer. Eigentlich sollte Raya zum Übernachten zu mir kommen, aber ihre Mum hat abgesagt, deshalb war sie nicht dabei.«

»Ist Raya eine Freundin aus der Schule?«

»Raya Stephens, ja. Sie ist meine beste Freundin.«

Holly überlegte einen Moment. Raya Stephens – wie so viele Einzelheiten von damals hatte sie auch diesen Namen im Laufe der Jahre vergessen. Sie waren beste Freundinnen gewesen, doch nach diesem Tag hatte sie Raya nie wiedergesehen. Sie fragte sich, was Raya danach gemacht hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Sie hoffte, das Leben war gut zu ihr gewesen.

»Wie war das Wetter, als du von der Schule nach Hause gekommen bist?«, hatte Yannis weitergefragt. »War es schön?«

»Ja, die Sonne hat geschienen.«

»Und was hast du gemacht, als du zu Hause ankamst?«

»Ich habe die Haustür aufgemacht und gesagt: ›Hallo, ich bin wieder da.‹ Ich habe meine Schultasche auf den Tisch im Flur gestellt und bin erst ins Wohnzimmer und dann in die Küche gegangen.«

»Die Küchentür ist eine Schiebetür, richtig? War sie offen oder zu?«

»Zu. Ich musste sie aufschieben.«

»Hast du irgendwas gehört, bevor du reingegangen bist, Jessica?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Okay, das wird jetzt schwer für dich, aber ich muss dich fragen, was du gesehen hast, als du die Schiebetür aufgemacht hast. Kriegst du das hin? Woran erinnerst du dich?«

»Ich weiß noch, dass ich Rot gesehen habe.«

»Rot?«

»Alles war rot. Der Boden und der Tisch und die Stühle.«

»Und deine Mummy und dein Daddy waren auch in der Küche, stimmt’s?«

»Ja.«

Ihren Vater hatte man enthauptet auf dem Fußboden gefunden. Ihre Mutter war mit solch brutaler Gewalt in den Rücken gestochen worden, dass die Klinge vorne wieder ausgetreten war und sie auf der hölzernen Arbeitsplatte festgenagelt hatte.

»Und hast du versucht, mit ihnen zu reden? Mit deiner Mutter und deinem Vater?«

»Nein.«

»Bist du zu ihnen gegangen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

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