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Geisterfahrt

hier erhältlich:

Es hätte ein schöner Tag werden sollen: Anna Krüger und ihre Kollegen von der Helgoländer Polizei sind nach Hamburg gefahren, um das Dienstjubiläum ihres Chefs zu feiern. Auf dem »Hamburger Dom« ist auch dessen neunjährige Tochter Pauline mit dabei. Auf dem Weg in den bunten und hektischen Trubel des Volksfestes macht Anna Krüger eine Entdeckung, deren Tragweite sie sich nicht hätte ausmalen können. Und so wird binnen weniger Stunden der Terror nach Hamburg kommen, ein kleines Mädchen verschwinden und ein Mensch sterben.

»Dramatisch und spannend.«Morgenpost am Sonntag

»Ein grundsolider Kriminalroman mit Hamburg-Flair« Hamburger Abendblatt


  • Erscheinungstag: 03.06.2019
  • Aus der Serie: Anna Krüger
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678384
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nacht. Es ist dunkel wie die Nacht. Doch draußen ist es Tag. Draußen. Ob sie jemals wieder nach draußen gehen würde? Ob sie jemals wieder aufstehen würde? Sie wollte nur noch liegen. Im Dunkeln bleiben. In ewiger Nacht. Sich vergraben vor der Welt, vor dem Licht, vor dem Schmerz. Denn je heller es war, umso größer war der Schmerz.

Zuerst war es nur ein kurzer Stich gewesen, brutal, aber ganz schnell wieder vorbei. Und dann hatte sie den Fehler ihres Lebens gemacht: Sie hatte gelauscht. Hatte auf die Wiederkehr der Schmerzen gelauert – und sie damit gelockt. Ein Schatten, den man nicht beachtet, ist nichts weiter als nur ein Schatten. Ein Schatten, den man fürchtet aber, wird zum Monster. So wie der Schmerz. Sie hatte sich auf ihn konzentriert, und er war wiedergekommen. Langsam. Unauffällig. Wie ein tiefer Ton, der irgendwo weit im Hintergrund brummt. Und man lauscht, und er wird lauter, kommt näher. Wo er eben noch im Unbestimmten blieb, ein Rauschen beinahe, da wurde er deutlich. Ein Kontrast zu den umgebenden Geräuschen. Dann plötzlich ändert er seine Frequenz und wird höher, höher und immer noch höher. Bis er ein unerträgliches Kreischen ist, das einen vollkommen durchdringt und jede einzelne Körperzelle in wahnsinnigen Aufruhr versetzt. So war dieser Schmerz geworden.

Manchmal war er weg, als gäbe es ihn gar nicht. Manchmal spielte er nur mit ihr, griff mit seinen glühenden Krallen einmal in ihr Gehirn. Dann wieder war er so erträglich, dass sie meinte, sie könnte mit ihm leben. Lachhaft. Leben mit einem Schmerzensmeister. Das konnte sie nicht. Nein. Sie konnte es nicht. Und inzwischen wollte sie es auch nicht mehr. Dunkelheit. Das war alles, was sie noch wollte. Ewige Dunkelheit.

EINS

Hamburg, Dom: 3. August, 20:30 Uhr

Eck hatte sich immer leicht damit getan, nachts um die Häuser zu ziehen und tagsüber zu schlafen. Sein Revier war der Kiez, da ging das. Da war Leben bis morgens um sechs – und die Nachtschwärmer hatten das Geld lockerer als die Idioten, die tagsüber in der Stadt herumliefen. Die aufgeblasenen Geizkragen und Moralapostel. Eck kannte sie alle. Er war selber einer von ihnen gewesen. Vor Ewigkeiten. Manchmal träumte er noch davon. Wenn er zu viel getrunken hatte, heulte er auch schon mal über sein verlorenes Leben. Aber an einem normalen Tag, das hieß: in einer normalen Nacht mit nur kleinem Hunger und kleinem Rausch, da konnte Eck sich gut durchs Leben treiben lassen und spürte fast nicht, wie es verging. Surfen nannte er das. Surfen. Hatte er früher mal gemacht. Vor einer Ewigkeit. Hatte sich ähnlich angefühlt. Man blendete alles andere aus.

Aber zum Surfen brauchst du Stoff. Ganz ohne ist kein Surfen. Ganz ohne ist Krieg. Krieg in den Eingeweiden. Krieg im Bauch. So wie heute. Irgendwie hatte er kein Glück gehabt. War erst unten am Hafen gewesen, um sich irgendwo ein Fischbrötchen zu schnorren. Als Unterlage. Dann rauf durchs Portugiesenviertel, wo man vor dem Lokal lungerte, bis einem der Wirt eine halb leere Flasche Roten schenkte, damit man endlich verschwand. Eck war in letzter Zeit wohl zu oft dort gewesen. Diesmal hatten sie ihm bloß einen Tritt geschenkt und mit der Polizei gedroht. Was natürlich keine Drohung war. Die machten sich nicht die Hände mit einem Penner schmutzig, der sich friedlich verhielt. Blieben auf Abstand, weil sie Angst hatten, sie könnten sich Läuse holen oder Flöhe. Oder was richtig Fieses. Eck hätte gelacht. Ging aber nicht, weil er diesen verdammten Druck in der Brust spürte. Dabei war Sommer. Sonst kannte er das nur vom Winter. Aber nach dem letzten war’s nicht wieder weggegangen. Eher stärker geworden. Vor allem, wenn er nüchtern war. Was er Scheiße noch mal nicht gerne war.

Nach acht Uhr abends – er blickte immer mal wieder zur Uhr am U-Bahnhof St. Pauli hin – und immer noch keine Aussicht auf Stoff. An einem der Stände hatten ein paar Kunden ihre Becher stehen lassen. Eck sah sich um und trottete hinüber. Wäre beinahe überfahren worden von einem Porsche. Er spuckte hinterher, dachte dann aber, dass es vielleicht nicht mal schlecht gewesen wäre. Schneller Tod. Und ein Bonzenarsch, der auf Grundeis ging, weil er einen Obdachlosen niedergemäht hatte. Eck musste lachen. Dann musste er husten. Scheiße. Der Kioskbesitzer hatte ihn entdeckt. »Verpiss dich!«

»Schon gut, Mann«, murmelte Eck und bog ab, ein Stück weit rein auf das Heiligengeistfeld. Da, wo sie anfingen, sich durch die Nacht treiben zu lassen und ihr Geld zu verjubeln, und sich volllaufen ließen und den Mädels auf die Möpse glotzten. Hatte er früher alles auch getan. Vor einer Ewigkeit.

»Pass auf, wo du hintrittst, Alter!«, fuhr ihn ein Jugendlicher an. Ausländer. Türke wahrscheinlich, irgend so was. Oder Araber.

»Sorry, Mann«, murmelte Eck und wankte leicht zur Seite.

»Alles okay?« Der Junge hob seine Geldbörse auf, die ihm bei Ecks Rempler runtergefallen war. »Geht’s dir nicht gut?«

»Alles okay, Mann. Bin bloß ’n Penner.«

»Scheiße, Alter.« Er kramte irgendwas in seiner Jacke. »Hey. Hier.« Und steckte Eck etwas in die Tasche. Dann war er weg.

Geld! Ein Zehner! Offenbar war heute Ecks Glückstag.

*

Die anderen waren schon vorgegangen. Pauls Tochter wollte unbedingt mit ihrem Papa Autoscooter fahren. Wenn sie ihnen nachsah, fand Anna, sie hätten eine gute Familie abgegeben: Paul, die Kleine – und Saskia. Waren sie natürlich nicht. Und würden sie sicher auch nie werden. Saskia war überhaupt nicht Pauls Typ. Optisch vielleicht. Optisch standen wahrscheinlich alle Männer auf Saskia. Sie war blond, schlank, mit Kurven an den richtigen Stellen. Normalerweise sah man die kaum – ein Vorteil der Dienstkleidung. Obwohl Anna sie im Verdacht hatte, ihre Sachen in der Schneiderei auf Körper getrimmt haben zu lassen. Genau genommen war sie ein verdammter feuchter Traum der Kerle. Vor allem so in Jeans und mit der engen schwarzen Lederjacke, mit dem Pferdeschwanz und dem Make-up … Es war gar keine Frage, dass die Männer ihr nachguckten. Und Saskia wusste das. Klar, Paul guckte auch. Aber der hatte sie immerhin schon kennengelernt und wusste, dass sie ein Biest war. Zuerst würde sie Anna wegbeißen, dann Paul. Wenn sie nicht vorher wieder weg war. Denn aus ihrer Verachtung für die Insel hatte sie vom ersten Moment an kein Geheimnis gemacht. Anna fragte sich, ob Saskias Versetzung nach Helgoland eine Art Strafexpedition war. Die hätte sich nicht auf den frei gewordenen Posten melden müssen. Ob sie was mit einem Kollegen in Flensburg gehabt hatte?

Jedenfalls war es ihre Idee gewesen, zu Pauls Dienstjubiläum einen Ausflug auf den Dom nach Hamburg zu machen. Das passte natürlich zu ihr. Laut, grell, jede Menge Action. Anders als auf Helgoland jedenfalls. Wo für diese Nacht die beiden Springer für die Hauptsaison die Stellung hielten.

Es war nicht so, dass Anna Krüger die neue Kollegin abgelehnt hätte. Aber sie hatte von der ersten Minute an gespürt, dass Saskia auf Zickenkrieg angelegt war. Und das tat ihr nicht gut.

Während sie noch den dreien hinterhersah, wie sie Richtung Autoscooter abzogen, wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Röhrchen mit den Tabletten. Das neue Präparat gegen ihre Migräne war ein großer Fortschritt, auch wenn es den Schmerz nicht ganz abstellte. Stalin. Ihr teuflischer Begleiter. Jederzeit bereit, sie zu foltern, immerhin legte er neuerdings längere Phasen ein, in denen er sie in Sicherheit wiegte. Ein Schläfer in ihrem Kopf. Anna sah sich um und ging zum nächsten Kiosk hinüber, um sich eine Flasche Wasser zu kaufen.

Ein Penner stolperte ihr über die Füße, als ihn der Kioskbetreiber wegscheuchte. Arme Sau, dachte Anna. Offensichtlich hatte er nachsehen wollen, ob noch Reste in den Bechern waren. Sie war froh, dass es auf Helgoland kein Obdachlosenproblem gab. Eine Aufgabe weniger. »Ein Wasser, bitte.«

Sie warf zwei Tabletten ein, obwohl ihr die Ärztin nur eine empfohlen hatte, und spülte sie mit dem Wasser runter. Sie sollte aufpassen. Im letzten Jahr hatte sie sich mit zu vielen Medikamenten ernsthaft in Schwierigkeiten gebracht. Und das war nicht das erste Mal gewesen. Paul und die anderen waren im Getümmel verschwunden. Schon hier, ganz am Rand des Doms war der Lärm bizarr. Anna blickte zu den Kollegen hinüber, die einen der Eingänge kontrollierten. Bis jetzt gab es keine Taschenkontrollen. Personenkontrollen nur, wenn jemand sich besonders auffällig benahm. Aber die Nervosität war groß. Die Kollegen – zwei Männer, eine Frau – standen lässig herum und lachten. Alles ruhig, dachte Anna. Sie stellte die Flasche auf die Theke und warf sich ins Getümmel. Verdammt voll, dachte sie. Hier sind allein fünfzigmal so viele Menschen unterwegs, wie auf ganz Helgoland leben. Nun gut, der Dom war immerhin beinahe so groß wie ihre geliebte, verhasste Insel. Sie wünschte, sie wäre jetzt dort gewesen. Aber schließlich konnte sie Paul nicht allein sein Dienstjubiläum feiern lassen. Allein mit Saskia.

»Entschuldigung! Sie haben was verloren!«, hörte sie hinter sich eine Stimme. Als sie sich umdrehte, stand da ein Familienvater mit Frau und zwei halbwüchsigen Töchtern und hielt ihr etwas hin.

»Oh.« Anna griff danach. Ein Ausweis. Nicht ihrer. »Das ist nicht meiner«, sagte sie. »Aber ich gebe ihn den Kollegen … den Polizisten dort.« Sie machte eine Geste Richtung Eingang. Der Mann nickte und winkte ihr auf Wiedersehen.

Anna schlenderte hinüber zu den drei Uniformierten, zückte ihren Dienstausweis, den sie auch bei sich trug, wenn sie in Zivil gekleidet war, und sagte: »Moin.«

»Moin moin, Kollegin«, erwiderte einer von ihnen.

»Hat mir eben jemand gegeben, weil er ihn gefunden hat.« Anna reichte dem Polizisten den Ausweis. Der warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. »Marco Kovac. Prüfst du mal?« Er reichte ihn seiner Kollegin weiter, die damit zum Einsatzwagen ging.

»Und?«, fragte Anna. »Alles ruhig heute Abend?«

»Wird genauso ein langweiliger Abend werden wie sonst auch.«

»Da solltet ihr mal einen Abend bei uns Dienst schieben«, lachte Anna.

»Und bei euch wäre wo genau?«

»Helgoland.«

»Okay. Dagegen ist das hier wahrscheinlich wie Hexensabbat.«

»Stefan?« Die Kollegin, die mit dem Ausweis zum Wagen gegangen war, kam zurück.

»Hm?«

»Ich glaube, wir haben ein Problem.«

»Treffer?«

»Kann man sagen.«

»Drogen wahrscheinlich«, schlug der Polizist vor, der mit Anna gesprochen hatte. Doch seine Kollegin schüttelte den Kopf. »Ist nicht unsere Kleinkriminellenfahndungsliste.«

»Sondern?«

»LKA.«

*

Stefan Sattler war seit siebzehn Jahren auf dem Kiez. Er hatte alles erlebt. Drogentote, Messerstechereien, Rockerkriege, die ganze Palette. Seit einigen Jahren war das Milieu anders geworden: weniger Prostitution, dafür härtere Maschen. Das machten die Osteuropäer, die Rumänen, Bulgaren und Moldawier, die ihre Nutten noch brutaler ausbeuteten als die alte Garde der Luden. Die kannten auch keinen Respekt mehr vor der Polizei und hatten nicht einmal Interesse an einem guten Nebeneinander, so wie das früher mal gewesen war. Nein, der Kiez war brutaler geworden, auch wenn er mittlerweile aussah wie ein Familienfreizeitpark, weil zwar hier und da noch Sex draufstand, aber fast nirgends mehr Sex drin war. Nur in zwei, drei Nebenstraßen.

Die Einsätze auf dem Dom mochte Stefan Sattler an sich ganz gerne. Außer Alkohol und ab und zu mal einem Dealer gab es hier keine großen Probleme. Die Hamburger waren da eigentlich immer ganz unaufgeregt, die Touristen meistens respektvoll. Viele Iraner und Araber liefen auf dem Dom herum. Stefan Sattler konnte das gut verstehen. Immerhin gab’s bei denen zu Hause ja nicht so viel Vergnügen. Scheiße war allerdings, wenn einer von denen auf der Fahndungsliste des Landeskriminalamts stand. Er wählte die Einsatzzentrale an: »Moin. Stefan hier. Wir sind hier planmäßig auf dem Dom. Identitätsabgleich hat einen Treffer mit LKA ergeben.«

»Okay«, sagte der Kollege nur. »Habt ihr den Verdächtigen in Gewahrsam?«

»Leider nein. Wir haben nur seinen Ausweis gefunden.«

»Auf dem Dom?«

»Auf dem Dom«, bestätigte Stefan Sattler und bemerkte, wie er schon die ganze Zeit, seit der Entdeckung der Kollegin, mit dem Blick die Menschenmenge durchpflügte, die unablässig auf das Heiligengeistfeld strömte. Das Problem war: Der Typ war ja offenbar schon drin.

»Ich bekomme es in dem Moment auf den Schirm«, sagte der Kollege von der Einsatzzentrale. Gut, die Kollegen waren immerhin fix. Jetzt würde die ganze Maschinerie anlaufen. »Was machen wir?«

»Wir klären das mit dem KDD und melden uns, Kollege Sattler«, sagte der Mann von der Einsatzzentrale. Dann legte er auf, um noch in derselben Sekunde die Nummer des Kriminaldauerdienstes zu wählen.

»Schmiedeke hier. Wir haben einen Treffer auf dem Heiligengeistfeld. Der Verdächtige ist vermutlich auf dem Dom und steht auf der LKA-Liste. Sein Ausweis wurde gefunden. Marco Kovac, 24 Jahre, geboren in Sarajewo.«

»Aufenthaltsstatus?«, fragte der Kollege von der Kripo. Es gab in diesen Fällen niemanden, der sich mit Small Talk aufhielt. Jeder wusste, dass im Falle einer Meldung jeder Beteiligte vom ersten Augenblick an unter Strom stand.

»Keiner. Der Mann ist Deutscher.«

»Deutscher? Und was liegt vor?«

»Gefährder. Mitglied in einer radikalislamischen Gemeinde, mehrere fragwürdige Reisen ins türkisch-syrische Grenzgebiet … So was. Wir haben gerade mit der Auswertung begonnen.«

»Strafrechtliche Vorgeschichte?«

»Nur zwei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht wegen schwerer und gefährlicher Körperverletzung …«

»Messerstecher?«

»Baseballschläger.«

»Na toll.«

»Außerdem zwei Festnahmen wegen Verdachts auf Drogenhandel. Wurde aber fallen gelassen. Alles schon mehr als drei Jahre her.«

»Und wie ist er auf den Schirm des LKA gekommen?«

»Belgien hat ihn an Interpol gemeldet.«

»Belgien?«

»Keine Ahnung. Die haben da ja auch eine Menge Radikale. Er wird schon seine Kontakte dort haben …«

»Und in den letzten drei Jahren …«

»Nichts.«

Sie hatten ihn also vor drei Jahren mal auf dem Schirm gehabt, und seither war er unauffällig gewesen. Oder untergetaucht. Bis heute. Und heute verliert er seinen Ausweis. Auf dem Dom. Zufall? »Sicher, dass es nur einen Marco Kovac gibt?«

»Guter Punkt. Wir haben den Namen dreimal im System. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, ob das drei unterschiedliche Personen sind.« Schmiedeke versuchte parallel, alle möglichen Varianten zu durchdenken. Man konnte jetzt natürlich verdeckt ermitteln. Aber wenn der Gesuchte tatsächlich dabei war, sich vom Gefährder zum Terroristen zu mausern, dann war das ungefähr so, als würde man einen Waldbrand nur beobachten. Er seufzte. »Terrorlage?«

»Nein«, sagte der Kripo-Mann, dem natürlich genau die gleichen Fragen durch den Kopf gingen. »Das geben die Fakten so weit nicht her. Warten wir, was die Kollegen vom LKA sagen.«

Gut, dachte Schmiedeke. Terrorlage auf dem Dom würde am Ende in einer Katastrophe enden. Eine Panik unter Zehntausenden Besuchern zwischen Hunderten Buden, Geschäften, unübersichtlichen Ständen, und das noch bei Nacht … Er mochte gar nicht dran denken. »Na gut. Dann werden wir den Mann jetzt suchen«, sagte er. »Gebt uns Bescheid, wenn es neue Erkenntnisse gibt.« Sekunden später war er wieder zurück bei seinem Kollegen Sattler, der auf dem Heiligengeistfeld stand und die Verantwortung des diensthabenden und ranghöchsten Polizisten vor Ort trug. »Kollege Sattler?«

»Ich höre.«

»Wir bilden jetzt einen Krisenstab und fordern Spezialeinheiten an. Sie bekommen in den nächsten Minuten weitere Anweisungen. Sehen Sie sich noch einmal das Foto auf dem Ausweis an und sehen Sie sich um, aber entfernen Sie sich nicht zu weit von Ihrem aktuellen Standort.«

»Alles klar. Over.«

»Können wir irgendwie helfen?«, fragte Anna Krüger, die das Gespräch mitgehört hatte. Doch der Hamburger Kollege schüttelte den Kopf. »Halten Sie nur die Augen offen«, sagte er. »Und melden Sie sich, falls Sie wirklich was Verdächtiges bemerken. Im Moment sollten wir die Situation hier möglichst ruhig halten. Für einen Großeinsatz sind wir momentan viel zu wenige Kollegen vor Ort.« Und auch gar nicht ausgerüstet, dachte er. »Es gibt keine Anzeichen, dass hier eine Straftat geplant ist. Aber klar, wenn wir den Verdächtigen finden, versuchen wir den Zugriff.«

Anna nickte. »Kann ich das Bild auf dem Ausweis auch noch mal sehen?«

»Sicher.« Sattler gab seiner Kollegin im Einsatzfahrzeug ein Zeichen, sodass Anna den Ausweis noch einmal studieren konnte. Ein junger Mann mit dichtem schwarzem Haar, Dreitagebart, auffällig kleinen Ohren, den Blick aus dunklen Augen selbstbewusst in die Kamera gerichtet. Trotzig sah er aus, fand Anna. Wie wahrscheinlich die meisten jungen Männer seiner Herkunft und Gesellschaftsschicht. »Danke.« Sie gab den Ausweis zurück und wandte sich wieder dem Heiligengeistfeld zu. Erst jetzt nahm sie den Bunker wahr, der dahinter aufragte. Riesig, düster, drohend.

*

Pauline liebte Autoscooter. Sobald Papa einen Chip eingeworfen hatte, drückte sie auf das Pedal und fuhr mitten hinein in die anderen Autos. Die meiste Zeit fuhren sie gar nicht richtig, sondern blockierten sich nur gegenseitig. Aber dann, irgendwann, waren alle wieder weg, und Pauline konnte wieder draufdrücken und wieder mittenreinfahren. Manchmal lenkte Papa ihr Auto weg von den anderen, damit sie wenigstens mal eine Runde drehen konnten. Dann winkte sie Saskia zu, obwohl sie die eigentlich nicht sehr mochte. Aber heute war Pauline einfach nur glücklich. Auf dem Dom war sie noch nie gewesen. Mama mochte das nicht. Aber Pauline mochte es! Sie wäre am liebsten für immer hiergeblieben.

Nach der vierten Runde Autoscooter hob Papa die Hände. »Ich kann nicht mehr!«, rief er lachend. »Mir ist schon ganz schwurbelig im Bauch. Ich glaube, ich brauche eine Pause. Und ein paar Schokofrüchte.« Er guckte Pauline an. »Noch jemand Lust auf Schokofrüchte?«

»Au ja!«, rief Pauline und kletterte schon aus dem Wagen. »Wir gehen Schokofrüchte essen«, erklärte sie Saskia, die auf ihrem Handy herumtippte.

»Super«, sagte die, ohne aufzusehen.

»Komm!« Paul war hinter seiner Tochter aus dem Scooter geklettert und hatte den Arm auf ihre Schulter gelegt. »Ich spendiere uns eine Runde.«

»Nichts für mich«, antwortete seine Kollegin. »Ich warte hier auf euch.«

»Alles klar.« Paul schob Pauline ein Stückchen vom Autoscooter weg und ging in die Hocke. »Schokofrüchte oder Zuckerwatte?«

»Schokofrüchte.«

»Gut.« Er sah sich um. Der nächste Stand mit Süßwaren war gleich gegenüber. »Komm.« Sie gingen hin, und Pauline suchte sich den größten Spieß aus, den sie dahatten. »Mit Ananas, Erdbeeren, Trauben, Kiwi und Banane«, erklärte die Verkäuferin und reichte ihn ihr mit einer Serviette. Paul zog noch zwei weitere aus dem Halter. »Zur Sicherheit«, sagte er, lächelte der Verkäuferin zu und bezahlte. Während Pauline mit dem Früchtespieß kämpfte, blickte er sich um. Anna hätte längst auftauchen müssen. Er überlegte, ob er sie schnell anrufen sollte, hatte die Hand schon am Telefon, da sah er sie vom Eingang her kommen. Er winkte ihr, doch Anna schien in Gedanken und sah ihn nicht. Dafür entdeckte sie Saskia, die noch drüben beim Scooter stand, und ging zu ihr. Auch gut, dachte Paul, nahm seine Tochter wieder an der Hand und schlenderte mit ihr hinüber zu den beiden Kolleginnen.

»Mmh, da hast du aber was Leckeres bekommen!«, rief Anna, als sie Pauline mit den Schokofrüchten sah. Das Mädchen lächelte sie an, ohne etwas zu erwidern. Aber sie hatte ja auch den Mund voll mit einem riesigen Stück Ananas und jeder Menge Schokolade.

»Wann kommt noch mal deine Ex?« Saskia machte sich gar nicht die Mühe, so zu tun, als hätte sie Spaß mit der Kleinen.

»Meine Frau«, sagte Paul. »Ist sie ja immer noch.« Er räusperte sich. »Wir sind um halb neun verabredet. Am Fliegerkarussell.«

Saskia hob spöttisch eine Augenbraue. »Und, fährst du da auch mit?«

»Mal gucken!«, rief Paul. »Könnte sein, dass ich ein bisschen zu schwer dafür bin.« Er wuschelte durch Paulines Haar und nickte den anderen zu, weiterzugehen.

Der Dom war in den letzten Jahren gigantisch geworden. Paul war lange nicht mehr da gewesen. Inzwischen konnte man den ganzen Tag hier verbringen, wenn man wahnsinnig genug war. Es war irre laut geworden, von überallher blinkten einen knallbunte Lichter an, und im Sekundentakt rauschte ein Achterbahnwagen irgendwo in die Tiefe, und die Passagiere kreischten wie am Spieß. Unauffällig beobachtete Paul seine Kollegin Anna. Sie hatte ein Migräneproblem. Er konnte sich vorstellen, dass eine Veranstaltung wie diese hier nicht gerade das war, was ihr guttat. Andererseits: Vielleicht war es auch eine ideale Ablenkung, vielleicht konnte sie Spaß haben. Er jedenfalls war wild entschlossen, sich einen schönen Abend auf dem Dom zu machen. Gegen die ruhigen Nächte auf Helgoland war dies hier das maximale Kontrastprogramm. Dass Anna absolut fit aussah, beruhigte ihn. Und wenn Pauline in ein paar Minuten wieder bei ihrer Mutter war, würde auch Saskia nicht mehr genervt sein.

*

Do., 03.08., 20:32 Uhr, LKA Hamburg, Lagezentrale/ Terrorismusabwehr

»Treffer in der Innenstadt.«

»Zielperson bekannt?«

»Daten sind abgelegt.«

»Aufenthaltsort?«

»Leider nur vermutet. Heiligengeistfeld.«

»Ist nicht gerade Dom?«

»Richtig. Volksfest.«

»Scheiße. Konkrete Gefährdungslage?«

»Noch nichts bekannt. Können wir aber nicht ausschließen.«

»Okay. Welche Einsatzkräfte haben wir vor Ort?«

»Sicherheitspolizei. Normale Besetzung. Allgemeine Überwachung, kein konkreter Einsatzbefehl.«

»Sicherheitskonzept?«

»Ist abgelegt.«

»Ich kann nur hoffen, dass es nicht das ist, was es immer ist.«

»Ist es.«

»Scheiße. Sie werden es nie lernen.«

*

Sie hat sich übergeben. Zweimal. Einmal vor dem Frühstück, einmal danach. Doch es geht ihr deshalb nicht besser. Wie auch. Das Monster sitzt nicht in ihrem Bauch, es sitzt in ihrem Kopf. Beim zweiten Mal hat sie sich den Kopf an der Kloschüssel blutig geschlagen. Ein Unfall. Hat sie der Mutter gesagt. Ob sie es glaubte?

Immerhin tut ihr der Wind gut. Ein Scheißtag war das. Sie hat sich an den Nordstrand gestellt. Da ist es jetzt menschenleer. Die Touristen sind alle weg, weil die letzte Fähre abgelegt hat. Die Einheimischen kommen nicht hierher, die haben anderes zu tun. Eine große schwarze Sonnenbrille schützt sie vor zu viel Licht.

Eine tote Möwe liegt zwischen den angeschwemmten Algen, den Kopf auf einer Handvoll Feuersteine. Sie hat es hinter sich. Glückliche Möwe. Sie soll ein Grab bekommen, gleich hinter der Böschung, denn es ist grausam, so schutzlos dazuliegen. Schutzlos daliegen – oh Gott! Plötzlich sieht sie die Möwe mit ganz anderen Augen. Schutzlos dazuliegen, das ist ihr vertraut. Vertrauter, als ein Mensch es sich wünschen kann. Schutzlos dagelegen hat sie auch. Zweimal. Und jedes Mal wurde ihr dabei ein Stück Leben amputiert. Was übrig ist, ist es nicht wert.

Der Vogel ist ganz leicht. Nachdem er mit ein paar Händen voll Sand bedeckt ist, geht es ihr etwas besser. Sie wendet sich wieder der See zu, die in diesen Tagen rauer wird. Der Wind lässt die Wellen kräftiger rollen, weiße Kronen stürzen auf den Strand, wirbeln die Steine auf und werfen all das Tote an Land, was im Meer sein Leben gelassen hat: Krebse, Muscheln, Seesterne …

Sie könnte hineingehen ins Wasser. Dass sie eine gute Schwimmerin ist? Egal. Wenn man sich wegtragen lässt, wenn man sich der Strömung überlässt, wenn man … Man kommt dann nicht mehr zurück. Nicht von allein. Erst wenn die See tut, was sie immer tut: wenn sie all das Tote an Land spült, was in ihr sein Leben gelassen hat.

ZWEI

Eine halbe Stunde früher: Hamburg, Steindamm 12

»Junge, warum machst du dir nicht den Bart ab.«

Die Diskussion war so alt, dass sie selbst schon einen Bart hatte. Ante zuckte nur mit den Schultern.

»Du siehst aus wie ein verdammter Salafist!«

Wenn Marco sich einmischte, war es Zeit zu gehen. Ante hatte keine Lust, das Thema auch noch mit seinem Bruder zu diskutieren. Marco war der Lieblingssohn von Mama. Von Papa sowieso. Und außerdem war er absolut okay. Außer dass er irgendwann auf den Trichter gekommen war, keinen einzigen blöden Fehler im Leben zu machen. Und das zog er eisern durch. Womit er Ante natürlich auch schwer nervte. »Vielleicht bin ich einer«, blaffte Ante. Schon um Marco zu provozieren. »Du bist ein Schaf, Ante«, sagte Marco lässig. »Schafe sind keine Salafisten.«

»Schon klar, Mann. Du musst es wissen.« Ante warf sich seine Jacke über, rief »Tschüs!« und war schon fast aus der Tür, als ihm der geniale Einfall kam. Leise ging er noch mal zur Garderobe zurück und fummelte Marcos Börse aus seiner Jacke. Wenn er die Scheine stecken ließ, merkte sein Bruder vielleicht nicht einmal, dass er sich den Ausweis lieh. Der Vorteil, wenn man einen Bruder hatte, der sieben Jahre älter war. Und mit dem Bart würde keiner erkennen, dass er nicht Marco, sondern dessen siebzehnjährigen Bruder vor sich hatte. Ante sah zu, dass er abhaute. Die Familie nervte. Aber klar, sie war auch das Beste, was er hatte. Die Familie und Kathy.

Wenn er nur an sie dachte, hätte er schon schreien können. Kathy war die heißeste Braut, die er jemals kennengelernt hatte. Dass sie sich mit ihm verabredet hatte, war eigentlich ein Weltwunder. Ante hatte es niemandem erzählt. Er hatte Angst, jemand anderer könnte es erfahren und aus irgendeinem blöden Grund würde alles zerplatzen wie ein Traum. Aber so: Er ging auf den Dom, traf sich dort mit der Frau Nummer eins ever – und wenn er Glück hatte und keine Scheiße baute, würde er später vielleicht sogar noch einen wegstecken können. Ohne es vorgehabt zu haben, sprang Ante sechs Treppen auf einmal runter, bis fast ins Erdgeschoss. Was eine beschissene Idee war, denn er kam irgendwie schief auf und verknickte sich den Knöchel fies. Nach einer Minute, in der er zusammengekauert im Treppenhaus lag und gleichzeitig um Atem rang und gegen die Tränen kämpfte, ließ der Schmerz nach. Nicht viel, aber immerhin. Keuchend richtete er sich auf. Noch eine Minute später versuchte er, vorsichtig aufzutreten. Fluchte. Knurrte. Stöhnte. Setzte sich auf den Treppenabsatz und holte sein Handy raus. Er hatte schon Kathys Nummer gewählt, da legte er wieder auf. Er würde ihr schreiben. Bin gleich da. Höchstens zehn Minuten zu spät. Sorry. Und einen Smiley dazu.

Immer wieder Pausen einlegend, kämpfte er sich nach oben, sperrte möglichst lautlos auf und schlich sich in Marcos Zimmer. »Hey, Mann, du musst mir kurz helfen.«

»Was liegt an, Bruderherz?«

»Hab mir den Knöchel verstaucht. Kannst du mir mal ein Tuch oder was bringen, damit ich was drumwickeln kann? Ich will nicht, dass Mama das jetzt weiß.«

Marco nickte, ohne irgendwie spöttisch zu gucken. »Kann ich verstehen.« Er holte eine Mullbinde und band Antes Knöchel stramm ein. »Aber mach halblang, Mann. Ich finde, das sieht nicht gut aus.«

»Fühlt sich auch nicht gut an.« Ante boxte seinen Bruder auf die Schulter und machte sich aus dem Staub. Er würde sich dieses Date nicht durch die Lappen gehen lassen. Weder den Dom. Noch alles, was anschließend vielleicht kam. Und wenn er sein Bein hinterher wegschmeißen musste.

*

Marco blickte seinem Bruder nach. Kein schlechter Kerl, ganz bestimmt nicht. Aber Ante war nicht ernsthaft genug. Wenn du ein Kanake bist und wenn du auf St. Georg lebst, musst du ernsthaft sein. Das ist die einzige Chance. Sonst kommst du hier nicht raus. Ob Ante das noch kapieren würde? Marco war sich da nicht so sicher. Der Junge hatte schon ein paar Abzweigungen genommen, die nicht in Ordnung waren. Seit einiger Zeit dealte er. Das war ganz schlecht. Schlechte Kontakte. Scheißgefahr, dass sie einen erwischten. Und dann war es vorbei, bevor es begonnen hatte. In der Schule war er auch ein Totalausfall. Papa hatte es noch nicht mal richtig mitgekriegt. Der dachte noch, wenn er ihm öfter eine in die Fresse gab, würde das schon. Stimmte aber nicht. Von den jungen Typen, die öfter eine in die Fresse bekamen, kannte Marco genug. Und sie wurden alle Loser. Irgendwie dachten sie dann alle, wenn sie nur oft und hart genug zuschlugen, würden sie irgendwem irgendwas beweisen. Der Witz war: Das Leben schlug zurück. Und das Leben hatte den härteren Schlag.

Mama ahnte zumindest was. Das war daran erkennbar, dass sie Ante neuerdings hinterherschnüffelte. Durchsuchte seine Jacken, machte ein bisschen zu lange am Bett rum, putzte ein bisschen zu sorgfältig in seinem Zimmer. Hatte sie vor ein paar Jahren bei ihm auch alles gemacht. Aber natürlich nichts gefunden. Denn von den beiden Brüdern war er der ernsthaftere. Er, der ältere: Marco Kovac, der sich schon früh überlegt hatte, dass er nicht so leben würde wie seine Eltern. Aber auch nicht so wie die Vollpfosten, die da unten auf der Straße standen, seinem kleinen Bruder zuwinkten, ihm Stoff anboten, irgendwo ein Mädchen laufen hatten oder zwei. Die ihre getunten BMWs an der Ecke auf den Gehweg gestellt hatten, um zu zeigen, dass ihnen die Bullen nichts konnten. Und die in ein, zwei Jahren in irgendeinem Knast sitzen und versuchen würden, zwischen lauter harten Mackern die härtesten zu spielen. Alles Schwachsinn. Die Spießer machten das schon richtig. Aber die hatten die bessere Startposition. Die kamen schon im richtigen Viertel zur Welt, hatten eine Top-Family, wurden dann von der Grundschule aufs Gym geschubst. Bekamen Nachhilfe. Machten Abi, und dann schoben sie richtig Kohle. Und die Frauen, die was im Kopf hatten, bekamen sie auch noch ab. Paar Kinder, Häuschen im Grünen, zweimal im Jahr fett Urlaub in Tunesien oder in der Türkei. Die durften dahin. Aber die Kanaken sollten gefälligst dortbleiben, wo sie herkamen. Da war es scheißegal, dass du ’n deutschen Pass hattest und sogar deine Eltern, dass du schon immer hier gelebt hattest. Reichte völlig aus, dass sie dir mal als Baby die Wurst gepellt hatten und dass der Name nach Reinigungskraft klang – Ausländer ist nicht, wer Ausländer ist, sondern wer nicht deutsch genug ist, so lief das.

Für die Deutschen waren sie ja alle Kanaken. Total egal, ob sie in Wirklichkeit Kurden waren oder Afghanen oder vielleicht Bosnier … Nur die Schwarzen verachteten sie noch mehr als die Kanaken. Aber die wurden ja von den Kanaken genauso verachtet. Richtig scheiße dran warst du in diesem Land, wenn du schwarz warst, sagte sich Marco oft, wenn er frustriert war. Zumindest bin ich kein Nigger. So hatte er wenigstens eine Chance. Eine kleine vielleicht, aber immerhin. Und er würde sie nutzen.

Ante bog um die Ecke und war aus dem Sichtfeld. Irgendeiner von den Luden da unten rief ihm was hinter. Marco wollte lieber gar nicht hören, was es war. Aber er würde Ante noch rausreißen, ja das würde er. Erstens wollte er, dass sein Bruder nicht so ein mieses kleines Kanakenleben leben musste. Und zweitens konnte er keinen Bruder brauchen, der ihm dauernd Ärger machte. Denn das war auch klar: Sobald Marco richtig Geld verdiente, würde Ante bei ihm auf der Matte stehen und ihn anpumpen. Mit dem Zeug, das er da am Abend vor irgendwelchen Läden verkaufte, würde er auf Dauer nicht über die Runden kommen. Und für Stoff, der richtig was brachte, war er nicht hart genug. Nicht Ante. Denn eigentlich war er eben doch ein Guter.

*

Fünf Minuten zu spät. Aber die Straßen waren einfach zu voll gewesen. Der Einsatz hatte offiziell um 20.00 Uhr begonnen. Punkt 20.05 Uhr stellten sie den Motor ab und stiegen aus. Die Kollegen hatten noch so lange gewartet. »Ziemlich viel Verkehr, was?«, fragte der Einsatzleiter, den Sattler nicht kannte.

»Irre. Freitag eben. Wie läuft es hier?«

»Alles ruhig«, erklärte der Kollege und tippte sich an die Kappe. »Ihr habt einen gemütlichen Abend vor euch.«

Sattler nickte. Schön wär’s. Aber das hatte er schon oft gedacht, um dann am Ende Chaos, Stress und Panik zu erleben. »Hoffen wir’s«, seufzte er. »Es geht ja gerade erst los.«

»Das ist richtig. Wenn die Schätzung stimmt, wird es heute Abend noch ganz schön voll hier. Aber drüben an der Feldstraße sind ja auch Kollegen. Und die Davidwache ist gleich um die Ecke.«

»Ich will mal hoffen, dass wir die nicht auch noch brauchen. Also dann, danke.«

»Da nicht für.«

Die Kollegen machten sich auf den Weg in den Feierabend. Für Stefan Sattler und seine zwei Begleiter ging der Einsatz hier erst los. Immerhin: Das Wetter war gut, sehr gut sogar. Die Stimmung war es auch. Soweit bekannt, war mit Gruppen, die Ärger machten, nicht zu rechnen. Keine Fußballfans, keine größeren Junggesellenabschiede, kein …

»Chef?«

»Ja?«

»Die Kollegen vom Roten Kreuz fragen, ob wir sie lieber hier auf der Seite hätten oder ob sie nachher zum Feuerwerk wechseln sollen.«

Das Freitagsfeuerwerk auf dem Dom. »Haben die da keine eigene Mannschaft?«

»Nicht in dieser Ecke.«

»Verstehe. Dann sollen sie zum Feuerwerk rüberwechseln und anschließend wieder hierherkommen. Sie sind ja in jedem Fall in der Nähe.«

»Gut. Ich geb das so weiter.«

Warum eigentlich musste immer alles gleichzeitig sein? Als würde der Dom ohne Feuerwerk nicht ausreichen. Die Sicherheitskonzepte der großen Städte verdienten nach Stefan Sattlers Meinung ihren Namen nicht. Alles auf Kante genäht, überall mit riesigem Glücksfaktor kalkuliert. Nirgends durften zwei Dinge gleichzeitig passieren, sonst lief alles aus dem Ruder. Brandgefährlich war das. Wenn man sich alles sorgfältig ansah, konnte man diese ganzen Einsätze bei Großveranstaltungen eigentlich nur als Minenräumkommando bezeichnen. Oder eben als Himmelfahrtskommando. Denn die Minen lagen so dicht beieinander, dass jede, die aus Versehen losging, eine Kettenreaktion auslösen konnte. Und dann würde die ganze Stadt explodieren.

*

Er hatte die U-Bahn erwischt. Gerade noch. Der Knöchel schmerzte zwar immer noch höllisch, aber jetzt, wo er unterwegs war, lief es. Ante schloss die Augen und versuchte, nicht auf das Pochen in seinem Bein zu achten. Er stellte sich Kathy vor. Was sie tragen würde? Würde sie das Haar offen haben oder einen Pferdeschwanz? Wenn er nur an sie dachte, hatte er das Gefühl, er hätte selber einen Pferdeschwanz. Ante musste grinsen. Machte die Augen wieder auf – und blickte einem Typen ins Gesicht, der sein Handy vor sich hielt. »Hey, Mann, hast du mich eben geknipst?«

Der Typ reagierte nicht mal, sondern steckte nur sein Handy weg und blickte gelangweilt aus dem Fenster. Ante spürte, wie es in ihm zu kochen begann. Wenn er was nicht ausstehen konnte, dann waren es diese Wichtigtuer, die so taten, als würden sie einen nicht sehen oder hören. Er war schon drauf und dran, noch was zu sagen, aber dann verkniff er es sich. Normalerweise hätte er ihm sein Scheißhandy aus der Hand geschlagen und mit einem gezielten Tritt geschrottet. Und dann hätte er ihm noch in die Eier gekickt. Aber nachdem das mit dem Fuß sowieso alles nicht ging, hielt er sich zurück. Glück gehabt, Wichser, dachte er sich. Und dann gingen auch schon die Türen auf, und der Typ stieg an den Landungsbrücken aus. Auch gut, dachte Ante. Vielleicht sogar besser. Ja, absolut. Viel besser. Er wollte sich die Laune nicht verderben lassen. Heute hatte er ein Date. Nicht irgendein Date. Das Date ever! Heute würde er nur feiern. Einfach feiern.

Weiter vorne im Wagen kicherten ein paar Mädchen. Als Ante hinguckte, waren es drei von den Schlampen aus der C. Parallelklasse. Treudeutsch. Okay, Kathy war auch deutsch. Aber eben nicht so eine Schlampe wie die. Wie die sich schon angezogen hatten. Konnten gleich weiterlaufen und auf der Reeperbahn anschaffen gehen, so wie die aussahen. Wieder schloss er die Augen und überlegte, wie Kathy aussehen würde. Ob sie sich auch so heiß angezogen hatte? Bei ihr wäre das was anderes. Sie war einfach cool.

Als die U-Bahn einfuhr, waren die drei schneller. Er hinkte mit seinem verletzten Bein etwas langsamer hinterher. War ihm auch lieber, wenn sie ihn nicht sahen. Er hatte keine Lust auf blöde Sprüche von wegen Steindamm und Pornokino und alles. Nur weil sie ihn da mal rauskommen gesehen hatten. Dabei war es der Eingang zu seinem Hausflur. Mussten die blöden Schlampen nicht wissen. Hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Sollten sie lieber denken, er wäre im Kino gewesen.

Am Eingang zum Dom stand eine Streife. Die Bullen musterten die Besucher. Ante machte einen kleinen Bogen um sie und drückte sich seitlich an einer Imbissbude vorbei. Das Röhrchen in seiner Jackentasche fummelte er vorsichtshalber mal in den Bund seiner Unterhose.

*

Hamburg, Dom, 3. August, 20:17 Uhr

Kathy konnte es nicht leiden, wenn man sie warten ließ. Vorhin war auch noch die Clique aus der Parallelklasse vorbeigekommen, was richtig scheiße war. Kathy konnte sich genau vorstellen, wie sich morgen in der Schule alle lustig machten, weil sie alleine auf dem Dom gewesen war. Außerdem hasste sie es, von fremden Typen angemacht zu werden. Und natürlich wurde sie angemacht. Ständig. Die Typen, die ohne Frau hierherkamen, hatten es alle nötig. Sie hätte besser doch das Kapuzenshirt angezogen. Aber mit dem knappen Top und den Skinnyjeans war sie einfach zu einladend für die notgeilen Kerle, die abends zum Saufen auf den Dom gingen.

Gerade überlegte sie, ob sie wieder abziehen sollte, da entdeckte sie Ante in der Menge. Er kam von der Reeperbahnseite her, und Kathy fragte sich nur kurz, ob er da wohl noch was zu erledigen gehabt hatte. Sie mochte sich das eigentlich gar nicht fragen, denn Ante war ein guter Typ. Aber er war eben auch Araber. Und die hatten ja fast alle was mit Drogen zu tun. Da drüben, Richtung Hafen, hätte er gut was dealen können. Hätte. Aber Ante machte das nicht, da war sie ganz sicher. Sonst hätte sie sich nicht mit ihm verabredet. »Alles okay mit deinem Bein?«, fragte sie statt einer Begrüßung, denn irgendwie sah er aus, als würde er humpeln.

»Alles super.« Er stellte sich ganz nah zu ihr, wusste aber offensichtlich nicht, ob er ihr jetzt die Hand geben sollte oder sie umarmen oder was. »Hi.«

»Hi«, sagte sie und gab ihm schnell einen Kuss auf die Wange. Er grinste. Sie auch. War doch schon mal ein guter Anfang. »Du hast aber gerade gehumpelt«, sagte sie.

»Bin die Treppe runtergefallen«, erklärte er. »Typisch Vollpfosten eben.«

»Oh.« Sie mochte es, wenn einer sich über sich selber lustig machen konnte. »Bestimmt war die Treppe schuld.«

»Klar«, sagte Ante und nickte. »Ist nur der Knöchel. Alles cool.«

»Fein.« Sie sah sich um. »Wollen wir?«

»Unbedingt! Sieht aus wie ein Volksfest hier.«

»Komisch, oder?« Kathy bemerkte, dass sie die ganze Zeit grinste wie ein Honigkuchenpferd. Hoffentlich fand er das nicht blöd. Aber er grinste ja auch. Was irgendwie süß war. Sie hakte sich bei ihm unter, ganz automatisch, und dann zogen sie los, vorbei an ein paar Polizisten, die ihnen mit skeptischen Mienen hinterhersahen. Ante hatte es auch bemerkt. »Ist garantiert wegen dem Bart«, sagte er entschuldigend. »Vielleicht sollte ich ihn abmachen.«

»Ich finde ihn schön«, erklärte Kathy. »Sehr männlich.« Sie wusste, dass Typen das gerne hörten. Auch wenn sie den Bart eigentlich blöd fand. Ohne das Ding hätte er sicher noch viel besser ausgesehen. »Das kannst du den anderen auch echt nicht antun.« Und auf seinen fragenden Blick: »Ohne Bart siehst du wahrscheinlich viel zu gut aus.«

Ante lachte. »Wahrscheinlich«, sagte er. »Fahren wir Autoscooter?«

»Geht das mit dem Bein?«

»Ist ja das linke. Zum Scootern brauch ich nur das rechte.«

»Okay. Aber pass auf …« Kathy deutete auf einen der Wagen. »Da ist so eine Terrormaus dabei. Die mäht hier echt alle nieder.« Tatsächlich rauschte ein Scooter mit einem kleinen Mädchen am Steuer und dem Papa daneben mitten ins Getümmel, dass es nur so rumste. »Wow«, sagte Ante. »Ich hab jetzt schon Angst.« Und Kathy kicherte und drückte seinen Arm. Oh ja, das würde ein geiler Abend werden.

*

Medizin. Jägermeister. Einer davon und alles ging leichter. Eck hatte sich nur ein kleines Fläschchen gekauft. Wollte nicht die ganze Knete auf einmal ausgeben. Ein Zehner, das reichte für die ganze Nacht. Zwei Bier und noch ein Brötchen mit irgendwas, wenn er es richtig anstellte. Und vielleicht ließ noch jemand ein Bierchen springen. Später saß das Geld lockerer. Waren die Leute lockerer auf dem Dom. Und drüben auf der Reeperbahn. Guckten nicht mehr so auf die Kohle. Guckten nicht mehr so auf ihn herab. Vor allem, wenn er was getrunken hatte. Dann war er ja auch besser drauf. So wie jetzt. Ein Jägermeister und er konnte sogar besser sehen! Echt die reinste Medizin. Eck schob sich weiter auf den Dom.

Eine Gruppe junger Mädchen kam an ihm vorbei, eine schöner als die andere. Er musste schlucken. Frauen. Das waren Zeiten gewesen. War natürlich alles vorbei. Als Penner hast du keinen Sex mehr. Da will dich keine. Und eine Nutte kannst du dir nicht leisten. Im Winter ist es egal. Wenn du auf der Straße lebst und es ist saukalt und tagsüber zieht es dir eisig durch die Knochen und nachts liegst du in irgendeinem U-Bahn-Aufgang, dann kriegst du gar keine Gefühle mehr. Kriegst ja nicht mal mehr einen hoch. Alles tot. Im Winter. Aber sonst auch die meiste Zeit. Ohne Alk keine Chance. Und mit richtig Alk schon gar nicht. Als Penner denkst du möglichst nicht an Sex. Das tut dir nicht gut. Weil es wehtut. Du riechst es nicht. Aber die anderen riechen es. Dass du stinkst. Und die Frauen sagen es dir, wenn du ihnen zu nahe kommst. Höchstens mal eine von den alten Huren, die im Park anschaffen gingen und für einen Zehner Hand anlegten. Die beschwerten sich nicht. Hatten Angst, dass sie selber irgendwann auf der Straße landeten. Oder waren schon da gelandet. Eck versuchte, nicht dran zu denken.

Aber bei so jungem Gemüse war das schwer. Die Mädels hatten sich mächtig aufgedonnert. Die schrien geradezu nach Sex! Die waren nur hier, damit es ihnen später in der Nacht irgendwer so richtig besorgte. Er hatte es gar nicht gemerkt, aber plötzlich hatte er die Hand an einer. »Hey, du Schwein!«, rief sie. Und dann sah sie ihn erst. »Igitt! So ’n Penner!« Und die anderen Mädels lachten, und Eck zog schnell die Hand zurück und drehte sich um, sah zu, dass er wegkam. Brauchte keinen Ärger. Tat ihm wirklich leid. »Wichser!«, schrien sie hinter ihm her. »Penner!« Und lachten. War aber nicht komisch. Nicht für Eck. Besser, er suchte sich einen Ort, wo er nicht so auffiel. Da drüben vielleicht, neben dem Karussell. Gab da eine Stelle, wo man auch in Ruhe mal pissen konnte, ohne dass es gleich auffiel. Er ging zuerst dran vorbei, tat, als hätte er was verloren. Dann trödelte er wieder zu der Stelle zurück und drückte sich in die Nische hinter dem Kassenhäuschen. Der Lärm war ein bisschen gedämpfter hier. Tat ihm ganz gut. Er angelte nach dem Jägermeisterfläschchen, das er nicht weggeworfen hatte. Drehte den Deckel ab und hielt es sich unter die Nase. Er liebte den würzigen Duft. Lenkte ihn ab von den anderen Gerüchen. Bratwurst. Gebrannten Mandeln. All dem Zeug, das er sich nicht leisten konnte. Wenn du kein Penner bist, weißt du nicht, wie gut du es hast. Du trinkst dein Bierchen und denkst, das läuft immer so. Denkst, du wirst immer eine Frau haben. Immer eine Tochter. Immer einen Job und gutes Geld. Und dann kommt so ein Tag, an dem das alles zerbricht. Erkennst du natürlich nicht. Erst später. Viel später. Aber er wusste inzwischen, welcher Tag das bei ihm gewesen war. Und kein Tag verging, an dem er nicht an genau diesen Tag gedacht hätte. Ein Tröpfchen war noch drin in der kleinen Flasche. Dankbar ließ er es auf seine Zunge rollen. Sog noch einmal den Duft vom Schnaps ein. Dann drehte er sich um und schiffte. Bis er hinter sich eine Stimme hörte: »Eck?«

*

»Er hat dich echt angemacht!«, rief Lulu und schüttelte sich theatralisch.

»Das ist sooo eklig!«, pflichtete ihr Conny bei. »Ich müsste mich sofort duschen. Und meine Kleider in die Wäsche werfen.«

»Verbrennen«, korrigierte Lulu.

»Er hat mich bloß an der Schulter berührt«, sagte Lisa genervt. »Ich hab’s fast nicht gespürt.«

»Wahrscheinlich war er bloß so besoffen, dass er die Boobs nicht gefunden hat.« Conny war so dämlich! Lisa hätte ihr eine scheuern können. »So klein ist mein Busen nicht, dass er ihn nicht findet.«

»Sag ich doch, der Typ war dicht.«

»Ist doch egal«, schlug Lulu vor. »Ich will mir den Spaß nicht verderben lassen. Hey, seht mal, da drüben, das ist doch die Tusse aus der A.«

Die drei Mädchen guckten Richtung Free-Style. »Mhm«, sagte Lisa, die froh war, dass es nicht mehr um ihre Brüste ging. »Katharina.«

»Kathy«, verbesserte Lulu. »Das heißt, seit diesem Jahr musst du Cathy zu ihr sagen. Englisch. Für Kathy ist sie zu cool geworden.«

»Ich find sie eigentlich ganz nett«, sagte Lisa.

»Sieht aus, als hätte sie ein Date«, stellte Conny fest.

»Und der Typ ist nicht aufgetaucht.« Lulu kicherte, und die anderen kicherten mit. Lisa winkte hinüber. Doch Kathy oder Cathy tat, als würde sie sie nicht sehen. Dabei hatte sie sie bestimmt auch längst entdeckt. Stattdessen guckte sie auf die Uhr und drehte sich dann weg. Komisch, dachte Lisa. Wieso steht sie da alleine rum? Merkt sie nicht, dass dauernd irgendwelche Typen vorbeigehen und sie anglotzen?

*

Die Tabletten wirkten. Der Schmerz war weg. Anna war wieder bei Paul und Pauline. Und bei Saskia, die irgendwie nervös wirkte. »Alles klar?«, fragte Paul.

»Alles bestens, danke. Und? Was machen wir jetzt?« Anna stellte amüsiert fest, dass Pauls Tochter einen ganz verschmierten Mund hatte. »Mit der vielen Schokolade um den Mund musst du aufpassen, dass dich nicht jemand auffressen will.«

»Ich bin aber keine Schokofrüchte«, erklärte Pauline und schleckte sich mit der Zunge über die Lippen. Anna lachte. Die Kleine war wirklich ein Schatz. Sie passte so richtig zu Paul. Ein bisschen neugierig war Anna auf die Mutter. Paul hatte ja nie ein schlechtes Wort über sie verloren. Er war auch eher der Typ, der den Fehler bei sich suchte. Auch deshalb mochte Anna ihn. Paul war einfach in Ordnung.

»Wir gehen jetzt zum Fliegerkarussell!«, rief Pauline.

»Das ist das Karussell mit den Tieren, in die man sich reinsetzen kann und die dann hochfliegen, wenn man am Knüppel zieht«, erklärte Paul.

»Kenne ich«, sagte Anna. »War immer mein Lieblingskarussell.« Obwohl sie nie damit gefahren war. Jahrmarkt hatte es für sie als Kind nicht gegeben.

»Echt? Fährst du mit mir?«

»Na ja«, sagte Anna. »Bestimmt möchte dein Papa mitkommen.«

Paul hob die Hände. »Ich bin viel zu schwer für so ein Ding. Am Ende komme ich noch ins Gefängnis, weil ich es kaputt gemacht habe.«

»Polizisten kommen doch nicht ins Gefängnis, Papa«, sagte Pauline voll Überzeugung.

»Na ja«, sagte Paul. »Wenn sie was anstellen, dann schon …« Einen Moment herrschte Schweigen, weil sie alle – nur Pauline nicht – an Marten denken mussten, der bis vor wenigen Monaten Kollege auf Helgoland gewesen war und nun in U-Haft saß. Mit einer Anklage wegen Mordes. Die Teufelsmaschine namens Höllenfeuer heulte in nächster Nähe vorbei und riss sie aus ihren Gedanken. »Dann wollen wir mal!«, rief Paul und klatschte in die Hände. Saskia steckte ihr Handy weg, Anna legte den Arm um Pauline, und zu viert spazierten sie weiter hinein auf den Dom, damit die Kleine auf dem Fliegerkarussell fahren konnte. »Hast du keine Angst?«, fragte Anna, als sie davorstanden und der ganze Zoo gerade über ihren Köpfen seine Kreise drehte.

»Kein bisschen!«, rief Pauline und zog ihren Papa am Ärmel. »Kaufst du uns Fahrchips?«

»Klar.« Paul ging rüber zum Kassenhäuschen und holte ein paar Plastikmünzen für seine Tochter und Anna. »Bitte schön«, sagte er und deutete auf die Wagen, die gerade wieder gelandet waren. »Ihr könnt einsteigen. Aber verfliegt euch nicht!«

»Ach, ich bin sicher, Pauline findet den Weg«, sagte Anna und zwinkerte dem Mädchen zu, dessen Wangen rot leuchteten. »Keine Sorge, Papa«, kicherte sie. »Ich fliege nur im Kreis.«

»Ach so geht das.« Paul nickte, als hätte er es endlich kapiert. »Dann warte ich hier auf euch.«

Im nächsten Moment stiegen Anna und Pauline in einen Elefanten mit riesigen Ohren. »Ich will außen sitzen«, erklärte das Mädchen.

»Klar.« Anna rutschte rüber. Irgendwie fand sie es süß, dass Pauline mit ihr fuhr. Aber irgendwie hatte sie plötzlich auch ein mulmiges Gefühl. Hielt so ein Ding zwei Personen aus, wenn eine davon erwachsen war? Krachten solche Gefährte auch mal runter? War schon mal ein Kind rausgefallen? Sie legte den Arm fest um Pauline und erklärte, als die sich etwas rauswinden wollte: »Ich hab ein bisschen Angst.«

»Okay.« Pauline nickte ihr aufmunternd zu. »Musst du aber nicht. Ich bin schon öfter damit gefahren. Das macht Spaß, wirst sehen.«

Und dann begannen sie sich zu drehen, und Stalin begann in Annas Kopf wieder zu pochen. Sie versuchte, ihn zu ignorieren, ließ ihren Blick über die Millionen Lichter schweifen, über Tausende von Menschen, suchte und fand Paul in der Menge und winkte ihm zu. Er winkte zurück, lachend. Pauline zog am Knüppel, und der Elefant hob sich ziemlich ruckartig in die Luft. Ein kühler Abendwind wehte ihnen ins Gesicht. Sie flogen vorbei an Achterbahnen und Geisterbahnen, an Lotterien und Dosenbuden. Überall kreischte und jaulte es, klingelte, schepperte, knatterte und orgelte. Irgendwo da unten lief ein Mann durch die Gassen, der auf der Fahndungsliste stand. Als Gefährder. Irgendwo da unten traf vermutlich gerade das Mobile Einsatzkommando ein. Wahrscheinlich in Zivil. Und die Leute lachten und tranken und alberten herum, die Lichter blinkten, die Musik spielte – und drüben, auf der anderen Seite des Heiligengeistfeldes, stand dieser riesige drohende Bunker, ein gigantisches schwarzes Bauwerk, in dem – ganz oben fast – ein einziges einsames Licht brannte. Anna spürte, wie ihr schlecht wurde.

*

Sie sprechen nicht. Sie sprechen nie. Seit es passiert ist, haben sie nicht mehr miteinander gesprochen. Nicht wirklich. Nur noch Dinge wie: »Es ist Zeit, zur Schule zu gehen.« Oder: »Mach die Musik leiser.« Manchmal versucht sie, das Dröhnen und Kreischen in ihrem Kopf durch laute Musik zu übertönen. Sie stülpt sich die Kopfhörer über und dreht voll auf. Harte Musik. Als könnte sie den Kopfschmerz mit Gegenterror bekämpfen. Aber das ist natürlich unmöglich. Manchmal ist es zumindest Ablenkung. Ohne Kopfhörer. Sie terrorisiert ihre Eltern. Vor allem ihre Mutter. Leiden soll sie. So wie sie sie hat leiden lassen. Für ihren Vater hat sie nicht einmal mehr so viel übrig, dass sie ihn quälen will. Sie beachtet ihn gar nicht mehr. Er ist für sie tot. Wirklich tot. Nicht so wie Leo.

Seit ihre Mutter sie am Messerblock gesehen hat, darf sie nicht mehr in der Küche helfen. Der Schreck, die Panik in den Augen der Mutter hat ihr richtig gutgetan. Ob es die Tatsache war, dass sie ihr nicht völlig egal war? Oder ob es nur war, weil sie die blanke Angst in den Augen ihrer Mutter gesehen hat? Gespürt hat, dass da ein Horror war … Wer weiß das schon. Der Messerblock. Er wäre eine Möglichkeit …

Manchmal schleicht sie sich abends noch raus, wenn es dunkel ist. Geht hinüber zu den Lummenfelsen, wo in der tiefen Nacht niemand mehr ist. Sie ist dann ganz allein da. Niemand würde sie entdecken, jedenfalls nicht vor dem nächsten Morgen. Da unten ist es außerdem so finster, dass man nicht einmal etwas sähe, wenn man genau an der Stelle runterguckte.

Sie stellt sich dann ganz nach vorne, bis sie die Steinchen unter ihren Sohlen sich bewegen spürt. Wenn der Kopfschmerz dann käme … in dem Augenblick … so heftig, wie er das manchmal macht. Immer öfter eigentlich. Dann wäre es ein Leichtes. Dann würde sie … Aber er kommt nicht. So sehr sie auf ihn lauscht. Dieser plötzliche Anfall, die Explosion in ihrem Kopf, sie bleibt aus, wenn sie auf den Klippen steht. Bis jetzt.

DREI

Hamburg, Dom, 3. August, 20:43 Uhr

»Ali? Bist du das?«

»Du siehst aus wie jemand, der einen Schnaps vertragen könnte, Eck!«

»Ich glaub es nicht, Mann. Was ist denn mit dir passiert?« Ali, eigentlich »Türken-Ali«, weil er immer gute Kontakte zu einem Türken gehabt hatte, der seinen Keller vermietete, sah aus wie ein ganz anderer Mensch. Rasiert. Haare gewaschen. Neue Kleider. Oder fast neu. »Hast du im Lotto gewonnen, oder willst du mich bloß verarschen?«, fragte Eck vorsichtshalber.

»Komm, kannst was von mir haben«, sagte Türken-Ali lässig und schob ihm eine Flasche hin. Er stand an der Theke einer Kneipenbude und hatte im Ernst eine ganze Flasche Schnaps vor sich. »Hast du die hier gekauft?«

»Ich bin doch nicht bescheuert«, lachte Türken-Ali. »Die kostet hier fünfmal so viel wie im Netto.«

»Und wieso lassen die dich hier …« Eck blickte misstrauisch Richtung Theke, wo ein mies gelaunter alter Sack saß und ihm unfreundlich zunickte. Sollte wahrscheinlich freundlich sein.

»Ist mein Bruder«, erklärte Türken-Ali.

»Du hast einen Bruder?«

»Zufall, dass ich den entdeckt habe. Wir hatten jahrelang keinen Kontakt mehr. Zehn Jahre mindestens.«

Das konnte sich Eck gut vorstellen. Wer mal auf der Straße lebte, verlor den Kontakt zu den Menschen, mit denen er vorher mal zu tun gehabt hatte. Das ergab sich einfach so. Weil man in verschiedenen Welten existierte. Und die Welt, in der man auf der Straße lebte, die existierte nicht in der Welt, aus der man gekommen war. Die wollte keiner dort wahrnehmen. Schnell griff Eck nach der Flasche, fummelte seinen leeren Flachmann aus der Tasche und goss sich ein bisschen was hinein. Einen Schluck oder zwei. Zwei große. Aber Türken-Ali schien es ja neuerdings zu haben. »Und dein Bruder …«

»Hat mir ein bisschen geholfen.«

»Aha.« Zu gerne hätte Eck jetzt auch noch einen Schluck so genommen. Extra. Direkt aus der Pulle. »Trink schon«, sagte Ali und lachte wieder, dass man seine Zahnlücke vorne links sehen konnte. »Ich seh doch, dass du Durst hast.«

»Wenn man schon so drum gebeten wird«, murmelte Eck und hob die Flasche an den Mund. Verdammt guter Stoff. Er schielte auf das Etikett. Hatte er vorher gar nicht genau angeschaut. Whisky. Schottischer. Er leckte sich die Lippen. »Gut«, sagte er und nickte. »Sehr gut.« Er nickte anerkennend. »Hast Glück gehabt, Mann.«

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