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Gesicht aus Stein

Als Buch hier erhältlich:

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Als Teenager verlor Simeon Brown bei einem rassistischen Angriff ein Auge. Seitdem lebt der junge afroamerikanische Journalist in seiner Heimatstadt Philadelphia in einem Zustand quälender Spannung. Nach einer gewalttätigen Begegnung mit weißen Matrosen beschließt Simeon, nach Paris zu ziehen, das als sicherer Zufluchtsort für schwarze Künstler und Intellektuelle bekannt ist, und schon bald ist er im Bann der Stadt des Lichts, wo er tun und lassen kann, was er will, ohne Angst zu haben. Durch Babe, eine andere schwarze amerikanische Emigrantin, findet er neue Freunde, und bald verliebt er sich in eine polnische Schauspielerin, die ein Konzentrationslager überlebt hat. Gleichzeitig beginnt Simeon jedoch zu ahnen, dass Paris nicht das rassismusfreie Wunderland ist, das er sich vorgestellt hat: Die französische Regierung bemüht sich, die Revolution in Algerien zu unterdrücken, und Algerier werden regelmäßig von der französischen Polizei angehalten und durchsucht, geschlagen und verhaftet...


  • Erscheinungstag: 27.05.2025
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013500

Leseprobe

Zum Buch

Als Teenager verlor Simeon Brown bei einem rassistischen Angriff ein Auge. Seitdem lebt der junge afroamerikanische Journalist in seiner Heimatstadt Philadelphia in einem Zustand quälender Spannung. Nach einer gewalttätigen Begegnung mit weißen Matrosen beschließt Simeon, nach Paris zu ziehen, das als sicherer Zufluchtsort für schwarze Künstler und Intellektuelle bekannt ist, und schon bald ist er im Bann der Stadt des Lichts, wo er tun und lassen kann, was er will, ohne Angst zu haben. Durch Babe, eine andere schwarze amerikanische Emigrantin, findet er neue Freunde, und bald verliebt er sich in eine polnische Schauspielerin, die ein Konzentrationslager überlebt hat. Gleichzeitig beginnt Simeon jedoch zu ahnen, dass Paris nicht das rassismusfreie Wunderland ist, das er sich vorgestellt hat: Die französische Regierung bemüht sich, die Revolution in Algerien zu unterdrücken, und Algerier werden regelmäßig von der französischen Polizei angehalten und durchsucht, geschlagen und verhaftet...

Zum Autor

William Gardner Smith (1927-1974) wurde in Philadelphia geboren. Er schrieb insgesamt fünf Romane, in denen er sich mit dem US-amerikanischen Rassismus auseinandersetzte. Smith verbrachte viele Jahre seines Lebens in Paris.

William Gardner Smith

Gesicht aus Stein

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Gregor Runge

Nagel und Kimche

Für Edith

Wer seinen Bruder hasst,
der ist ein Mörder.

JOHANNES 3,15

Ich bin ein Fremdling geworden
in fremdem Lande.

EXODUS 2,22

Teil Eins

Der Flüchtling

I

1

Vornübergebeugt, die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände gestützt, wiegte er sich im Rhythmus des Zuges kaum merklich vor und zurück. Es war Abend, und jenseits des Fensters, im abnehmenden Licht, zogen flach und grünbraun die französischen Felder vorüber. Fast hätte er gebetet, nicht in Worten, nicht zu einem Gott, sondern in Form eines Gefühls, das sich an die Erde wandte, den Himmel und die ganze Welt.

Er war schwarz, knapp dreißig Jahre alt und hieß Simeon Brown. Er hatte nur noch ein Auge; eine Klappe bedeckte die leere Augenhöhle. Er war groß und schlank und hatte unruhige, zarte Hände.

Die anderen Passagiere im Abteil plauderten, aber Simeon blieb für sich. Er war mit seinen Gedanken nicht mehr im Zug, sondern an der Frühlingsluft, in Paris.

Was für eine lange Reise, dachte er. Amerika lag hinter ihm, seine Geschichte lag hinter ihm, er war in Sicherheit. Ihn erwartete jetzt ein Leben ohne Gewalt, ohne den Wunsch zu töten. Paris: Ruhe, Frieden.

2

Erwartungsvoll und schüchtern stand er in der langen Schlange am Taxistand. Verspürte wieder die Unsicherheit, die ihn in Menschenmengen so oft überwältigt hatte, und drückte instinktiv den Rücken durch, hob den Kopf, reckte das Kinn. Schwarzer Pirat, groß und drahtig, mit krausem Haar und schwarzer Augenklappe. Als Kind, noch bevor er die Klappe tragen musste, hatte er seine Unsicherheit zu überwinden versucht, indem er sich vorbetete: Du bist ein Prinz, du bist ein Prinz, du bist ein Prinz. Mit geradem Rücken und stolzem Blick fiel die Unsicherheit von ihm ab, und er schritt einher wie ein Prinz und fühlte sich auch so. Manchmal sagten die Leute: »Eingebildeter Bengel, stolziert hier rum, als würde ihm die Welt gehören!« Worte wie Messer. Aber es war ihm gelungen, er hatte seine Unsicherheit überspielt.

Die Straßen in der Nähe der Gare Saint-Lazare waren an jenem warmen Abend im Mai 1960 voller Menschen. Simeon, der Hobbymaler war, betrachtete die Passanten und versuchte in ihren Gesichtern zu lesen. Da war die strenge, verkniffene Französin, die von niemandem geliebt wurde und deshalb lieblos, unglücklich und zerstörerisch war. Da war der dicke Mann mit dem schlaffen Gesicht und dem aufgescheuchten Blick, der nicht wusste, wohin mit sich in dieser unbegreiflichen Stadt, dieser unbegreiflichen Welt, diesem unbegreiflichen Universum. Geplagt von Ängsten und spießbürgerlichen Ambitionen. Gefangen, wie die meisten Menschen, in der Hölle des ewig Gleichen stellte er sich immer wieder dieselben Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir und warum? Da war das Mädchen, das mit den Armen schlenkerte, wachsame Augen und rosige Wangen; sie lebte, und ihr Gesicht war voller Ebenmaß. Und dann waren da diese kraushaarigen Männer, die ihm entgegenkamen, deren Haut nicht wirklich weiß und ganz gewiss nicht schwarz war. Ihr mürrischer, unzufriedener, zorniger Blick erinnerte Simeon an Harlem. Weite Hosen, abgetragene Schuhe, zerschlissene Hemden. Mit ernster Miene sahen sie ihn an, und es geschah etwas Merkwürdiges, eine Art Wiedererkennen, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Dann gingen sie an ihm vorbei und waren verschwunden.

3

Simeon fand ein Zimmer in der dritten Etage eines kleinen Hotels in der Rue de Tournon. Er wollte vorerst niemanden kennenlernen, erkundete die Boulevards und die kleinen, verwinkelten Straßen des Quartier Latin, wo er die Cafés entdeckte, in denen alte Männer den lieben, langen Tag Karten spielten. Er bewunderte den Frühlingshimmel, besonders in der Abenddämmerung, wenn das lichte Blau durch einen silbrigen Dunstschleier fiel.

Eines Nachmittags, als er in der Rhumerie Martiniquaise saß, bemerkte Simeon nur wenige Tische entfernt das reizende Gesicht einer dunkelhaarigen jungen Frau.

Zum ersten Mal, seit er in Paris war, fühlte er sich einsam. Er hätte gern sein eingerostetes College-Französisch ausprobiert und sich mit ihr unterhalten. Aber bei dem Gedanken, eine Frau anzusprechen, die er nicht kannte, noch dazu eine Weiße, überkam ihn wieder seine Unsicherheit.

Simeon starrte sie an. Plötzlich drehte sie sich um, und ihre Blicke trafen sich. Ihm wurde heiß, er schämte sich. Sie betrachtete ihn gleichmütig, lächelte zurückhaltend und wandte sich wieder ab.

Seine Schüchternheit und seine Sehnsucht lagen im Widerstreit miteinander. Er machte sich Mut, indem er sein Glas in einem Zug leerte, stand dann unvermittelt auf und ging mit einem lächerlich festgezurrten Lächeln auf den Lippen zu ihr.

»Pardon«, sagte er in zögerlichem Französisch, »heute ist so ein schöner Tag, dürfte ich Sie vielleicht auf ein Getränk einladen?«

Er zitterte wie von Sinnen. Du bist ein Prinz, sagte er verzweifelt zu sich selbst, aber er war längst zu alt dafür; es funktionierte nicht mehr.

Um die Mundwinkel und die Augen der jungen Frau machte sich wieder ein Lächeln bemerkbar. Ohne aufzusehen, antwortete sie: »Nein, danke, Monsieur.«

»Aber ich dachte … Ich will Ihnen ganz sicher keine Avancen machen. Es ist nur so ein schöner Tag und …«

»Nein, Monsieur.«

Simeon schämte sich in Grund und Boden. Er war sicher, dass ihn alle anstarrten, sogar die Passanten. Er stand auf einer Bühne, im Lichtkegel eines grellen Scheinwerfers, nackt und allein. Auch der Kellner schien ihn vom Eingang des Cafés aus zu beobachten. Simeons Gesicht glühte. Er verneigte sich steif und ging an seinen Platz zurück. Auf dem Weg dorthin stieß er gegen einen Tisch, Gläser und Flaschen fielen scheppernd zu Boden. Die junge Frau unterdrückte ein Lachen.

Als er wieder an seinem Platz war, verfluchte er sich. Verfiel gegen seinen Willen auf den alten, perfiden Gedanken, den konditionierten Reflex. Rassismus. Er war allgegenwärtig. Auch hier, in Paris. Simeon ließ den Gedanken auf sich wirken, stieß ihn wie ein Messer in sich hinein. Da war dieser Schmerz in seiner Augenhöhle. Die junge Frau und ihr spöttisches Lächeln widerten ihn jetzt an. Auch die Gäste auf der Terrasse, die sich noch immer daran weideten, dass er gedemütigt worden war, widerten ihn an.

Die junge Frau, die zur Straße blickte, strahlte plötzlich übers ganze Gesicht und sprang auf. Ein großer Afrikaner, schwarz wie Anthrazit, kam lächelnd auf sie zugelaufen. Sie umarmten und küssten sich. Die anderen Gäste waren in ihre Gespräche vertieft, widmeten sich ihren Getränken und ignorierten das Paar, so wie kurz zuvor die Szene mit Simeon.

Der Afrikaner und die junge Frau verließen Arm in Arm die Terrasse. Simeon konnte den Blick nicht von ihnen abwenden, und als sie an ihm vorbeigingen, lächelte die junge Frau und zwinkerte ihm spöttisch zu.

4

Simeon stand in seinem Zimmer vor der Staffelei und tupfte mit einem Pinsel auf dem Bild herum, von dem er wusste, dass er es nie fertigstellen würde. Immer wieder hatte er von Neuem begonnen. Er hatte den wuchtigen Männerkopf mit so grobem Strich auf die Leinwand geworfen, dass er wie aus Stein gehauen wirkte: der Kiefer angespannt, der Mund ein zusammengekniffener, verbitterter Strich, die Haut totenbleich, die Augen stumpf, fanatisch, grausam und kalt. Es war ein unmenschliches Gesicht, das Gesicht eines Un-Menschen, der Zwietracht und der Zerstörung. Während er es betrachtete – das Gesicht von Chris, Mike und dem Matrosen –, überkamen ihn wieder die alten qualvollen Gefühle, das Entsetzen, der Ekel, die Angst, der Hass und der Wunsch zu töten. Dieses Gesicht hatte ihn aufgefordert zu töten und fast auf den elektrischen Stuhl befördert.

Möge Europas Frieden mich heilen von diesem Gesicht, dachte er.

Simeon ging vor die Tür. Es war ein warmer, sonniger Nachmittag. Eine schwarze Frau spazierte nonchalant an ihm vorbei, Hand in Hand mit einem Franzosen. Schlagzeilen wurden ausgerufen: Muslimischer Aufstand in Algier. Fünfzig Tote. Ein Clochard lag im Rinnstein, sein Gesicht war schmutzig und von einem stoppeligen Bart verschattet, die Haut vom Suff durchpflügt wie ein Acker. Tod und Elend bevölkerten die Welt, aber es war Sommer in Paris, und die Sonne strahlte vom Himmel herab. Die Touristen mit ihren Fotoapparaten waren in ausgelassener Stimmung. Simeon dachte an das Gesicht, an Amerika. Das Kind ist der Vater des Mannes.

Ein Mann mittleren Alters mit dunkler Haut und langen krausen Haaren schob einen vollen Karren mit Obst und Gemüse vor sich her. Er sah den Männern ähnlich, die Simeon nach seiner Ankunft vor der Gare Saint-Lazare gesehen hatte. Waren diese Männer Algerier? Der Mann schwitzte unter der Last seines Karrens und sah Simeon an. Sein Blick wirkte weder freundlich noch feindselig, er war einfach nur interessiert. Ohne zu verstehen, warum, durchzuckte Simeon ein schlechtes Gewissen.

Er ging weiter und erinnerte sich daran, wie er selbst mit vierzehn Lebensmittel ausgeliefert und einen vollbeladenen Leiterwagen durch die Straßen Philadelphias gezogen hatte, in löchrigen Turnschuhen, abgetragenen Hemden und an den Knien zerrissenen Hosen. Er erinnerte sich an die Weißen, die in kleinen Gruppen beieinandergestanden und ihn angeglotzt hatten, und daran, wie er verdrossen und trotzig zurückgeglotzt und sie für ihre guten Kleider, ihr Nichtstun und ihre fragenden Blicke verabscheut hatte.

»Na, Kumpel?«

Auf der Terrasse des Le Tournon saß ein schwarzer mondgesichtiger Berg von einem Mann und grüßte ihn.

»Na«, erwiderte Simeon.

»Setz dich. Ruh deine Füße aus. Park deinen Hintern neben mir. Lass die Welt an dir vorbeiziehen und gönn dir einen Drink. Bist doch neu hier, oder?«

Simeon setzte sich zu dem Mann an den Tisch, mit Blick auf die Straße, und streckte seine langen Beine aus.

»Seit zwei Wochen.«

Der Berg lachte, es war ein warmes, freundliches Lachen, das aus der Tiefe seines Bauchs hervorgrollte.

»Seh ich doch sofort, wenn einer von euch gerade aus den Staaten kommt«, sagte er. »So aufgescheucht und frisch rasiert, wie ihr in euren weiten und tadellos gebügelten amerikanischen Hosen hier durch die Gegend lauft. Babe Carter.«

»Simeon Brown.«

»Simeon? Komischer Name. Andererseits, unsere Leute haben nun mal die komischsten Vornamen unter der Sonne. Aber wieso heißen wir eigentliche alle Carter, Brown, Smith, Johnson? Paar von diesen Sklavenhalterschweinen haben’s so richtig vermasselt. Was trinken? Bier? Garçon! Une bière! Schön, dass du hier bist, Simeon. Seh’s gern, wenn die Jungs die Misere hinter sich lassen. Ein Leidtragender weniger. Wünschte bloß, wir könnten alle Schwarzen aus den Staaten holen, das wär was. Wie lang willst du in Europa bleiben?«

»Mindestens ein Jahr.«

Babe lachte. »Wer ein Jahr hierbleibt, geht nie mehr zurück.«

»Seit wann bist du hier?«

»Seit zehn Jahren. Dabei wollte ich eigentlich nur zwei Monate bleiben.«

Babe brüllte vor Lachen. Seine gute Laune war ansteckend. Seine kleinen lustigen Augen blitzten vor Intelligenz. Er war um die vierzig und mit Abstand der gewaltigste Mann, den Simeon je gesehen hatte. Babe war ungefähr eins neunzig groß, und obwohl er den Eindruck machte, genauso breit zu sein, war er kein bisschen schlaff. Sein dünnes weißes T-Shirt sah aus, als würde es jeden Moment platzen, so gewaltig waren seine Arme und sein Brustkorb. Das krause Haar trug er raspelkurz, was seine runde Gesichtsform betonte.

»Zehn Jahre!«, triumphierte Babe donnernd. »Sah sie kommen, sah sie gehen, wie der alte Gibbon vielleicht sagen würde. Paris ist jedenfalls ’ne großartige Stadt, wenn man mithalten kann. Soll heißen, wenn man dem Alkohol, dem Sex, dem Essen und dem Wein gewachsen ist.« Er stieß einen Seufzer aus. »Was ich hier schon alles erlebt hab! Zierliche weiße Miezen aus den Staaten zum Beispiel, die gerade noch am Barnard College studiert haben, hier die Handbremse lösen und sich so richtig gehen lassen – aber so richtig, sag ich dir. Oder Weiße, die auf einmal für die Sache der Schwarzen brennen, jedenfalls, solange sie in Paris sind. Oder Jungs aus berühmten wohlhabenden Familien, die plötzlich nur noch Frauen und Wein im Kopf haben und in der Gosse landen. Hab aber auch gesehen, wie aus Pennern wieder anständige Leute geworden sind. Paris ist ein Katalysator. Entweder du schaffst es hier, oder du gehst zu Grunde. Aber was hat dich eigentlich dazu bewegt, den Ozean zu überqueren?«

Simeon lächelte und erzählte dem schwarzen Riesen zu seiner eigenen Überraschung, was er zuvor noch nie jemandem erzählt hatte.

»Ich hätte sonst jemanden umgebracht.«

Babe war verblüfft. Als er begriff, dass Simeon nicht scherzte, verdrehte er die Augen und hob die Hände. »Na so was! Hab überhaupt nichts gesagt. Bin auch kein bisschen neugierig, was solche Dinge angeht. Die Lektion hab ich in Harlem gelernt, hätte dort sonst nicht überlebt.«

Simeon fand Gefallen an Babe, seinem lebhaften Gesicht. Offenbar fühlte er sich sehr zu Hause in Paris. Zehn Jahre. Wie lang er selbst wohl bleiben würde? Und würde er danach wieder in die Staaten zurückkehren?

»Wieso bist du hierhergekommen?«, fragte er Babe.

»Ich? Weil ich die Misere hinter mir lassen wollte. Wär fast vom Fleisch gefallen, so feindselig waren die Leute. Also hab ich irgendwann zu meinen Füßen gesagt: ›Abmarschiert, Treterchen, hier gehöre ich nicht hin.‹ Wir sind nicht die Einzigen, du und ich. Gibt inzwischen eine ganze verlorene Generation in Paris, Kopenhagen, Amsterdam, Rom, München und Barcelona. Schwarze Jungs wie du und ich, die den Druck nicht mehr aushalten wollten, weißt du, was ich meine? Die gehen auch nicht mehr zurück. Gibt Tage, da sieht man hier so viele schwarze Amerikaner, dass man sich vorkommt wie in Harlem.«

Simeon zog an seiner Zigarette und staunte beim Anblick einer langbeinigen jungen Frau mit dunkler Brille und schwarzer Kurzhaarfrisur, die mit großem Selbstbewusstsein die Straße überquerte und auf das Café zukam. Das Leuchten dieser Frau, die Anfang zwanzig sein musste und von einer knisternden Aura, einer Art Kraftfeld, umgeben zu sein schien, versetzte ihm einen Schlag; ihr Gesicht und ihre nackten Beine strahlten vor Gesundheit. Sie war sich der Schönheit ihres Körpers bewusst, übertrieb jede Bewegung, wie ein Kind, das mit einem neuen Spielzeug spielt. Sie schien zu tanzen, als sie sich dem Eingang des Cafés näherte, dann entdeckte sie Babe, lächelte und verschwand im Tournon.

Simeon pfiff anerkennend.

»Hübsche Freundinnen hast du da, Babe.«

Babe lachte. »Wirst sie schon noch kennenlernen. Sie heißt Maria. Kommt aus Polen, will zum Film, die nächste Brigitte Bardot werden. Die gleiche Figur hat sie schon mal. Alle wollen mit ihr anbandeln, aber keine Chance. Sie sitzt meist mit ein paar polnischen Flüchtlingen im Café. Freunde der Familie, die mit Argusaugen über sie wachen.«

Schweigend tranken sie ihr Bier und beobachteten die Passanten. Simeon hatte das Gefühl, eingeweiht worden zu sein. Dies also war nun seine Stadt. Das Gift der Anspannung verließ bereits seinen Körper, er konnte spüren, dass er auf dem Weg der Besserung war und bald geheilt sein würde. Ein neuer Mensch würde aus ihm werden. Was für ein Mensch wohl, fragte er sich.

»Was hast du in den Staaten gemacht?«, fragte Babe.

»Ich war Zeitungsreporter.«

»Ist nicht ganz einfach, hier seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Hast du schon ’ne Vorstellung?«

»Ich habe ein bisschen gespart, außerdem schreibe ich für He-Man, ein Herrenmagazin. Du weißt schon: Sex, Sport, Sex, Autorennen, Sex, Waffen, Sex. Mein Redakteur meint, dass Paris allerhand Themen zu bieten hat, über die ich für ihn schreiben kann. Und du?«

»Ich hab ein Geschäft, einen kleinen Buchladen. Zeig ich dir noch. Aber jetzt lass uns reingehen. Ich will dich ein paar Leuten vorstellen.«

5

Maria stand direkt hinter der Tür. Sie spielte mit großem Einsatz Flipper, hämmerte auf die Knöpfe des Automaten ein und bewegte dabei energisch die Hüften hin und her. Sie beachtete Simeon nicht.

Das Café war ein Feuerwerk aus intensiven Grün-, Gelb- und Rottönen. Es war voll, laut und verraucht, die Wände zierten Malereien des Jardin du Luxembourg. Babe kannte hier offenbar jeden. Sie blieben vor mehreren Tischen stehen, an denen acht oder neun junge Männer und Frauen saßen, die Hälfte davon Amerikaner.

»Darf ich vorstellen, das ist Simeon, noch ein Flüchtling«, sagte Babe.

Simeon schüttelte reihum Hände. Babes Freunde waren leger gekleidet, die meisten von ihnen hätten einen Haarschnitt gebrauchen können. Sie sahen ihn freundlich an, einige aus geröteten Augen, aus Schlafmangel oder weil sie zu viel getrunken hatten. Sie waren ausnahmslos weiß.

»Setz dich zu uns«, sagte ein Mann namens Lou. Er hatte olivfarbene Haut, intelligente Augen und spielte mit einer der Frauen Schach.

»Ich komme aus New York«, sagte er. »Spiele hier Jazztrompete. Paris pulsiert und stagniert zugleich. Eigentlich will ich komponieren. In einem Jahr oder so, wenn ich nach New York zurückgehe, fange ich damit so richtig an.«

Ein Mann namens Clyde – rotes Gesicht, blonde Haare, Schnurrbart – fuhr seine Ehefrau an, die Jinx hieß. Er hatte einen starken Südstaatenakzent.

»Nur zu, mach weiter so, richte dich zugrunde, wenn du willst. Aber dass du mir ja keine Krankheiten anschleppst!«

Jinx war eine herbe New Yorker Schönheit mit kleinen, eng stehenden hysterischen Augen. Sie trug ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, der über ihre Schultern peitschte.

»Bitte keine Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit, Darling. Außerdem sind Kinder in der Nähe, mein Süßer.«

Jane, ihre sechsjährige Tochter, ließ die beiden nicht aus den Augen, wandte sich dann von ihren Eltern ab, ging zu Simeon und sah ihn ungerührt und eindringlich an.

»Was ist mit deinem Auge passiert?«, fragte sie.

»Ich hab’s geopfert.«

»Was heißt opfern?«

»Dass man etwas hergibt und im Austausch etwas dafür zurückbekommt.«

»Und was?«

»Alles andere.«

Sein Blick fiel auf Maria, die junge Polin, die ihre Hüfte gerade mit voller Wucht gegen den Flipperautomaten stieß. Sie drehte sich wütend um und wollte in den hinteren Teil des Cafés gehen. Als Babe nach ihr rief, blieb sie stehen.

»Maria, ich will dir jemanden vorstellen. Das ist Simeon. Er ist neu in der Stadt.«

Simeon stand auf und hielt ihr die Hand hin. Sie sah ihn seltsam an, schien aus irgendeinem Grund unschlüssig zu sein. Der Moment nahm kein Ende, und Simeon kam sich lächerlich vor, weil sie seine Begrüßung nicht erwiderte. Dann errötete sie, wie vor Wut, schüttelte ihm die Hand und machte wortlos auf dem Absatz kehrt.

Simeon war perplex. Babe lächelte, seine verschmitzten Augen verengten sich, er pfiff anerkennend.

»Sieh mal einer an, du hast mir wohl was verheimlicht. Was hast du denn mit der angestellt?«

Simeon war verwirrt, lachte und schüttelte den Kopf.

»Wenn ich das wüsste. Hab sie noch nie gesehen.«

6

Maria spielte wieder Flipper, als Simeon am nächsten Nachmittag ins Tournon kam. Ein paar Brasilianer, die er aus der Alliance Française kannte, saßen im hinteren Teil des Cafés, spielten Gitarre und sangen dazu. Er blieb neben Maria stehen und begrüßte sie: »Bonjour.«

Sie blickte hinter den getönten Brillengläsern zu ihm auf und wandte sich wortlos wieder dem Flipperautomaten zu. Sie trug ein schwarzes, enges Kleid, und er war fasziniert von der langen geschwungenen Linie zwischen Hüfte und Achsel. Ihre Haut leuchtete wie Phosphor.

»Wieso wollten Sie mir gestern nicht die Hand geben?«

Sie zuckte genervt mit den Schultern.

»Weil Sie so eingebildet sind«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Eingebildet?«

Er lächelte erstaunt und belustigt zugleich. »Wie kommen Sie darauf? Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Ich kenne Sie gut genug.«

Sie hatte einen starken polnischen Akzent und dehnte die Vokale. Die Situation schien ihr peinlich zu sein, so als wäre sie sich im Klaren darüber, dass nur sie allein wusste, wovon sie sprach.

»Ich habe Sie ein paar Mal gesehen. Mit hoch erhobenem Kopf, wie ein König. Warum geht er so, habe ich mich gefragt, so blind für die anderen Menschen, als wäre er etwas Besseres? Und da habe ich gedacht: Aha, schon wieder so ein eingebildeter Mann.«

Maria wurde rot und funkelte den Flipperautomaten an. Sie ärgerte sich über Simeon, der jetzt lachte. »Eingebildete Männer gefallen mir nicht«, sagte sie trotzig.

»Aber ich bin nicht eingebildet, ich habe mir nur den Nacken verzogen.«

»Pardon? Nacken verzogen? Was soll das heißen?«

»Die Krankheit der Könige. Aber egal. Trinken Sie ein Glas mit mir?«

Sie versetzte dem Automaten einen wütenden Schlag mit der flachen Hand.

»Merde! Schon wieder verloren! Immer das Gleiche. Immer! Wozu spiele ich eigentlich? Und ja, Sie dürfen mich einladen.«

Sie setzten sich an einen Tisch im hinteren Teil des Cafés. Simeon winkte den Brasilianern zu.

»Für mich Wodka«, sagte Maria.

Simeon war erstaunt.

»Um diese Uhrzeit?«

»Ich bin Polin!«, erklärte sie stolz.

Der Kellner brachte die Getränke.

»Ich muss bald los«, sagte Maria. »Bin verabredet mit meiner Pariser Mutter.«

»Pariser Mutter? Wer ist das?«

»Die Frau von meinem Pariser Vater. Und mein Pariser Vater ist ein polnischer Flüchtling und Freund meiner Familie in Warschau. Er passt auf mich auf, solange ich in Paris bin. Manchmal kommen wir zusammen hierher. Er ist groß, hat ein sehr strenges Gesicht. Gibt mir Geld, damit ich in Paris über die Runden komme, und in Warschau bekommt seine Familie Geld von meinem Onkel.«

»Sie sind nicht geflohen?«

»Nein.«

»Wollen Sie zurück?«

»Ich weiß noch nicht. Und Sie?«

»Mal sehen.«

Sie saßen einander gegenüber, Maria auf der gepolsterten Sitzbank, er auf dem Stuhl mit dem Rücken zum Eingang. Sie stützte sich auf den Tisch, betrachtete ihn und fragte:

»Was ist mit Ihrem Auge?«

»Wenn man nur eins hat, ist man besser dran. Weil man dann alles wie unter einem Vergrößerungsglas sieht. So kann man schöne polnische Frauen besser erkennen.«

Ihre Gesichtszüge hellten sich auf.

»Sie finden mich schön?«

Sie freute sich wie ein Kind.

»Ich finde Sie hinreißend«, sagte er.

Ihre Miene verdüsterte sich wieder.

»Das habe ich aber nicht gemerkt! So hoch, wie du die Nase trägst, so blind, wie du bist für die Welt!«

Sein schallendes Gelächter machte sie wütend.

»Wie alt bist du?«, fragte er.

»Vierundzwanzig. Warum?«

»Du hast etwas Kindliches an dir.«

»Kind sein ist gut«, sagte sie.

Simeon glaubte, aus ihrer Stimme einen Hauch von Trotz herauszuhören. Er wollte ihre Augen sehen.

»Wieso versteckst du deine Augen hinter getönten Gläsern?«

Sie zuckte mit den Schultern und sah an ihm vorbei zum Eingang des Cafés.

»Ich muss. Schlechte Augen. Ich werde blind.«

Das Wort fiel mit einer solchen Selbstverständlichkeit und so beiläufig, dass Simeon nicht sicher war, ob er sich verhört hatte.

»Blind?«

Sie sah ihn wieder an und wirkte gereizt. Offenbar wollte sie nicht darüber nachdenken.

»Ist eine lange Geschichte. Aber noch ist nichts entschieden. Die polnischen Ärzte konnten nichts für mich tun, haben mir aber gesagt, dass es französische Spezialisten gibt, die meine Augen vielleicht retten können. Ich bin in Behandlung. In ein paar Monaten werde ich operiert. Vielleicht kann man mir helfen. Wer weiß.«

Er war erschüttert. Sie sah es ihm an und lachte.

»Guck nicht so, du bist doch nicht auf meiner Beerdigung! Noch ist nichts sicher. Außerdem: Was zählt, ist heute. Ich will in der Gegenwart leben. Verstehst du? Ich will leben

»Was meinst du damit?«

»Ich will Spaß haben. Sorglos sein. Alles machen, was ich will. Lachen, singen, tanzen, bunte Lichter sehen. Ich will endlich Leichtigkeit im Leben, verstehst du? Vielleicht klingt das falsch. Aber das ist es nicht.«

Sie trank einen Schluck Wodka, dachte kurz nach und warf die Stirn in Falten.

»Hör zu. Für junge Leute wie mich gab es in Polen nicht viel Leichtigkeit. Erst kam der Krieg, und ich kann dir gar nicht sagen, wie schrecklich, wie barbarisch dieser Krieg war, ein Vernichtungskrieg, verstehst du? Mutter tot, Vater tot, Freunde tot, überall Ruinen. Und nach dem Krieg muss alles wieder aufgebaut werden. Wir waren arm und haben gefroren, alles war grau. Die Regierung hat gesagt: Wir müssen Opfer bringen, unsere Zukunft aufbauen. Ich kritisiere die Regierung auch nicht, ich bin kein Politiker, verstehst du? Aber wir wollen keine Opfer mehr bringen. Vielleicht sind wir nicht stark genug. Wir sind müde, wollen spielen, wollen Kinder sein. Das Leben darf nicht nur grau sein, manchmal braucht man auch Farbe im Leben.«

Sie hielt inne und atmete tief durch.

»Die Ärzte haben zu mir gesagt: ›Sie werden blind, in zwei, vielleicht drei Jahren sind Sie blind.‹ Und ich habe gesagt: ›Gut, dann werde ich eben blind, aber vorher will ich sehen. Vorher will ich Farben sehen, kein Grau mehr.‹ Deshalb bin ich nach Paris gekommen. Ich will spielen, ich will Spiele spielen wie ein Kind. Vielleicht Schauspielerin werden, und deshalb bin ich auf der Schauspielschule. Ich will in andere Länder reisen. Bunte Lichter sehen, tanzen, singen, lachen. Flipper spielen, verstehst du? Als ich klein war, in Polen, gab es keine Leichtigkeit, nicht einmal Flipperautomaten gab es damals.«

Zum ersten Mal war sie mehr für Simeon als ein hübsches Püppchen. Der Kontrast zwischen dem, was sie von außen betrachtet zu sein schien, und dem, was sie gefühlt und erlebt hatte, verblüffte ihn. Ihre Kindlichkeit war eine Maske; in ihrem Kopf trieben Albträume ihr Unwesen. Er dachte an seine eigenen Albträume, an das Porträt in seinem Zimmer. Er dachte an das Gesicht, das über viele Jahre hinweg der Mittelpunkt all seiner Träume gewesen war. Manchmal schwebte es einfach nur vor ihm. Manchmal saß es auf den Schultern der Menschen. Dann wusste Simeon, dass diese Menschen seine Nachbarn, seine Lehrer, manchmal sogar sein Bruder oder sein Vater waren. Wenn er im Traum über eine Wiese spazierte, an einem sonnigen Tag, tauchte es plötzlich hinter einem großen Stein auf oder lugte zwischen den Ästen eines Baums hervor. Manchmal stand es auch gleißend am Himmel, eine grässliche Sonne.

»Du bist Amerikaner, stimmt’s?«, fragte Maria.

»Ja.«

»Amerika ist kein bisschen grau, überall gibt es bunte Lichter. Und viel Komfort und große Häuser und große Autos, stimmt’s?«

»Ja.«

»Und warum bist du weggegangen?«

»Um dem Grau zu entkommen.«

»Du machst Witze.«

»Nein.«

II

I

In Philadelphia, als Simeon noch jung war, die Kinder auf der Tenth Street, unweit der South Street, in übergroßen Knickerbockern laut kreischend miteinander spielten und der Müll auf den Straßen vor sich hin faulte, begeisterte ihn vor allem das Spiel »Die Jagd«.

»Die Jagd«: ein Spiel, ein Sport, ein Zeitvertreib für schwüle Sommerabende, wenn sich die rote Sonne über die Dächer der Stadt senkte und die nahende Nacht mit Langeweile drohte. Die Jungen schwitzten und warfen den Ball träge hin und her, so fing es an, das war der Schlüssel zum Spiel. Auf polierten Marmortreppen saßen tratschende Alte, die mit fächelnden Handbewegungen Mücken und Fliegen verscheuchten. Klapperige Straßenbahnen fuhren polternd vorbei. Radios schmetterten Baseball-Spielstände, die »Jack Benny Show«, »The March of Time«, Jazz und an Sonntagen Elder Johnsons Gospelchor. Auf dem Gehweg, teilnahmslos die Jungen beobachtend, standen die Mädchen.

Hin und her flog der Ball, immer wieder hin und her, während die stickige Luft nicht nur ihre Haut erhitzte. Die Alten sprachen von der »Rassenfrage«, von »unseren Leuten« und »denen«. Verblasste, aber lebendige Erinnerungen an die anderen, die wahrhaftigen Fesseln. Die Mädchen beobachteten die Jungen und wurden unruhig. Warfen sich nervöse Blicke zu, wechselten Worte, lächelten sich an, und die Jungen bemerkten ihre lächelnden Münder und ihre Unruhe. Die Mädchen flüsterten und kicherten, und die Jungen sahen, wie sie flüsterten, und hörten, wie sie kicherten, und dann, ganz plötzlich, fing es an, wuchs die Anspannung, schwitzten und zitterten die Hände, beschleunigte sich der Herzschlag, schnürte die Hitze ihnen die Kehlen zu. Kein Wort fiel. Von außen betrachtet war alles unverändert. Aber ein Knistern lag in der schwülen Sommerluft, und alle wussten, dass die Jagd jeden Moment beginnen würde.

Dann wurde der Ball geworfen und schien in der Luft zu schweben. Ein Mädchen sprang vom Gehweg auf die Straße und schnappte ihn sich mit ausgestrecktem Arm. Lachend blieb sie zwischen den Jungen stehen, die sich in zwei Gruppen aufgeteilt hatten, und hielt ihnen herausfordernd den Ball entgegen. »Holt ihn euch, holt ihn euch!« Während die anderen Mädchen längst ans Ende der Straße gerannt waren. Und Gristle oder Joe oder Snakes sagten: »Okay, okay, Sarah, jetzt gib uns schon den Ball zurück!« Und dann lachte Sarah. »Holt ihn euch doch, wenn ihr euch traut!«

Die Jungen warfen sich einen Blick zu, zuckten mit den Schultern und näherten sich ihr grinsend. Sie hielt den Ball herausfordernd auf Armlänge. Die Jungen kamen immer näher, und wenn sie zum Greifen nah waren, jauchzte Sarah vor Schadenfreude auf, schleuderte den Ball mit aller Kraft den anderen Mädchen hinterher, lachte triumphierend und lief durch die Reihen der Jungen zu ihren Freundinnen.

»Holt ihn euch doch, wenn ihr ihn wollt!«, schrien die Mädchen.

Die Jungen sahen sich an, und einer von ihnen stellte fest: »Los, die schnappen wir uns!«

Dann setzten sie sich in Bewegung und trabten ohne große Eile hinterher. Die Mädchen kreischten entzückt und ängstlich und stürmten um die Ecke auf die South Street, außer Sichtweite. Die Jagd war eröffnet.

Wie weit sie rannten? Meilenweit, so jedenfalls war es Simeon immer vorgekommen. Um Ecken, über Plätze, große und kleine Straßen entlang, die Treppen der U-Bahnhöfe hinab und wieder hinauf in die Abenddämmerung. Sie rannten, bis ihnen beinah die Luft wegblieb, bis ihre Muskeln schmerzten, die schweißkalten Hemden an ihrer Haut klebten, und trotzdem rannten sie immer weiter, bis ihre Beine nicht mehr konnten, bis ihnen schwindelig wurde, rannten weiter und weiter, bis der tote Punkt überwunden war und sie wieder Luft bekamen. Die Weißen drehten sich nach ihnen um, gafften und schüttelten den Kopf. Autofahrer fluchten, Bremsen quietschten. Polizisten starrten ihnen misstrauisch hinterher: Müssen wohl was geklaut haben, diese rennenden Nigger!

Manchmal, wenn die Mädchen nicht mehr konnten, wurden sie langsamer und gingen nur noch. Dann hielten es die Jungen genauso. Sie wollten die Mädchen jetzt nicht mehr einholen, sondern nur im Auge behalten, dafür sorgen, dass der Abstand nicht größer wurde. Die Mädchen kicherten und flüsterten wieder aufgeregt, waren Komplizinnen, blickten sich nervös um, wollten sichergehen, dass sich die Jungen nicht näher heranschlichen. Ein Junge zum anderen: »Hat prächtige Beine, diese Reety!« Einer zum andern: »Guck dir mal Sarahs hübschen Pfannkuchenarsch an!«

Und so zogen sie durch die Stadt, durch die Viertel der Schwarzen und Weißen, vorbei an Italienern, Polen, Iren, Juden und Angelsachsen, vorbei an allen Klassen, Nationalitäten und Hautfarben. Schweiß rann ihre jungen Körper hinab. Die alten schmutzigen Hemden waren ihnen aus der Hose gerutscht. Ihre Augen glänzten, und in ihren Bäuchen loderte ein Feuer.

Schließlich erreichten sie den Stadtrand, die endlose Ödnis mit ihren grasbewachsenen, von Steinen, Dosen, Flaschen, Papier und anderem Abfall übersäten Brachflächen. Hier, auf dem Kipppunkt, wurden die Mädchen unsicher und ängstlich, wollten um Hilfe rufen, wollten nach Hause, zurück in Mutters sichere Arme. Mit schreckgeweiteten Augen blickten sie zu den Jungen, deren eingefrorenes Lächeln darüber hinwegtäuschte, wie sehr ihre Beine zitterten, wie unerträglich ihre Herzen pochten. Unaufhaltsam kamen sie näher.

Und dann drehten sich die Mädchen um und rannten los, stürmten wie im Traum und als stünde ihr Leben auf dem Spiel schreiend davon, fielen hin, rafften sich auf, rannten weiter. Dann rannten auch die Jungen los, behäbig wie Bullen, redeten nicht, scherzten nicht, weil sie die Mädchen nicht mehr nur im Auge behalten, sondern einfangen, festhalten, sich nehmen wollten. Im nachlassenden Licht der Dämmerung schrumpfte der Abstand zusehends. Die Mädchen riefen aus Leibeskräften um Hilfe, aber wer hätte sie hören können, und so gellten ihre Schreie über das brachliegende Ödland und in den immer dunkler werdenden Himmel hinauf. Der Junge an der Spitze machte einen Satz, schnappte sich das hinterste Mädchen und brachte es unsanft zu Fall. Nach und nach wurden alle Mädchen von gierigen Händen gepackt, festgehalten und ins Gras gestoßen. Sie reichten nicht für alle. Egal: Man konnte auch teilen. 

Was dann geschah, war Simeon stets wie eine Vergewaltigung vorgekommen, auch wenn es im Grunde keine war. Die Mädchen strampelten, kratzten, bissen, schlugen um sich. Die Jungen hielten sie fest, schoben ihre Röcke nach oben, zogen ihnen die Schlüpfer aus. Erschöpft und überwältigt ließ sich ein Mädchen nach dem anderen nehmen. Einbruch der Nacht, die sonderbaren Geräusche in der Stille des zerwühlten Grases. Schweiß vermischte sich mit Schweiß. Und dann war es vorbei. Inmitten von Dosen und Steinen lagen sie auf dem Rücken und starrten benommen in den sternenübersäten Himmel. Wie lange lagen sie dort, schweigend und voller Leben? Eine halbe Stunde, eine ganze vielleicht. Dann standen die Mädchen auf, strichen sich ihre Röcke in aller Ruhe glatt, warfen sich betretene Blicke zu und machten sich gemeinsam auf den langen Nachhauseweg. Kurz danach standen auch die Jungen auf und folgten ihnen.

2

Das Kind lehnt am Schlafzimmerfenster, blickt mit großen Augen in den Nachthimmel und fragt sich: Wo endet der Weltraum? Der Weltraum ist unendlich. Aber das ist unmöglich! Wann hat die Zeit angefangen? Die Zeit hat nie angefangen und wird auch nie enden. Aber das ist unmöglich! Woher sind die Menschen gekommen? Und warum?

Der Fluch der Empfindsamkeit, der Simeons Kindheit prägte. Seine schwere Kindheit.

Die große Familie zusammengepfercht in einem Haus mit fünf Zimmern. Grandpa und Grandma, Tanten und Onkel, Mom und Pop und fünf Geschwister. Eine große Familie. Arbeiter, Hausangestellte. Kaum Luft in diesem Haus und nur wenig Zuneigung. Verhängnisse des Alltags: Miete und Versicherung, Milch und Brot, ein kaputter Kühlschrank. Nach der Schule arbeitete Simeon für drei Dollar fünfzig die Woche in einem Lebensmittelladen und lieferte auch aus. Wenn er die Arbeit als Spiel auffasste, machte sie ihm sogar Spaß. Beim Ausliefern erfüllte er geheime Missionen, und die Konserven wurden zu Soldaten, die er in Reih und Glied gefechtsbereit in die Regale einsortierte. Samstags stöberte er durch die Regale der Stadtbücherei oder hörte sich Platten im Musiksaal der Logan Square Library an.

Die sechs Kinder schliefen in einem Zimmer, auf zwei Betten verteilt. Simeon hatte zwei Schwestern und drei Brüder, und weil er der Jüngste war, schlief er bei seinen Schwestern. Manchmal erkundeten seine ruhelosen Hände nachts den Körper seiner ältesten Schwester. Sie rührte sich nie, aber er war überzeugt davon, dass sie nur so tat, als würde sie schlafen. Die Kinder schliefen in ihrer Unterwäsche, wachten zwei- oder dreimal in der Nacht auf und fegten die Bettwanzen von den Laken.

Im Winter mussten die Jungen früh aufstehen, um den Herd in der Küche sauberzumachen, Feuer zu schüren und den Kessel im Keller anzuheizen. Danach setzten sie Wasser auf, machten ihr Frühstück, gesalzene Haferflocken, und gingen in die Schule. Die Winter waren gefährlich. Die Schlafzimmer wurden mit wackeligen Petroleumbrennern beheizt, die in der Nacht rot glühten. Viermal war der Brenner in Simeons Kindheit umgefallen, viermal war das flammende Petroleum über den Fußboden gezüngelt und hatte an den Möbeln und der Wand geleckt. Ein Wunder, dass niemand je ernsthaft verletzt worden war. Im Keller gab es Ratten, riesige Ratten aus den undichten Rohrleitungen der Kanalisation. Manchmal drangen sie bis ins Haus vor, sodass überall Fallen und Giftköder ausgelegt werden mussten. Als Simeon und seine Geschwister noch ganz klein waren, war eine Ratte zu ihnen ins Bett geklettert und hatte an der Hand von Simeons jüngster Schwester genagt. Es war seltsam, aber sie war davon nicht wach geworden.

Auf den Straßen und in der Schule herrschte Gewalt. Prügeleien, Bandenkriege, Kriege zwischen Schwarzen und Weißen. Unbegreifliche, sinnlose Gewalt. Simeon schreckte davor zurück.

Na los! Mach schon! Hoch die Fäuste!

»Simeon, wir treffen uns heute Abend an der Ecke. Zieh dir einen Anzug an, wir gehen tanzen.«

Er wollte nicht tanzen gehen. Tanzabende bedeuteten immer Ärger. Aber weil die anderen auf keinen Fall denken durften, dass er Angst hatte, musste er mit.

»Glaubt ihr, die Northsiders mischen den Laden auf?«, fragte er und versuchte möglichst gelassen zu klingen.

»Wen interessiert’s? Was’n los? Haste etwa Angst?«

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