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Gieriger Zorn

DCI Matilda Darke steht am Tatort eines Verbrechens von unglaublicher Brutalität: Ein Mann wurde bis zur Unkenntlichkeit verprügelt und erschossen, eine halb nackte Frau mit einem Bauchschuss sterbend zurückgelassen.
Dabei begann Matildas Tag bereits mit einem Schock: In der Zeitung stieß sie auf einen Artikel, der sie persönlich für den missglückten Ausgang einer Kindesentführung verantwortlich macht. Ihre Vorgesetzten zeigen sich von dem öffentlichen Druck beeindruckt: Es müssen Erfolge her, ansonsten wird die Mordkommission geschlossen. Und so wird die Ergreifung des Parkplatzmörders zum Schicksalsspiel für Matilda und ihre Kollegen …

»Ich habe mich gefreut Matilda Darke kennenzulernen. Sie ist ein starker Charakter mit wahrer Tiefe.« Robert Bryndza, Autor von Das Mädchen im Eis


  • Erscheinungstag: 01.01.2019
  • Aus der Serie: Dci Matilda Darke
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678032
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Jonas Alexander.

Für die Freundschaft, das Lachen und den Kaffee.

1

Die Abende von George und Mary Rainsford folgten seit über dreißig Jahren derselben Routine. Sobald die Melodie ertönte, die das Ende der Zehn-Uhr-Nachrichten verkündete, war es Zeit, zu Bett zu gehen. Mary begab sich sofort nach oben, während George noch den Kessel aufsetzte. Bis das Wasser kochte, machte er einen Rundgang durch das Erdgeschoss des Cottages. Er vergewisserte sich, dass Fenster und Türen verschlossen waren, die Kissen ordentlich auf dem Sofa lagen und er alle Geräte ausgeschaltet hatte. Dann sagte er den Guppys im Aquarium gute Nacht. Er brühte zwei Tassen Tee auf und ging hinauf. Doch nach heute Abend würde sich alles ändern. Ab morgen würde es keine lieb gewordenen Gewohnheiten mehr geben. Keine halbe Stunde lesen im Bett, bevor sie das Licht löschten, keinen Gutenachtkuss. Nur einen Abgrund, in dem ihr bisheriges Leben durch ein hohles Gefühl der Furcht ersetzt wurde.

Während George den Tee kochte, hatte er den Lauten von draußen gelauscht. Ein paar Schafe blökten auf einer Farm in der Nähe, ein Hund bellte, und irgendwo ertönte eine Autohupe. Es war beruhigend. Außerhalb ihres kleinen, gemütlichen Cottages ging alles seinen gewohnten Gang.

Vorsichtig stieg er mit einem Becher Tee in jeder Hand die Treppe hinauf.

»Hörst du das?«, fragte er, als er das Schlafzimmer betrat.

»Was denn?« Mary lag bereits im Bett und hatte ein zugeklapptes Colin-Dexter-Taschenbuch im Schoß liegen. Sie cremte sich gerade energisch die Hände ein.

Sie nahm ihren angestammten Becher entgegen und legte die Hände darum. »Meine Güte, George, du hast den Beutel heute aber kräftig ausgedrückt. Der ist ja stark genug für einen Ochsen.«

»Draußen hupt ein Auto.«

»Na ja, das kommt vor.«

»Es geht schon eine ganze Weile so.«

»Vielleicht ist es ein ungeduldiger Taxifahrer, der auf einen Fahrgast wartet. Du weiß ja, wie die sind.«

George stellte seinen Becher auf dem Nachttisch ab und trat ans Fenster. Er zog die dicken, schwarzen Vorhänge auseinander und steckte den Kopf durch den Spalt.

»Siehst du irgendetwas?«, fragte Mary nicht übermäßig interessiert.

»Nein. Diese neuen Solar-Straßenlampen taugen nicht viel.«

»Lass gut sein und komm ins Bett.«

»Das geht nicht. Ich kriege es nicht mehr aus dem Kopf.«

»Dann mach einfach Radio 4 an und lass es leise laufen.«

»Warte. Hör mal.« Er verstummte kurz, dann zog er den Kopf aus dem Spalt und sah seine Frau an. »Hörst du das?«

»Das Hupen? Ja. Weil du mich darauf aufmerksam gemacht hast.«

»Nein, hör genau hin! Es ist rhythmisch.«

»Es ist was?«

»Rhythmisch. Es folgt einem Muster. Das ist nicht einfach nur Gehupe. Da morst jemand.«

»Wie bitte?«

»Es ist Morsecode. Da! Es sind kurze und lange Signale. Pst, hör doch!«

Eine lange Minute verstrich in Schweigen, während sie sich beide auf den Klang der Autohupe in der Ferne konzentrierten.

»Ich höre bloß Gehupe.«

»Nein. Es ist ein SOS.«

»Was?«

»SOS im Morsecode. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Hör doch! Nach einer kurzen Pause fängt es wieder von vorne an. Da steckt jemand in Schwierigkeiten.«

George machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Schlafzimmertür.

»George, wo willst du hin?«

»Nachsehen. Vielleicht ist jemand verletzt.«

»Dann ruf die Polizei.« Mary folgte ihm die Treppe hinunter und versuchte dabei unbeholfen in ihren Morgenmantel zu schlüpfen.

»Man ruft doch nicht gleich die Polizei, bloß weil ein Auto hupt.«

»Nimm doch die Nummer der Meldestelle. Die nimmt man doch, wenn es kein Notfall ist. Wie lautet sie noch gleich, 111?«

»101. Das ist zwecklos, da ist immer besetzt. Man kommt nie durch. Da kann ich genauso gut selbst nachschauen.«

Furcht schlich sich in Marys Stimme und spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »George, geh nicht. Es ist stockdunkel. Du hast selbst gesagt, dass die Straßenlaternen nichts taugen. Man sieht ja die Hand kaum vor Augen.«

Er zog eine Schublade der Anrichte in der Diele auf, nahm eine Taschenlampe heraus und schaltete sie kurz ein, um zu überprüfen, ob sie funktionierte. Alles in Ordnung.

»Du weißt nicht, wer da draußen ist, George. Es könnte eine Falle sein.« Ihre Stimme klang jetzt eine Oktave höher. Sie hatte Angst.

»Ich kann das nicht einfach ignorieren, Mary.«

»Doch, kannst du. Es geht uns nichts an.«

»Weil alle so denken, geht unsere Gesellschaft kaputt. Die Menschen scheren sich nicht mehr darum, wie es anderen geht.«

»Du meinst, sie achten auf ihre Sicherheit.«

»Nein, sie sind gleichgültig. Wo sind meine Wanderstiefel?«

»Oh Gott, George. Bitte geh nicht.«

»Ich komme gleich wieder. Versprochen.«

»Dann zieh wenigstens deinen dicken Mantel an. Es ist kalt. Warte.« Sie rannte die Treppe hinauf und kam nach kurzer Zeit völlig außer Atem zurück. Sie war schon Jahre nicht mehr gerannt. »Nimm das Handy mit. Wenn du etwas siehst, das dir komisch vorkommt, ruf sofort die Polizei! Hast du mich verstanden, George Rainsford?«

»Laut und deutlich.«

Er schob den Türriegel zurück, hängte die Kette aus und schloss auf.

»Sperr hinter mir zu. Mach erst wieder auf, wenn ich zurückkomme.«

»Ich liebe dich, George, du alter Narr.«

»Ich bin gleich wieder da.«

Am Ende des Gartenwegs drehte George sich noch einmal um. Mary sah ihm durch einen Spalt zwischen den Wohnzimmervorhängen nach. Sie winkten sich kurz zu. Er hätte ihr die Ängste gerne erspart, aber er konnte nicht einfach weghören und einen Hilferuf ignorieren.

Im Freien klang das Hupen lauter, und George war mehr denn je davon überzeugt, dass es sich um die Morsezeichen für SOS handelte.

Er lauschte in alle Richtungen, um herauszufinden, woher das Geräusch kam. Er entschied sich dafür, links abzubiegen, überlegte es sich jedoch nach ein paar Schritten anders und ging in die entgegengesetzte Richtung.

Die Quiet Lane hatte keine Gehsteige. Es war eine steile, gewundene Straße, auf der man vorsichtig fahren musste, auch wenn die auf den Straßenschildern angegebene Geschwindigkeitsbeschränkung und die fehlenden Warnhinweise etwas anderes vermuten ließen.

George zog den Reißverschluss seines Mantels bis oben zu. Der Vollmond und eine Myriade an Sternen erhellten den wolkenlosen Himmel. Es war kalt. George sah den Hauch seines Atems, der mit wachsender Aufregung immer unregelmäßiger wurde. Mit jedem Schritt klang das Hupen lauter. Die Richtung stimmte.

Die Quiet Lane wurde an einer Kreuzung zur Wood Cliffe Cottage Lane. Die Querstraße, die Clough Lane, war sehr schmal, voller tiefer Schlaglöcher und aufgeworfenem Asphalt. Das Geräusch kam von dort.

Die von freien Feldern und kahlen Bäumen gesäumte Straße lag vollständig im Dunkeln. George zog die kleine Taschenlampe aus dem Mantel und schaltete sie ein. Er richtete den Strahl zu Boden und näherte sich am Straßenrand dem Unbekannten.

Das Hupen kam definitiv aus dieser Richtung. Er ging um eine Kurve und hob die Lampe. Ihr schwacher Schein fiel auf ein Auto, einen silbernen Wagen. Er erkannte das Modell sofort, es war ein Citroën Xsara. Sein Sohn fuhr einen in Weiß. Das war das Fahrzeug, dessen Hupe die Stille zerriss.

Er ging schneller und wollte schon einen Gruß rufen, als er wie erstarrt stehen blieb. Der Strahl der Taschenlampe war auf etwas neben der Straße gefallen. Zusammengesunken an einen Baum gelehnt saß ein Mann oder besser jemand, der nur noch entfernt an einen Mann erinnerte. Seine Gesichtszüge waren kaum noch erkennbar, so schrecklich war er zugerichtet. Die Nase war gebrochen, das linke Auge zugeschwollen und die rechte Gesichtshälfte derart von einer Kugel zerfetzt, dass nur noch eine blutige Masse übrig war.

George legte sich zitternd die Hand vor den Mund. Der metallische Geruch von Blut hing in der Luft. Er schmeckte ihn auf der Zunge.

Der Anblick, der sich ihm bot, war schockierend, und doch war George nicht in der Lage, den Blick davon loszureißen. Das war einmal ein Mensch gewesen, ein lebendes, fühlendes Wesen, das jemand unvorstellbar gequält und entstellt hatte.

Das laute Hupen riss George aus seiner Starre. Er richtete die Lampe auf das Auto. Die Beifahrerseite war blutverschmiert, das Fenster zersplittert. Langsam bewegte er sich um die Motorhaube herum. Die Fahrertür stand offen, George konnte aber niemanden auf dem Fahrersitz erkennen. Dennoch ertönte das SOS weiter.

»Großer Gott«, keuchte er.

Der zerschundene Körper einer Frau hing halb aus dem Wagen. Auf ihrem Gesicht und in ihren langen, wirren Haaren klebte halb getrocknetes Blut. Ihr Unterkörper war nackt und blutüberströmt. Sie presste eine Hand gegen ihren Bauch, und Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Mit der anderen Hand schlug sie rhythmisch auf die Hupe. Die Frau war halb aus dem Auto gefallen und hielt sich in einem unnatürlichen Winkel irgendwie auf dem Sitz. Sie blickte hoch und sah George aus verschwollenen Augen an. Dann hörte sie auf zu hupen, rutschte aus dem Wagen und sank auf dem Boden zusammen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor ihr Körper aufgab und sie das Bewusstsein verlor.

George klaubte das Telefon aus der Manteltasche und wählte den Notruf. Er nannte seinen Standort und versuchte zu erklären, was geschehen war, fand jedoch nicht die richtigen Worte. Danach rief er seine Frau an, um ihr Bescheid zu sagen, dass sie bald das Blaulicht der Polizei sehen würde, aber nicht in Panik geraten solle, da es ihm gut ging. Es war das erste Mal, dass er sie anlog.

2

CARL MEAGAN: EIN JAHR DANACH

von Andrea Fullerton

Morgen jährt sich das Verschwinden des siebenjährigen Carl Meagan zum ersten Mal.

Vor genau zwölf Monaten wurde Carls Großmutter Annabel Meagan in der Luxuswohnung seiner Eltern in Dore, Sheffield, erschlagen, als sie auf ihren Enkel aufpasste. Kurz nach seiner Entführung ging eine Lösegeldforderung ein. Mehrere Fehlentscheidungen der South Yorkshire Police führten jedoch dazu, dass die Entführer den Kontakt zur Familie abbrachen. Seither gibt es keine neuen Informationen über Carls Verbleib.

Carls Eltern – Philip, 37, und Sally, 34 – gingen im letzten Jahr bei der verzweifelten Suche nach ihrem einzigen Kind durch die Hölle.

»Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Er könnte überall sein. Ich bin seine Mutter. Ich sollte jederzeit genau wissen, wo er ist, aber ich habe keine Ahnung. Ich habe versagt«, so Sally. »Ich habe ihn nie allein gelassen. Ich habe ihn nie aus den Augen gelassen. Er war mein Leben, und jetzt fühle ich mich nur noch leer.«

Die Meagans glauben, dass sie im Vorfeld der Entführung mehrere Tage lang ausgespäht wurden. In der Tatnacht besuchten Philip und Sally eine Preisverleihung in Leeds, bei der der Geschäftsmann des Jahres der Grafschaft Yorkshire ausgezeichnet wurde. Sie wurden erst am folgenden Tag zurückerwartet, darum kümmerte sich Philips Mutter Annabel um Carl.

»Es gab keinen Grund zur Sorge. Wir wussten, dass er bei seiner Großmutter gut aufgehoben war. Sie war verrückt nach ihm, und er liebte sie abgöttisch. Wir machten uns überhaupt keine Sorgen um seine Sicherheit. Auch nicht um ihre. Als wir am Tag darauf zurückkamen, erwartete uns die Hölle auf Erden.«

Philip Meagan, der Besitzer der Bio-Restaurantkette »Nature’s Dinner«, wirft der South Yorkshire Police Versagen vor. »Die Ermittlungen wurden von Anfang an völlig falsch geführt. Von Carls Verschwinden bis zur Lösegeldforderung vergingen zwei Tage. Diese achtundvierzig Stunden waren ein Albtraum, und wir erhielten nicht die geringste Unterstützung von der Polizei. Sie haben uns einfach alleingelassen.«

Die Untersuchungen wurden von Detective Chief Inspector Matilda Darke geleitet, die nach der gescheiterten Lösegeldübergabe von der Polizei suspendiert wurde. Inzwischen ist sie wieder im Dienst und leitet die Mordkommission.

»Die Lösegeldforderung belief sich auf eine Viertelmillion Pfund. Es war nicht leicht, aber es gelang uns, das Geld zusammenzubekommen. Aus irgendeinem Grund änderten die Kidnapper ständig den Ort der Übergabe. Ich glaube, die Medienaufmerksamkeit war ihnen zu viel. Schließlich entschieden sie sich für den Graves Park. DCI Darke organisierte alles. Sie koordinierte die Überwachung, wir waren bereit. Wir waren uns sicher, unseren Carl bald in die Arme schließen zu können. Eine Stunde später kam sie zu uns und teilte uns mit, die Übergabe sei gescheitert. Wir warteten und warteten, aber wir hörten nie wieder etwas von den Kidnappern.«

Wie sich herausstellte, hatten die Entführer DCI Darke angerufen, um zu erfahren, ob das Lösegeld deponiert worden sei. Sie befanden sich jedoch am falschen Eingang des Parks, wurden panisch und flüchteten. Man hat nie wieder etwas von den Kidnappern und Carl gehört.

»Es ist absolut unverständlich, wie man dieser Frau erlauben konnte, den Dienst wieder aufzunehmen. Man hätte sie nicht nur suspendieren, sondern entlassen sollen. Sie ist völlig ungeeignet für den Beruf«, ergänzte Philip.

DCI Darke stand gestern für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Die Polizei von South Yorkshire teilte in einer kurzen Verlautbarung lediglich mit: »Es wurde alles versucht, um mit den Kidnappern in Verbindung zu bleiben und Carls sichere Rückkehr zu gewährleisten. Doch unvorhersehbare und unkontrollierbare Entwicklungen führten dazu, dass der Erfolg ausblieb. Der Fall Meagan ist allerdings weiterhin offen, und die Ermittlungen dauern an. Wir werden nicht aufhören, nach Carl zu suchen, bis wir ihn gefunden haben.«

Philip Meagan wandte sich mit einer direkten Botschaft an die Entführer. »Wenn Sie Carl noch in Ihrer Gewalt haben, sorgen Sie bitte gut für ihn. Falls Sie Bedenken haben, ihn uns zurückzugeben, flehe ich Sie an, ihn an einem öffentlichen Ort abzusetzen. Rufen Sie uns anonym an, und wir holen ihn ab. Es wird nicht weiter gegen Sie vorgegangen werden. Wir wollen nur unseren Sohn zurück.«

Sally fügte hinzu: »Carl, falls du das hier liest, möchte ich, dass du weißt, dass Mummy und Daddy dich sehr lieb haben. Selbst wenn es noch so lange dauert, wir werden dich finden.«

Zum Jahrestag von Carls Verschwinden findet in der Kathedrale von Sheffield ein Gedenkgottesdienst statt. Die Spieler des Fußballvereins Sheffield United, den die Familie Meagan sponsert, tragen beim Wochenendspiel in der Bramall Lane spezielle Schriftzüge auf ihren Trikots.

Nachdem Matilda Darke den Artikel zum dritten Mal gelesen hatte, warf sie die Zeitung auf den Fußboden, ließ sich aufs Sofa fallen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte am Vortag keineswegs »nicht für einen Kommentar zur Verfügung gestanden«. Die Reporterin hatte es nicht der Mühe wert gefunden, sie anzurufen. Für die Leserschaft musste es so aussehen, als entziehe sich Detective Chief Inspector Matilda Darke der Verantwortung für das Schicksal Carl Meagans und seiner Eltern, die um den Verlust ihres einzigen Kindes trauerten.

Sie schloss die Augen und holte tief Luft. In solchen Zeiten wünschte sie sich, sie hätte Alkohol im Haus. Aber nach einem Jahr, in dem sie schwer getrunken hatte, im Vollrausch umgekippt war und nur noch mit der Wodkaflasche in der Hand funktioniert hatte, hatte sie sich geschworen, keinen Tropfen mehr anzurühren.

Realistisch betrachtet war das eine vergebliche Hoffnung. Irgendwann würde Matilda wieder trinken, doch wenn sie bis dahin lernen konnte, nicht davon abhängig zu werden, war das schon ein Erfolg.

Adele Kean, Matildas engste Freundin, war zu ihrem Rettungsanker geworden. Sie hatte erkannt, dass Matilda auf dem besten Weg war, in den Alkoholismus abzugleiten, sie rechtzeitig am Kragen gepackt und zurückgerissen. Das Verschwinden von Carl Meagan war nur der Anfangspunkt eines ein Jahr andauernden Albtraums gewesen, der sich in eine selbstzerstörerische Lawine verwandelt hatte.

Sie schlug die Augen auf, und ihr Blick fiel auf das Hochzeitsfoto im Silberrahmen auf dem Kaminsims. Fünf Jahre zuvor, am glücklichsten Tag ihres Lebens, hatten sie und James Darke geheiratet. Drei Jahre später hatte man bei ihm einen inoperablen Gehirntumor diagnostiziert, und er war innerhalb von zwölf Monaten gestorben. Sein Tod war zufällig mit der gescheiterten Lösegeldübergabe für die Meagan-Kidnapper zusammengefallen, und Matilda war nicht ganz bei der Sache gewesen. Sie hätte den Lösegeldkoffer einem kompetenteren Detective überlassen und zum Trauern eine Weile Urlaub nehmen sollen, aber das hatte sie nicht fertiggebracht. Das Chaos, das sie zurückgelassen hatte, würde sie für den Rest ihres Daseins verfolgen. Sie musste mit den Konsequenzen ihrer Vorgehensweise leben.

Ihre Fehler im Fall Carl Meagan konnte sie nie wiedergutmachen.

Der Bilderrahmen war von getrockneten Tränen verschmiert, weil Matilda viele Nächte lang zusammengerollt damit im Bett gelegen hatte, während sie ihren lächelnden Ehemann an sich drückte und weinte. Zu sagen, sie habe ihn geliebt, klang billig. Sie hatte ihn nicht nur geliebt, sondern sehnte sich noch immer nach ihm, und manchmal nahm es ihr den Atem, wenn sie an ihn dachte. Ihr Körper, ihr Verstand und ihre Seele wünschten sich mehr, mit James zusammen zu sein, als sie das Leben selbst begehrte.

Es klopfte an der Tür. Ein nachdrückliches Klopfen zu so später Stunde konnte nur eins bedeuten.

»Tut mir leid, Sie stören zu müssen, Ma’am, aber es hat eine Schießerei gegeben.«

Detective Constable Scott Andrews stand in einem zerknitterten Anzug auf der Schwelle. Seine blonden Haare waren windzerzaust, und seine geröteten Wangen verrieten, dass er schon eine Weile in der Kälte stand. Es gab keine Begrüßung. Manchmal blieb keine Zeit dafür.

»Wo?«

»In der Clough Lane. Ringinglow.«

»Ich hole meine Sachen. Kommen Sie rein.«

Scott trat in die Diele und schloss die Tür hinter sich. Sein Blick fiel auf die drei prallen schwarzen Säcke in der Ecke.

»Misten Sie aus? Das nehme ich mir auch immer wieder vor. Ich kaufe neue Hemden für die Arbeit, komme aber nie dazu, die alten wegzuwerfen. Ich kriege kaum noch die Schranktür zu.«

»Das sind die Sachen meines toten Mannes. Ich gebe sie in die Altkleidersammlung.«

»Oh.« Er hätte sich beinahe verschluckt und errötete. »Tut mir leid. Ich wollte nicht … Na ja, na ja … ich meine …«

Matilda lächelte. »Ich mag es, wie Sie beim kleinsten Anlass erröten, Scott. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen, ehe Sie noch länger versuchen, aus dem Fettnäpfchen herauszuklettern und die Sache nur schlimmer machen.«

Es wehte eine kräftige Brise, als Matilda aus dem Haus trat. Sie schaltete die Alarmanlage scharf und verschloss die Tür hinter sich. Sie sah nach oben. Der Himmel war wolkenlos, und ein großer Vollmond strahlte auf die Stadt des Stahls herunter. Er erhellte die Nacht und tauchte alles in ein ätherisches Licht. Sie gingen die Zufahrt entlang, in der Scott den Wagen aus dem Fuhrpark abgestellt hatte.

»Wie schlimm ist diese Schießerei?«

»Ein Toter, eine Schwerverletzte.«

»Herrgott! Ich hasse Schusswaffen.«

»Guten Abend.«

Matilda wäre beinahe zu Tode erschrocken und wirbelte in die Richtung herum, aus der der Gruß gekommen war.

»Oh Gott, tut mir leid. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.« Jill Carmichael, Matildas Nachbarin, lud gerade ihr Auto aus. Sie schwankte unter der Last des neugeborenen Babys, das sie im Arm hielt, während sie mit der anderen Hand versuchte, sich mehrere Taschen über die Schulter zu schlingen.

»Das haben Sie nicht.«

»Wie geht es Ihnen?«

Matilda runzelte die Stirn. Diese Frage stellte Jill sonst nie. Warum zeigte sie auf einmal Interesse an … ah, der Zeitungsartikel. Sie hatte die Story über Carl Meagan und Matildas Versagen gelesen, und nun war sie scharf auf einen Exklusivbericht direkt von der Quelle. »Alles bestens«, log sie wenig überzeugend. »Meine Güte, was ist denn mit Ihnen passiert?«

»Bitte?«

»Das blaue Auge.« Matilda hatte ihre Nachbarin erst jetzt genauer in Augenschein genommen. Normalerweise mochte sie es nicht, mit den Nachbarn zu plaudern, aber solange dieses peinliche Gespräch andauerte, sollte es sich lieber um Jill drehen als um sie selbst.

»Ach, das ist nichts«, kicherte sie. »Ich habe ein paar Probleme, die Pfunde von der Schwangerschaft loszuwerden, deshalb habe ich wieder mit Kickboxen angefangen. Ehrlich gesagt, ich bin ein bisschen eingerostet, fürchte ich.«

»Ich glaube, ich würde lieber die Extrapfunde behalten.«

»Da haben Sie vermutlich recht.«

»Jill!«, schallte ein ungeduldiger Ruf aus dem Haus.

»Sebastian wundert sich wahrscheinlich, wo sein Essen bleibt. Wir plaudern ein andermal weiter.« Mit diesen Worten trat Jill die Autotür zu und eilte ins Haus. Sie schwankte unter dem Gewicht der Einkäufe, des Babys und der Takeaway-Schachteln.

»Ihre Nachbarin?«, fragte Scott, während sie in den Wagen stiegen.

»Scharfsinnig wie immer, Scott. Ja, das ist meine Nachbarin. Schauen Sie, sie geht in das Haus direkt neben meinem«, sagte sie lächelnd.

»Ich habe mir beim Kickboxen nie ein Veilchen geholt.«

»Ich bin sicher, das lag nicht daran, dass Ihre Gegner es nicht versucht hätten.« Scotts Stirnrunzeln teilte Matilda mit, dass er ihre kleine Stichelei nicht verstanden hatte. Ihr Lächeln wurde breiter.

Matilda wünschte, ein paar Pfunde zu viel wären alles, womit sie sich herumschlagen musste. Sie blickte auf ihre Bluse, unter der sich Fettwülste abzeichneten. Adele hatte versucht, sie dazu zu überreden, sich einer Spinning-Gruppe anzuschließen. Matilda war einmal hingegangen, hatte bis an den Rand einer ernsthaften Dehydrierung geschwitzt und ihren Po noch eine Woche danach jedes Mal gespürt, wenn sie sich hinsetzen wollte. Nie wieder. Am Ende war sie einfach einkaufen gegangen und hatte sich neue Klamotten zugelegt. An einem guten Tag hatte sie Größe vierzig und war ganz zufrieden (an einem schlechten zweiundvierzig), aber sie dachte immer noch voller Bedauern an den umwerfenden Armani-Hosenanzug Größe achtunddreißig zurück, der im Schrank hing. Eines Tages vielleicht wieder.

Als Scott losfuhr, warf Matilda einen Blick zurück auf ihr Haus, das nun in vollständiger Dunkelheit lag. Nebenan setzten Jill Carmichael und ihr Mann sich sicher gerade zum Abendessen hin, während das kleine Baby tief und fest schlief. Ein glückliches Paar, das sich später zum Fernsehen auf dem Sofa zusammenkuscheln würde. Sie beneidete sie und hoffte, dass sie ihr Glück zu schätzen wussten.

3

Um zur Clough Lane zu gelangen, musste Scott über die Quiet Lane fahren – eine lange, kurvenreiche Straße mitten im Nirgendwo. Sie war zu beiden Seiten gesäumt von hohen Bäumen und nur schwach beleuchtet, sodass bei den gefährlichen und unübersichtlichen Kurven Vorsicht angebracht war. Scott ging auf weniger als fünfzig Stundenkilometer herunter und kam sich trotzdem noch vor wie ein Rennfahrer.

Die Szene, die sich vor ihnen entfaltete, wirkte wie der Drehort eines Science-Fiction-Films. Schon von weiter oben sah Matilda im grellen Licht der Standscheinwerfer eine Truppe von Polizisten und Kriminaltechnikern in weißen Overalls, die ihrer Arbeit nachgingen.

Scott hielt in ausreichendem Abstand zum Schauplatz vor einer Straßensperre an.

Das war der Teil der Arbeit, den Matilda hasste: zum ersten Mal einen Tatort betreten. Scott hatte sie während der Fahrt über das Nötigste informiert, aber das war nichts im Vergleich zum Augenschein. Sie tat einen Schritt ins Unbekannte und hatte keine Ahnung, wie sie sich dabei fühlen würde.

Sie öffnete die Tür und stieg aus. Die steife Brise im bebauten Teil Sheffields war hier am Rande des Peak-District-Nationalparks zu einem heftigen Wind angeschwollen.

Zunächst verriet die Szene nicht allzu viel. Ein weißes Zelt verbarg die Hauptbühne. Innen warf gleißendes Licht die Schatten der Kriminaltechniker bei ihrer grausigen Arbeit an die Zeltplanen wie auf eine Leinwand.

»Ma’am.«

Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Vor ihr stand DS Aaron Connolly. Er reichte ihr einen weißen Tatort-Overall. Mal sehen, ob sie sich hineinquetschen konnte. Sie hielt Ausschau nach Scott, aber er war verschwunden. Wie lange hatte sie so in sich versunken dagestanden?

Aaron war ein hochgewachsener, gut aussehender Mann Mitte dreißig. Zu seinem Pech waren die Overalls der Spurensicherung nicht besonders modisch, und es gab sie auch nicht in allen Größen. Wer zuerst kam, mahlte zuerst, und den Atembeschwerden nach zu urteilen, die Aaron in dem engen Ding hatte, war er offenbar erst spät am Schauplatz aufgetaucht.

»Tut mir leid, dass wir Sie rufen mussten, Ma’am. Hat man schon etwas über einen neuen DI gehört?«

»Noch nicht. Der, der aus Middlesbrough zu uns stoßen sollte, hat es sich anders überlegt.«

»Echt? Warum?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er vom Zug aus die Häuser von Park Hills gesehen und beschlossen, lieber in den Norden zurückzukehren. Was ist hier los?«, fragte sie, um vom Thema eines neuen Detective Inspectors abzulenken. Ihr Verhältnis zu dessen Vorgänger war immer noch ein wunder Punkt.

Aaron wühlte in seiner Tasche nach dem Notizbuch. »George Rainsford, ein alter Knabe, der in einem der Cottages wohnt, hörte eine Autohupe, als er zu Bett gehen wollte. Das Gehupe nahm kein Ende, und ihm fiel auf, dass es ein Muster hatte. Er erkannte den Rhythmus, ein SOS in Morsezeichen. Er beschloss nachzusehen und entdeckte eine Frau, die kaum bei Bewusstsein war, aber noch die Hupe betätigte, außerdem einen toten Mann neben der Straße. Beide waren übel zugerichtet und hatten mehrere Schusswunden. Die Frau wurde ins Northern General Hospital eingeliefert, doch der Mann war bei unserer Ankunft bereits tot.«

Matilda war sicher, Aaron noch nie so lange am Stück reden gehört zu haben. »Dann sollte ich mir die Sache besser mal ansehen. Wer ist vor Ort?«

»Wir haben ein komplettes Team von der Spurensicherung da. Es ist vor Kurzem eingetroffen, und wie es aussieht, werden sie die ganze Nacht brauchen. Dr. Kean und ihre Assistentin sind ebenfalls da, und irgendwo muss auch der leitende Kriminaltechniker sein.«

Matilda dachte nach. Eine steile Falte stand auf ihrer Stirn, während sie überlegte, welche weiteren Schritte nötig waren. »Ich will eine ausführliche Aussage des Mannes, der sie gefunden hat. Wie hieß er noch?«

»George Rainsford«, erwiderte er nach einem Blick in sein Notizbuch. »Sian hat ihn mit aufs Revier genommen. Er war ziemlich fertig. Ich bezweifle, dass sie heute Nacht noch etwas Brauchbares aus ihm herausbekommt.«

»Okay. Rufen Sie Sian an und fragen Sie, wie es ihm geht. Wenn er nicht in der Lage ist, heute Nacht noch eine Aussage zu machen, soll sie ihn von der Streife nach Hause bringen lassen. Wir vernehmen ihn dann morgen früh. Gibt es weitere Zeugen?«

»Nein.«

»Wie ich sehe, sind noch keine Gaffer da. Hat denn sonst niemand die Schüsse gehört? Oder Schreie?«

»Sieht nicht so aus. Die Gegend ist ziemlich abgelegen.«

»Haben wir schon Klinken geputzt?«

»Es gibt hier nicht viele Häuser, aber ich habe ein kleines Team zusammengestellt, das die Runde macht.«

Matilda fühlte sich langsam überflüssig. »Wissen wir, wer die Opfer sind?«

Aaron sah wieder in seinem Notizbuch nach. »Ich habe das Nummernschild durch die automatische Erkennung laufen lassen. Ich warte noch auf die Information, auf welcher Strecke der Wagen hierher gelangt ist. Laut Zentralregister ist er auf einen gewissen Kevin Hardaker zugelassen, wohnhaft in der Broad Elms Lane in Bents Green.«

»Nicht weit weg von hier.«

»Nein.«

»Wer ist die Frau?«

»Ich habe keine Ahnung. Es befindet sich nichts im Auto, das auf sie hinweist. Keine Handtasche, keine Geldbörse, nichts. Ich vermute, es ist seine Ehefrau.«

»Denken Sie an einen Raubüberfall?«

»Ich weiß nicht. Mr. Hardaker trägt eine sehr teuer aussehende Uhr, und seine Brieftasche liegt mit Geld und Kreditkarten im Handschuhfach. Mrs. Hardaker hat ihren Ehering noch am Finger.«

»Wie geht es ihr?«

»Als wir eintrafen, war sie bewusstlos. Laut Mr. Rainsford hat sie mit letzter Kraft die Hupe bedient. Sie ist zusammengebrochen, als er ankam. Constable … die Blonde, die Polin, kann ihren Namen nicht aussprechen … ist im Krankenwagen mitgefahren. Sie hat mich angerufen, ein paar Minuten vor Ihrer Ankunft. Mrs. Hardakers Lunge ist kollabiert, sie hat innere Blutungen, mehrere gebrochene Rippen, und das ist nur das, was die Sanitäter feststellen konnten. Gott weiß, was sie noch alles finden, wenn sie sie gründlich untersuchen. Es sieht nicht gut aus.«

»Verdammter Mist. Okay. Gute Arbeit, Aaron.« Sie klopfte ihm auf die Schulter und ging auf das weiße Zelt zu, das den Tatort abschirmte.

Als Matilda eintrat, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Kevin Hardakers Leiche lag seltsam verkrümmt da. Seine Gliedmaßen standen in unnatürlichen Winkeln ab, sein Gesicht war eine blutige Masse. Nicht einmal seine eigene Mutter würde ihn so identifizieren können.

Die Kriminaltechniker hatten die Leiche bereits fotografiert und ihre Hände und den Kopf in Plastik gehüllt, um Beweismaterial zu sichern, das beim Transport vom Tatort in die Gerichtsmedizin hätte verloren gehen können.

Matilda war überrascht, die Pathologin Adele Kean zu sehen, die sich gerade über den Toten beugte. Normalerweise blieb es den Kriminaltechnikern überlassen, die Spuren am Tatort zu sammeln, während Adele in den vergleichsweise warmen Obduktionsräumen auf sie wartete. Matilda forderte Adele nur in Extremfällen an.

»Was machst du denn hier?«

»Sian hat angerufen und gesagt, es sei ziemlich schlimm. Ich dachte, ich komme mal besser vorbei.«

Matilda betrachtete Kevin Hardakers entstellten Leichnam. »Was kannst du mir über den armen Kerl erzählen?«

Adele schüttelte erschüttert den Kopf. »Wo soll ich anfangen? Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber der Täter hat äußerst brutal auf ihn eingeschlagen. Oberkörper und Kopf sind am schlimmsten zugerichtet. Hier klebt überall Blut, der Täter hat sich also Zeit genommen und ihn vor sich her getrieben. Es sieht so aus, als wäre Hardaker wie ein Fußball durch die Gegend getreten worden.«

»Verdammt«, murmelte Matilda.

»Er hat zwei Schusswunden. Eine Kugel traf ihn in die Brust, die zweite hat ihm förmlich den Hinterkopf weggesprengt«, erklärte Adele vollkommen sachlich.

»Waren die Schüsse die Todesursache?«

»Zum jetzigen Zeitpunkt sieht es so aus. Angesichts der heftigen Schläge ins Gesicht war er wahrscheinlich bereits vor dem ersten Schuss bewusstlos.«

»Hoffen wir es.« Matilda stand wie angewurzelt da. Der Tod gehörte zu ihrem beruflichen Alltag, aber das Maß an Brutalität, zu dem manche Menschen fähig waren, schockierte sie immer wieder. Adeles Gelassenheit war erstaunlich.

»Sein linkes Auge ist zugeschwollen. Von seinem rechten ist nichts mehr übrig. Meiner Meinung nach hat er nicht einmal gemerkt, dass eine Waffe auf ihn gerichtet wurde. Ich werde versuchen, die Obduktion gleich morgen früh durchzuführen. Dann wissen wir mehr.«

»Danke, Adele.«

»Keine Ursache«, antwortete sie und legte ihrer besten Freundin tröstend den Arm um die Schulter. »Was hat es mit diesem SOS-Ruf auf sich, von dem alle reden?«

»Die Frau hat SOS in Morsezeichen gehupt. So hat sie den Mann, der sie gefunden hat, auf sich aufmerksam gemacht.«

»Sieh mal einer an, ich wusste gar nicht, dass überhaupt noch jemand Morsezeichen verwendet. Das habe ich zum letzten Mal auf der Titanic mitbekommen.«

»Ach, Adele, so alt bist du nun auch wieder nicht«, sagte Matilda mit einem Anflug von Lächeln.

»Ich meine den Film, du vorlaute Göre. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen.«

Die Vordertüren des silbernen Citroën Xsara standen weit offen. Matilda ging um den Wagen herum und inspizierte ihn. An beiden Seiten der Karosserie klebten Blutspritzer. Am Heck bedeckten sogar große Flecken den Kofferraum.

Matilda stockte. An den Überresten der Heckscheibe des Wagens pappte ein Aufkleber mit dem Schriftzug »Kleiner Frechdachs an Bord«. Kevin Hardaker hatte offensichtlich ein kleines Kind, vielleicht mehr als eines. Sie schloss fest die Augen, um das Bild eines kleinen Jungen zu vertreiben, der am frühen Verlust seines Vaters verzweifelte. Eines Vaters, der ihn seinen kleinen Frechdachs genannt hatte.

»Na schön, Kevin Hardaker saß also am Steuer …«

»Woher weißt du das?«

»Zunächst einmal habe ich eine hervorragende Assistentin, der aufgefallen ist, was ich dir gleich zeigen werde. Er wurde mit Gewalt aus dem Wagen gezerrt, als er noch angeschnallt war. Wenn du die Leiche genauer betrachtest, siehst du, wo sich der Sicherheitsgurt in den Hals gegraben hat, außerdem findet sich an der Fahrerseite Blut daran.«

»Okay.«

»Die Blutspritzer am Auto deuten darauf hin, dass er zum Heck des Wagens geprügelt oder getreten wurde. Wie du siehst, wurde der Angreifer immer brutaler. An deiner Stelle würde ich dafür sorgen, dass die Spurensicherung die Spritzmuster ausführlich dokumentiert …«

»Das haben wir schon.« Der Zwischenruf kam von einem der Kriminaltechniker, die sich gerade dem Rücksitz widmeten.

Adele zuckte mit den Schultern und fuhr fort. »Als er das Heck erreicht hatte, wurden die Schläge noch brutaler. Davon zeugt auch der Zustand des Wagens. Die Karosserie ist richtiggehend verbeult. Als der Angreifer mit Hardaker fertig war, stieß er ihn zu Boden – an der Stelle, wo er jetzt liegt –, und gab ihm mit zwei Kugeln aus nächster Nähe den Rest.«

»Was ist mit dem Blut auf der anderen Seite des Wagens?«

»Ich vermute, das stammt von der Frau. Die Kriminaltechnik hat Proben genommen.«

»Kannst du schon mehr über die Waffe sagen?«

»Nein. Wir haben ein paar Hülsen gefunden, und da ich keine Austrittswunden erkennen kann, nehme ich an, dass die Kugeln noch im Körper stecken. Ich bin keine Ballistikexpertin, darum werde ich ein wenig recherchieren müssen.«

»Was glaubst du, wie lange der Angriff auf Kevin Hardaker gedauert hat?«

Sie blies die Wangen auf. »Keine Ahnung. Möglicherweise nur ein paar Minuten, es könnten aber auch zehn oder mehr gewesen sein. Das hängt auch davon ab, ob es einen Wortwechsel zwischen Angreifer und Opfer gab.«

»Was hat Mrs. Hardaker getan, während ihr Mann zusammengeschlagen wurde? Selbst wenn der Täter den Autoschlüssel an sich genommen und sie eingesperrt hätte, hätte sie sich doch befreien können. Gab es einen Komplizen?«, fragte Matilda sich laut.

»Bis jetzt haben wir keine Spuren an Mr. Hardaker entdeckt, die darauf hinweisen würden. Das könnte sich bei der Obduktion natürlich ändern. Wir haben allerdings einen halben Schuhabdruck auf seiner Brust gefunden. Möglicherweise kann ich daraus die Schuhgröße ableiten, ich bin allerdings nicht besonders optimistisch.«

»Also gab es entweder einen zweiten Täter, der die Frau in Schach hielt, während Mr. Hardaker zusammengeschlagen wurde. Oder sie saß einfach nur da und ergab sich in ihr Schicksal.«

»Das herauszufinden fällt glücklicherweise in deinen Zuständigkeitsbereich, DCI Darke, nicht in meinen.« Adele machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder zur Leiche von Kevin Hardaker, während Matilda geistesabwesend zurückblieb.

»Ma’am?« Constable Rory Fleming riss sie aus ihren Gedanken.

»Guten Abend, Rory. Verdammt noch mal, werden Sie eigentlich von Calvin Klein gesponsert, oder was?«, fragte sie und wedelte den kräftigen Duft weg, den er verströmte.

»Verzeihung?«

»Sie müssen doch nicht gleich in dem Zeug baden.«

»Genau genommen ist es Paco Rabanne.«

»Ist das Spanisch für Abwasser?«

Er zog seinen Kragen vor und schnüffelte an sich selbst. »Ich finde, es riecht sehr gut, sehr sexy.«

»Seit wann ist ein Tatort sexy? Hören Sie, Rory, tun Sie mir den Gefallen, fahren Sie zum Northern General und erkundigen Sie sich, wie es Mrs. Hardaker geht.«

»Wird gemacht. Ich dachte, Sie würden das hier sehen wollen.« Er reichte ihr eine Brieftasche, die in einem Beweismittelbeutel steckte. Sie war aufgeklappt, sodass man den Führerschein sehen konnte.

Matilda betrachtete das Foto. Sie hatte den Mann nie zuvor gesehen. »Ein gut aussehender Bursche.« Ein Anflug von Traurigkeit lag in ihrer Stimme.

»Das war er wohl.«

»Wohin ist Scott verschwunden?«

»Er ist drüben bei der Kriminaltechnik.«

»Okay. Sagen Sie ihm, er soll einen Wagen und einen Opferschutzbeamten auftreiben. Ich will zu den Hardakers nach Hause fahren. Wenn sie wirklich Kinder haben, sind die sicher schon ganz krank vor Sorge.«

Ein greller weißer Blitz flammte weiter oben an der Straße auf und unterbrach sie. Matilda hob den Blick und sah einen Mann, der eine Kamera auf sie richtete, offensichtlich ein Journalist.

»Mist«, fluchte sie und kehrte ihm den Rücken zu. »Wie haben die so schnell Wind davon bekommen?«

»Ich habe heute Abend die Story über Sie im Star gelesen«, bemerkte Rory.

»Sie und alle anderen auch, zumindest den Blicken nach zu urteilen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen deswegen. Es glaubt sowieso niemand den Scheiß, den die drucken. Wissen Sie, was meine Mum immer sagt?«

»Dass die Zeitung von heute der Schnee von gestern ist?«

»Woher haben Sie das gewusst? Kennen Sie meine Mum?«, fragte Rory verdutzt.

»Nein. Ich wusste einfach, dass einer von euch das irgendwann sagen würde. Ich hätte glatt Geld darauf gewettet.« Sie lächelte. »Jetzt sehen Sie zu, dass Sie zum Krankenhaus kommen.«

Matilda zückte ihr Handy und suchte im Adressbuch nach einer bestimmten Nummer. Mit einem Auge behielt sie den Journalisten im Blick, um sicherzugehen, dass er nicht versuchte, sich dem Tatort zu nähern.

»Ma’am, es tut mir leid, dass ich mich so spät noch melde«, sagte Matilda, als endlich jemand an den Apparat ging.

»Wer ist da?«, fragte Assistant Chief Constable Valerie Masterson mit rauer Stimme. Sie klang verschlafen. Offensichtlich hatte sie den Anruf als Notfall betrachtet und gar nicht erst auf das Display gesehen, wer ihren kostbaren Schlaf störte.

»DCI Darke, Ma’am. Es hat eine Schießerei gegeben.«

Die Feststellung wirkte besser als ein Eimer kaltes Wasser. Plötzlich klang die Assistant Chief Constable hellwach.

»Schießerei? Wo? Wer?«

»Ich bin in der Clough Lane, in Ringinglow.«

»Ich weiß, wo die Clough Lane ist«, blaffte ihre Chefin.

»Wie Sie wissen, fehlen mir ein paar Detectives, und ich brauche mehr Leute. Ich habe mich gefragt …«

»Sprechen Sie nicht weiter, Matilda. Ich wollte morgen früh zu allererst mit Ihnen reden. Die Mordkommission existiert leider nicht mehr.«

4

Ein Schrei riss Martin Craven aus dem Schlaf. Erschrocken und mit pochendem Herzen fragte er sich, wo er war.

Ein weiterer Schrei ließ ihn aufspringen. Er musste auf dem Sofa eingeschlafen sein. Martin rannte aus dem Wohnzimmer und nahm je zwei Stufen der Treppe auf einmal. Er wusste genau, dass er ins Obergeschoss musste.

Martin stürmte in die kleine Kammer und schaltete das Licht ein. Sein jüngster Sohn Thomas, der acht Jahre alt war, saß aufrecht im Bett.

Sein Gesicht war rot angelaufen, es glänzte vor Schweiß, und Tränen liefen ihm über die Wangen. »Ich hatte einen schlimmen Traum«, sagte er laut. Er war zu verängstigt, um sich in Gebärdensprache auszudrücken.

Martin rannte zu ihm, setzte sich an die Bettkante und legte die Arme um ihn. Er zog ihn dicht an sich und versuchte, ihn zu trösten, bevor seine Rufe die übrigen Bewohner des Hauses aufweckten.

Er ließ Thomas kurz los, damit sein Sohn ihm von den Lippen ablesen konnte. »Alles in Ordnung, Thomas, beruhige dich. Es war nur ein Traum. Du musst keine Angst haben«, sagte er mit deutlichen Lippenbewegungen.

»Jemand war hinter mir her …«

»Keine Sorge, Thomas. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Es sind nur Träume. Sie sind nicht echt. Du bist in Sicherheit.«

Thomas schniefte und wischte sich die Nase mit dem Ärmel seines Batman-Schlafanzugs. »Ich hatte einen Unfall«, sagte er beinahe unhörbar.

Martin zog sanft die Avengers-Bettdecke weg und sah die nassen Flecken auf der Pyjamahose und dem Spannbetttuch. »Das macht doch nichts. Na komm, steh auf, dann bringen wir das wieder in Ordnung.« Er sprach gleichzeitig laut und nutzte Gebärden.

»Bist du böse auf mich?«

»Natürlich nicht.« Er drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. »Wasch dich und zieh dir einen frischen Schlafanzug an. Ich wechsle das Bettzeug, dann treffen wir uns in der Küche auf ein Glas Milch und ein paar Oreos.«

Thomas’ Augen leuchteten auf. »Nur wir zwei?«

»Nur wir zwei.«

Thomas sprang aus dem Bett. Die Aussicht auf Milch und Kekse munterte ihn auf. Er nahm seine beiden Hörhilfen vom Nachttisch und steckte sie in die Ohren, während er ins Badezimmer trottete.

Martin zog die Bettdecke und das Spannbetttuch ab. Bevor er sie nach unten in die Waschküche brachte, warf er einen Blick ins Schlafzimmer. Er rechnete damit, seine Frau dort tief schlafend vorzufinden. Sie war nicht da. Das Bett war unbenutzt. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es beinahe Mitternacht war.

Martins Frau hätte seit mehr als vier Stunden zu Hause sein müssen.

Matilda und die Detective Constables Scott Andrews und Joseph Glass brauchten weniger als fünf Minuten, um vom Tatort in die Broad Elms Lane zu gelangen.

Matilda hatte auf eine Opferschutzbeamtin gehofft, vor allem für den Fall, dass die Hardakers kleine Kinder hatten. Ein über eins achtzig großer, klapperdürrer, beschränkt wirkender Typ mit Bartstoppeln und Hornbrille war von Natur aus wohl kaum mit der Fähigkeit gesegnet, verängstigten Kindern Trost zu spenden, die nach ihren Eltern schrien. Es war auch nicht besonders zuträglich, dass der eilig rekrutierte DC Glass stank, als käme er gerade aus dem örtlichen Pub.

»Wann haben Sie den Opferschutzkurs absolviert, Glass?«

»Vor ein paar Wochen, Ma’am.«

»Ist das Ihr erster Einsatz?«

»So ist es«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich habe eine Menge Kurse absolviert, seit ich bei der Polizei angefangen habe. Außerdem konnte ich die Ausbildungszeit verkürzen. Ich weiß, was ich tue.«

»Haben Sie selbst Kinder, Glass?«

»Nein. Ich lebe allein mit meiner Schildkröte.«

DC Andrews kicherte auf dem Fahrersitz, während Matilda spürte, wie ihr ein Spannungskopfschmerz den Nacken hinaufkroch.

Seit sie erfahren hatte, welches Schicksal der Mordkommission bevorstand, kochte sie innerlich vor Wut. Matilda hatte das »Investigation Team (South Yorkshire)« fünf Jahre zuvor mit aufgebaut, jetzt wurde es einfach gestrichen, geschlossen, getilgt.

Dass die Mordkommission auf der Kippe stand, war allgemein bekannt. Trotzdem war Matilda insgeheim zuversichtlich gewesen, dass Assistant Chief Commissioner Masterson einen Weg finden würde, sie zu retten, wenn sie die Verantwortlichen nur intensiv genug bearbeitete.

Die überregionale Presse war nicht gerade zimperlich mit der Polizei von South Yorkshire umgegangen. Durch ihren Anteil an der Katastrophe von Hillsborough und dem beispiellosen Fall von Kindesmissbrauch in Rotherham war die Truppe in die Kritik geraten. Budgets waren gekürzt, unnötige Projekte eingestellt und Spezialabteilungen verkleinert oder geschlossen worden. Nicht einmal die Polizeihunde blieben verschont. Etliche Tiere standen vor dem vorzeitigen Ruhestand. Anscheinend gehörte nun auch die Mordkommission zu den betroffenen Ressorts. Was bedeutete das für Matildas Zukunft?

Sie dachte an ihr Team. Aaron und Sian waren äußerst engagierte Sergeants, die vom ersten Tag an bei der Mordkommission gearbeitet hatten. Es wäre eine Verschwendung ihres Talents, wenn sie wieder gegen Diebe und überhebliche kleine Drogendealer in den sozialen Brennpunkten ermitteln müssten. Matilda nahm sich vor, am Morgen ein eingehendes Gespräch mit der Chief Commissioner zu führen, um beurteilen zu können, wo sie standen.

Die Broad Elms Lane war eine malerische Straße. Die Anwohner schienen sich gut um ihre Grundstücke zu kümmern. Rasen und Hecken waren sorgfältig geschnitten, die Zufahrten gepflegt, die Gehsteige gekehrt. Türen und Fenster glänzten, und nirgendwo lag Unrat herum. Es sah aus, als rechneten die Anwohner jederzeit mit königlichem Besuch.

Matilda stieg aus dem Wagen und sah sich um. In den meisten Häusern brannte kein Licht. Es war ja auch beinahe Mitternacht. Die Brise hatte weiter aufgefrischt, und Matilda fröstelte. Vielleicht lag es auch an der Aufgabe, die vor ihr lag, diesem Eindringen in das Unbekannte, das sie hinter der Tür des Hardaker-Hauses erwartete. Kleine Kinder, Teenager, ein Baby? Der Besuch würde nicht leicht werden.

Im Eingangsbereich herrschte formvollendete Symmetrie. Zwei kleine Topffarne standen links und rechts der Tür mit zweigeteiltem Buntglasmuster, und selbst die Hausnummer 101 passte ins Bild. Die geschotterte Einfahrt war mit einem Rechen geglättet worden, jedes Steinchen lag an der rechten Stelle. Die perfekt gestaltete Fassade eines Hauses, das von außen wie das Heim einer anständigen Familie wirkte.

Das Anwesen lag im Dunkeln, nur ein straßenseitig gelegener Raum im Erdgeschoss mit geschlossenen Gardinen war schwach beleuchtet. Das Geräusch der Türklingel hallte durch das Haus und die Nacht. Matilda fragte sich, wie viele Vorhänge auf der anderen Straßenseite in diesem Moment einen Spalt weit aufgezogen wurden. Um diese Zeit kam sicher nicht oft jemand zu Besuch. Drei gut gekleidete Personen mit grimmigen Mienen schrien geradezu nach Polizisten in Zivil, die schlechte Nachrichten überbrachten.

Die Tür ging auf, und Matilda sah sich zu ihrer Überraschung einer hochgewachsenen Frau gegenüber, die wie sie ungefähr Anfang vierzig sein musste. Eine Sekunde lang stand die Polizistin verwirrt und von der Dielenlampe geblendet da. Dann wurde ihr klar, dass sie womöglich Kevin Hardakers Frau vor sich hatte. Natürlich konnte es sich um eine Nachbarin oder Verwandte handeln, doch irgendetwas sagte Matilda, dass das nicht der Fall war. Wer zum Teufel war dann die Frau, mit der er auf einer einsamen Landstraße unterwegs gewesen war?

Sie erkundigte sich vorsichtig. »Mrs. Hardaker?«

»Ja.«

Hinter Matilda wechselten Scott und Joseph besorgte Blicke.

Sie hielt ihren Dienstausweis in die Höhe. »Ich bin DCI Matilda Darke von der South Yorkshire Police …« Hatte bei der Erwähnung ihres Namens ein gewisses Wiedererkennen im Gesicht der Frau aufgeleuchtet? Hatte sie die Abendausgabe des Star gelesen? »Das sind DC Andrews und DC Glass. Dürften wir Sie kurz sprechen?«

»Oh Gott.« Das Begrüßungslächeln der Frau erlosch. »Ist etwas passiert?«

»Dürfen wir eintreten?«

Alice Hardaker wich zur Seite und ließ die drei Detectives ein. Sie schloss die Tür ab und legte sogar die Kette vor, bevor sie sie in ein weitläufiges Wohnzimmer führte. Es war minimalistisch eingerichtet. Zwei große Sofas, ein Großbildfernseher mit verschiedenen Konsolen und ein einsames Regal, in dem DVDs, Spiele, ein wenig Zierrat, aber seltsamerweise keine Bücher standen.

»Mrs. Hardaker, Ihr Ehemann …?«

»Kevin.«

Scott und Joseph Glass wechselten abermals nervöse Blicke. Sie hätten das Gespräch allein mit ihren Gesichtsausdrücken bestreiten können.

»Fährt er einen silbernen Citroën Xsara mit dem Kennzeichen …?« Sie warf Scott einen Blick zu, der eilig in seinem Notizbuch blätterte.

»YP52 XPD.«

»Ja, das stimmt«, sagte Alice. Tiefe Falten legten sich auf ihre Stirn, und sie nestelte am offenen Kragen ihrer Bluse herum, damit ihre Finger etwas zu tun hatten. »Gab es einen Unfall?« Ihre Hände zitterten, sie befürchtete das Schlimmste.

»Mrs. Hardaker, der Wagen wurde kürzlich in der Clough Lane aufgefunden, nahe der Quiet Lane …«

»Oh. Dann hatte er einen Unfall, nicht wahr? Ich hasse diese Straße. Geht es ihm gut?«

»Mrs. Hardaker …«

»Alice, bitte.«

»Alice, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Ehemann Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. Er hat dabei mehrere Schussverletzungen erlitten.«

Alice taumelte und streckte Halt suchend den Arm aus. Sie ertastete das geblümte Sofa und ließ sich langsam darauf nieder. Bei dem Wort »Schussverletzungen« war sie leichenblass geworden. »Was? Er ist angeschossen worden?«

»Ich fürchte ja.«

»Aber er wird wieder gesund, nicht wahr?«

»Alice, er hat es nicht geschafft. Er war bereits tot, als wir am Tatort eintrafen.«

Alice reagierte nicht sofort. Es wirkte, als hätte sie gar nicht gehört, was Matilda gesagt hatte. Sie schluckte schwer. Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen formten sich in ihren Augenwinkeln. »Nein. Das ist unmöglich. Er hätte heute Abend nicht über die Quiet Lane fahren müssen.« Sie bemühte sich, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten, drohte jedoch, den Kampf zu verlieren. »Er wollte gleich nach der Arbeit zum Tennis. Da wäre er nicht auf diesem Weg nach Hause gekommen. Vielleicht … Vielleicht hat ihm einer die Autoschlüssel in der Umkleidekabine gestohlen. Kevin hat erwähnt, dass vor ein paar Monaten Sachen aus den Spinden entwendet wurden. So muss es gewesen sein. Jemand hat sein Auto gestohlen und wurde getötet. Oh mein Gott, ich muss ihn anrufen.«

Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Mobiltelefon und suchte hektisch nach der Nummer. Sie hielt das Handy mit weißen Fingerknöcheln umklammert, während sie darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam.

»Natürlich halten Sie den Toten für Kevin. Es ist ja auch definitiv sein Wagen, aber er kann es nicht sein.« Ihr lautes, nervöses Lachen klang gezwungen. »Meine Güte, jetzt haben Sie mir wirklich einen Schrecken eingejagt, eine Sekunde lang habe ich wirklich geglaubt, er sei tot. Er geht nicht ran, wie seltsam.« Sie starrte das Telefon an und legte auf. »Manchmal gehen sie hinterher noch etwas trinken. Ich rufe Jeremy an. Sein Handy ist praktisch mit ihm verwachsen.« Während sie darauf wartete, dass der Freund ihres Mannes ans Telefon ging, fuhr sie sich mit der freien Hand hektisch durch das dichte, dunkelrote Haar.

Dass Alice sich der Wahrheit derart verweigerte, sorgte für Unbehagen unter den Polizisten. Matilda trat einen Schritt zurück und wartete auf den Moment der Erkenntnis. Viel mehr konnte sie nicht tun. Scott nahm die gerahmten Fotografien auf dem Kaminsims in Augenschein, und Joseph Glass wirkte beinahe so verstört wie Alice, als wäre er selbst der Adressat der schlimmen Nachrichten gewesen.

Matilda hatte schon eine Weile keine Todesnachricht mehr überbringen müssen. Bei der letzten war sie die Empfängerin gewesen. Eine sichtlich mitgenommene Krankenschwester hatte das Offenkundige in Worte gefasst, während Matilda die erkaltende Hand ihres Ehemanns gehalten hatte, und gesagt: »Er ist tot, Mrs. Darke.«

»Jeremy, hier ist Alice. Ist Kevin bei dir? … Nein? Okay. Wann ist er denn gefahren? … Oh … Hast du nicht? … Nein, alles in Ordnung. Ich rufe später wieder an, Jeremy.« Sie legte auf und ließ sich tiefer ins Sofa sinken, während sie das Handy an die Brust presste. »Jeremy hat Kevin wochenlang nicht gesehen. Sie haben schon seit Ewigkeiten nicht mehr zusammen Tennis gespielt. Was ist da los?« Sie sah zu Matilda hoch. Eine einzelne Träne kullerte aus ihrem rechten Auge.

Joseph setzte sich neben Alice.

»Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen soll?«

»Äh, nein, ich glaube nicht. Meine Schwester vielleicht, aber sie ist nicht zu Hause. Ich schätze, ich könnte es mal bei ihr probieren.«

»Wie ich sehe, haben Sie Kinder, Mrs. Hardaker«, sagte er und nickte in Richtung der Einschulungsbilder, die an der Wand hingen. »Sind sie hier?«

Sie nickte. »Oh mein Gott, die Kinder. Was soll ich ihnen nur sagen? Sie lieben ihren Dad. Warren ist verrückt nach ihm. Sie wollten am Mittwoch zusammen zum Spiel gehen.«

»Alice, ich lasse DC Glass hier bei Ihnen«, unterbrach sie Matilda. Sie musste raus aus diesem Haus. Die düstere Atmosphäre war unerträglich, und die Wände schienen immer näher zu kommen. »Ich werde herausfinden, was passiert ist, und Sie auf dem Laufenden halten. Wenn Sie irgendetwas brauchen, sagen Sie Joseph Bescheid, und er leitet es an mich weiter.« Sie sah hinunter auf die weinende Alice, die kein einziges Wort mitbekommen hatte. »Ich finde selbst hinaus.«

Matilda teilte Scott mit einem Nicken mit, dass er ihr folgen sollte. An Joseph gerichtet sagte sie tonlos: »Rufen Sie mich an.« Er antwortete mit einem angedeuteten, mitfühlenden Lächeln.

Matilda konnte gar nicht schnell genug aus dem Haus kommen. Ein Schwall kalter Luft traf sie wie eine Ohrfeige. Sie holte tief Luft, um die Fassung wiederzuerlangen. Da Scott sie jeden Moment fragen würde, wie es ihr ging, wühlte sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy und tätigte schnell einen Anruf.

»Aaron, ich bin es. Sind Sie noch am Tatort?«

»Ja. Warum? Stimmt etwas nicht?«

»Ich war gerade in Kevin Hardakers Haus und habe seiner Frau die Nachricht überbracht, dass ihr Mann zu Tode gekommen ist. Das heißt, die Frau, die bei ihm war, ist nicht seine Ehefrau.«

»Verdammter Mist. Wer ist sie dann?«

»Keine Ahnung. Ich möchte, dass Sie das herausfinden.«

»Rory ist im Krankenhaus.«

»Gut, ich rufe ihn an. Ist Dr. Kean noch da?«

»Nein. Sie wurde weggerufen. In der London Road hat es einen Selbstmord gegeben. Sie musste hinfahren.«

Herrgott im Himmel, heute Nacht geht aber auch alles schief. »Gibt es irgendetwas, anhand dessen man die Frau identifizieren könnte?«

»Überhaupt nichts. Kein Handy, keine Handtasche, kein Portemonnaie. Es ist beinahe so, als wäre sie nie in dem Wagen gewesen.«

»Oh Gott.«

»Was?«

»Der Wagen stand an einer einsamen Stelle. Warum parkt ein verheirateter Mann, der eine Frau bei sich hat, die nicht seine Ehefrau ist, wohl irgendwo im Dickicht?«

»Sie glauben, es handelt sich um eine Prostituierte?« Aarons Stimme klang vor Überraschung lauter.

»Das wäre zumindest eine Möglichkeit.«

Im Northern General Hospital hatte DC Rory Fleming kein Glück bei dem Versuch herauszufinden, wer die geheimnisvolle Frau war. Sie lag auf dem OP-Tisch, und ein ganzes Team von Chirurgen kämpfte darum, ihr Leben zu retten. Es war ein Wunder, dass sie trotz schwerer innerer Blutungen, einer punktierten Lunge, einer Gehirnschwellung und zweier Schussverletzungen so lange durchgehalten hatte. Die folgenden Minuten waren kritisch, doch auch danach war vollkommen ungewiss, ob sie durchkam.

Rory tigerte den Flur auf und ab und wartete darauf, dass sich irgendjemand an seine Anwesenheit erinnerte und ihn über den Zustand der Patientin informierte. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor ein Uhr morgens, aber im Krankenhaus ging es zu wie in einem Taubenschlag. Vielleicht hallten seine Schritte zu dieser frühen Morgenstunde aber auch einfach lauter durch die sonst herrschende Stille. War es möglich, dass in der Notaufnahme von Sheffield zu jeder Tages- und Nachtzeit so viel Trubel herrschte?

Zwanzig Minuten und zwei Schokoriegel aus dem Automaten später verließ Rory das Krankenhaus, um seine Chefin anzurufen.

»Irgendwelche Neuigkeiten?« Matilda hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf.

»Bisher nicht, Ma’am. Sie wird noch operiert.« Er gab die Information weiter, die er von einer Krankenschwester erhalten hatte. »Um ehrlich zu sein, ich bezweifle, dass sie die Nacht überleben wird.«

»Verdammter Mist. Hören Sie, gehen Sie wieder rein und bringen Sie die Schwestern dazu, Ihnen die Kleidung der Frau auszuhändigen, bevor sie vernichtet wird. Schaffen Sie sie danach sofort zur Forensik. Anschließend können Sie heimgehen. Einsatzbesprechung morgen früh auf dem Revier.«

Er wollte noch etwas erwidern, doch dann wurde ihm klar, dass er genauso gut Selbstgespräche hätte führen können.

Matilda schaute zu, wie das Dispslay ihres Handys erlosch und es in den Stand-by-Modus überging.

»Ich fürchte, wir müssen bald in einem Doppelmord ermitteln.«

Sie saß auf dem Beifahrersitz eines Polizeiwagens neben DC Scott Andrews. Sie parkten auf halbem Weg zwischen dem Tatort und Kevin Hardakers Haus am Straßenrand.

»Wissen wir schon, wer sie ist?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Glauben Sie wirklich, sie könnte eine Prostituierte sein?«

»Keine Ahnung, Scott. Es ist zu früh, um das zu beurteilen.«

»Und … Was jetzt?«, fragte er nach einer vollen Minute nachdenklichen Schweigens.

»Heute Nacht können wir nicht mehr viel tun. Fahren Sie mich nach Hause, und dann gehen Sie auch heim. Morgen Vormittag legen wir los.«

Scott ließ den Motor an, fuhr aber zunächst in die falsche Richtung, bis Matilda ihm seinen Irrtum mitteilte und er verbotenerweise mitten auf der Straße wendete. Da um diese nachtschlafende Zeit kaum Verkehr herrschte, nahm ohnehin niemand Notiz von ihnen.

Sie irrten sich. Eine Person beobachtete den Verstoß gegen die Verkehrsregeln ganz genau. Sie saß am Steuer eines schwarzen BMW, der etliche Meter von ihnen entfernt stand, um kein Aufsehen zu erregen. Kurze Zeit später vollführte der Fahrer dasselbe Fahrmanöver, um die beiden Ermittler nicht aus den Augen zu verlieren.

5

Der nächste Tag brach für Matilda sehr früh an. Als sie erwachte, war die Decke halb vom Bett gerutscht, und das Spannbetttuch machte seinem Namen keine Ehre mehr. Sie hatte eine üble Nacht hinter sich und sich ruhelos herumgewälzt. Die Träume waren beunruhigend und grotesk gewesen. Ihr Verstand hatte keine Ruhe gefunden. Sie hatte ständig an die schwer verletzte Frau denken müssen: Wer sie sein könnte, ob jemand sie vermisste. Außerdem gingen ihr die bevorstehende Auflösung der Mordkommission und die Frage, was das für ihre Arbeit und ihr Team bedeutete, nicht aus dem Kopf. Um fünf Uhr morgens beschloss sie schließlich aufzustehen.

Als sie ins Wohnzimmer trat, blieb ihr Blick an dem gerahmten Hochzeitsfoto von ihr und James hängen. Sie konnte kaum glauben, dass sein erster Todestag immer näher rückte. Wie war es möglich, dass die Zeit so schnell verging?

Sobald sie an den Tod ihres Mannes dachte, fiel ihr das Verschwinden Carl Meagans wieder ein. Selbst wenn man Carl irgendwann heil und gesund auffand, würde sie stets an ihn denken müssen, wenn sie um ihren Mann trauerte. Beides war untrennbar miteinander verbunden. Wie James würde auch Carl ihr immer im Gedächtnis bleiben. Er war darin eingeätzt, für immer.

Es war zu früh, um zur Arbeit zu gehen, aber Matilda kannte einen Menschen, der definitiv um diese Zeit schon wach und bereit war, der Welt gegenüberzutreten.

»Perfektes Timing! Kaffee ist in der Kanne, und der Toast wartet nur noch darauf, dass ich ihn verbrennen lasse.«

Adele Kean klang fröhlich und putzmunter wie immer. Wie sie das so früh am Morgen fertigbrachte, überstieg Matildas Vorstellungskraft. War es überhaupt legal, dass eine Pathologin, die den ganzen Tag lang bis zu den Ellbogen in Leichen steckte, einen so überschäumenden Charakter besaß?

Adele war elegant, und ihre Kleidung saß wie angegossen. Ihr Haar war gepflegt und ohne jede Spur von Spliss, und sie hatte gerade genug Make-up aufgelegt, um bei aller Professionalität einen Hauch von Glamour auszustrahlen. Matilda konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Make-up getragen hatte oder zum Friseur gegangen war. Vermutlich um die Zeit von James’ Beerdigung.

»Was führt dich so früh her?«, fragte Adele und steckte Brotscheiben in den Toaster.

»Ich konnte nicht schlafen.« Matilda ließ sich auf einen Hocker am Küchentresen sinken und stieß ein lautes, tiefes Gähnen aus, bei dem ein Labrador vor Neid erblasst wäre. »Wann bist du denn gestern nach Hause gekommen?«

»Gegen zwei. Ein alter Mann hatte sich von einem Hochhaus in der London Road gestürzt.«

»Dann hast du also nur zwei oder drei Stunden geschlafen?«

»Das kommt hin, ja.«

»Du hast einfach kein Recht, nach drei Stunden Schlaf so gut auszusehen. Wenn du nicht meine beste Freundin wärst, würde ich dir die Augen auskratzen.«

Adele warf ihr ein strahlendes Lächeln zu. »Ich bin eben von Natur aus schön. L’Oréal will demnächst meine Haut untersuchen, um herauszufinden, warum ich so blendend aussehe.«

Matilda verdrehte die Augen. Adele hatte ein herzliches Wesen, das ansteckend wirkte. Sie trug keinen Funken Boshaftigkeit oder Bitterkeit in sich, trotz allem, was sie durchgemacht hatte. Es war erfrischend. Matilda wäre gern ein bisschen mehr wie Adele gewesen.

»Irgendwelche Neuigkeiten in deinem Fall?«, riss Adele Matilda aus ihren Gedanken.

»Bisher nicht. Wir haben immer noch keine Ahnung, wer die Frau ist. Mit Sicherheit nicht Hardakers Ehefrau. Der habe ich gestern Nacht persönlich die Nachricht von seinem Tod überbracht. Auf dem Nachhauseweg habe ich auf der Dienststelle nachgefragt, aber es ist niemand als vermisst gemeldet.«

»Du fragst dich, ob sie eine Prostituierte ist, nicht wahr?«

»Ja. Gott allein weiß, wie viele von ihnen jedes Jahr verschwinden. Mir fällt es schwer nachzuvollziehen, wie jemand sich einfach in Luft auflösen kann, ohne dass ein einziger Mensch ihn vermisst. Findest du das nicht auch traurig?«

»Allerdings. Wie geht es ihr denn?«

»Ich habe noch nicht im Krankenhaus angerufen. Das mache ich später.«

Adele goss Kaffee in einen großen Becher und reichte ihn Matilda. Ihre Gedanken schweiften wieder ab. Sie stieß einen leisen Seufzer aus und starrte in die Ferne, durch die Wand hindurch, aus dem Haus in eine andere Welt hinein.

»Was liegt dir sonst noch auf der Seele?«

»Bitte?«

»Da ist doch noch etwas, das dich vom Schlafen abhält. Geht es um James’ Todestag? Er ist in acht Tagen, oder?«

»Ja. Am 28. März. Aber nein, daran liegt es nicht. Ich habe gestern Nacht mit Masterson telefoniert. Sie hat mir mitgeteilt, dass die Mordkommission aufgelöst wird.«

»Was?« Adele, die gerade dabei war, eine Scheibe Toast mit Butter zu bestreichen, hielt abrupt inne.

»Budgetkürzungen anscheinend. Letzte Woche die Polizeihunde, diese Woche sind wir dran.«

»Was wird aus dem Team?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich arbeite ohnehin schon mit einer Rumpfmannschaft. Faith Easter hat sich zur Kripo zurückversetzen lassen, mir fehlt ein DI, und ich habe zwei DCs, die sich wie Schuljungen aufführen. Ehrlich, Adele, es wäre komisch, wenn nicht das Leben von Menschen auf dem Spiel stünde.«

Matilda erhob sich vom Küchentresen. Sie merkte, wie ihre Knie zitterten, und war kurz davor, die Übungen zur Angstbekämpfung zu machen, die sie früher schon praktiziert hatte. Sie ging ans andere Ende der Küche, lehnte sich an die Doppeltür zum Patio und sah hinaus in den gepflegten Garten.

»Wieso kann mein Garten nicht so schön aussehen wie deiner?«

»Weil ich einen Sohn habe, den ich erpressen kann, damit er jätet. Darf ich dir eine Frage stellen?«

Matilda drehte sich zu Adele um. »Oh Gott. Warum habe ich nur das Gefühl, dass mir das nicht gefallen wird? Ich höre.«

»Trinkst du wieder?«

»Was? Wie kommst du denn darauf? Nein. Neujahrsvorsatz, erinnerst du dich? Ich habe keinen Tropfen Alkohol im Haus und seit Silvester auch nichts getrunken. Was soll die Frage?«

»Du wirkst besorgt, und zwar mehr als üblich. Die Jahrestage, dieser Fall, das löst zwangsläufig eine Menge Stress aus. Ich möchte nicht, dass du rückfällig wirst.«

Im Obergeschoss stand Adeles Sohn Chris gerade auf. Seine Plattfüße Größe sechsundvierzig klatschten so laut auf den Hartholzboden, dass sie unten zu hören waren. Matilda senkte die Stimme, ging zurück zum Küchentresen und nahm sich eine Scheibe Toast.

»Adele, ich glaube, ich habe im letzten Jahr mehr getrunken als die meisten Menschen im ganzen Leben. Schon der Gedanke daran, was ich alles durchgemacht habe und wie mies ich mich betrunken gefühlt habe, dreht mir den Magen um.«

Sie sahen einander ein paar Sekunden lang an. Matilda merkte, dass Adele nicht überzeugt war. »Du musst dir keine Sorgen machen, Adele. Mir geht es gut. Ich lächle. Ich bin glücklich. Überglücklich sogar.«

Adele lächelte. »Du wirkst viel besser gelaunt als vor ein paar Monaten. Ich wünschte nur, du würdest die Therapie fortsetzen. Wenigstens bis die Jahrestage vorüber sind.«

»Ich brauche keine Therapie mehr. Ich komme sehr gut ohne zurecht. Dr. Warminster hat selbst gesagt, ich würde den richtigen Zeitpunkt erkennen, die Sitzungen zu beenden – und der ist jetzt gekommen.«

»Aber …«

»Adele, mir geht es gut. Hör zu, wenn ich das Gefühl habe, dass mir alles über den Kopf wächst, bist du die Erste, die es erfährt. Versprochen.«

Adele seufzte sichtlich erleichtert. »Danke.«

»Du bist eine gute Freundin, Adele.«

»Das weiß ich. Die beste.«

Wie auf ein Stichwort betrat Chris die Küche. Er war schlaksig, mager und so groß, dass einem das Genick wehtat, wenn man ihm ins Gesicht sah. Er hatte einen wilden Schopf ungebändigter Haare, der durchaus mit Matildas Garten konkurrieren konnte.

»Meine Güte, wenn das nicht Tingeltangel-Bob ist«, sagte Adele lachend.

Er setzte sich neben Matilda an den Küchentresen, ließ den Oberkörper nach vorne kippen und legte den Kopf in die Armbeuge.

»Warum erhebt ihr Studenten die Müdigkeit zur Kunstform?«, fragte Matilda.

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