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Golden Hill Nights

Als Buch hier erhältlich:

»Einfühlsam, humorvoll und wortgewandt entführt Nicole Böhm ihre Leser:innen in die Idylle der Golden Hill Ranch.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Laura Kneidl

Seit Jake auf der Golden Hill Ranch eingestellt worden ist, packt er tatkräftig zu und ist zu einer unerlässlichen Hilfe für Parker und seine Familie geworden. Nur dass der Cowboy hartnäckig über seine Vergangenheit schweigt, macht Parker misstrauisch. Die Einzige, zu der Jake Vertrauen fasst, ist Sadie, Parkers Schwester. Zaghaft nähern sich die beiden an. Doch dann wird Jake von einem düsteren Geheimnis eingeholt, und er muss sich entscheiden: Kann er auf Golden Hill und an Sadies Seite bleiben, obwohl er sie damit in Gefahr bringt?


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Aus der Serie: Golden Hill Reihe
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703016
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Suse und Bernhard.

Auf viele schöne Stunden

in eurem Golden Hill.

1.

Jake

»Das macht dann sechs Dollar dreißig, Jake«, sagte Kit und lächelte mich an. Ich blickte in ihr strahlendes Gesicht. Kit grinste breiter, was dafür sorgte, dass sich feine Falten um ihre Mundwinkel und Augen bildeten.

Sie lachte oft. Wenn ich es recht überlegte, hatte ich sie in den zwei Monaten, in denen ich nun in Boulder Creek lebte, nur gut gelaunt erlebt. Eine beneidenswerte Eigenschaft.

Ich versuchte, ebenfalls zu lächeln, aber es fühlte sich an, als wollte ich mein Gesicht mit Gewalt in eine unpassende Form quetschen. Die Fähigkeit, von Herzen lachen zu können, hatte ich schon in meiner Kindheit verloren. In meinem Inneren waren seit Langem nur noch Dunkelheit und eine allumfassende Leere, die sich in jeder meiner Zellen ausgedehnt hatte.

Ich sah auf die beiden Bambusbecher, die ich von Kit mit Kaffee hatte auffüllen lassen. Einer war für mich, einer für Parker, der draußen im Range Rover auf mich wartete. Wir waren gerade aus Billings gekommen, wo Parker Eisenpanels für ein neues zweites Roundpen gekauft hatte. Auf der Ranch, auf der ich vorher gearbeitet hatte, hatten wir alles mit diesen Panels abgesteckt. Sie verwitterten nicht so schnell wie die aus Holz und konnten leicht umgesetzt werden.

Ich legte Kit eine Zehndollarnote hin und gab ihr zu verstehen, dass sie den Rest behalten sollte.

»Oh, danke«, sagte sie und zählte ihr Trinkgeld ab.

Ich tippte mir an den schwarzen Cowboyhut, den ich so gut wie immer trug. Er war ein Geschenk von Jordan, meinem vorherigen Arbeitgeber, gewesen. Jordan meinte, dass ein richtiger Cowboy auch einen richtigen Hut benötigte, und hatte ihn mir eines Morgens einfach auf den Kopf gesetzt. Mittlerweile hing ich an dem Ding und fühlte mich fast schon nackt, wenn ich ihn nicht trug. Ich nahm die Becher und genoss die Wärme, die von ihnen aufstieg. Es war erst Ende August, aber die Natur schickte bereits ihre Vorboten für den kommenden Herbst. Der Wind wurde merklich kälter, die Luft roch nach Frische und dem ersten welken Laub. Völlig anders als in Norfolk Valley, wo ich vorher gearbeitet und gelebt hatte. Da war es um diese Jahreszeit noch recht warm, und im Sommer bekamen wir mitunter Temperaturen bis zu fünfzig Grad. Ich hatte mich nie richtig daran gewöhnen können und war froh, dass ich das nicht mehr mitmachen musste.

Kit hatte mich mal gefragt, ob ich wegen des Wetters aus Norfolk Valley nach Boulder Creek gekommen sei, und ich hatte einfach genickt. Nicht weil es stimmte, sondern weil es leichter war, den Leuten einen banalen Grund zu liefern, als zuzugeben, dass ich ein unsteter Geist war, der nie lange an einem Ort bleiben konnte. Für Jordan zu arbeiten war toll gewesen, aber ich hatte immer gewusst, dass es nur eine Zwischenstation war. Sobald ich mich irgendwo einlebte und mir die Menschen ans Herz wuchsen, zog es mich in die Ferne.

So oder so war es eine glückliche Fügung gewesen, dass Parker gerade zu der Zeit eine Stelle in Boulder Creek auf der Golden Hill Ranch ausgeschrieben hatte.

Ich nickte Kit noch mal zu, drehte mich um und prallte voll mit jemandem zusammen.

»Verfluchte Scheiße!«, platzte es aus mir heraus, als der heiße Kaffee über den Becherrand schwappte, mein Shirt an der Brust durchweichte und einen brennenden Schmerz auslöste.

»Oh! Verdammt!«, stammelte Tommi und lief knallrot an. »Mist, Mist, Mist. D-das t-tut mir … das tut mir leid, Jake.« Er schnappte sich Servietten von der Theke und wollte mir die Brust trocken tupfen, aber ich schüttelte nur den Kopf. »I-ich h-hab … nicht … aufgepasst.«

»Hab ich bemerkt.« Ich stellte einen der Becher zurück auf die Theke, nahm ihm ein Papiertuch ab und rieb notdürftig über den Fleck. Tommi räusperte sich und gab ein merkwürdiges Glucksen von sich, das wie eine Mischung aus Wimmern und einem Schluckauf klang. Er arbeitete drüben im Sheriff-Büro am Empfang und war eigentlich ein netter und vor allen Dingen ruhiger Typ. Aber leider auch ziemlich tollpatschig.

Ich knüllte die Serviette zusammen und steckte sie in meine Hosentasche. Tommi war so rot angelaufen, dass ich Sorge hatte, er würde gleich Feuer fangen. Jeden anderen hätte ich hierfür ordentlich in den Boden gestampft, aber der Junge hatte das Selbstbewusstsein einer Schnecke. Ich wollte ihn nicht komplett zerstören.

»Pass das nächste Mal einfach besser auf, ja?«, sagte ich und nahm den Becher wieder, der nur noch zur Hälfte gefüllt war.

»Soll ich dir einen frischen Kaffee machen?«, fragte Kit, die alles von ihrem Platz hinter der Theke beobachtet hatte.

»Nein. Danke.«

Tommi trat beiseite und brabbelte weiter Entschuldigungen. Ich schüttelte den Kopf und ging mit meinem Kaffee davon. Meine Haut an der Brust brannte, aber ich würde es überleben. Mit Schmerzen kam ich klar. Die hatte ich bereits in meiner Kindheit kennengelernt, und nichts, was Tommi oder sonst irgendjemand mir zufügen könnte, wäre schlimmer als das, was ich durchgemacht hatte. Wenn man am Ende einer Sackgasse geboren war und dort den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, war alles andere ein Zuckerschlecken. Ich drückte die Tür auf und trat in die kühle Luft, die nach einem Rest Sommer und dem kommenden Herbst duftete. Mich schüttelte es, als mich eine Windböe streifte, wodurch mein durchweichtes Shirt an der Haut festklebte.

Mit leichter Gänsehaut lief ich zur Straße, wo Parker im Range Rover mit dem Pferdehänger auf mich wartete. Die Eisenpanels hatten wir hinten geladen und festgezurrt, damit sie während der Fahrt nicht ständig klapperten.

Ich trat zur Fahrerseite und reichte ihm einen Kaffeebecher durch das geöffnete Fenster.

»Alles klar bei dir?«, fragte er und deutete auf den dunklen Fleck auf meinem beigen Shirt.

»Ja. Ist nur Kaffee. Meiner, nicht deiner.«

Er sah in seinen Becher und schürzte die Lippen.

»Hatte einen kleinen Auffahrunfall.«

»Passiert in diesem Diner irgendwie öfter«, sagte er. Vermutlich spielte er auf seinen Freund Ajden an, der diesen Sommer auf Golden Hill verbracht hatte und dort mit der Journalistin Arizona zusammengekommen war. Die beiden hatten vor dem Diner einen kleinen Autounfall gehabt, was letztlich der Auslöser gewesen war, dass sie sich nähergekommen waren. Eigentlich legte ich keinen Wert auf Klatsch und Tratsch, aber Granny – Parkers Großmutter – hatte mir die Geschichte bereits dreimal erzählt. Die Frau hatte Spaß daran, über das Liebesleben anderer zu philosophieren.

Ich umrundete den Wagen und stieg auf der Beifahrerseite ein. Parker parkte rückwärts aus und rollte fünfhundert Meter weiter bis zu Stews Grocery Store. Boulder Creeks Innenstadt bestand im Grunde genommen aus dieser Hauptstraße, die am Rathaus endete. Es gab zwar ein paar Läden, wie den Souvenirshop, ein Klamottenoutlet, ein weiteres Café und seit zwei Wochen auch eine Buchhandlung, aber viel los war hier eigentlich nie. Boulder Creek besaß diesen urigen Kleinstadtcharme. Überall schwang ein Hauch von Nostalgie und Geschichte mit. Die Gebäude waren zum Großteil aus rotem Backstein, manche von ihnen so alt wie die Stadt selbst. Am zehnten September wären das exakt zweihundertfünfzig Jahre. Es war unmöglich, das zu übersehen, denn alle paar Meter hingen Plakate und Schilder, die das diesjährige Gründerfest ankündigten.

»Die ziehen ganz schön was auf für das Fest«, sagte Parker und deutete auf zwei Arbeiter, von denen einer auf einer Leiter stand und eine große Lichterkette quer über der Straße befestigte.

Seit dieser Woche hatten sie angefangen, die Stadt zu schmücken. Aus dem Rathaus waren einige Ausstellungsstücke wie Spaten oder alte Goldsiebe, die aus der Gründerzeit stammten, geholt und in den Schaufenstern der Geschäfte ausgestellt worden. Sie hatten sogar eine alte Kutsche angekarrt, mit der früher das Gestein aus den Minen transportiert worden war, und sie auf Stews Parkplatz gestellt. Zur Deko hatten sie das Holzpferd, das normalerweise vor der Eingangstür des Lebensmittelladens aufgebaut war, davorgespannt.

»Hab gehört, dass auch Livemusik geplant ist«, sagte Parker und stellte den Rover ab.

»Organisiert ihr wieder diese Band?«, fragte ich und schnallte mich los. Eigentlich interessierte es mich nicht, aber ich bemühte mich um Small Talk.

»Beyond Sanity?«

Ich nickte. Vor ein paar Wochen hatten Arizona und Ajden die Band nach Boulder Creek geholt und eine Art Benefizkonzert in einer der Minen veranstaltet. Das Ganze war wohl ’ne ziemlich große Nummer gewesen. Ich hatte die Band vorher nicht gekannt und konnte auch nicht behaupten, dass es meine Art von Musik war, aber der Abend war ganz okay gewesen.

»Nein«, sagte Parker. »Die sind gerade auf Tour. Auf dem Gründerfest spielen ein paar Leute aus Boulder Creek. Jessie und Kit sind auch dabei.«

Ich nickte und gab mich so hoffentlich einigermaßen interessiert. Wir stiegen aus und traten auf Stews Laden zu. Dabei merkte ich Parkers fragenden Blick. Das tat er oft. Vermutlich irritierte ihn meine Schweigsamkeit. Seit ich für ihn arbeitete, wollte er, dass ich mich ihm gegenüber öffnete und mehr von mir preisgab. Zwar fragte er mich nie direkt aus, aber ich spürte deutlich, dass es ihm unter den Nägeln brannte, mehr über mich und meine Vergangenheit zu erfahren, genau wie seine Schwester Sadie, die mit auf der Ranch lebte. Die beiden verwickelten mich häufig in Gespräche und interessierten sich für meinen Werdegang und was ich vor meiner Zeit bei Jordan getrieben hatte. Bis jetzt war ich immer ausgewichen, aber früher oder später würde ich wohl mehr erzählen müssen. Die Golden Hill Ranch war kleiner, familiärer, intimer als Jordans Betrieb. Ich schlief nicht wie früher in einer Baracke mit fünf anderen Jungs, sondern hatte mit dem ausgebauten Dachboden über dem Stall mein eigenes Reich, sogar mit Dusche und Kochecke. Diese Privatsphäre war für mich ein unglaublicher Luxus. Aber der war mit einem Preis verbunden, nämlich dass ich mich integrierte.

Wir betraten den Laden, und ich blickte mich als Erstes um, wer noch da war. Seit ich in Boulder Creek angekommen war, wurde ich von einigen älteren Bewohnern recht misstrauisch beäugt. Parker hatte mir versichert, dass es normal sei und ich mir keine Sorgen machen solle. Sein Start in Boulder Creek sei wohl auch alles andere als leicht gewesen, aber langsam akzeptierten ihn die Leute.

Ich grüßte eine ältere Dame, die vor mir im Gang stand. Ihr Blick wanderte über meine nackten Oberarme und zu dem Kaffeefleck auf meiner Brust. Sie verzog das Gesicht, aber ich war mir nicht sicher, ob sie es wegen des schmutzigen Shirts tat oder wegen meiner Tattoos, die meine Arme komplett bedeckten. Mit achtzehn hatte ich mir das erste am Handgelenk stechen lassen, um meine Unabhängigkeit zu feiern. Schnell waren zahlreiche andere Motive hinzugekommen. Die Tätowierungen waren meine Symbole für all die Hürden, die ich in meinem Leben schon hatte nehmen müssen. Sie sollten mich daran erinnern, woher ich gekommen war und dass es stets weiterging, egal wie steinig der Weg wurde. Irgendwann würde ich mir wieder eins stechen lassen. Momentan endeten die Verzierungen auf meiner Brust und den Schultern, aber ich hatte noch reichlich Platz und viele Ideen für weitere Motive.

Parker ging zur Kasse, um das bestellte Futter abzuholen. Ich nahm mir noch etwas Obst mit. Eigentlich brauchte ich mir keine Lebensmittel zu kaufen. Ich bekam Kost und Logis umsonst, dafür war das Gehalt etwas geringer als damals bei Jordan, aber das war okay für mich. Ich brauchte nicht viel zum Leben und hatte genug Erspartes, um über die Runden zu kommen, selbst wenn ich irgendwann nicht mehr für Parker arbeiten sollte.

Ich streifte durch die Regale und überlegte, ob ich noch irgendetwas mitnehmen wollte, als ich plötzlich durch die große Schaufensterscheibe eine Bewegung auf der Straße registrierte. Ich blickte hoch und sah einen dunkelblauen Van mit getönten Scheiben, der auf der anderen Seite parkte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, dennoch bekam ich eine Gänsehaut, und die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte den Fahrer zu erkennen, aber er war zu weit weg. Ich hielt die Luft an, und meine Hand ballte sich automatisch zur Faust. Die Unsicherheit kroch meinen Nacken hoch und setzte sich dort wie eine Klaue fest. Früher waren meine Instinkte meine Lebensversicherung gewesen. Das Einzige, auf das ich mich wirklich hatte verlassen können. Sie hatten mich aus vielen üblen Situationen gerettet.

Die hintere Tür des Vans ging auf, und zwei Kinder sprangen freudestrahlend heraus. Sofort folgte die Mutter, und dann öffnete der Fahrer seine Tür und fing einen seiner Sprösslinge wieder ein, der fast auf die Straße gerannt wäre. Ich beäugte die Familie noch einen Moment, und mir wurde klar, dass es einfach nur ein paar Touristen waren. Vermutlich waren sie für das Gründerfest angereist. Ich schalt mich für meine Paranoia. Von wegen auf meine Instinkte verlassen können …

»Jake?«, hörte ich Parker sagen.

Ich wandte mich ab und lief zu ihm an die Kasse. Er hatte bereits bezahlt und deutete auf einen großen Sack Futter. Er selbst hatte sich schon einen gegriffen. Ich bezahlte bei Stew mein Obst, schnappte mir den zweiten Sack und warf ihn über die Schulter. Dann nickte ich Parker zu und verließ mit ihm den Laden. Ein letztes Mal sah ich hinüber zu dem Van, aber die Familie war bereits fort. Wir gelangten zum Range Rover und verstauten die Futtersäcke im Kofferraum. Noch immer fühlte ich das Misstrauen wie eine Faust in meinem Nacken. Ich rieb mir über die Stelle und setzte mich dann wieder auf die Beifahrerseite. Vielleicht musste ich einfach mehr entspannen.

Ungefähr zwanzig Minuten später rollten wir auf den Schotterweg, der zur Golden Hill Ranch führte. Ich sah zum Fenster hinaus und ließ die Landschaft an mir vorüberziehen. Parkers Grundstück reichte von der Straße bis zum Wald. Er hatte fünf große nutzbare Koppeln und zwei weitere, die komplett brach lagen und verwilderten. Die Ranch umfasste das Haupthaus, in dem er mit seiner Schwester und seiner Großmutter lebte, sowie vier Gästehäuser, die Stallungen mit der Reithalle und natürlich dem Reitplatz.

Dort drehte Sadie gerade ihre Runden. Sie trug einen beigefarbenen Cowboyhut, helle Jeans, ihre Boots und eine rote Bluse. Sadie ritt so gut wie jeden Tag. Heute saß sie auf Wayne und machte dabei einige ihrer Übungen. Im Moment streckte sie die Arme seitlich von sich weg und drehte den Oberkörper abwechselnd nach rechts und links. Sie hatte mir mal erklärt, dass sie das brauchte, wenn sie stark verspannt war, und es ihr half, die Muskeln zu lockern. Sadie hatte vor einigen Jahren einen heftigen Autounfall überlebt. Ich wusste zwar keine Details, aber ich konnte sehen, dass sie bis heute unter den Nachwirkungen litt. An vielen Tagen hinkte sie auch.

Wie immer musste ich kurz die Luft anhalten, wenn ich sie sah. Ich hatte mir in den letzten Jahren angewöhnt, mich nicht länger als nötig mit Frauen aufzuhalten. Mal eine schnelle Nummer hier oder da, ein wenig flirten, aber mehr nicht. Auf keinen Fall wollte ich eine engere Bindung mit jemandem eingehen oder sogar eine Beziehung anfangen. Das hatte für mich bislang auch gut funktioniert.

Wenn ich jetzt jedoch in Sadies Nähe war, schwang ein unbekanntes Gefühl in mir nach. Parkers kleine Schwester übte eine extrem starke Anziehungskraft auf mich aus. Ich wusste nicht mal genau, woran es lag. Als wir uns das erste Mal begegnet waren, hatte ich es schon gespürt. Vielleicht kam es von dieser nicht definierbaren Schwere, die ihrer Seele anhaftete. Der Tiefgründigkeit ihrer wunderschönen dunklen Augen, in denen auch immer ein Hauch von Trauer zu sehen war. Obwohl sie erst Mitte zwanzig war, merkte ich deutlich, wie viel sie schon mitgemacht hatte. Ich spürte die Dunkelheit, die auf Sadie lag, die Schmerzen, die sie durchgemacht hatte, die Last, die ihr junger Körper hatte tragen müssen.

Vielleicht war es das, was mich so sehr berührte. Als würde sie die Leere, die ständig in mir wohnte, füllen und mich freier atmen lassen. Es verwirrte mich zutiefst, dass ich ihr gegenüber so empfand, weil ich mich nicht daran erinnern konnte, je so in der Nähe einer Frau gefühlt zu haben. Bedauerlicherweise war das auch Parker schon aufgefallen.

Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie er das Lenkrad fester umklammerte, während wir am Reitplatz vorbei aufs Haupthaus zufuhren. Er brauchte keine Sorge um Sadie zu haben. Zwischen ihr und mir würde nie etwas laufen. Erstens war Sadie, genau wie Parker, mein Boss und zweitens war sie viel zu besonders. Nie im Leben würde ich mit einer Frau wie ihr nur zwanglosen Sex haben wollen, und da ich auch nicht für mehr bereit war, blieb sie außer Reichweite.

Ich hörte einen leisen Pfiff und blickte wieder zu Sadie. Sie winkte uns zu. Parker erwiderte die Geste und fuhr dann mit dem Rover ums Haus herum. Kaum hatte er den Motor abgestellt, klingelte sein Handy. Er kramte es aus der Tasche.

»Leo, hi. Wir sind gerade wieder auf Golden Hill …«, hörte ich ihn sagen, während er ausstieg.

Ich verließ ebenfalls den Wagen und öffnete den Kofferraum, um den ersten Futtersack herauszuholen. Das Gespräch konnte eine Weile dauern. Leo leitete ein Bauunternehmen und hatte Parker beim Renovieren der Ranch geholfen. Er hatte zwar andere Aufträge, stand Parker aber weiterhin zur Seite, denn es gab noch immer viel zu tun.

»Das wäre perfekt. Komm einfach vorbei … Ja, ich hab noch Holzlatten da …« Parker sah zu mir, aber ich gab ihm zu verstehen, dass ich schon mal ausladen würde und er sich Zeit lassen solle. Ich warf mir den Futtersack über die Schulter und lief damit auf den Stall zu.

Charlie und Andra kamen sofort an den Zaun gerannt, als sie mich kommen sahen. Sie brummelten mich freudig an und hielten mich genau im Blick.

»Das gibt es erst heute Abend, Freunde«, sagte ich und betrat den Stall. Das Gebäude war neu gebaut worden, als Parker die Ranch renoviert hatte. Eigentlich war es ein wenig zu klein für sechs Pferde. Parker hatte damals nicht damit gerechnet, dass Charlie noch einziehen würde. Es wäre gut, wenn wir ein zweites Stallgebäude aufzogen. Am besten vor dem Winter, aber ich fürchtete, dass wir das nicht mehr schaffen würden.

Ich bog zur Futterkammer ab, öffnete die Tür und lehnte den Sack an die Wand. Als ich zurück in die Stallgasse kam, waren Andra und Charlie bereits da und spähten über die Boxenwände. Ich schmunzelte und begrüßte die beiden, indem ich ihnen die Nasen kraulte. Früher hatte ich nie etwas mit Pferden am Hut gehabt, aber seit ich meinen ersten Mustang bei Jordan komplett eigenständig ausgebildet hatte, war es um mich geschehen gewesen. Die weiße Stute hatte mich ziemlich schnell um den Finger gewickelt. Ich hatte so viel von dem Tier über mich selbst gelernt und eine solche Ruhe in mir gefunden, wie ich sie mir nie zu erträumen gewagt hatte. Wir waren über zwölf Wochen zusammengewachsen und hatten uns gegenseitig das Leben erklärt. Danach war sie mit zehn anderen Mustangs versteigert worden und stand nun in irgendeinem privaten Stall. So lief nun mal das Geschäft. Der Tag, an dem sie abgeholt worden war, war einer der schwersten für mich gewesen. Dabei hatte Jordan mich extra davor gewarnt, wie hart es werden würde, wenn ich mich zu sehr an ein Tier band. Er hatte mir sogar verboten, der Stute einen Namen zu geben, aber ich hatte es dennoch heimlich für mich getan und sie Gipsy getauft. Als sie verkauft wurde, war sie natürlich weiterhin nur die Nummer 5673 gewesen.

Ich hörte Schritte hinter mir und drehte mich um. Sadie kam mit Wayne in den Stall gelaufen. Sie hatte ihm die Zügel über den Hals gelegt, und er trottete wie ein Hund neben ihr her. Sadie hatte ein unglaublich gutes Gespür für Pferde. Ihr Timing war auf den Punkt, und sie strahlte genau die Ruhe aus, die die Tiere von ihr brauchten. Nicht nur die Tiere, wie es aussah, denn mein Herz schlug sofort schneller und mein Mund wurde trocken. Ich ignorierte all das und tippte an meinen Hut.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Sadie.

»Was?«

»Na, auf deinem Shirt.« Sie deutete auf meine Brust, wo der Fleck getrocknet war.

»Ist nur Kaffee. Nicht schlimm.« Ich trat neben sie, löste ohne ein weiteres Auffordern den Sattelgurt von Wayne und nahm ihn ihm ab. Sadie blickte mich an und schien darauf zu warten, dass ich weiter ausführte, wie es zu dem Fleck gekommen war, aber ich hatte keine Lust, davon zu erzählen.

Sie seufzte leise, als sie merkte, dass nichts von meiner Seite kam, und zog Wayne das Kopfstück aus. Wir arbeiteten oft auf diese Art. Hand in Hand. Ohne Worte, nur mit Gesten. Ich lief mit dem Sattel zur Kammer und hängte ihn an seinen Platz. Sadie trat ebenfalls ein, wusch das Kopfstück ab und hängte es an einen Haken. Wayne wartete brav in der Stallgasse, bis wir fertig waren. Wir brauchten ihn nicht anzubinden, Sadie hatte allen Tieren beigebracht, auch ohne Strick an Ort und Stelle zu bleiben. Gerade als ich einen Striegel aus dem Putzkoffer holen wollte, griff Sadie gleichzeitig hinein. Sofort hielt ich inne. Die Berührung mit ihr sandte warme angenehme Schauer in meinen Arm. Ich sog die Luft ein, trat einen Schritt zurück und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was ihre Nähe mit mir machte. Sadie lächelte zaghaft, nahm eine Bürste heraus und kehrte zurück zu Wayne.

Ich räusperte mich und verließ den Stall, um den nächsten Sack aus dem Auto zu holen. Parker lehnte am Wagen und telefonierte noch immer. Als er mich sah, winkte er mich zu sich.

»Ach, Jake«, rief Sadie auf einmal hinter mir, und ich hielt an der Tür inne. »Ich bekomme nachher vier Gäste. Sie bleiben übers Wochenende. Wir bräuchten morgen früh also die Pferde. Bitte lass sie nicht gleich raus auf die Koppel, wenn du aufstehst.«

»Geht klar.«

»Danke.«

Ich blickte über die Schulter zurück zu ihr. Sadie nahm ihren Hut ab, wischte sich über die Stirn und strich sich ein paar verschwitzte Strähnen hinter die Ohren, ehe sie ihn wieder aufsetzte und ihren Rücken dehnte. Sie gab ein leises Stöhnen von sich, das mir direkt durch und durch ging. Ich schloss die Augen und ermahnte mich innerlich: Sie ist dein Boss. Denk dran!

Mit ein wenig Widerwillen wandte ich mich ab. Mir stand noch einiges an Arbeit heute bevor, worüber ich sehr dankbar war. Gab nichts Besseres, als in Bewegung zu kommen, um sich wieder zu erden.

2.

Sadie

Ich zupfte ein paar Pferdehaare aus der Bürste und blickte Jake hinterher, der nun draußen mit meinem Bruder sprach. Seit zwei Monaten war Jake bei uns, und ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft wir miteinander gesprochen hatten. Wenn wir redeten, hatte es immer etwas mit den Pferden, dem Stall oder der Ranch zu tun. Jake war mir gegenüber zwar höflich und half mir stets, ohne dass ich ihn darum bitten musste, aber es herrschte noch immer eine gewisse Distanz zwischen uns.

Er war wie ein Schatten auf dieser Ranch, der mal hierhin, mal dorthin huschte. Es war gut, ihn bei uns zu haben. Mein Bruder war viel gelassener geworden, seit er Unterstützung von Jake hatte und nicht mehr alles alleine machen musste, aber ich wünschte mir dennoch, Jake würde etwas auftauen.

Bisher wusste ich so gut wie nichts über ihn, außer dass er bei Jordan in Norfolk mit den Mustangs gearbeitet hatte, ein sehr gutes Händchen für Pferde hatte und verdammt gut aussah. Jedes Mal, wenn wir uns bei der Arbeit zufällig berührten, lief mir ein wundervolles Prickeln den Rücken hinunter und mein Bauch füllte sich mit einer angenehmen Wärme. Ich genoss diese kurzen Momente mit ihm und sog sie voll und ganz in mich auf, auch wenn ich das vielleicht nicht tun sollte. Dieses Schmachten aus der Ferne hatte ich mir schon vor langer Zeit angewöhnt. Es war praktisch für mich und vor allen Dingen gefahrlos. So konnte ich mich meinen Fantasien hingeben, ohne meine Komfortzone verlassen oder mich gar einem anderen Menschen gegenüber öffnen zu müssen. Gerade in der Rehabilitationszeit nach meinem Unfall hatte mir das sehr geholfen. Wenn ich mich schon körperlich nicht ausleben konnte, dann wollte ich es wenigstens geistig tun. Also stellte ich mir manchmal vor, wie es wäre, wenn Jake mit seinen schwieligen Händen über meine Haut streichen würde. Wie es sich anfühlen würde, wenn er mir das Shirt hochschob. Wie er riechen und schmecken würde, wenn wir uns küssten.

In der Realität würde es allerdings nie dazu kommen. Das eine Mal, dass ich einen Kerl so nahe an mich herangelassen hatte, hatte mir gereicht. Nicht mal nach meinem Unfall hatte ich mich so schäbig und verletzt gefühlt wie in dem Moment, als Sean mir nach unserem ersten Mal gesagt hatte, dass er nur aus Mitleid mit mir geschlafen habe. Er hatte mich nicht mal vollständig ausgezogen, mir nur den Rock hochgeschoben, den Slip zur Seite gezogen und war dann recht unsanft in mich eingedrungen. Danach hatte er gemeint, dass wir noch mal Sex haben könnten, solange er meine Narben nicht sehen oder anfassen müsse. Ich hatte ihm gezeigt, was er mich mal konnte, und ihn vor die Tür gesetzt. Es war bereits sechs Jahre her, aber noch heute erschauderte ich, wenn ich daran zurückdachte. Niemand wusste von diesem Erlebnis, vor allen Dingen nicht Parker, der Sean wohl ungespitzt in den Boden gestampft hätte.

Das war mein erstes und bisher einziges Sexerlebnis gewesen. Ich hatte mir vorgenommen, so etwas nicht noch mal durchzumachen, und so gab es – außer meinen Physiotherapeuten und Ärzten – keinen Mann, der je meine Narben gesehen hatte. Wenn ich mal einem Jungen begegnet war, der mir gefiel, hatte ich ihn nur aus der Ferne angeschmachtet und mir vorgestellt, wie es wäre, mit ihm auszugehen. Ich hatte mich in diesen Tagträumen verloren, in denen ich schon wild geknutscht, viel gedatet und sagenhaften Sex gehabt hatte. In denen ich einen schönen funktionierenden Körper hatte, joggen und ins Fitnessstudio ging, mit Bikini am Strand entlanglief und die Blicke der anderen genoss.

Diese Träumereien halfen mir an vielen Tagen durch die Schwere und gaben mir Kraft. Das Allerwichtigste war allerdings: Sie taten mir nicht weh. Etwas, das ich von der Realität leider nicht immer behaupten konnte. Ich liebte mein Leben zwar, aber ich liebte nicht, dass ich es in diesem Körper führen musste. Wenn ich könnte, würde ich mir auf der Stelle einen anderen suchen.

Ich blickte noch mal zum Stall hinaus und hoffte ein wenig, dass Jake wiederkommen würde, aber er blieb verschwunden. Vielleicht hatte Parker ihn für eine andere Aufgabe gebraucht. Ich rieb mir über den unteren Rücken und genoss die leichte Wärme, die von der Stelle ausstrahlte. Das Reiten hatte mir gutgetan und die Muskeln gelockert. Ich war so dankbar, dass ich die Reittherapie in der Reha für mich entdeckt hatte. Ohne sie könnte ich heute vermutlich gar nicht laufen.

Ich legte die Bürste zurück an ihren Platz und verließ dann ebenfalls den Stall. Parker und Jake waren nirgendwo zu sehen. Es kam öfter vor, dass die beiden Arbeiten nicht zu Ende brachten, vor allem dann, wenn Parker einfiel, wo er noch etwas ausbessern wollte. Er hatte zwar schon unglaublich viel aus Golden Hill rausgeholt, war aber noch lange nicht fertig mit seiner Vision. Im Moment versuchte er, das Gästehaus vier auf Vordermann zu bringen, das wir auch dringend brauchten.

Seit Arizona in ihrer Zeitung das Feature über uns veröffentlicht hatte und Beyond Sanity hier aufgetreten war, wurden wir von Reservierungen überschwemmt. Unsere Website hatte traumhafte Klickzahlen, und ich bekam jeden Tag so viele Mails, dass ich kaum mit dem Antworten hinterherkam. Ich musste dringend eine Warteliste erstellen und die Anfragen sortieren, sonst würde ich bald untergehen. Im Moment ließen wir nur kurzfristige Buchungen zu und planten noch nicht weiter im Voraus. Ich musste selbst erst in meine neue Aufgabe hineinwachsen und war es noch nicht gewohnt, alles eigenverantwortlich zu organisieren. Während des Sommers hatte mir Rhonda Staten geholfen. Sie war eine Therapeutin aus Bozeman, bei der ich die Ausbildung zum Pferdecoach gemacht hatte. Rhonda hatte mich in den letzten Monaten an die Hand genommen und mir ihre eigenen Patienten geschickt, die bereits mit der Pferdetherapie vertraut waren und hier auf Golden Hill durch mich noch mal eine intensive Extrabehandlung bekamen. Das war für mich eine gute Schule gewesen, weil ich wusste, dass die Leute mitmachen würden und die Art von Therapie bereits kannten.

Heute würde das allerdings anders werden. Zum ersten Mal hatte ich eigene und vor allen Dingen fremde Gäste. Unser Therapiekonzept, das wir für Golden Hill ausgearbeitet hatten, beinhaltete auch Wochenendkurse. Sie würden natürlich nicht so sehr in die Tiefe gehen wie eine reguläre Behandlung, aber dieses Angebot ermöglichte es, in eine pferdegestützte Therapie hineinzuschnuppern und später gegebenenfalls darauf aufzubauen.

Im Moment war ich ziemlich nervös, weil ich keine Ahnung hatte, was mich erwartete. Aber wenn ich nicht ewig an Rhondas Rockzipfel hängen wollte, musste ich irgendwann über diese Hürde springen.

Ich wandte mich vom Stall ab und checkte mein Handy. Es war kurz vor fünf, gegen sechs würden meine vier Gäste eintreffen. Ich lief hinüber zum Haus und blickte mich auf der Ranch um. Seit einem Jahr wohnte ich nun hier, und es fühlte sich noch immer neu für mich an. Ich liebte diesen Ort so sehr, egal zu welcher Jahreszeit. Golden Hill besaß eine Magie, der man sich nur schwer entziehen konnte. Jeder, der hierherkam, wurde davon eingenommen und verließ dieses Stück Land mit einem leichteren, offeneren Herzen. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte und aus dem Fenster hinüber zu den Pferden blickte, wurde mir klar, dass ich einen Traum lebte. Dass ich dort angelangt war, wohin ich mich jahrelang gesehnt hatte. Ich durfte Tag für Tag mit diesen wundervollen Tieren arbeiten, inmitten der Natur leben, fernab vom Stress der Zivilisation. Dieser Ort war durch und durch perfekt. Wenn jetzt noch mein Körper … Ich biss mir auf die Lippen und schob den Gedanken mit aller Macht zurück, weil mein Körper nie mehr gesund werden würde, dafür war zu viel kaputtgegangen.

Ich erreichte das Haus und winkte Granny zu, die gerade aus der Küchentür heraustrat und ihr Gemüsebeet ansteuerte. Vermutlich wollte sie schauen, was sie im Herbst noch ernten konnte und welche Pflanzen bald winterfest gemacht werden mussten.

Ich trat auf die Veranda, wo unser Hund Rover lag und mit dem Schwanz wedelte, als ich mich näherte. Parkers Freundin Clay hatte ihn im Sommer mitgebracht, weil sein Besitzer überraschend verstorben war und niemand Rover aufnehmen wollte. Als Welpe war er von einem Range Rover angefahren worden, und seither machte ihm die Hüfte Probleme. Ich verstand diesen Hund auf so vielen Ebenen. Wir waren beide gehandicapt, versuchten aber, das Beste daraus zu machen. Rover zum Beispiel liebte es, wie ein Irrer über den Hof zu flitzen, sobald er etwas sah, das er unbedingt verjagen musste. Er hinkte danach zwar meist stärker, aber anscheinend war es der Spaß für ihn wert. Ich ging in die Hocke. Rover hob den Kopf und blickte mich aus seinen braunen warmen Knopfaugen an. Er hatte schönes schwarzes Fell mit weißen Flecken darin. Seit er bei uns war und Clay ihm sein Futter zusammenstellte, glänzte es auch viel mehr, und er wirkte allgemein fitter und wacher.

»Na, alles klar?«

Er legte die Vorderpfote auf meinen Unterarm und schmiegte den Kopf in meine Hand. Der Hund war so dankbar um jede Zuwendung. Keine Ahnung, wie viel er davon bei seinem alten Besitzer erhalten hatte, aber hier schien er alles bis in die letzte Zelle aufzusaugen.

»Hab leider nicht so viel Zeit zum Kuscheln«, sagte ich und erhob mich wieder. Rover gab einen leisen brummenden Laut von sich und ließ sich schließlich auf die Seite fallen. Ich lächelte ihn an, stieg über ihn hinweg und betrat die Küche, wo Clay gerade einen Kaffee aus dem Vollautomaten zog.

»Hi«, sagte sie und massierte ihren Nacken.

»Geht es dir gut?«, fragte ich, weil Clay etwas müde wirkte.

»Einigermaßen. Im Moment ist so viel los. War die letzten drei Stunden auf der Eastwood Ranch, weil ein Hengst ’ne Kolik hatte.«

»Konntet ihr helfen?«

»Ja, der wird wieder, aber ich fühl mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Anscheinend wollen alle Tiere zum Herbst noch mal krank werden.«

Clay hatte sich vor einer Weile als Tierheilerin selbstständig gemacht. Sie hatte sich auf Naturheilverfahren spezialisiert. Nach einer ersten skeptischen Phase hatte es sich unter den Tierbesitzern herumgesprochen, dass Clays Methoden günstiger und für die Tiere oft weniger invasiv waren als die klassische Veterinärmedizin. Mittlerweile konnte sie sich vor Patienten nicht mehr retten.

Ich sah auf den Küchentisch, wo mein Laptop stand, halb begraben unter lauter Papieren. Im Moment war ich auf diesen Platz ausgewichen, um zu arbeiten.

»Das tut mir übrigens leid«, sagte Clay und deutete darauf.

»Mh?«

»Ich belege noch immer dein Büro.«

»Ich habe es dir angeboten.«

»Ja, aber du brauchst eigentlich selbst eins.«

Das stimmte leider. Als Clay vor einem Jahr gefragt hatte, war der Therapiebetrieb noch nicht angelaufen. Damals hatte ich die wenige Büroarbeit mühelos von meinem Zimmer im ersten Stock erledigen können. Dort oben stapelten sich aber nun die Unterlagen und Ordner. Bald würde es noch mehr werden, weil ich für jeden meiner Patienten Akten anlegen wollte.

»Bekommen wir schon hin«, sagte ich. »Vielleicht kannst du mir einen Schrank frei machen, wo ich meine Unterlagen lagern kann.«

Sie trank einen Schluck Kaffee und schien darüber nachzudenken. Clay war die letzten Wochen öfter als üblich hier gewesen. Sie wohnte eigentlich in ihrem Wohnwagen namens Gustav außerhalb der Stadt, aber wenn es nach Parker ging, wäre sie schon längst auf Golden Hill eingezogen. Bisher hatte sie alle seine Einladungen abgewiesen.

»Vielleicht kann ich auch den ganzen Raum frei räumen«, sagte Clay auf einmal leise.

»Wie meinst du das?« Ich horchte sofort auf. »Du … du hast dir aber kein Büro außerhalb gemietet, oder?« Das hatte sie ursprünglich vorgehabt, als sie sich selbstständig gemacht hatte, aber nichts Passendes gefunden.

»Nein. Nicht direkt zumindest. Ich werde …« Sie schnaufte durch und schüttelte den Kopf. »Fühlt sich noch immer komisch an, das auszusprechen. Ich werde hier einziehen. Wir holen Gustav her, und den funktioniere ich als Büro um. Parker weiß schon Bescheid und ist einverstanden, dass ich …«

»Ah! Clay!« Ich warf mich ihr in die Arme. Sie japste kurz auf, weil ich sie gegen die Arbeitsplatte gedrückt hatte und sie fast ihren Kaffee verschüttet hätte. »Ich freu mich so!«

Sie lachte und strich mir über die Schulter. »Ich mich auch.«

Ich löste mich wieder von ihr und trat einen Schritt zurück. Dabei verzog ich kurz das Gesicht. Die rasche Bewegung hatte mir nicht gutgetan. Ich rieb über die schmerzende Stelle am unteren Rücken und ächzte leise.

»Das wird so cool«, fuhr ich fort. »Und das sag ich nicht nur, weil ich mein Büro wiederbekomme.«

Sie nickte und sah auf meine Hand, mit der ich mich selbst massierte. »Soll ich dich nachher behandeln?«

»Später vielleicht. Ich möchte mich noch etwas vorbereiten, ehe meine Gäste eintreffen, und dann hab ich eh erst mal zu tun.«

»Gut, falls doch, sag Bescheid, ja?«

»Mach ich.«

Clay war zwar keine ausgebildete Physiotherapeutin, aber sie hatte mir in den letzten Monaten dennoch ganz gut helfen können. Soweit ich das eben zuließ, denn auch Clay hatte ich noch nicht meine Narben gezeigt.

Ich lächelte sie erneut an und nickte. »Wann ziehst du denn ein?«

»Sobald wie möglich. Parker will mit Leo besprechen, wie sie Gustav etwas aufhübschen können. Er möchte ihm ein Vordach bauen, die Räder abmontieren und ihm einen Unterbau fertigen, wo er auch Strom und Wasser verlegt. Vermutlich will er so verhindern, dass ich wieder abhaue.«

»Ich glaube, er will einfach nur, dass du es schön hast.«

Sie schmunzelte. »In den nächsten Tagen holen wir ihn her und bauen ihn um. Dann kann ich auch schon aus dem Büro raus. Ich werde hinten am Wald parken. So stör ich deine Gäste nicht und hab auch meine Ruhe.«

»Ihr macht das schon. Es wird toll.«

»Ja, denk ich auch.« Sie seufzte leise und blickte zum Fenster hinaus. »Alles ist bisher toll geworden. Ich muss mich nur trauen, die Zukunft anzugehen.«

»Das Gefühl kenn ich.«

Sie trank ihre Tasse aus und streckte sich. »Ich werd mal nach Parker sehen, er ist doch vorhin wiedergekommen, oder?«

»Ja, aber er ist irgendwo mit Jake unterwegs.«

»Ich find ihn schon.« Sie stellte die leere Tasse in die Spülmaschine und trat dann zur Tür hinaus. Ich setzte mich an den Tisch und öffnete den Laptop. Mein Postfach quoll schon wieder über mit Anfragen, obwohl ich es heute früh erst gecheckt und geordnet hatte. Ich scrollte durch die Mails, ob etwas Wichtiges dabei war, um das ich mich kümmern musste. Eine Nachricht war von Arizona. Wir schrieben uns weiterhin regelmäßig, was mich unglaublich freute. Ich rief ihre Mail auf und las von ihren neuen Abenteuern. Sie und Ajden waren gerade in Indonesien und lieferten dort die Wasserfilter aus, für die sie sich so eingesetzt hatten. Arizona hatte mir Bilder aus dem Dorf angehängt, das sie zuerst beliefert hatten. Zwei Kinder waren auf einem Foto zu sehen. Sie hatten beide Wasserflaschen in der Hand, prosteten sich zu und lachten in die Kamera. Dahinter stand Ajden, der mindestens genauso strahlte wie die Kids. Es tat gut, zu lesen, dass dieses Projekt so gut angenommen wurde. Arizona berichtete mir außerdem, wie viel besser sie sich fühlte, seit sie einen Therapeuten gefunden hatte, der weiter mit ihr an ihrem Trauma arbeitete.

Ich antwortete ihr rasch und gab ihr ebenfalls einen kurzen Abriss über die Dinge, die auf Golden Hill passierten. Das mit meinen Gästen ließ ich allerdings außen vor. Die viele Arbeit kam mir im Vergleich zu dem, was Arizona und Ajden gerade taten, unglaublich nichtig vor.

Als ich fertig war, schloss ich das Mailprogramm und rief stattdessen den YouTube-Kanal auf, den Arizona mir eingerichtet hatte. Er war im Grunde fertig, aber noch auf privat gestellt. Der Header zeigte mich und unsere Stute Ella im Sonnenuntergang. Wir standen uns gegenüber, ich hielt ihren Kopf mit den Händen fest und lehnte meine Stirn an ihre. Ich liebte dieses Bild, weil es genau ausdrückte, wer ich war. Vielleicht sollte ich mich wirklich langsam trauen und mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gehen. Arizona meinte, ich könnte neben den Videos zu meiner Arbeit auch Vlogs drehen oder zeigen, wie ich mit meinen Verletzungen im Alltag zurechtkam. Es störte mich zwar nicht, über meinen Unfall und meinen Genesungsweg zu sprechen, aber ich hatte dennoch etwas Scheu, das vor lauter Fremden breitzutreten. Es war eine Sache, es den Leuten zu erzählen, die mich persönlich kennenlernten. Wenn ich es aber auf YouTube hochlud, würde ich mich der anonymen Masse des Internets aussetzen und sicherlich nicht nur gut gemeintes Feedback erhalten. Ich hatte mir in den letzten Wochen Seiten von Influencerinnen angeschaut, die private Dinge teilten. Die Kommentare unter den Videos waren teilweise recht heftig und manchmal auch beleidigend. Ich wusste nicht, ob ich solche negativen Stimmen ausblenden könnte.

Ich schloss meinen YouTube-Kanal wieder, weil ich gerade sowieso keine Zeit dafür hatte. Irgendwann wäre ich bereit und wenn nicht, dann war es auch okay. Die Dinge kamen schon zur rechten Zeit.

Es dauerte fast eine geschlagene Stunde, bis ich mir wieder einen Überblick verschafft hatte. Mein Handy vibrierte, und ich sah an der Nummer, dass es einer meiner Gäste war. Ich hatte ihnen gesagt, dass sie mir texten sollten, sobald sie auf dem Weg waren, damit ich sie in Empfang nehmen konnte. Ich klappte den Laptop zu und lief zur vorderen Haustür hinaus.

Auf dem Schotterweg erblickte ich einen großen schwarzen Mercedes SUV, der auf mich zusteuerte. Das Auto wirkte teuer und neu, was ich fast schon erwartet hatte. Meine Wochenendkurse waren nicht billig, und mir war klar, dass ich mit solchen Preisen eine spezielle Klientel anzog.

Ich wartete, bis der Wagen parkte. Die Türen gingen auf, und meine ersten eigenen Gäste stiegen aus. Es waren drei Männer und eine Frau. Sie arbeiteten alle in Seattle bei einer großen IT-Firma, die Apps entwickelte. Der CEO war auf mich aufmerksam geworden und hatte gefragt, ob er mir vier seiner Führungskräfte schicken konnte. Sie sollten durch die Pferdetherapie lernen, ihre Teams besser anzuleiten und ein Gespür für ihre Mitmenschen zu bekommen. Die Firma war toll. Sie achtete auf Chancengleichheit, organisierte Spendengalas und engagierte sich im Umweltschutz. Mir gefiel das Konzept, weshalb ich die Anfrage angenommen hatte.

»Hi«, sagte ich und ging den vieren entgegen. Sie wirkten alle etwas älter als ich, was mich im ersten Moment verwunderte, weil sie auf den Fotos, die mir der CEO geschickt hatte, jünger ausgesehen hatten.

»Hey, wir wollen zu Sadie Huntington«, sagte der Fahrer. Er trug helle Jeans und ein ausgewaschenes Hemd, darunter ein Shirt mit dem Aufdruck Nerds rule. Auch der Beifahrer war lässig gekleidet, was mich etwas durchatmen ließ. Es wäre komisch für mich gewesen, wenn meine Gäste in Anzug und Krawatte hier angetanzt wären. Vielleicht sollte ich noch so was wie eine Kleiderempfehlung auf die Seite schreiben, denn man wurde hier recht schnell schmutzig. Das ließ sich nicht vermeiden.

»Die bin ich«, sagte ich und lächelte, aber ich merkte, wie verkrampft es sich anfühlte. Der Fahrer sah mich verwundert an, blickte zu seinem Kollegen und runzelte die Stirn. Ich wurde leicht unsicher und merkte, dass mir die Hitze in die Wangen schoss.

»Krass, wir dachten, du wärst älter.«

»Ja, so um die fünfzig«, sagte der Beifahrer.

»Was? Aber auf der Webseite ist doch mein Bild.«

»Das haben wir uns nicht angesehen«, sagte nun die Frau, die mit dem vierten Kollegen auf der Rückbank gesessen hatte. Sie trug ebenfalls Jeans. Allerdings hatte sie sich gleich Cowboystiefel angezogen, und an ihrem Gürtel prangte eine auffällige Schnalle in Silber. Sie lächelte mich freundlich an. »Lass dich von den beiden nicht verunsichern, ich bin Amanda. Freut mich.«

»Mich auch.« Ich ergriff ihre Hand und schüttelte sie.

»Das sind Brad und Liam, der Typ neben mir ist Dillon«, stellte Amanda alle vor. Dillon trug eine Brille und hatte die Haare sehr kurz geschnitten. Er war einen Kopf kleiner als Amanda, trug ein rotes Shirt und ebenfalls helle Jeans. Ich begrüßte sie der Reihe nach und grübelte weiter über den Umstand, dass sie mich deutlich älter eingeschätzt hatten. Mir war klar, dass ich für eine Therapeutin jung war und natürlich noch viel lernen musste. Aber irgendwann musste ich ja anfangen. Ich hatte meine Ausbildung hinter mir und würde nun Erfahrungen in der Praxis sammeln. Dafür waren die Wochenendkurse bestens geeignet, da sie sich nicht an Menschen mit starken psychischen Traumata richteten, sondern an jene, die erst mal kleinere Stellschrauben in ihrem Alltag angehen wollten.

»Ich zeig euch alles«, sagte ich nun und versuchte, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Dann deutete ich auf die Ranch. »Ihr könnt den Wagen erst mal hierlassen, aber bei den Gästehäusern sind auch Parkplätze, wo ihr ihn später abstellen könnt.«

»Cool«, sagte Liam und trat neben mich. Er musterte mich kurz. »Ich bin sehr gespannt, was Golden Hill so zu bieten hat.«

Ich schluckte gegen die Trockenheit und die Nervosität an. Dann zeigte ich in Richtung Pferdekoppeln und begann mit dem Rundgang.

3.

Jake

»Also gut«, sagte Parker, als wir zurück von den Gästehäusern Richtung Haupthaus gingen. »Dann können wir so bald wie möglich Clays Wohnwagen holen und ihn winterfest machen.«

Ich nickte. Wir waren die letzten zwei Stunden hinten am Wald gewesen und hatten mit Leo besprochen, wie wir Gustav am besten umbauen könnten.

»Ich will ihn vergrößern, damit sie ein separates WC hat und etwas mehr Raum bekommt.« Parker zückte sein Handy und sah auf die Uhr. »Wenn ich jetzt noch die Bestellungen für das Material aufgebe, haben wir es bis Anfang nächster Woche. Gustav braucht auch ’ne neue Heizung, und ich will Solarpanels am Dach anbringen.«

»Soll ich den Wohnwagen morgen holen?«, fragte ich.

»Wolltest du nicht das Roundpen aufbauen?«

»Dafür brauch ich höchstens bis zum Nachmittag.«

Er blickte mich an und runzelte die Stirn, als wäre es eine Meisterleistung, diese beiden Aufgaben an einem Tag zu erledigen.

»Den Wohnwagen zu holen wird mich maximal zwei Stunden kosten«, sagte ich.

Er kratzte sich am Kinn. »Wäre ’ne Erleichterung, ich hab morgen einen Termin in Bozeman, für den ich mir dann mehr Zeit nehmen könnte.«

»Okay, dann ist das abgemacht.«

Parker nickte. »Clay soll es schön haben hier draußen.«

Ich musterte ihn kurz von der Seite. In Parkers Gesicht spiegelten sich Zuneigung und sehr viel Liebe. Es war deutlich zu sehen, wie viel ihm Clay bedeutete und was für ein großer Schritt es für ihn war, dass sie nun nach Golden Hill zog.

Zum ersten Mal, seit ich hier war, erfasste mich eine Woge aus Neid. Es musste schön sein, jemanden bedingungslos zu lieben. Ich hielt die Luft an und wandte mich ab, ehe Parker merkte, wie ich ihn anstarrte. Mein Blick fiel auf Sadie, die am Eingang zur Reithalle stand und ihren neuen Gästen etwas erklärte. Rover hatte sich zu der Gruppe gesellt und sich zu Sadies Füßen niedergelassen. Mir war schon aufgefallen, dass der Hund oft bei ihr war, wenn sie neue Leute empfing. Als wollte er sichergehen, dass sie klarkam. Wenn ich könnte, würde ich es genauso machen.

»Ich werde mal die Pferde versorgen und das restliche Futter aus dem Auto laden«, sagte ich und deutete auf den Stall. Der Range Rover parkte noch an der Stelle, an der wir ihn vorhin abgestellt hatten.

»Danke. Bis später«, erwiderte Parker und wandte sich ab, während er bereits wieder auf seinem Handy herumtippte. Ich sah ihm kurz hinterher, dann setzte ich meinen Weg fort. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu, und es war deutlich kühler geworden. Ich lief zu Parkers Auto, holte mir meine Jacke, die ich vorhin auf die Rückbank geworfen hatte, und zog sie über. Wie von selbst wanderte mein Blick immer wieder hinüber zu Sadie und ihren Gästen, die nun auf der Koppel hinter der Reithalle standen. Die vier Leute hörten ihr anscheinend nur mit einem Ohr zu. Einer von ihnen tippte auf seinem Handy herum, die Frau schob einen Erdklumpen mit den Füßen hin und her, und die beiden anderen Männer unterhielten sich. Keine Ahnung, was das für Knilche waren, aber sollten sie ihren Aufenthalt hier und Sadies Arbeit nicht ernst nehmen, konnten sie was erleben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich Gäste vom Hof warf. Bei Jordan war es auch ein paarmal vorgekommen, dass wir nervige Leute rauskomplimentieren mussten. Wobei es auf Jordans Ranch generell rauer zuging.

Ich schnappte mir den Futtersack und trug ihn in den Stall. Die Eisenpanels würde ich morgen aus dem Hänger laden, wenn ich mehr Tageslicht hatte. Jetzt waren erst mal die Pferde dran, die bereits auf ihr Abendessen warteten. Ich lud das Futter ab, machte kurz sauber und nahm mir dann eine leere Schubkarre, mit der ich hinüber zur Heuhalle ging. Sie war früher der alte Geräteschuppen gewesen und diente uns nun als Futterlager. Ich betrat die Halle und sog den grasigen Duft in mich auf. Ich liebte den Geruch nach Heu und Pferd. Er erdete mich wie nichts anderes und beruhigte mich jedes Mal. Ich knipste das Licht an, stellte die Schubkarre ab und holte mir einen der Rundballen.

»… Da vorne lagern wir das Heu und einige Geräte«, hörte ich Sadies Stimme aus einiger Entfernung. Ich warf einen weiteren Heuballen auf meine Schubkarre und richtete mich auf. Offenbar führte sie der Rundgang nun hierher. Die Schritte näherten sich, und ich machte mich darauf gefasst, gleich Fremden zu begegnen.

»Der Schuppen steht seit über zweihundert Jahren. Wir haben ihn so gut es ging erhalten.«

»Wie cool«, erwiderte einer der Männer, und da kam die Gruppe auch schon um die Ecke gebogen und blieb am offenen Eingangstor stehen.

»Oh, das ist Jake«, sagte Sadie. Sie klang etwas aufgeregt.

»Hi«, gab ich von mir und tippte mir an den Hut.

»Er kümmert sich um die anfallenden Arbeiten im Stall und auf der Ranch«, fuhr Sadie fort.

»Nett«, sagte die Frau und lächelte mich an.

»Ja, find ich auch«, erwiderte der Typ neben ihr. Er grinste ebenfalls.

»Jake, das sind Amanda, Brad, Liam und Dillon«, sagte Sadie. »Sie bleiben bis Montag.«

»Okay«, gab ich von mir und rückte die Heuballen auf dem Karren so zurecht, dass sie nicht herunterfallen konnten.

»Ich stell euch noch die Pferde vor, dann sind wir durch«, sagte Sadie. »Habt ihr schon Fragen?«

»Ja, wo kann man hier was trinken gehen?«, fragte Brad. Das war der, der vorhin auf seinem Handy herumgetippt hatte.

»Du meinst, in Boulder Creek?«, hakte Sadie nach.

»Nein, auf dem Mond. Ich dachte, wir fliegen da heute noch hin«, erwiderte Brad. Dillon prustete los, und die anderen beiden verkniffen es sich mitzulachen.

Sadie räusperte sich und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich musterte Brad. Ein Grinsen umspielte seine Lippen, und an seiner aufrechten Körperhaltung und den gestrafften Schultern war deutlich zu erkennen, dass er sich für den Größten hielt. Solchen Jungs hatten wir bei Jordan gerne gezeigt, wo der Hammer hängt.

»Also in Boulder Creek könnt ihr eigentlich nur zu Cybil«, sagte Sadie schließlich. »Sie führt das Diner und hat bis kurz vor Mitternacht geöffnet.«

Brad gab einen missmutigen Laut von sich und schüttelte den Kopf. Wenn er keinen Bock darauf hatte, hier zu sein, warum war er dann überhaupt angereist?

Amanda gab ihm einen Klaps und kam näher zu mir. »Vielleicht kannst du uns ja zeigen, wo das Diner ist?«

Ich schnaubte nur und wandte mich stattdessen an Sadie. »Brauchst du was?«

Sie lächelte matt, knetete ihre Finger und wirkte ein wenig überfordert. »Nein, wir gehen noch rüber in den Stall und machen dann Schluss. Morgen legen wir los.«

Ich musterte sie kurz. Zu gern hätte ich etwas für sie getan. Die Gäste rausgeworfen, mich vor sie gestellt und sie beschützt oder sonst irgendetwas, das ihr den Druck nahm, unter dem sie ganz offenkundig gerade stand, aber das war nun wirklich nicht meine Aufgabe. Daher riss ich mich los und trat zu meiner Schubkarre.

»Also ich bleib heute hier«, sagte Liam und lief ein paar Schritte in die Halle hinein. »Ich bekomm hier voll die Wild West Vibes. Geht es euch auch so?«

Brad brummte, drehte sich um und verließ die Halle wortlos. Amanda lachte leise, und Dillon schob die Hände in die Hosentaschen und schien nicht zu wissen, wohin er sollte. Ich umklammerte die Griffe der Schubkarre und hievte sie herum. Dabei streifte ich Liam, der sofort zur Seite trat und verlegen lachte.

»Sorry, wollte nicht im Weg rumstehen«, sagte er.

»Schon gut«, gab ich zurück und schob die Karre zur Halle hinaus.

»Fuck«, sagte Brad draußen. »Ich glaub, ich bin in Scheiße getreten.«

»Hab dir gesagt, dass du nicht deine guten Schuhe anziehen sollst«, sagte Amanda, und auf einmal heftete sie sich an meine Seite.

»Kann man dir denn helfen?« Sie musterte mich und blieb mit dem Blick an meinen Oberarmen hängen.

»Nein.«

»Also, wir haben insgesamt sechs Pferde«, fuhr Sadie etwas lauter fort. »Aber wir arbeiten nur mit vier, manchmal fünf von ihnen.« Ich hörte an den Schritten hinter mir, dass sie mir zum Stall folgten. »Morgen können wir gemeinsam aussuchen, wer für euch infrage kommt. Das entscheide ich individuell, wenn ich ein Gefühl dafür habe, wer was braucht. Eure Fragebögen, die ihr vorab ausfüllen solltet, hab ich mir schon angesehen.«

»Wie aufregend«, sagte Amanda, aber ich bezweifelte, dass das Sadies Worten galt.

Wir erreichten den Stall, wo bereits Charlie, Andra und Wayne warteten. Ich nahm das Klappmesser, das ich meistens bei mir trug, aus meiner Hosentasche und schnitt den ersten Ballen auf.

»Hast du immer eine Waffe dabei?«, fragte Amanda.

»Was?«

Sie zeigte auf mein Messer, und ich runzelte die Stirn. »Das ist doch keine Waffe.«

»Na ja, irgendwie schon. Du könntest damit einen Menschen töten.«

Ich schnaubte und schüttelte den Kopf.

»Hast du denn schon mal einen Menschen angegriffen? Vielleicht weil du jemand anderen beschützen musstest?« Ihre Stimme hatte einen verführerischen Unterton angenommen, und sie sah mir tief in die Augen.

»Amanda«, sagte Liam. »Red keinen Müll. Wir sind hier nicht in deiner bekloppten Fernsehserie, die du ständig glotzt.«

»Die ist nicht bekloppt! Yellowstone ist die beste Dramashow.« Sie blickte wieder mich an. »Kennst du die?«

»Nein.« Ich lud den zweiten Heuballen ab und warf ihn an die Seite. Den würde ich erst später verteilen.

»Solltest du dir anschauen, ist mit Kevin Costner.«

»Schön.« Ich atmete durch und sah noch mal nach Sadie, die gerade Dillon und Brad etwas erklärte. Eher nur Dillon, denn Brad stand draußen vor dem Stall und tippte schon wieder auf seinem Handy herum. Ich fürchtete, dass sie mit dem etwas Stress bekäme.

»Er tötet alle, die seiner Familie schaden wollen«, fuhr Amanda fort. »Außerdem leben einige Cowboys auf seiner Ranch, die alles beschützen. Sie bekommen dieses Brandzeichen auf die Brust, als Symbol, dass sie dazugehören.«

Ich biss fest den Kiefer aufeinander und verteilte das Heu vor den Pferden, die sich sofort daraufstürzten.

»Du erinnerst mich ein wenig an Rip. Das ist einer der coolsten Cowboys dort. Er ist in die Tochter von Kevin Costner verknallt.«

Ich zuckte kurz zusammen und blickte unweigerlich zu Sadie. Sofort packte mich ein merkwürdiges Schuldgefühl. Als hätte Amanda mich bei etwas Verbotenem ertappt.

»Rip schützt Beth mit seinem Leben. Er räumt alles und jeden aus dem Weg, der ihr wehtun will.«

Ich brummte und fragte mich, wie weit ich wohl gehen würde, um Sadie vor Unheil zu bewahren.

Amanda lehnte sich an die Absperrung und sah den Pferden zu, die sich über ihr Heu hermachten. Dabei hatte sie einen Arm so aufgestützt, dass ihre Brust nach oben gedrückt wurde. Sehr subtil. Da sie wohl merkte, dass ich nicht darauf ansprach, beugte sie sich weiter nach vorne. Auf einmal richtete Charlie sich auf und legte die Ohren an. Ich machte einen Satz in Richtung Amanda, weil ich genau wusste, was er vorhatte.

»Achtung!«, rief ich, packte Amanda am Arm und zerrte sie gerade rechtzeitig aus seiner Reichweite. Er schnappte über die Absperrung, und seine Zähne klapperten aufeinander, als er in die Luft biss. Amanda gab einen Schrei von sich und fasste sich ans Herz.

»Du meine Güte!«

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